Erinnerung an einen Mörder - Petra Hammesfahr - E-Book
SONDERANGEBOT

Erinnerung an einen Mörder E-Book

Petra Hammesfahr

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es gab für Felix nie einen Grund, seinen Vater zu fürchten. Vor seiner Mutter hat der Achtjährige panische Angst, als er ein Diktat mit 17 Fehlern daheim zur Unterschrift vorlegen soll. Charlotte Meller will unbedingt ein Genie aus ihrem Sohn machen, prügelt oft genug nur aus Frust auf den Jungen ein, vernachlässigt die beiden kleinen Töchter und macht ihrem Mann das Leben zur Hölle. Für seinen Vater, das weiß Felix, sind ein paar Fehler nicht so schlimm. Deshalb geht er mit seinem Diktat lieber zu der Baustelle, auf der Thorsten Meller arbeitet. Als er dort hört, sein Vater sei bereits nach Hause gefahren, tritt auch Felix erleichtert den Heimweg an. Stunden später wird er in der Stadt aufgegriffen – mit seinem Ranzen auf dem Rücken und einer Stichverletzung am Hals. Es ist nicht nur sein Blut, mit dem er über und über besudelt ist. Er muss daheim gewesen sein, aber jahrelang erinnert er sich nicht daran. In seinem Gehirn ist eine Tür zugeschlagen. Von Zeit zu Zeit offenbart sich ihm zwar ein Blick durchs Schlüsselloch, aber erst als Erwachsener, mit einem blutigen Messer neben seiner toten Lebensgefährtin kniend, begreift Felix, was damals wirklich geschehen ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 661

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Petra Hammesfahr

Erinnerung an einen Mörder

Roman

Prolog

Es gab für mich nie einen Grund, meinen Vater zu fürchten. Das habe ich nach dem Mittwoch im Oktober 1978 allen gesagt, die von mir wissen wollten, wer mich in den Hals gestochen hatte: den Ärzten und Polizisten, Großmutter Meller – seiner Mutter–, die mich weinend an sich drückte und «armes Bübchen» schluchzte, Birgit und Peter, die ich zu der Zeit noch Tante und Onkel nannte. Und dieser Psychologin, die meine Täterbeschreibung so schnell einzuordnen wusste. Egal, was ich gefragt wurde, meine Antworten gipfelten immer in dem Satz: «Ich hatte keine Angst vor meinem Papa, ehrlich nicht, er hat mir nie wehgetan.»

Was hätte ich sonst noch sagen sollen? Dass ich meinen Vater über alles geliebt hatte, interessierte niemanden mehr, höchstens noch Großmutter Meller, die darauf beharrte: «Mein Junge hätte so was nicht getan.»

Eine Frau namens Berta Eberlein hatte mich gegen vier Uhr nachmittags in der Wehrhahnstraße aufgegriffen. Daran erinnere ich mich bis heute nicht. Ich sei gelaufen, hieß es, nur gelaufen, ohne zu schreien, ohne zu weinen. Keine Ahnung, an wie vielen Leuten ich bis dahin vorbeigelaufen war, die geflissentlich weggesehen hatten. Niemand handelt sich gerne Scherereien ein, und ich sah nach einer Menge Scherereien aus. Mein Gesicht war blutig, mein Hals, mein Haar, mein Nacken, meine Hände, Jacke, Hose, Schuhe, alles war blutig. Berta Eberlein schaute nicht weg und fackelte nicht lange. Sie setzte mich auf ihr Fahrrad und brachte mich schnurstracks zum Krankenhaus.

In der Notaufnahme wurde ich ausgezogen und von Kopf bis Fuß untersucht. Bei all dem Blut rechneten sie mit mehreren Wunden, fanden aber nur eine: einen Stich in den Unterkiefer – vereinfacht ausgedrückt. Genauer gesagt waren der zweibäuchige Mundbodenmuskel und meine Zunge durchstochen.

Darüber hinaus entdeckten sie Hämatome in allen Schattierungen und stellten beim Röntgen zwei verheilte Brüche fest, einen im Schädel und einen im linken Unterarm. An den Armbruch kann ich mich auch nicht erinnern. Als das passierte, war ich erst ein halbes Jahr alt und angeblich beim Wickeln vom Tisch gefallen. Den Schädelbruch hatte ich mir offiziell bei einem Treppensturz zugezogen. Da war ich dreieinhalb und weiß noch genau, dass ich zuerst einen Schlag ins Gesicht und danach einen Stoß vor die Brust erhielt, der so heftig war, dass ich mit dem Kopf gegen einen Türpfosten prallte und das Bewusstsein verlor.

Meinen Namen konnte ich dem Krankenhauspersonal nicht nennen, was nicht allein an der verletzten Zunge lag. Danach hatte mich auch die resolute Berta Eberlein vergebens gefragt. Ich stand unter Schock oder war, wie die Psychologin es in ihrem Bericht formulierte, schwer traumatisiert. Aber ich hatte den Ranzen auf dem Rücken, mein Name stand auf Buchumschlägen und Heften. Felix Meller. So hieß ich damals.

Was mit mir geschehen war, was ich gesehen, gehört, erlebt und erlitten hatte, wusste ich nicht. In meinem Hirn war eine Tür zugeschlagen, und ich hatte auf meinem Weg durch die Stadt den Schlüssel verloren. Ich verstand zwar, dass – mit Ausnahme von Großmutter Meller – alle der Meinung waren, mein Vater hätte mich verletzt. Doch das konnte ich mir nicht vorstellen, beim besten Willen nicht.

Ich war acht Jahre und acht Monate alt, und mein Vater war mein Vorbild, mein Held. Ein Feuerwehrmann. Er rettete Leben, aber er verletzte keine Kinder, und ganz gewiss nicht mich, davon war ich felsenfest überzeugt. Er war der Größte für mich, stark, unverwüstlich, unerschütterlich. Dabei war er nicht größer und kaum stärker als der Durchschnitt, nur einen Meter achtundsiebzig bei einem Gewicht von sechsundsiebzig Kilo. Heute bin ich zehn Zentimeter größer und einige Kilo schwerer. Doch damals kam er mir wie ein Riese vor, weil ich als Kind zu klein war, immer etwas schmächtiger als meine Altersgenossen, immer etwas stiller. Und mein Vater war laut. Wenn er lachte, polterte es ihm förmlich aus der Kehle.

Er lachte viel. Und er sang gerne. Ich höre ihn heute noch die Songs von Gunter Gabriel schmettern. «Hey, du, mit dem Hammer in der Hand. Hey, du, die Schuhe voll Sand. Hey, du, jetzt packen wir es an, ich bin ein einfacher Mann, und ich tu, was ich kann.» Oder: «Er fährt ’nen Dreißigtonner-Diesel und ist die meiste Zeit auf Tour. Und er gibt dabei sein Bestes, Tag für Tag, rund um die Uhr. Er raucht nicht, und er trinkt nicht, höchstens ab und zu ein Bier. Denn zu Haus sind Frau und Kinder, und nur dafür schuftet er. Er ist ein Kerl, ein ganzer Mann, und sein Zuhause ist die Autobahn.»

Manchmal sang er auch andere Lieder, deren Bedeutung für ihn ich damals nicht erfasste. Aber wenn er sie sang, war er nicht fröhlich und unbeschwert, das sah ich. I can’t get no satisfaction von den Rolling Stones – oder Otis Redding. If you’re going to San Francisco von Scott MacKenzie. Und Poor Boy von den Lords: Mother and Father and Son, Sister and Uncle have fun. And she learned me to say …

«Du bist gegen die Tür gelaufen, weil du nicht aufgepasst hast. Merk dir das. Du bist die Treppe hinuntergefallen, weil du gesprungen bist. Du bist vom Stuhl gerutscht und mit dem Gesicht auf die Tischkante geschlagen, weil du herumgehampelt hast. Wag es nicht, einem Menschen etwas anderes zu erzählen.»

Die mir das vorsprachen, waren meine Mutter und ihre Großmutter Täuber. Im Gegensatz zu Großmutter Meller, die ich als Kind Oma nannte, musste ich die andere mit dem korrekten Verwandtschaftsgrad und dem Nachnamen anreden, als sollte ich mir auf diese Weise selbst suggerieren, dass sie die Macht und das Sagen in der Familie hatte.

Beides hatte die widerliche Alte unbestreitbar. Sie war ein weiblicher Nero, grausam und tückisch. Vater und Birgit nannten sie Täubchen. Für mich klang das, als wollten sie den Drachen bezwingen, indem sie sich glauben machten, es sei ein harmloses und friedfertiges Tierchen, das man nicht fürchten müsse. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wer bei dieser Methode jedes Mal den Kürzeren zog.

Peter sagte einmal: «Meine Mutter ist ein Giftzahn, den Satan aus seinem Gebiss gezogen und auf die Erde gespuckt hat, damit wir hier einen Vorgeschmack von der Hölle bekommen.»

Ein wahres Wort, dem ich mich voll und ganz anschließe.

Wir lebten lange mit ihr unter einem Dach. Und ich weiß noch, wie ich gerade erst drei Wochen zur Schule ging und als Hausaufgabe zwei Reihen U auf meine Tafel schreiben sollte. Einige gerieten mir oben zu rund und sahen fast aus wie O.Der Giftzahn mäkelte so lange, bis Mutter mich vom Stuhl riss, nachdem sie mir bereits ein paar Ohrfeigen verpasst hatte. Dann drosch Mutter mit den Fäusten auf mich ein, bis ich am Boden lag. Danach trat sie mir gegen die Rippen und in den Bauch, sodass ich keine Luft mehr bekam. Sie hörte erst auf, als die Alte sagte: «Jetzt lass ihn, Charlotte, es reicht. Mach dir an dem dämlichen Hund nicht die Finger dreckig, das ist er nicht wert.»

So etwas setzt sich fest. Irgendwann glaubt man – ach was, man weiß, dass man ein dämlicher Hund ist, eine Zumutung für seine Mitmenschen, ein schlechtes, strohdummes, missratenes Kind, das jeden zur Verzweiflung bringt oder dazu treibt, die Nerven zu verlieren. Man ist immer selber schuld an den Schmerzen, den blauen Flecken, der blutenden Nase, den aufgeplatzten Lippen und gebrochenen Knochen.

Und wenn es dann einen Mann gibt, für den ein paar krumme Buchstaben, falsch addierte Zahlen oder Rechtschreibfehler nicht so tragisch sind, weil er selbst auch noch oft welche macht. Der darüber lachen kann und sagt: «Davon geht die Welt nicht unter.» Wie soll man diesen Mann nicht abgöttisch lieben, ihn anbeten, ihn verehren wie einen Heiligen? Wie soll man nicht stolz sein, wenn man mit ihm verglichen wird?

Als Kind war ich unendlich stolz, wenn jemand sagte, ich sei genauso wie mein Vater, obwohl ich zu Hause nie ein gutes Wort über ihn hörte. Für Großmutter Täuber war er eine faule Sau, ein Aufschneider oder ein Versager und ein geiler Bock, der ihre hochbegabte Charlotte mit einem Loch im Gummi um eine akzeptable Zukunft gebracht hatte. Sie als Einzige sagte übrigens «Charlotte». Für alle anderen, mich später eingeschlossen, war meine Mutter «Lotti». Und Lotti orientierte sich an den Ansichten der Alten.

Ich habe so oft zugehört, wenn die beiden Weiber über meinen Vater herzogen. Und was ich nicht selbst erlebt habe, weil ich nicht überall dabei, noch nicht auf der Welt oder zu klein war, um es im Gedächtnis zu behalten, erfuhr ich später von anderen.

Gerade das macht es aus heutiger Sicht schwierig zu schildern, wie ich meine ersten Lebensjahre mit meinem Vater und mehr noch ihn selbst erlebt habe: den einfachen Mann Thorsten Meller, der tat, was er eben tun konnte, auch wenn man ihm manches niemals zugetraut hätte und deshalb erst einmal für völlig ausgeschlossen hielt, dass er dies oder jenes tatsächlich getan haben könnte – bis man es letztlich akzeptieren musste.

Ich muss das Wissen, die Gefühle, die Wut des Erwachsenen ausblenden und die Berichte mit den Bruchstücken verbinden, die mir geblieben sind. Viele sind das wahrhaftig nicht. So wird es jedem ergehen, der in meinem Alter versucht, seine frühe Kindheit zu rekonstruieren. Bestimmte Ereignisse haben sich eingeprägt, weil sie sich häufig wiederholten, andere setzten sich fest, weil sie mit starken Emotionen verbunden waren. Für den großen Rest ist man darauf angewiesen, dass andere in ihrem Gedächtnis kramen und offenbaren, was sie wissen oder zu wissen glauben.

Das meiste hat Birgit mir erzählt, als ich alt genug war, um zu verstehen, wie sich eine «blutige Familientragödie» – so wurde es in der regionalen Tageszeitung betitelt – entwickelt und dass Mörder nicht geboren, sondern gemacht werden.

1.Teil– Lotti

Sie war erst siebzehn und ging aufs Gymnasium, als sie mit mir schwanger wurde. Thorsten war vierundnzwanzig. Er hatte acht Jahre lang die Volksschule besucht. So hieß das damals, und

mehr als acht Jahre gab es erst, als er sich bereits im Baugewerbe verdingt hatte. Ein ungelernter Arbeiter, mit einem nicht eben berauschenden Schulabschluss, der sofort «richtig Kohle machen wollte». Als sie sich kennenlernten, war er allerdings schon geraume Zeit in einer Kunststoffgießerei beschäftigt. Im Gegensatz zur Baubranche, die ziemlich wetterfühlig war, erschien ihm dieser Job krisensicher.

Es war eine kleine Firma, die auch nur kleine Dinge herstellte. Zum Beispiel runde Dosen mit einem Schieber, in die man Nähnadeln der Größe nach sortieren konnte, diese Dosen lagen bei uns im Dutzend herum. Außerdem winzige Püppchen, Schiffe, Flugzeuge und Autos, die für Wundertüten bestimmt waren. Davon besaß ich als kleines Kind einen Schuhkarton voll. Tragflächen waren nicht vollständig ausgegossen, Autoreifen fehlten teilweise, Seitenscheiben oder die Aufbauten der Schiffe waren löchrig. Von solchem Ausschuss brachte er mir oft etwas mit.

Bis zur Hochzeit hatte er am Wochenende zusätzlich als Discjockey gearbeitet. Nicht in einer Discothek, wie man sie heute kennt. Es war eine Kneipe in dem kleinen Ort, in dem er aufgewachsen war. Samstags und sonntags öffneten sie ihren Saal, damit die Dorfjugend nicht in die Stadt pilgern musste. Und für ländliche Verhältnisse war er als DJ so gut, dass schon bald die Stadtjugend zu den Stammgästen der Behelfsdisco zählte.

Birgit und Peter gehörten zu diesen Stammgästen, obwohl sie in der Stadt andere Discotheken hätten besuchen können. Gelegentlich nahmen sie Peters kleine Schwester mit, aber nicht jedes Mal auch wieder mit zurück. Wenn sich eine andere Möglichkeit bot, nutzte Lotti die. So auch an dem Samstagabend Ende Mai 1969, an dem ich meinen Anfang ins Leben nahm.

«Tanzen konnte Thorsten nicht, durfte er auch nicht. Er musste an den Plattenspielern bleiben, dafür wurde er bezahlt», erzählte Birgit. «Immer wieder ging Lotti zu ihm und wünschte sich diese Schnulze von Roy Black. Ganz in Weiß, mit einem Blumenstrauß. Das lief an dem Abend bestimmt zehnmal. Thorsten sagte jedes Mal: ‹Auf besonderen Wunsch des blonden Engels.› Zum Dank durfte er sie später in der Nacht heimfahren.»

Bei der Fahrt blieb es nicht. Und zuerst war Thorsten alles andere als begeistert von der Vorstellung, wegen einer – salopp ausgedrückt – einzigen Nummer auf dem Rücksitz seines Autos seine Freiheit aufzugeben.

Bis dahin hatte er sein Leben genießen können und seinen Doppelverdienst zur freien Verfügung gehabt. Bei seiner Mutter musste er nichts abgeben. Er war ihr Einziger, vielmehr der jüngste und letzte von vier Söhnen, der ihr geblieben war.

Großmutter Meller war früh verwitwet. Ihr Mann, den ich nur von einem Foto kenne, das ihn als jungen Soldat in Wehrmachtsuniform zeigt, hatte sich 1947 vor einen Zug geworfen. Er sei krank gewesen, erzählte sie einmal, traurig vom Krieg. Sie meinte wohl, der Zweite Weltkrieg habe ihn depressiv gemacht.

Großmutter Täuber bezeichnete meinen zweiten Großvater als geisteskranken und gnadenlosen Mörder. Sie behauptete, er hätte unzählige Leben auf dem Gewissen gehabt und sei von seiner Schuld um den Verstand gebracht und in den Tod getrieben worden. Woher sie das so genau wissen wollte, wurde nie erklärt. Dass er kriegsbedingt nicht der einzige Mörder seiner Zeit gewesen sein dürfte, ließ sie nicht gelten. Ihrer Meinung nach stand es jedem Soldaten frei, in die Luft zu schießen. Dass der Soldat dann höchstwahrscheinlich selber erschossen wurde, wäre in diesem speziellen Fall ein Segen für die Menschheit gewesen, meinte sie. Denn der Apfel fiel bekanntlich nicht weit vom Stamm.

Dass mein Großvater väterlicherseits eventuell geisteskrank, vielleicht nur schwermütig, auf jeden Fall aber verantwortungslos war, leugne ich nicht. Immerhin ließ er seine Frau mit noch drei kleinen Söhnen zurück. Der jüngste – Thorsten – war gerade zwei Jahre alt geworden, der älteste im letzten Kriegsjahr an einer Infektion verstorben.

Die beiden mittleren kenne ich auch nur von Fotos. Einer verunglückte 1958 tödlich. Er war erst vierzehn, arbeitete in der Landwirtschaft, stürzte bei der Rübenernte vom Traktor und wurde vom vollbeladenen Anhänger überrollt. Der andere wanderte 1965 aus, um in Amerika sein Glück zu suchen. Gefunden hat er es kaum, man hat nie wieder von ihm gehört. Er gilt als verschollen.

Verständlich, dass Großmutter Meller «ihren Jungen» verwöhnte, so weit ihre bescheidenen Mittel das erlaubten. Oder dass sie ihm ein Lotterleben ermöglichte, wie der Giftzahn es ausdrückte. Ihm sei kein Funken Verantwortung, keine Manieren und auch sonst nichts Vernünftiges beigebracht worden, zum Beispiel die Finger zusammenzuhalten. Gemeint war zu sparen.

Vor der Hochzeit hatte er damit wahrscheinlich gar nichts im Sinn gehabt. Seine Mutter behauptete später etwas anderes, blieb den Beweis dafür jedoch schuldig, deshalb glaube ich nicht an seine voreheliche Sparsamkeit. Die gesamte Republik lebte im Wirtschaftswunderfieber, alle dachten, so ginge das jetzt immer weiter. Warum hätte ausgerechnet Thorsten Meller eine vorausschauende Ausnahme sein sollen?

Er fuhr ein teures Auto, war immer chic angezogen und galt bei den Mädchen als überaus spendabel. In der Behelfsdisco ging die Mär um, der verschollene Bruder hätte in Texas ein Vermögen mit Ölquellen verdient und Thorsten zu seinem Alleinerben bestimmt, ehe er bei einem Unfall am Bohrturm ums Leben gekommen sei. Das ganze Geld sei auf Konten im Ausland angelegt. Von den Zinsen könne Thorsten bequem und üppig leben. Arbeiten müsse er eigentlich gar nicht. Das täte er quasi zu seinem Vergnügen.

Birgit vermutete, er selbst habe dieses Märchen in Umlauf gebracht in der Absicht, damit noch mehr Eindruck beim weiblichen Geschlecht zu schinden, als er es durch seine Stellung hinter den Plattentellern und sein Äußeres ohnehin schon tat.

«Thorsten konnte sich die Mädchen aussuchen», sagte Birgit. «Das tat er auch. Er hatte jedes Wochenende eine andere. Alle waren verrückt nach ihm. Und was alle haben wollten, musste Lotti unbedingt haben.»

Dass er Lotti mit einem defekten Kondom aufs Kreuz gelegt hätte, um sich in geordnete Verhältnisse einzuschleichen, wie Großmutter Täuber behauptete, darüber lachte Birgit nur.

«Unsere geordneten Verhältnisse dürften so ziemlich das Letzte gewesen sein, wonach Thorsten sich sehnte. Wenn sie ein Kondom benutzt haben, hat eher Lotti dafür gesorgt, dass es seinen Zweck nicht erfüllte.»

Dafür sprach auch, dass er zuerst nicht glauben wollte, eine einmalige Angelegenheit hätte derartige Folgen. Wiederholt erkundigte er sich bei Birgit und Peter, ob Lotti tatsächlich schwanger sei, und wenn ja, wer sonst noch als Täter in Frage käme.

Lotti saß ab Juni 69 jeden Samstag und Sonntag in der Disco. Wenn sich niemand fand, der sie ins Nachbardorf fuhr, nahm sie eben ihr Fahrrad und schmachtete den DJ an. Nachdem feststand, dass sie «guter Hoffnung» war – sie soll tatsächlich diese antiquierte Bezeichnung benutzt haben–, erzählte sie allen von ihrem Zustand, unter besonderer Erwähnung des Verursachers, versteht sich. Schon im dritten Monat band sie sich ein Kissen vor den Bauch, damit nur ja keine Zweifel aufkamen. Mit der Methode erreichte sie allerdings das Gegenteil. Thorsten konnte vielleicht nicht so gut rechnen wie andere, aber zwischen früher und fortgeschrittener Schwangerschaft unterscheiden konnte er sehr wohl. Und mit dem Kissen muss Lotti ausgesehen haben, als stünde sie kurz vor der Entbindung.

Als sie begriff, dass sie auf die Weise nichts erreichte, radelte sie dreimal die Woche zu Großmutter Meller und heulte der den Kopf voll. Sie hätte noch nie etwas mit einem anderen Mann gehabt und auch Thorsten nicht so schnell nachgegeben, wenn der ihr nicht das Blaue vom Himmel versprochen und einen heiligen Eid geschworen hätte, sie zu lieben, und so weiter. Als seine Mutter ihm dann gut zuredete, ihn daran erinnerte, wie sehr er als kleines Kind seinen Vater vermisst hatte, «hat Thorsten eben in den sauren Apfel gebissen». So drückte Birgit es aus.

Zwar argwöhnte Großmutter Täuber zu diesem Zeitpunkt schon, dass der angeblich millionenschwere Thorsten Meller in Wirklichkeit ein armer Schlucker war. Sie gab sich die größte Mühe, ihrer hochbegabten Charlotte die Ehe auszureden. Wenn es nach der Alten gegangen wäre, hätte Lotti mich noch im sechsten Monat abtreiben lassen oder mich zumindest sofort nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Doch da biss der Giftzahn auf Granit.

Birgit meinte, Lotti sei zu der Zeit bis über beide Ohren in Thorsten verliebt gewesen. Außerdem hätte sie keine Lust gehabt, die Schule zu Ende zu bringen, und keine Vorstellung, was sie nach dem Abitur anfangen sollte. Irgendwas studieren und darauf warten, dass sie geheiratet wurde und ein bequemes Leben führen konnte? Da sie mit mir im Bauch und einem Mann, der genötigt wurde, ihr einen Trauring anzustecken, dieses Leben sofort haben konnte – glaubte sie jedenfalls–, bestand sie darauf, ihn zu heiraten.

Lotti war eben ein verwöhntes Ding, dem bis dahin kaum ein Wunsch abgeschlagen worden war. Sie glaubte auch immer noch an das Vermögen im Ausland. Nachdem sie das Aufgebot bestellt hatten, erzählte sie Birgit einmal von einem Nummernkonto in der Schweiz. Ob sie sich das aus den Fingern gesogen oder ob Thorsten ihr diesen Bären aufgebunden hatte, konnte Birgit mir nicht sagen. Das wollte ich auch gar nicht genau wissen.

Lotti war bereits im siebten Monat, als sie zum Standesamt gingen. Die kirchliche Trauung wurde auf später verschoben, weil sie rank und schlank und ganz in Weiß, mit einem Blumenstrauß vor den Altar treten wollte. Daraus wurde nie etwas. Großmutter Täuber wollte den Spaß nicht bezahlen und Thorsten konnte nicht.

Vielleicht hätten sie trotzdem die Chance auf eine einigermaßen glückliche Ehe gehabt und ich auf eine frühe Kindheit ohne blaue Flecken, gebrochene Knochen, natürlich auch ohne einen durchstochenen zweibäuchigen Mundbodenmuskel und eine verletzte Zunge, wenn sie sofort für sich alleine gewesen wären.

Thorsten wollte eine Mietwohnung nehmen und fand auch eine, die er sich leisten konnte. Birgit erinnerte sich gut daran, wie er geschwärmt hatte. Drei Zimmer, Küche, Bad, ein kleiner Flur und ein Stück Garten für zweihundertzwanzig Mark monatlich.

Aber Lotti wollte partout nicht zur Miete wohnen, sie wollte ein eigenes Haus, am besten eine Villa, um die jeder sie beneidete. Und Großmutter Täuber rechnete ihm vor, dass sein Lohn nicht für alle anfallenden Kosten reichte, als da wären: Miete und Kreditraten. Wenn man nichts auf der hohen Kante hatte, musste man notgedrungen Geld leihen, um Möbel zu kaufen. Oder wollte er das Wohnzimmer mit Apfelsinenkisten einrichten, eine Luftmatratze ins Schlafzimmer legen und in der Küche ein Lagerfeuer entzünden?

Des Weiteren brauchte man elektrischen Strom und Wasser, Heizmaterial, ein Telefon, Fernseher und Radio, wofür Gebühren zu entrichten waren. Auf sein Auto wollte er auch nicht verzichten, oder? Wenn er das alles bezahlen musste, blieb zum Leben praktisch nichts übrig. Und von Lotti konnte er nicht erwarten, dass sie in dem Stückchen Garten Kartoffeln und Gemüse anpflanzte und mit der Ernte die Haushaltskasse entlastete.

In der Kunststoffgießerei war er als ungelernter Arbeiter eingestellt worden. Obwohl er inzwischen als eine Art Vorarbeiter fungierte – er sorgte dafür, dass Granulate im richtigen Verhältnis gemischt wurden und die Spritzdüsen der Maschinen nicht verstopften–, hatte sich an seinem Status nichts geändert. Er verdiente nicht die Welt und kam nicht auf die Idee, um eine Lohnerhöhung zu bitten. Nach der Trauung durfte er sich am Wochenende auch nicht mehr nebenher als Discjockey betätigen. Für einen verheirateten Mann und werdenden Vater schicke es sich nicht, Schallplatten aufzulegen und mit jungen Mädchen zu poussieren, befand seine Schwiegermutter.

Abgesehen davon konnte die hochbegabte Charlotte zwar komplizierte Mathematikaufgaben lösen, englisch, französisch und Latein sprechen, ellenlange Balladen aufsagen, Luftschlösser bauen, von einem Nummernkonto in der Schweiz phantasieren und sich die Nägel lackieren. Aber sie konnte weder kochen noch ein Fenster sauber putzen, keine Wäsche bügeln, nicht mal die Waschmaschine richtig befüllen.

Es sei sinnvoller, sich für den Anfang mit der Anschaffung eines Doppelbetts und eines größeren Kleiderschranks fürs Mädchenzimmer zu begnügen, schlug Großmutter Täuber scheinbar großzügig vor. Charlotte könne lernen, wie man einen Haushalt führe, und fände nach der Geburt Unterstützung bei der Babypflege. Und er könne sparen, bis genug beisammen sei, um auf Kredite zu verzichten.

Aber Lotti hatte auch nicht sparen gelernt. Bis dahin hatte sie nur ihr Taschengeld zur freien Verfügung gehabt und dem Giftzahn alles, was sich damit nicht finanzieren ließ, abschmeicheln müssen. Nun stand ihr plötzlich ein Girokonto offen, auf das der Lohn ihres Mannes überwiesen wurde.

Großmutter Täuber setzte ihm so lange zu, bis er eine Kontovollmacht erteilte. Und dann räumte Lotti ab, überzog das Konto schon im ersten Monat, kaufte ein halbes Dutzend Umstandskleider, einen teuren Kinderwagen, Babywäsche in Blau und Rosa; zu der Zeit ließ sich im Voraus nicht feststellen, ob man einen Sohn oder eine Tochter bekam. Und das Kind sollte von Geburt an passend gekleidet sein.

Für den persönlichen Bedarf kamen noch literweise Nagellack sowie eine Batterie von Lippenstiften und Parfümflaschen dazu. Hauptsache, sie war schön und duftete, wenn ihr Mann nach Hause kam. Dass er sich bei Peter Geld borgen musste, um sein Auto zu betanken, kümmerte sie nicht. Vielleicht glaubte sie immer noch an die große Erbschaft und wollte ihn auf die Weise zwingen, davon etwas herauszurücken.

«Und was nutzte es Thorsten, dass Lotti sich herausputzte?», fragte Birgit, als ob ich das gewusst hätte. «Mit ihr schlafen durfte er nicht. Täubchen lag nebenan auf der Lauer. Wenn auch nur eine Bettfeder quietschte, stand sie vor der Tür. Und wehe, es war abgeschlossen, dann bekam sie einen Tobsuchtsanfall: ‹Was treibst du dadrin? Kannst du keine Rücksicht auf ihren Zustand nehmen?› Sie fragte immer nur Thorsten, so als ob Lotti nicht daran beteiligt gewesen wäre.»

Birgit hatte es mehr als einmal mitbekommen. Sie und Peter waren damals auch noch nicht lange verheiratet und begnügten sich mit einem Doppelbett und dem größeren Kleiderschrank im ehemaligen Jungenzimmer, weil das Geld knapp war. Peter – er war zwei Jahre älter, Birgit ein Jahr jünger als Thorsten – hatte sich gerade als Fuhrunternehmer selbständig gemacht und zwei Lastwagen auf Kredit angeschafft. Er musste Raten abstottern und einen Fahrer bezahlen, weil er nicht beide Laster gleichzeitig steuern konnte. Und allzu gut florierte sein junges Unternehmen noch nicht.

Birgit half vormittags in dem kleinen Laden ihrer Eltern, in dem man Zigaretten, Zeitschriften und Schreibwaren erwerben und Lottoscheine abgeben konnte. Dort verdiente sie nur ein besseres Taschengeld. Nachmittags machte sie für Peter die Büroarbeiten.

Sie wurden beide oft Zeugen, wie der Giftzahn sich daranmachte, Versäumnisse in Thorstens Erziehung auszugleichen und ihm gute Umgangsformen und Tischmanieren beizubringen. Peter sagte schon nach wenigen Wochen zu Birgit: «Wenn Thorsten über kurz oder lang der Kragen platzt, möchte ich nicht in seiner Nähe sein.»

Er durfte nicht mehr rauchen und musste sofort die Schuhe ausziehen, wenn er zur Haustür hereinkam, auch wenn er nur rasch etwas holen und gleich wieder gehen wollte. Wenn er schon am Tisch saß, musste er vor versammelter Mannschaft wieder aufstehen und seine Hände waschen. Da mochte er noch so überzeugend beteuern, das habe er schon getan. Und als er einmal das Tischgebet umformulierte: «Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und sieh selbst, was du uns bescheret hast», nahm der Giftzahn ihm den Teller weg und schickte ihn nach oben wie ein kleines Kind.

Birgit verstand nicht, warum er sich das bieten ließ. Dabei war es so einfach. Er schluckte jeden Ärger und jede Demütigung, weil er nicht gelernt hatte zu streiten und sich durchzusetzen. Gegen wen denn? Bei seiner Mutter hatte er tun und lassen dürfen, was er wollte. Wenn er sonntags bis weit in den Nachmittag hinein im Bett lag, weil er erst gegen Morgen heimgekommen war, wäre Großmutter Meller niemals auf die Idee verfallen, ihn aus den Federn zu scheuchen. Sie hatte ihm auch um halb vier noch ein Frühstück gemacht oder ihm Spiegeleier gebraten, wenn ihm danach war.

Und plötzlich gab es nur noch Vorschriften, einen Ton wie auf dem Kasernenhof. Alles hatte feste Regeln und Zeiten. Frühstück an Wochentagen um sieben, sonntags um halb neun. Mittagessen täglich um halb eins, Abendessen um sieben. Und wer die Woche über um sechs in der Früh zur Arbeit fahren musste, keine richtige Mittagspause machen konnte oder abends nicht zur rechten Zeit kam, hatte das Nachsehen. Sich selbst zu unüblichen Zeiten ein Butterbrot machen, wie er es mehrfach tun wollte, kam überhaupt nicht in Frage.

«Du bist hier nicht bei deiner Mutter», belehrte Großmutter Täuber ihn. «Wenn es der nichts ausmachte, dich zu jeder Tageszeit von hinten bis vorne zu bedienen, mir macht es etwas aus. Mich bedient auch keiner.»

Er wollte doch gar nicht bedient werden, sich nur einen Kaffee und ein paar Brote für die Arbeit selber machen. Und einmal wollte er um zehn Uhr abends noch eine Kleinigkeit essen, weil er zum vorgeschriebenen Zeitpunkt etwas Wichtigeres zu tun gehabt hatte, als im Kreise der Familie am Tisch zu sitzen. Er war doch Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, sie hatten einen Einsatz gehabt. Aber da er damit kein Geld verdiente, fanden Lotti und der Giftzahn einstimmig, ein Mann mit Familie müsse andere Prioritäten setzen. Freiwillige Feuerwehr sei etwas für ledige Männer.

Wenn er am Sonntagnachmittag Musik hören wollte, hieß es: «Du bist hier nicht in der Discothek. Stell den Krach ab, ehe mir der Schädel platzt.» Großmutter Täuber litt häufig unter Migräne, vielleicht auch nicht so häufig, wie sie behauptete. Es war halt ein gutes Argument, um jedem den Mund zu verbieten, der ihr widersprechen wollte.

Tagsüber fand das Leben ausschließlich in der Küche statt. Natürlich gab es ein Wohnzimmer, darin standen der Fernseher und die sogenannte Musiktruhe mit Radio und Plattenspieler. Es gab sogar ein Esszimmer im Erdgeschoss, doch das wurde nur zu besonderen Anlässen genutzt. Und ins Wohnzimmer durfte man erst abends zur Tagesschau, dann wurde die Küche zum Sperrgebiet erklärt, weil sie nun sauber war.

Nicht einmal Peter war es gestattet, sich schon am Samstagnachmittag eine Sportübertragung anzuschauen oder anzuhören und dabei gar noch eine Flasche Bier zu trinken. Wenn er um fünf oder halb sechs ins Wohnzimmer gehen wollte, wurde er regelmäßig gefragt: «Hast du nichts mehr zu tun? Wie wäre es denn, du putzt deine Lastwagen mal gründlich, damit man sich nicht schämen muss, wenn die in der Stadt unterwegs sind.»

Den Unterhaltungsteil für die erwachsenen Mitglieder der Familie eröffnete Opa mit der Tagesschau um acht Uhr. Da er mein einziger Großvater war, musste ich ihn nicht mit dem Nachnamen ansprechen, um jegliche Verwechslung zu vermeiden. Er bestand auch nicht auf der korrekten Anrede, gab sich mit «Opa» zufrieden. Mit Vornamen hieß er ebenfalls Felix, er war mein Pate.

Ich weiß nicht so recht, wie ich ihn beschreiben soll. Heute kann ich sagen: «Mein Opa hat Fehler gemacht wie jeder Mensch, aber er war ein patenter Kerl.» Als Kind erlebte ich ihn anders: wortkarg, unauffällig, fast unsichtbar. Soweit ich mich erinnere, hielt er sich nur zum Essen, zur Tagesschau und zum Schlafen im Haus auf. Jedenfalls habe ich ihn damals bloß bei den Mahlzeiten regelmäßig gesehen. Er saß mit uns am Tisch und aß schweigend, was ihm vorgesetzt wurde.

Nach dem Frühstück ging er zur Arbeit oder in den Garten. Und abends ging er eben ins Wohnzimmer und ließ sich über das Weltgeschehen informieren. Das konnte er zwar ebenso wenig ändern wie die Zustände in seiner Familie, doch über verschwenderische oder blutrünstige Diktatoren in Afrika durfte er sich aufregen, ohne dass ihm giftsprühende Blicke zugeworfen oder der Mund verboten wurden.

Nach der Tagesschau ging er oft zu Parteiversammlungen. Er war politisch sehr ambitioniert, wenn auch nur auf kommunaler Ebene. Oder er ging zu seinen Belgischen Riesen, das waren Kaninchen. Die Käfige standen in einem Holzhaus hinten im Garten, wo das Grundstück an der Parallelstraße endete. Und dort zeigte Opa Präsenz, vor allem, wenn er ein Tier schlachtete.

Einmal nahm er mich mit, da war ich fünf Jahre alt. Es war Pfingstsamstag. Am Freitagabend und in der Nacht war eine Menge passiert. Dazu komme ich später noch. Opa hielt es für besser, wenn ich nicht alles mithörte, was im Haus gesprochen wurde. Deshalb durfte ich das Kaninchen für den Bratentopf aussuchen. Zu Feiertagen gab es immer Kaninchenbraten.

Dann schaute ich zu, wie mein wohlmeinender Großvater in den Käfig griff, das Tier, das ich für schlachtreif befunden hatte, im Genick packte und es herauszog. Er schlug ihm mit einem Hammer auf den Kopf, schnitt ihm die Kehle durch, umfasste die Hinterläufe, hielt es hoch und ließ es ausbluten. Das war kaum die richtige Ablenkung für einen kleinen Jungen. Ich mochte danach kein Kaninchenfleisch mehr essen und hatte eine Zeit lang panische Angst vor Opa.

Beruflich war er ebenfalls gefürchtet: Finanzbeamter. Darüber hinaus Vorsitzender des Kaninchenzüchtervereins und Schriftführer «der Partei», als hätte es nur eine gegeben. Ein eingefleischter Christdemokrat war er, der kein sonntägliches Hochamt versäumte. Danach debattierten die Honoratioren, zu denen er sich zählte, auf dem Platz vor der Kirche und in einer nahe gelegenen Gaststätte, bis es Zeit wurde, daheim zum Mittagessen anzutreten.

Draußen war er ein angesehener Mann, zu Hause hatte er nichts zu sagen und nichts zu lachen. Und er hatte frühzeitig eingesehen, dass es um des lieben Friedens willen für ihn besser war, den Mund zu halten, sich nicht in die Haushaltsführung oder Erziehungsfragen einzumischen. Bestimmt nicht, wenn es um die hochbegabte Charlotte ging, aber auch nicht, wenn es den Sohn betraf.

Peter hatte als Kind mehr Schläge als warme Mahlzeiten von seiner Mutter bekommen und war ebenfalls oft «dämlicher Hund» tituliert worden. Das hatte ich mit ihm gemeinsam. Der Giftzahn hatte ihn so lange durch die Schulzeit geprügelt, bis Peter endlich lernte, ihre Unterschrift täuschend echt unter verhauene Klassenarbeiten zu setzen. Danach wurde er nur noch für schlechte Zeugnisse windelweich geschlagen. Die konnte er ihr nicht vorenthalten. Und sie schrieb es alleine ihren Methoden zu, dass aus ihm letztlich ein erfolgreicher Unternehmer geworden war.

Lotti war das Nesthäkchen gewesen, neun Jahre jünger als ihr Bruder und angeblich schon als Kleinkind so klug, dass man sie mit drei Jahren in die Schule hätte schicken können. Sie hatte sich nie als Fälscherin betätigen müssen. Ihre Noten konnten sich sehen lassen, überwiegend Einser, sie wurden mir oft genug vorgehalten, Zweier nur in Religion, Leibesübung und Betragen. Aus der hochbegabten Charlotte hätte durchaus eine Frau Doktor werden können, wäre sie nicht mit siebzehn auf diesen Nichtsnutz hereingefallen, der alles flachlegte, was nicht bei drei auf den Bäumen war.

Großmutter Täubers Vokabular passte vortrefflich zum Proletariat, doch sie rechnete sich zu den oberen Zehntausend, die in unserer Kleinstadt etwa ein Dutzend Köpfe umfassten. Und keiner von der Lokalprominenz war je Gast in ihrem Haus gewesen. Sogar Opas Parteifreunde bevorzugten den Kirchplatz oder das Lokal, in dem sie sich regelmäßig versammelten. Die Mitglieder des Kaninchenzüchtervereins kamen grundsätzlich durch die Parallelstraße aufs Grundstück und blieben im Garten. Das Holzhaus stand da nicht allein für die Kaninchenkäfige.

Jeder hatte höllischen Respekt vor dem Giftzahn. Wer sie in der Stadt rechtzeitig bemerkte, wechselte schnell auf die andere Straßenseite. Ansonsten grüßte man höflich bis überschwänglich, das hing von der jeweils vorhandenen Verstellungskunst ab. Anschließend behauptete man, einen dringenden Termin beim Zahnarzt zu haben, das dazu passende gequälte Gesicht hatte man in der Regel schon. Dann ging man rasch weiter.

Niemand wollte etwas mit ihr zu tun haben. Aber sie hatte sich Hoffnungen auf familiäre Verbindungen gemacht und erging sich mit Ausdauer in den Perspektiven, die ihrer Charlotte offengestanden hätten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Dieter Baloch, der einzige Sohn des Bauunternehmers, bei dem Thorsten nach seiner Schulzeit als ungelernter Arbeiter angefangen hatte.

Dieter hatte Charlotte nur drei Wochen vor dem «Unglück» – sprich: meiner Zeugung – anlässlich der Maifeier zweimal zum Tanzen aufgefordert. Und sie hatte ihn beide Male abblitzen lassen, weil er ihr zu schmächtig, zu albern und viel zu jung gewesen war, nur ein Jahr älter als sie. So eine Dummheit, nicht wahr? Dieter wurde doch älter, reifer, sogar ein bisschen kräftiger und Juniorchef im väterlichen Unternehmen. Und der Giftzahn wurde nicht müde, der hochbegabten Charlotte auszumalen, was daraus hätte werden können, hätte sie sich bei der Maifeier nur ein wenig vorausschauend gezeigt. Das habe ich so oft gehört, das konnte ich gar nicht vergessen.

Nach meiner Geburt gab die Alte sich redlich Mühe, ihrer Charlotte weitere Schwangerschaften zu ersparen. Obwohl im Obergeschoss das Zimmer einer verstorbenen Urgroßmutter leer stand, wurde mein Gitterbett neben das Doppelbett meiner Eltern gestellt und mein Vater jeden Abend erinnert: «Ich hoffe, du weißt inzwischen, was sich gehört.» Sex vor den Augen eines kleinen Kindes gehörte sich selbstredend nicht.

Um sicherzugehen, dass ich nicht bereits im zarten Säuglingsalter moralisch verdorben wurde, hatte Großmutter Täuber den Schlüssel von der Tür gezogen, noch während Mutter nach der Entbindung im Krankenhaus lag. Angeblich geschah das aus reiner Fürsorge, damit die arme Charlotte sich von den Strapazen der Schwangerschaft und den Qualen der Geburt erholen konnte und nicht jede Nacht aufstehen musste, um mich zu versorgen.

Darin sah Mutter allerdings das geringere Übel. Als sie den Schlüssel zurückverlangte, war der nicht mehr auffindbar. Und so platzte Großmutter Täuber manche Nacht herein, weil sie das Quietschen der Bettfederung oder andere Laute nicht vom Weinen eines Babys unterscheiden konnte. Das Anklopfen ersparte sie sich, im eigenen Haus klopfte man doch nicht an eine Tür. Anschließend gab es auch ein paar tadelnde Worte an Lottis Adresse, die Birgit mithörte: «Schämst du dich nicht, Charlotte? Vor deinem Kind? So etwas tut man, wenn man alleine ist.»

Sie waren doch nie allein! Aber zu der Zeit muss Mutter noch sehr verliebt gewesen sein. Und Liebe macht bekanntlich nicht nur blind, sondern auch erfinderisch. Da ich Ende Februar geboren wurde, endete die Wöchnerinnenzeit im Frühling. Bis zum Herbst machten sie abends lange Spaziergänge mit dem Kinderwagen, wenn das Wetter es erlaubte. Sie suchten sich ein Plätzchen, an dem sie ungestört und unbeobachtet waren. Als es wieder kälter und ich älter wurde, sodass es nicht mehr möglich war, mich im Kinderwagen an einem Feldweg abzustellen, besuchten sie Großmutter Meller mindestens viermal die Woche und lieferten mich ab, um «ins Kino zu gehen».

Daran erinnere ich mich auch noch, natürlich nicht an die Filme, die meine Eltern sich gönnten, nur an häufige Aufenthalte bei Oma – zwar nur vage, aber ein paar Eindrücke sind haftengeblieben. Ein grüner Plastiktraktor mit Anhänger, den ich sogar mit Sand beladen durch ihre Wohnküche schieben durfte. Ein Schuhkarton voller Bauklötze, der immer für mich in der Ecke zwischen Fenster und Schrank bereitstand. Lebkuchenherzen mit Schokoladenüberzug. Die warme Frauenstimme, die mich Bübchen nannte und es nicht so tragisch fand, wenn ich die frischgewaschene Tischdecke mit schmierigen Fingern anfasste. Und wenn ich ein Glas Saft umstieß, ging davon die Welt nicht unter. Die beiden Sätze hatte Vater von ihr.

Bei Großmutter Täuber durfte ich keine Flecken machen, keine Bauklötze auftürmen, gewiss nicht umwerfen, nicht mal eins von den winzigen Kunststoffautos über die Tischplatte schieben und dabei leise brummen. Von dem Lärm bekam sie sofort Migräne.

Ich weiß noch, als ich nach dem Schädelbruch im Alter von dreieinhalb Jahren aus dem Krankenhaus entlassen wurde, schenkte Vater mir ein Feuerwehrauto mit einem funktionierenden Blaulicht und einem Martinshorn, beides wurde mittels einer Batterie betrieben. Er legte die Batterie ein und einen winzigen Hebel um. Und der Giftzahn verlangte auf der Stelle: «Stell sofort den Lärm ab. Oder willst du mich umbringen?»

Das hätte er besser getan! Wie oft habe ich mir das vorgestellt, ehe ich selbst mit einem blutigen Messer neben einer Frauenleiche kniete und gar nicht wusste, wohin ich noch stechen sollte.

In allen Einzelheiten habe ich es mir jedes Mal ausgemalt! Wie mein Vater diese Küche betrat, in der ich acht lange Jahre nur das gewesen war, was eben dabei herauskam, wenn man einen löchrigen Gummi benutzt hatte. Wie er in das stets sorgfältig frisierte Haar der Alten griff, ihren Kopf nach hinten überstreckte, das Messer an ihren faltigen Hals setzte und es durchzog, ganz langsam und genüsslich.

Wie habe ich jede Szene genossen, wenn dieser Film in meinem Kopf ablief! Das Entsetzen in ihren Augen, ihre Todesangst, wie sie um ihr Leben winselte. Wie ihr Blut aus der Wunde spritzte, ihren Kittel durchtränkte oder besser eine von den Blusen, die sie trug, wenn sie in die Stadt ging. Oder am besten das Festtagskleid, dem ich mit schmierigen Fingern zu nahe gekommen war, als sie es gerade aus der Reinigung geholt hatte.

Und das sadistische Aas schlug mir ins Gesicht, versetzte mir diesen Stoß vor die Brust, der so heftig war, dass ich nach hinten taumelte, den Halt verlor, mit dem Kopf gegen den Türrahmen prallte und mir den Schädel brach.

Und dann erzählten sie allen, ich sei die Treppe hinuntergefallen. Die Ärzte im Krankenhaus zogen das ebenso wenig in Zweifel wie mein Vater, Opa, Birgit und Peter. Und ich wagte es nicht, einem Menschen die Wahrheit zu sagen, aus Furcht vor dem nächsten Schlag.

Wie habe ich sie damals gefürchtet! Nicht gehasst, wirklich nicht. Ein kleines Kind kann nicht hassen. Der Hass entwickelt sich später aus der Angst vor so einem verfluchten alten Weib und vor dem jungen, das anfangs nur tatenlos zuschaute, wenn Mutti ausholte. Dabei schaute die hochbegabte Charlotte wohl eher aufmerksam zu. Sie musste ja noch viel lernen: kochen, waschen, bügeln, Fenster putzen und Kinder erziehen.

Mutter war zum zweiten Mal schwanger, als ich mit gebrochenem Schädel ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Und von Liebe war sie inzwischen so weit entfernt wie die Batterie von dem Feuerwehrauto, das ich zur Genesung von Vater bekam. Der Giftzahn legte die Batterie in die Küchenuhr ein. Und so, wie die Uhr allmählich der Batterie die Kraft entzog, muss Mutters Verliebtheit in Vater aufgezehrt worden sein, schleichend, unmerklich, es fiel erst auf, als die Uhr nachging.

Wie heißt es so schön? Steter Tropfen höhlt den Stein. Auf Dauer zermürbt es eben, wenn man sich Tag für Tag anhören muss, was man alles haben könnte, hätte man sich nicht mit dem falschen Mann eingelassen. Im Laufe der Zeit hatte Mutter vermutlich eingesehen, dass es in der gesamten Schweiz keinen Pfennig oder Rappen gab, der Vater gehört hätte. Als sie sich dann noch Vorhaltungen wegen ihrer eigenen Dämlichkeit anhören musste, erloschen die ohnehin bereits auf Sparflamme köchelnden Gefühle vollends.

Die zweite Schwangerschaft wandelte Großmutter Täubers Einstellung zur Tochter dramatisch. Plötzlich war Mutter nicht mehr die hochbegabte Charlotte. Jetzt war sie eine dumme Kuh, die sich besser in den Hintern gekniffen hätte, statt für einen geilen Bock die Beine breit zu machen und sich noch ein Balg andrehen zu lassen.

Mutter vertrug die Pille nicht. Den Versuch mit der Spirale beendeten heftige Blutungen. Und Kondome waren nicht zuverlässig, wie meine Existenz bewies.

Vater hörte nie, wie Gift und Galle über ihn versprüht wurde. Er machte viele Überstunden, war von morgens bis abends in der Kunststoffgießerei. Birgit hörte auch nur wenig von dem, was tagsüber gesprochen wurde. Bloß ich saß immer dabei, wenn Großmutter Täuber loslegte, die ehemaligen Kandidaten anführte und aufzählte, was die ihren Frauen oder Freundinnen inzwischen boten. Und die dumme Kuh Charlotte musste schon dankbar sein, dass ihr in Kürze ein Kinderzimmer zur Verfügung gestellt wurde.

Inzwischen florierte Peters Fuhrunternehmen. Er besaß ein halbes Dutzend Lastwagen, darunter zwei Kühltransporter, mit denen Schweinehälften nach Italien gekarrt wurden. Als Kind verstand ich nicht, warum. Ich dachte, in Italien gäbe es keine Schweine. Peter fuhr nicht mehr selbst. Er saß nur noch im Büro oder war unterwegs zu Kunden, sammelte und koordinierte Aufträge und kümmerte sich um den Papierkram, weil Birgit damit längst überfordert war.

Schon vor geraumer Zeit hatte Peter in dem neuerschlossenen Gewerbegebiet am Stadtrand ein großes Grundstück erworben und eine Halle aus Fertigteilen darauf errichten lassen, an die sich ein kleiner Bürotrakt anschloss. In den letzten Monaten war dort zusätzlich ein Haus entstanden, um das Birgit von Mutter glühend beneidet wurde. Es war fast fertig, nur noch ein paar Kleinigkeiten beim Innenausbau, danach konnte eingerichtet werden. Sobald die Küche aufgestellt war, wollten Birgit und Peter umziehen. Sie saßen praktisch auf gepackten Koffern und zählten ihre restlichen Nächte unter dem Dach des Giftzahns.

Und ich fürchtete den Tag, an dem Birgit nicht mehr helfend eingreifen konnte. Das tat sie so oft, vor allem beim Mittagessen, wenn die Männer nicht im Haus waren. Wenn Birgit dabeisaß, bekam ich während der Mahlzeit keine Ohrfeigen, weil ich trödelte. Ich hatte bloß zu essen, was auf den Tisch kam, auch Rosenkohl und dicke Bohnen in Specksoße. Die bekam ich beim besten Willen nicht hinunter, bestimmt nicht, wenn sie aufgewärmt waren. Frisch gekocht wurde die Woche über für den Abend. Mittags gab es die Reste. Und ich hatte zu schlucken, auf Biegen und Erbrechen. Doch sobald ich zu würgen anfing, warnte der Giftzahn: «Wag es.»

Ich wagte es lieber nicht. Um Viertel nach zwei ging Birgit ja wieder. Seit Peter die Büroarbeiten selbst erledigte, half sie auch nachmittags im Laden ihrer Eltern oder beaufsichtigte Handwerker in ihrem neuen Haus. Ehe Opa aus dem Finanzamt oder Vater aus der Kunststoffgießerei kam, war reichlich Zeit, mich für erbrochenes Gemüse büßen zu lassen. Und mit der Zeit entwickelt man Strategien, das kann auch ein Vierjähriger schon. Ich stocherte auf meinem Teller herum, fischte die Kartoffelstücke heraus, schob eins nach dem anderen in den Mund, kaute gründlich, bis ihre Teller leer waren und das widerliche Gemüse auf meinem kalt geworden.

Dann nahm der Giftzahn meinen Teller und trug ihn hinaus zur Mülltonne. Nicht, um das Essen hineinzukippen, nein! Ich musste mit in den Geräteschuppen hinter dem Haus, wo die Tonne stand. Es war immer dunkel dort, es gab Mäuse, sogar Ratten, behauptete die Alte jedenfalls und sagte immer, die Ratten würden mich beißen, wenn ich nicht voranmachte.

Ich fürchtete mich jedes Mal zu Tode, aber ich wusste genau, dass Birgit bald käme, um mich zu erlösen. Sie nahm um Viertel nach zwei eigens für mich den Weg durch den Garten, kam in den Geräteschuppen, packte den Teller, öffnete die Tonne, drückte den oben liegenden Abfall beiseite und warf Gabel um Gabel hinein, damit es so aussah, als hätte ich aufgegessen. Dann sortierte sie den Abfall wieder darüber und sagte: «Grün um die Nase bist du noch, lauf und frag, ob du wieder reinkommen darfst, Schatz.»

Großmutter Täuber kontrollierte meinen Teller jedes Mal auf Schabespuren, meist schaute sie auch in die Tonne. Aber Birgits Methode hinterließ keine verräterischen Zeichen, die sofort ins Auge gefallen wären. Und die Mühe, den Abfall genauer zu untersuchen, machte die Alte sich nicht. Also durfte ich wieder in der Küche sitzen und malen, das machte keinen Lärm. Birgit brachte mir oft Malbücher und Filzstifte aus dem Laden ihrer Eltern mit. Ich musste nur aufpassen, dass ich mit den Stiften der Tapete, dem Linoleum auf dem Fußboden oder dem Wachstuch auf der Tischplatte nicht zu nahe kam. Ich passte immer gut auf und hörte ebenso gut zu, wie sie über meinen Vater herzogen.

Und ich glaube, es waren anfangs nur diese Tiraden, die ihm den immensen Raum in meinem Leben verschafften, weil ich in den ersten drei, vier Jahren doch gar keine intensive Beziehung zu ihm aufbauen konnte. Wenn ich morgens aus dem Bett genommen wurde, war er längst zur Arbeit gefahren. Kam er abends zurück, wurde gegessen, danach musste ich ins Bett. Er sagte mir gute Nacht, strich mir mal übers Haar, und das war’s.

Wie Opa ergriff er jeden Abend die Flucht. Und wenn er um zehn Uhr nicht zurück war, musste er oft genug zu seiner Mutter fahren und auf der Couch in ihrer Wohnküche übernachten. Einen Schlüssel für die Haustür besaß er nicht. Solange Birgit und Peter noch im Haus wohnten, ließen sie ihn herein, wenn er klingelte. Opa öffnete ihm auch, wenn er es hörte. Der Giftzahn und Mutter dagegen sahen nicht ein, für einen streunenden Hund noch einmal aufzustehen.

Dabei trieb er sich nicht herum, wie sie immer behaupteten. Er ging wohl manchmal in eine Kneipe, da durfte er rauchen und auch zwei Bier trinken, ohne dass ihn deswegen jemand schief anschaute. Aber meist hatte er abends im Gerätehaus der Feuerwehr zu tun. Er wartete die Fahrzeuge, den Atemschutz, die Schläuche und so weiter. Oder er besuchte seinen Freund Gettmann, der ebenfalls Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, verheiratet und bereits Vater war. Und mein Vater schaute sich bei seinem Freund an, wie eine glückliche Familie lebte.

Gelegentlich erzählte er Gettmann, wie «Lotti» und «Täubchen» ihm das Leben sauer machten. Mutter war für ihn ein Fass ohne Boden. Einmal sagte er: «Lotti wird erst zufrieden sein, wenn ich Millionär geworden bin.» Daran erinnerte Gettmann sich noch gut, als wir über diese Abende sprachen.

Wie viele Leute, die es aus eigener Kraft oder mit ihrer Hände Arbeit gar nicht schaffen können, reich zu werden, spielte mein Vater Lotto. Birgit gab die Scheine für ihn ab. Aber er gewann keine größeren Summen. Drei Richtige hatte er öfter, einmal sogar vier, da kamen siebzig Mark heraus.

Peter, der nichts von Glücksspielen hielt und mit zunehmendem geschäftlichem Erfolg immer zu wenig zuverlässige Leute hatte, machte ihm den Vorschlag, am Wochenende als Aushilfsfahrer für ihn zu arbeiten. Den Führerschein der Klasse zwei besaß Vater seit Jahren, den hatte er machen müssen, um Leiterwagen und Gerätewagen der Feuerwehr fahren zu können. Für Peter stieg er am Freitagabend ins Führerhaus, kaum dass er in der Kunststoffgießerei Feierabend hatte. Zurück kam er erst am Montagmorgen. So viel zur faulen Sau.

Den Sonntag verbrachte Vater entweder hinter dem Steuer im benachbarten Ausland, oder er verschlief die Stunden auf einem deutschen Rastplatz. Bis um zehn Uhr abends, dann durfte er weiterfahren Richtung Heimat. Gelegentlich wurde das Sonntagsfahrverbot für Lkws durch Sondergenehmigungen außer Kraft gesetzt. Wenn man die richtigen Leute in den zuständigen Ämtern kannte, ließ sich da etwas machen. Dann war er schon am Abend wieder daheim und konnte die Nacht im eigenen Bett verbringen.

Von dem, was er mit diesen Touren verdiente, bekam Mutter nichts in die Finger. Peter gab es ihm bar auf die Hand, weil er meinte, es reiche vollkommen, dass Lotti fast den kompletten Lohn aus der Kunststoffgießerei verschleudere. Großmutter Täuber verlangte nur einen kleinen Beitrag zum gemeinsamen Haushalt. Den Rest trug Mutter in Kleiderläden, Schuhgeschäfte, zum Friseur und in die Drogerie, in der sie ihren Schminkkram kaufte.

Hundertmal am Tag wurden die Lippen nachgezogen, die Wimpern getuscht, der Lidstrich und der Nagellack geprüft. Aus meinen ersten Jahren kenne ich sie eigentlich nur in einem neuen Kleid oder mit neuen Schuhen vor einem Spiegel, um den herum sich weitere Neuerwerbungen oder ihre Malutensilien verteilten.

Sie war sehr hübsch, das war sie wirklich, hatte schulterlanges, hellblondes Haar. Das wurde jeden Tag nach dem Frühstück auf dicke Wickler gedreht, damit die Locken üppig fielen. Von Natur aus war ihr Haar glatt und nicht gar so hell. Dann wurde toupiert und gesprayt, bis man in ihrer Nähe nicht mehr atmen konnte.

Anfassen mochte ich ihre Haare nie, sie waren immer bretthart. Aber ich durfte sie auch nicht anfassen, hätte ja die Frisur durcheinandergebracht. Und ihr Gesicht… Ich weiß nicht, womit ich sie am ehesten vergleichen könnte – mit Claudia Schiffer vielleicht, nur jünger und viel härter. Wenn sie sich über Vater ausließ, sah Mutter schon mit zwanzig aus, als hätte man sie aus einem Granitblock geschlagen und mit Farbe bemalt.

Dass er ihr nicht auch noch seinen Nebenverdienst komplett zur Verfügung stellte, bezeichnete sie als Unverschämtheit. Er hatte gesagt, er brauche mal ein paar Mark für sich. Das wollte sie nicht einsehen. Wozu brauchte ein verheirateter Mann Geld für sich? Er bekam zu essen, seine Wäsche wurde gewaschen, und die Seife, mit der er vor den Mahlzeiten seine Hände schrubben musste, kaufte seine Schwiegermutter. Mit anderen Worten, er war rundum versorgt. Gut, er musste hin und wieder sein Auto betanken, doch dafür brauchte man in den siebziger Jahren trotz Ölkrise noch keinen Kleinkredit aufzunehmen. Gelegentlich neue Socken oder die Anschaffung von Arbeitshemden oder Hosen wurden ihm auch zugestanden. Aber was, zum Teufel, tat er mit dem ganzen Rest?

Den trug er auf Peters Geheiß zur Sparkasse, zahlte ihn allerdings nicht auf sein Girokonto ein. Von Birgit weiß ich, dass Peter ihm empfohlen hatte, ein Sparbuch anzulegen und Lotti auf keinen Fall etwas davon zu erzählen.

«Ihr müsst da raus, Thorsten», hatte Peter gesagt. «Wenn der Giftzahn noch lange auf Lotti einredet, kannst du dich bald auf Dauer bei deiner Mutter einquartieren und darfst nur noch für den Unterhalt schuften. Lotti zieht dir nach einer Scheidung das letzte Hemd aus, darauf kannst du Gift nehmen. Stell ihre Wünsche mal hintenan. Auf eine Villa musst du länger sparen. Sieh zu, dass du für den Anfang eine Wohnung findest. Mit dem, was du bei mir verdienst, schaffst du das. Stell Lotti vor vollendete Tatsachen, sonst wird das nie was.»

Und Mutter vermutete, er ginge in den Puff, weil sie ihn auf Sparflamme hielt. Mit den Ausdrücken konnte ich damals nichts anfangen. Nachts im Bett hörte ich sie – wenn überhaupt – nur miteinander reden. Manchmal sagte er: «Sei doch nicht so, Lotti, bis zur Schonfrist ist es noch ein Weilchen. Ich bin ganz leise und vorsichtig.» Wie er das meinte, wusste ich natürlich nicht.

Aber er liebte sie, da bin ich heute noch sicher. Vielleicht hatte er sie nicht vom ersten Tag an geliebt. Später dagegen kämpfte er um ihre Liebe und seine Ehe. Ich habe so oft gehört und gesehen, wie er sich bemühte. Manchmal brachte er ihr Blumen mit. Es waren immer die falschen. Kam er mit roten Rosen, hätte sie sich über einen bunten Strauß viel mehr gefreut. Kam er mit dem bunten Strauß, hätten es rote Rosen sein müssen. Einmal schenkte er ihr ein Fläschchen Parfüm, das war nicht ihre Marke und außerdem viel zu klein. Und als er ihr ein kurzes Nachthemd aus schwarzer Spitze schenkte, hielt der Giftzahn ihm einen Vortrag. Er habe nur Sauereien im Kopf und solle seine Kröten lieber zusammenhalten. Man wüsste ja nicht, wie lange er noch Geld verdiene.

Es stand schlecht um die Kunststoffgießerei. Die Auftragslage war dramatisch zurückgegangen. Deshalb hatte er sich noch nicht um eine Wohnung in der Stadt bemüht, wie Peter ihm empfohlen hatte. Auch darüber sprachen sie mehrfach nachts im Bett. Nicht über Peters Ratschläge, nur über die Kunststoffgießerei. Vater meinte, der Chef sollte sich um die Modellbauindustrie bemühen, statt weiter Nadeldöschen, Püppchen und anderen Kitsch zu produzieren. «Den Kram braucht keiner. Heute haben wieder zwei Leute die Papiere bekommen.»

Er noch nicht. Er mochte ein ungelernter Arbeiter sein, aber er war tüchtig. «Ich bin ein einfacher Mann, und ich tu, was ich kann.» Dieser Song war wie für ihn geschrieben. Er war keine faule Sau und kein Versager. Er mochte manchmal flunkern oder maßlos übertreiben, um Eindruck zu schinden. Er mochte Zahlen falsch addieren und Rechtschreibfehler machen, wenn er einen Brief schrieb. Er mochte unfähig sein, zu streiten und sich gegen zwei habgierige, herrschsüchtige Weiber durchzusetzen. Aber er konnte die Gussmaschinen instand halten und entlaufene Schweine einfangen, als ein Viehtransporter umkippte. Er konnte Keller leer pumpen, wenn sie nach heftigen Regenfällen voll Wasser gelaufen waren. Er konnte Feuer löschen und Menschen aus brennenden Autos ziehen, an die sich sonst keiner mehr herantraute.

Ich war dabei – später, da war ich sieben Jahre alt–, und ich war natürlich nicht mit ihm an dem brennenden Auto. Ich sehe nur heute noch vor mir, wie seine Kameraden ihm auf die Schulter klopfen. Mir klingt noch in den Ohren, wie sie mit dieser Hochachtung in ihren Stimmen schimpfen. Er sei viel zu leichtsinnig gewesen, das eigene Leben müsse grundsätzlich Vorrang haben. Sie hätten es nicht gewagt, die Tür des Autos aufzureißen und den Mann aus den Flammen zu ziehen. Der Tank sei leck gewesen und hätte jeden Moment explodieren können. Man hätte zuerst das Feuer löschen müssen und so weiter. Und mein Vater sagte: «Es ging um Sekunden, da denke ich doch nicht an meine Haut.»

Als die Kunststoffgießerei immer tiefer in finanzielle Schwierigkeiten geriet und der Konkurs nur noch eine Frage von Wochen war, bewarb er sich bei der Kölner Berufsfeuerwehr. Auch darüber sprachen sie nachts. Mein Bett stand noch in ihrem Schlafzimmer, obwohl Peter und Birgit inzwischen im eigenen Haus lebten.

«Spinn doch nicht rum», sagte Mutter. «Glaubst du im Ernst, die nehmen einen, der in der Bewerbung fünf Fehler gemacht hat?»

«Ich hab dich gefragt, ob alles richtig ist», erinnerte er sie. «Warum hast du die Fehler nicht verbessert?» Als er darauf keine Antwort bekam, sagte er: «Ich will bei denen ja nicht im Büro sitzen. Ich will nur tun, wovon ich etwas verstehe.»

«Schlag dir das aus dem Kopf», meinte Mutter. «Sieh lieber zu, dass Peters Zimmer tapeziert wird, damit Felix hier rauskommt. Ich ziehe nicht in eine Mietwohnung, das habe ich dir von Anfang an gesagt. Nach Köln ziehe ich schon gar nicht. Mit demnächst zwei kleinen Kindern in eine Großstadt, wo ich keinen Menschen kenne. Da müsste ich ja verrückt sein. Wir könnten nicht mal mehr ins Kino gehen.»

«Das tun wir doch hier auch nicht mehr», erwiderte er.

«Aber wir könnten», meinte sie – und nach einer kleinen Pause: «Warum fährst du nicht richtig für Peter? Nicht bloß als Aushilfe am Wochenende wie jetzt. Er stellt dich bestimmt fest ein. Soll ich ihn fragen?»

«Nein», sagte er. «Das ist nichts für mich, Tag und Nacht auf der Straße. Und wenn hier Not am Mann ist, bin ich nicht da.»

Mutter bezog die Not am Mann auf die Feuerwehr. «Dann bist du eben nicht da. Es gibt genug andere, die einen Schlauch halten können. Mich stört es nicht, wenn du unterwegs bist.»

«Aber mich stört es», sagte er.

Ob er damals schon einen Verdacht hatte, ihnen nicht mehr glaubte, ich sei ein Tollpatsch, der unentwegt über seine eigenen Füße stolperte, die Treppe hinunterfiel oder so lange auf einem Stuhl herumhampelte, bis er endlich mit dem Gesicht auf die Tischplatte knallte und sich die Nase oder die Lippe blutig schlug, ich weiß es nicht. Großmutter Täuber hielt sich inzwischen etwas zurück. Nicht, weil sie aus meinem Schädelbruch eine Lehre gezogen hätte, nein, sie hatte zur Migräne noch Gicht in die Finger bekommen. Von ihr bezog ich bloß noch sogenannte Kopfnüsse, mit den Knöcheln gegen den Hinterkopf. Davon sah man nichts. Mutter schlug meist mit der flachen Hand ins Gesicht, das rötete eine Wange auch nur vorübergehend.

Wenn es richtig zur Sache gehen sollte, meckerte der Giftzahn so lange, bis Mutter sich einen hölzernen Kochlöffel schnappte. Dann gab es natürlich Striemen, Blutergüsse und andere Verletzungen – mit den erwähnten Erklärungen, wenn er nachfragte. Vielleicht wartete er darauf, dass ich ihm endlich einmal erzählte, wie es tatsächlich dazu gekommen war. Doch das hätte ich nie gewagt, weil mir immer eingeredet wurde, dass ich die Prügel selbst verschuldet und verdient hatte.

Ein paar Wochen später, am 15.Mai 1974, wurde meine Schwester Sabine geboren. Peters Zimmer war frisch tapeziert und neu eingerichtet mit dem, was man damals üblicherweise in ein Jugendzimmer stellte. Plastikfurnier in Kiefernachbildung mit grünen Fronten, Kleiderschrank, Schreibschrank und ein großes Bett mit grüngemusterter Matratze. Für das Gitterbett war ich auch längst zu groß, hatte das letzte Jahr nur noch mit angewinkelten Beinen darin schlafen können.

Nun lag Sabine darin, ein winziges, zerbrechlich wirkendes Geschöpf. Und Vater erklärte mir, jetzt sei ich ein großer Bruder, müsse gut auf meine kleine Schwester aufpassen und ihm alles erzählen, wenn er nach Hause käme. Er sei jetzt immer die ganze Woche weg, dafür aber jeden Sonntag daheim. Und er wüsste gerne, was wir während der Woche erlebten.

Es war ein Auftrag, das verstand ich sehr wohl. Ich hörte auch, wie traurig er dabei klang.

Er fährt ’nen Dreißigtonner-Diesel und ist die meiste Zeit auf Tour. Und er gibt dabei sein Bestes, Tag für Tag, rund um die Uhr. Er raucht nicht, und er trinkt nicht, höchstens ab und zu ein Bier. Denn zu Haus sind Frau und Kinder, und nur dafür schuftet er. Er ist ein Kerl, ein ganzer Mann, und sein Zuhause ist die Autobahn.

Ob ihm dieses Zuhause gefiel oder nicht, die Weiber ließen ihm keine Wahl. Die Kunststoffgießerei hatte letztlich auch ihn entlassen, die Kölner Berufsfeuerwehr seiner Bewerbung eine lapidare Absage erteilt. Peter war sofort bereit, ihn fest einzustellen. Er hatte kurz zuvor einen anderen Fahrer durch einen tödlichen Unfall verloren, ausgerechnet den Mann, der von Anfang an bei ihm beschäftigt gewesen war. Nun brauchte er dringend einen vertrauenswürdigen Ersatz.

Weil Vater zuerst noch zögerte und auf andere Arbeit hoffte, war er eine faule Sau und ein geiler Bock, der lieber gemütlich daheim im Bett lag und seine Frau belästigte, ihr womöglich noch einen Balg an den Hals hängte, statt sich um das Auskommen seiner Familie zu bemühen. Wochenlang setzten der Giftzahn und Mutter ihm mit vereinten Kräften zu. Notgedrungen stieg er in das Führerhaus eines Kühltransporters, fuhr Schweinehälften nach Italien und verdiente gut, Mutter jedenfalls war vollauf zufrieden.

Wozu hätte mein Vater in einen Puff gehen sollen? Er hatte doch zu Hause eine Frau, deren Liebe käuflich war, sogar Mutterliebe gab es bei ihr für Geld. Solange der Rubel rollte, war Sabine ihr süßes Schätzchen. Ich war ihr Großer und durfte auch mal unbeaufsichtigt in meinem grünen Zimmer winzige Plastikautos mit halben oder völlig fehlenden Rädern über den neuen Teppichboden schieben und dabei leise brummen. Mutter schwelgte derweil im Neckermann- oder Quelle-Katalog. Nicht, um etwas zu bestellen. Eingekauft wurde in der Stadt, nach Möglichkeit aus dem Schaufenster, damit viele Leute wussten, was es gekostet hatte. In den Katalogen schaute sie sich nur an, was das arme Volk sich leisten konnte. – Ziemlich genau ein Jahr lang.

Dann polterte am Pfingstsamstagmorgen 1975Peter herein wie ein gereizter Stier. Wir saßen beim Frühstück – ohne Vater. Der lag noch im Bett, war die ganze Woche auf Achse gewesen und erst kurz vorher nach Hause gekommen – nicht von einer Autobahn, sondern von einem Feuerwehreinsatz. Peter war völlig außer sich und brüllte dermaßen, dass Großmutter Täuber sofort ihre schmerzgeplagte Miene aufsetzte: «Wo ist der Idiot?»

Mutter zeigte wortlos nach oben. Peter stürmte zurück in den Flur und die Treppe hinauf. Dabei brüllte er weiter: «Was hast du dir dabei gedacht, du Arschloch? Du kannst von Glück sagen, dass Lotti mehr Grips im Schädel hat als du. Der Mann könnte…»

Opa hatte längst meine Hand ergriffen und mich von meinem Teller fortgezogen. Er brachte mich schnellstens außer Hörweite in den Garten, wo er mir zeigte, wie ein Kaninchen ermordet wurde. In seiner Fürsorge ließ er jedoch die Weiber außer Acht.

In den Tagen danach gab es für Mutter und den Giftzahn kein anderes Thema als «Thorstens brutale Ader», «Thorstens wahres Gesicht» und «der arme Mann, den Peter in letzter Sekunde vor dem Erfrierungstod bewahrt hatte».

So erfuhr ich relativ schnell, dass meinem Vater der Kragen geplatzt war, allerdings nicht so, wie Peter sich das vermutlich vorgestellt hatte, als er einen derartigen Ausbruch prophezeite. Vater hatte ja nicht Frau oder Schwiegermutter angegriffen, sondern am Freitagabend auf dem Firmengelände einen Mann krankenhausreif geprügelt und in den Laderaum des Kühltransporters gesperrt. Baldone, den Namen schnappte ich mehrfach auf.