Erlebtes Europa -  - E-Book

Erlebtes Europa E-Book

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Beschreibung

"Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten." (Walter Benjamin) Unsere ganz persönlichen Hoffnungen und Visionen wachsen aus unseren Erlebnissen. Mitbestimmt werden diese auch von politischen Faktoren. Aus seinen Begegnungen mit beeindruckenden Persönlichkeiten setzt sich für Herausgeber Helmut Brandstätter ein vielgestaltiges Europa zu einem spannenden Mosaik zusammen. Eine Generation, die noch im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen ist, sieht Entwicklungspotenziale anders als eine Generation, die den Fall der Berliner Mauer hautnah miterlebt hat. Menschen, die in der Pandemie das erste Mal Grenzkontrollen begegnet sind, teilen eine wieder andere Zukunfts-Perspektive. Vierzehn Persönlichkeiten aus drei Generationen erzählen von ihren Bildern Europas: Hannes Androsch, Helmut Brandstätter, Christa Chorherr, Vedran Džihić, Koschka Hetzer-Molden, Othmar Karas, Judith Kohlenberger, Manfred Osten, Anna Pattermann, Fari Ramic, Anna Schor-Tschudnowskaja, Timothy Smolka, Anna Stürgkh, Martin Weiss

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Herausgegeben vonHelmut Brandstätter

ERLEBTESEUROPA

14 MENSCHEN

3 GENERATIONEN

1 EUROPA

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

HANNES ANDROSCH

HELMUT BRANDSTÄTTER

CHRISTA CHORHERR

VEDRAN DŽIHIĆ

KOSCHKA HETZER-MOLDEN

OTHMAR KARAS

JUDITH KOHLENBERGER

MANFRED OSTEN

ANNA PATTERMANN

FARI RAMIC

ANNA SCHOR-TSCHUDNOWSKAJA

TIMOTHY SMOLKA

ANNA STÜRGKH

MARTIN WEISS

DIE VERFASSER:INNEN

Vorwort

Es war im Sommer 1961, ich war sechs Jahre alt, meine Familie wohnte im 6. Wiener Gemeindebezirk, auf der Mariahilfer Straße, nicht weit vom Westbahnhof entfernt. Spaziergänge auf der breiten Einkaufsstraße mit den vielen Geschäften waren für uns Kinder immer ein Abenteuer.

Nur an diesem einen Tag im August war alles anders: „Stellt euch vor, wenn man hier in der Mitte der Straße plötzlich eine Mauer bauen würde“, sagte unsere Mutter zu uns. Meine Schwester und ich verstanden sie nicht, erst später begriff ich, dass das der 13. August 1961 war, der Tag, an dem mitten in Berlin mit dem Bau der Mauer begonnen wurde. 28 Jahre später saß ich als Bonner ORF-Korrespondent im Warsaw Marriott Hotel bei einem Hintergrundgespräch mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl. Plötzlich wurde es unruhig, erste Meldungen über die Öffnung der Mauer, des Symbols der Teilung Deutschlands und Europas, trafen ein. Vom friedlichen Aufstand der Menschen in der DDR mit den immer größer werdenden Demonstrationen hatte ich bereits mehrfach berichtet, jetzt spürten wir in Warschau die Aussicht auf das Ende des Kalten Krieges und die Bevölkerung der DDR den Beginn von Freiheit und Demokratie. Und wieder 33 Jahre später stand ich in Butscha, wo zuvor Massengräber entdeckt worden waren, und hörte einem weinenden Dolmetscher zu. Er erklärte uns im Detail, wie Soldaten der russischen Armee über 1000 ukrainische Zivilpersonen gefoltert und getötet hatten.

Im Jahr 1955 geboren, bezeichne ich meine Generation als die glücklichste, die je in Österreich aufgewachsen ist. Krieg und Hunger kannten wir nur aus Erzählungen, erlebt haben wir hingegen neue Freiheiten, wachsenden Wohlstand, Reisen, Studien im Ausland und das Ende von Stacheldraht und gegenseitiger Bedrohung. Und wir konnten lernen: Wir hörten noch persönlich die Berichte von Opfern des nationalsozialistischen Terrors, wie schnell aus Hetze, Ausgrenzung und Entmenschlichung millionenfacher Mord wurde. Die Kriege am Balkan haben uns dann gezeigt, dass wieder Tragödien entstehen, wenn die neue Freiheit den alten Nationalismus nicht bändigen kann, und dass Verhetzung aus Nachbar:innen Feinde machen kann. Der Zerfall der Sowjetunion wiederum hat uns vorgeführt, dass zu Demokratie und Rechtsstaat mehr gehört als die Abschaffung der kommunistischen Mangelwirtschaft. Putins Angriff auf den Nachbarn Ukraine, dessen Grenzen Russland 1994 garantiert hatte, brachte die Zeitenwende. Plötzlich war wieder Krieg in Europa, ein Krieg, der sich freilich angekündigt hatte.

Jetzt erlebt auch meine, die glücklichste Generation unweit unserer Grenzen den ganzen Wahnsinn eines Krieges, mit Angriffen auf zivile Einrichtungen, Vertreibung, Flucht und Hass. Und so leben nun in Europa drei Generationen mit völlig unterschiedlichen Erfahrungen und auch unterschiedlichen Erwartungen. Wer vor oder um 1940 geboren wurde, hat noch Erinnerungen an Krieg, Mangelwirtschaft und Wiederaufbau. Meine Generation erlebte den Wandel von der Teilung zur Einigung ohne Grenzbalken. Die Jüngeren, nach 1990 geborenen, kennen nur ein einiges Europa und müssen in Büchern über die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die Verhetzung in der Nazi-Zeit nachlesen, weil es immer weniger Personen erzählen können.

Nun, nach einem jungen Leben im friedlichen Europa, sehen auch sie, wie nicht weit von Österreich entfernt ein grausamer Krieg geführt wird. Am 24. Februar 2022 hat Putin Europa wieder in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Mit Schützengräben wie im Ersten Weltkrieg, mit modernen Kampfdrohnen und mit archaischer Brutalität bedroht ein Diktator den ganzen Kontinent, weil er uns zeigt, wie brüchig Frieden ist.

Der 7. Oktober 2023, der Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel, hat nicht nur zu einem weiteren Krieg im Nahen Osten geführt, sondern führt uns vor Augen, mit welchen Auswirkungen demokratische Systeme den autoritären gegenüberstehen. Mit direkten Auswirkungen sogar auf Europas Straßen. Zuwanderer:innen aus islamischen Ländern, die ja vor Diktaturen geflohen sind, demonstrierten hier für Terroristen der Hamas. Wer hier die Augen verschließt, gefährdet unser freies Lebensmodell in Europa, wo wir Demokratie und Rechtsstaat nach vielen Irrwegen für selbstverständlich und auch irreversibel gehalten haben. Europa ist der attraktivste Kontinent, doch diesen Frieden und Zusammenhalt müssen wir gemeinsam erhalten.

Dabei müssen wir verstehen, dass wir von allen Krisen weltweit betroffen sind, sie hängen meistens miteinander zusammen. Also müssen wir uns auch darum kümmern. Kleinkinder glauben, dass man sie nicht sieht, wenn sie die Augen schließen. Europa ist erwachsen geworden, mit allen Konsequenzen.

Ich bin allen Autorinnen und Autoren dieser drei Generationen sehr dankbar, dass sie hier ihre Erfahrungen und ihre Erwartungen an unser Europa teilen. Dabei war mir wichtig, dass auch Frauen und Männer aus Staaten des Balkans, der Ukraine und Russland Texte beitragen. So lesen Sie hier ganz unterschiedliche Erlebnisse, aber auch verschiedene Vorstellungen, wie sich Europa entwickeln könnte – eine Vision –, oder wie sich unser Kontinent in Zukunft entwickeln wird.

Bilder, Erlebnisse, Geschichte, Persönlichkeiten, Vision und Zukunft: Viele der Beitragenden zu diesem Buch sind meinem Modell gefolgt, ihre Gedanken in diese sechs Kapitel aufzuteilen. Einige haben ihre Erinnerungen anders gegliedert. Mit Hannes Androsch habe ich ein umfangreiches Gespräch geführt, in dem sein vielfältiges Leben und seine Erfahrungen in starken Bildern vor uns sichtbar werden. Für die Textredaktion der Beiträge geht mein Dank an Clara Schermer von vielseitig.

Und weil uns allen die Zukunft der jungen Generation am Herzen liegt, haben die Autor:innen auf ein Honorar verzichtet. Unter den Käufer:innen werden von Februar bis April 2024 im Zuge eines Gewinnspiels Interrail-Tickets verlost. Die Teilnahmebedingungen finden sich unter www.kremayrscheriau.at. Der Verlag Kremayr & Scheriau leistet dazu einen Anteil. Auch dafür vielen Dank.

Helmut Brandstätter

Hannes Androsch

IM GESPRÄCH MIT HELMUT BRANDSTÄTTER

Helmut Brandstätter — Herr Dr. Androsch, Sie haben als Kind noch den Zweiten Weltkrieg erlebt, dann den Wiederaufbau, an dem Sie als Finanzminister und Vizekanzler unter Bruno Kreisky auch stark beteiligt waren. Nicht zuletzt aufgrund der Aufbauarbeit Ihrer Generation nahm Österreich, nahm ganz Europa einen unerwarteten Aufstieg. Zudem war Europa für junge Menschen – bis vor kurzem jedenfalls – ein friedlicher Kontinent, ein Kontinent ohne Grenzen. Die europäischen Förderprogramme Erasmus und Erasmus Plus haben viele zum Studium und zur Lehre in andere europäische Länder gebracht. Junge Menschen kennen folglich nur ein offenes Europa. Wie können Sie jungen Leuten erklären, was Krieg für Sie als Kind damals bedeutet hat?

Hannes Androsch — Am 12. März 1938 marschierte auf äußerst unbeholfene Weise die Wehrmacht des nationalsozialistischen Deutschlands in Österreich ein, annektierte unser Land und bezeichnete den aggressiven Akt irreführenderweise als „Anschluss“. Diese Behauptung wurde allerdings durch die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 widerlegt [Anm.: der „Anschluss“ wurde darin für ungültig erklärt]. Als ich aber am 18. April 1938 zur Welt kam, wurde ich aufgrund der Annexion Österreichs im Deutschen Reich geboren. Allerdings erhielt ich nach dessen Untergang automatisch die österreichische Staatsbürgerschaft. Anders war es bei dem berühmten Maler Oskar Kokoschka, dem die österreichische Staatsbürgerschaft im Dritten Reich aberkannt worden war, was er jedoch nie akzeptiert hatte und weshalb er auch nicht bereit war, einen formellen Antrag auf Wiedererlangung zu stellen, worauf aber der damalige Innenminister Otto Rösch aus formalen Gründen bestand. Als Rösch dann eine seiner seltenen Auslandsreisen machte, nutzte Bruno Kreisky die Gelegenheit, um im Ministerrat für Oskar Kokoschka den Antrag zu stellen, der dann auch sofort bewilligt wurde. So hat Oskar Kokoschka seine aus seiner Sicht ohnehin nie verlorengegangene österreichische Staatsbürgerschaft wiedererlangt.

Das kurze 20. Jahrhundert – das Zeitalter der Extreme, wie es der berühmte britische Historiker mit Wiener Wurzeln, Eric Hobsbawm, genannt hat – bedeutete in seiner ersten Hälfte für Europa die Katastrophe von zwei Weltkriegen, einer verheerenden Zwischenkriegszeit, unter anderem weil sich Amerika nach 1918 wieder in Isolation begeben hatte, mit unvorstellbaren Zerstörungen, Millionen Opfern und der Vernichtung der europäischen Juden in der Shoa, sowie verbunden mit einem gewaltigen Bedeutungsverlust Europas, der nie mehr behoben wurde. Dies war die tragische erste Hälfte des Zeitalters der Extreme. In der zweiten Hälfte erlebte Europa einen ungeahnten wirtschaftlichen Wiederaufstieg, allerdings begleitet von politischer Bedeutungslosigkeit und getrennt aufgrund der Zweiteilung des Kontinents durch den Eisernen Vorhang. Der westliche Teil, zu dem trotz zehnjähriger Besatzung Österreich zählte, konnte sich mittels amerikanischer Unterstützung und US-Sicherheitsschirm wirtschaftlich erholen. Dies hat sich bis heute nicht geändert.

Den Krieg mit seinen Bomben, Zerstörungen und seinen Opfern und der kriegswirtschaftlichen Mangelwirtschaft mit Lebensmittelkarten habe ich als Kind schon bewusst erlebt. Unweit des Siedlungshauses meiner Großeltern und Eltern war eine Luftabwehrkaserne der deutschen Wehrmacht. Wenn die Sirenen heulten, mussten wir in den Keller gehen und hoffen, nicht getroffen zu werden. Nach dem Krieg wurde die Kaserne dann für die nächsten zehn Jahre der Besatzungszeit von der Sowjetarmee übernommen.

Aufgewachsen bin ich in einer schon seit dem 1.-Mai-Aufmarsch des Jahres 1890 sozialdemokratischen und antifaschistischen Familie. Sie musste ihre Erfahrungen in den Tagen des 12. Februar 1934 machen, als die Gemeindewohnung meiner Eltern in Floridsdorf von der Artillerie des Bundesheeres schwer getroffen, einer meiner Großväter eingesperrt und ein Freund von ihm wie Wallisch und Münichreiter justifiziert wurde [Anm.: Die Schutzbund-Widerstandskämpfer Koloman Wallisch und Karl Münichreiter wurden in den Tagen nach den „Februarkämpfen“ wie sieben weitere Männer zum Tode verurteilt und hingerichtet]. Meine eigene diesbezügliche Prägung erfuhr ich im Frühsommer des Jahres 1944, als ich nahe unserer Siedlung am Rande eines Ackers auf zwei Hitlerjungen in entsprechender Uniform traf. Ich kannte einen von ihnen. Der andere zwang mich mit seinem Hitlerdolch in der Hand, Gras und Erde zu schlucken.

Kurz nach Beginn meiner Schulzeit, als meine Mutter schon hochschwanger war, zogen wir zu bäuerlichen Verwandten nach Piesling in Südmähren, um der Bombengefahr zu entgehen. Als Folge davon besuchte ich nach wenigen Wochen bereits die zweite Klasse Volksschule. Der Lehrer dort war ein strenger und brutaler SA-Angehöriger, der in Uniform unterrichtete. Er hatte in der Ecke immer jede Menge Weidenruten stehen, die er sich von Schülern bringen ließ und die von den Bäumen stammten, die entlang der durch den Ort fließenden Thaya standen. Mit diesen Ruten schlug er seine Schüler, um sie zu bestrafen. Darunter war ein Verwandter von mir besonders betroffen. Als ich nach Ende des Krieges hörte, dass dieser Lehrer selbst mit Hundepeitschen gepeinigt wurde, entsprach dies meinem jugendlichen Gerechtigkeitsgefühl, auch wenn ich später gelernt habe, dass Unrecht plus Unrecht nie Recht, sondern nur zwei Mal Unrecht ergibt.

Das Kriegsende, das in Piesling bereits Anfang April eintrat, bedeutete für mich insgesamt den Verlust meines ersten Schuljahres. Ich erlebte die Flucht der deutschen Wehrmacht vor der Roten Armee und den Einzug der Sowjetsoldaten in unseren Ort, wo sie ein Lager errichteten.

Mein Großonkel, der seinen Bauernhof schon übergeben hatte, hatte in seinem Ausgedinge-Haus das einzige Badezimmer des Ortes. Die Offiziere der Sowjetarmee erfuhren das sehr schnell und nutzten dies für sich. Meine Mutter, die nur wenige Monate zuvor im Dezember 1944 meine Schwester entbunden hatte, musste die Badedienste leisten.

Nur wenige Wochen nach Kriegsende verkündete um 10 Uhr vormittags der Dorftrommler, der üblicherweise die Gemeindenachrichten verbreitete, dass die deutschsprachige Bevölkerung bis zum Mittag Haus und Hof verlassen müsse. Ich erinnere mich, dass Großonkel und Großtante in Sonntagsgewand und Winterkleidung an einem heißen Tag die Türschwelle küssten und dann ihr Haus verließen. Zuvor hatte noch ein tschechischer Bürger meinen Großonkel besucht; die beiden hatten sich weinend umarmt und der Tscheche meinte: „Wir haben uns doch immer so gut verstanden.“ Als eigentliche Österreicher durften wir zwei Tage länger bleiben. Daher konnten wir die lange Schlange der Dorfbewohner sehen, wie sie am Haus des Großonkels vorbeiziehend ihre Heimat verlassen mussten, die sie seit Generationen bewohnten. Wir selbst durften dann das Gefährt des Großonkels zur Ausreise benutzen. Ein tschechischer Gendarm meinte, dass der Hausrat meines Großonkels uns gehöre, und so konnten wir wenigstens dieses Hab und Gut über die nahegelegene Grenze in den ersten österreichischen Ort Weikertschlag mitnehmen. Dort fanden wir, wie viele andere Verwandte, in einem kleinen Häuschen Unterkunft; wir waren etwa 30 Personen. Da habe ich erstmals erlebt, was gelebte Solidarität unter bescheidenen und schwierigsten Umständen bedeutet.

Den Rückweg nach Wien zu finden, war unter den damaligen Umständen äußerst schwierig. Wir sind zuerst nach Drosendorf weitergezogen, um Anschluss an eine Bahnverbindung nach Wien zu finden. Dies aber war für eine vierköpfige Familie mit Kinderwagen ein hoffnungsloses Unterfangen. Selbst auf den Dächern der Zugwagons saßen viele Menschen. Wir mussten daher mit einem Pferdefuhrwerk zum Bahnhof Sieghartskirchen fahren. Dort konnten wir dann auf zwei Plattformen eines Öltankzuges die Rückreise nach Wien antreten, wo wir schließlich am Bahnhof Jedlersdorf in Floridsdorf ankamen. Selbst der Abstieg von den Bremsplattformen erwies sich als äußert schwierig. Wir blieben am schottergewölbten Bahnsteig zurück, während mein Vater fünf Kilometer zu unserem Siedlungshaus ging, um einen Leiterwagen zu holen. Bei seiner Rückkehr brachte er die frohe Botschaft, dass die Großeltern lebten und unser Haus unbeschädigt war. So sind wir also nach einer neun Monate dauernden, kriegsbedingten Odyssee mit vielfältigen und vor allem zwiespältigen Erfahrungen wieder in das nun schwer zerstörte Wien zurückgekehrt – zerstört vom Stephansdom über die Staatsoper bis zum Burgtheater und die am Boden liegende Floridsdorfer Brücke –, also in das Wien, wie es der Film Der Dritte Mann zeigt. Es war ein Wien der Opfer und Zerstörungen und der vermissten Soldaten, ein Österreich des Mangels und weiterhin mit Lebensmittelmarken. Aber es war eine Zeit ohne Jammer und Wehleidigkeit, da alle entschlossen waren, das Beste aus der schrecklichen Situation zu machen. Meine Großmutter pflegte, ein Gebetbuch zur Hand zu nehmen und einen Schlüssel hineinzulegen, um herauszufinden, ob ihr anderer Sohn, der den Russlandfeldzug mitgemacht hatte, noch lebte, verbunden natürlich mit der Hoffnung, dass er zurückkehren möge. Dies war dann 1946 auch der Fall, allerdings war er derart vom Hungerödem gezeichnet, dass man ihn zunächst gar nicht erkannte.

HB — Sie haben schreckliche Erlebnisse geschildert, die für ein Kind sehr belastend sein mussten. Positiv war offenbar die Solidarität, als rund 30 Leute in einem kleinen Haus zusammengelebt haben. Sind bei Ihnen später Bilder dieser schwierigen Zeit aufgetaucht?

HA — Zunächst möchte ich noch hinzufügen, dass ich während des Sommersemesters der zweiten Klasse als Wiener Kind auf einem Bergbauernhof in Adelsbuch war. Dieser erneute Schulwechsel war für meine Volksschulbildung nicht sehr hilfreich. Ein halbes Jahr später wurde ich dann als Pflegekind für ein halbes Jahr nach Moolenbeek bei Brüssel geschickt, wo ich eine flämische Schule – schon damals eine Ganztagsschule – besuchte. Ich war zuvor von einer Familie aufgenommen worden, die selbst schon sieben Kinder hatte. Auch hiermit verbinde ich übrigens ein besonderes Beispiel der Solidarität: Als mich der Pflegevater wie vorgesehen vom Bahnhof abholte, blieb von dem ganzen Transport ein in den Kinderzug geschmuggeltes Kind übrig. Auch dieses wurde von meiner Pflegefamilie aufgenommen. Trotz aller widrigen Umstände und Versorgungsmängel gab es in dieser Zeit kein Jammern und keine Wehleidigkeit. Man freute sich über jede Verbesserung, war sie auch noch so klein.

HB — Also es gab dann immer mehr positive Erlebnisse …

HA — … ja, und auch das, was wir heute Resilienz nennen. Man musste ja aus den Umständen, die immer noch vergleichsweise bescheiden waren, auch wenn sie immer besser wurden, das Beste machen. Das ist auch geschehen; das war dann die Phase des Wiederaufbaus, auf die – unter dem amerikanischen Schutzschirm und beginnend mit dem Marshall-Plan in ganz Österreich, also auch in der sowjetisch besetzten Zone, und dann 1955 mit dem Staatsvertrag – der Wiederaufstieg folgte, der uns schließlich zu einem der wohlhabendsten Länder und einem der geräumigsten Wohlfahrtsstaaten der Welt gemacht hat.

HB — Wir sehen jetzt täglich die Bilder der Zerstörungen in der Ukraine. Verbinden Sie diese Bilder mit Ihren Erinnerungen an das zerstörte Wien?

HA — Nachdem ich den Krieg und die entbehrungsreichen Jahre der Nachkriegszeit miterlebt hatte, war es eines der erfreulichsten Erlebnisse, dass wir das Glück hatten, nach dem Staatsvertrag in Freiheit, Frieden und zunehmendem Wohlstand unseren Lebensweg beschreiten zu können. Das war nicht zuletzt auch dank der europäischen Integration möglich, zunächst mit der 1950 entstandenen Montanunion, also der Zusammenführung der Kohleunternehmen und der Eisen- und Stahlindustrie, und dann mit den Römischen Verträgen, durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gebildet wurde. Das alles konnte in der Zeit des Kalten Krieges nur unter dem Sicherheitsschutzschirm der Vereinigten Staaten von Amerika geschehen. Umso erschreckender ist heute, dass dieser Frieden wieder verloren gegangen ist – allerdings nicht erst 2022 mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, sondern schon mit den beiden Tschetschenienkriegen, mit dem Krieg Russlands gegen Georgien 2008 und der Annexion der Krim 2014. Aber der Überfall auf die Ukraine hat inzwischen ein noch viel brutaleres Ausmaß angenommen, und hat – weil er sich auch gegen ganz Europa richtet – die europäische Sicherheits- und Friedensordnung mutwillig und mittels Aggressionen zerstört.

Doch nochmals zurück in die Geschichte: Wir waren natürlich überdies geprägt durch den Eisernen Vorhang, der ja auch an der Ostgrenze und Teilen der Nordgrenze Österreichs errichtet worden war, aber zum Unterschied zu Deutschland nicht quer durch Österreich durchging. Das war für uns eine glückliche Fügung bzw. Entwicklung. Als sozialistischer Studentenfunktionär war ich noch wenige Tage, bevor am 13. August 1961 die Berliner Mauer errichtet wurde, am Alexanderplatz in Berlin. Dort gab es eine ostdeutsche Buchhandlung, die sehr lesenswerte, vor allem auch nichtideologische Bücher äußerst günstig angeboten hat.

HB — Sie haben bereits den Marshall-Plan und die Sicherheitsgarantie der USA erwähnt. Können Sie als Ökonom, aber auch aus Ihrer persönlichen Erfahrung heraus die Bedeutung des Marshall-Plans erklären?

HA — Die Hilfe der USA begann ja schon unmittelbar nach dem Krieg mit den sogenannten CARE-Paketen. Im Winter 1946/47 hat Präsident Harry Truman der eigenen Bevölkerung weniger Getreide gegeben, um es nach Europa zu schicken und hier eine Hungersnot zu verhindern. Das war noch, bevor der Marshall-Plan verkündet und umgesetzt wurde. Daher kann ich den heutigen Anti-Amerikanismus nicht verstehen, bei aller berechtigten Kritik an den USA, die es auch gibt.

Was den Marshall-Plan – genauer: das European Recovery Program – betrifft, so ist zwar einerseits zu sagen, dass es nicht – wie oft behauptet – Österreich vor dem Untergang gerettet hat, denn schon 1948 lag der Index der österreichischen Industrieproduktion wieder auf 85 % des Standes von 1937. Andererseits darf der Beitrag, den die ERP-Hilfe zum wirtschaftlichen Aufstieg Österreichs, dem sogenannten „Wirtschaftswunder“, geleistet hat, nicht unterschätzt werden. Der Dollarsegen konnte nämlich nicht nur für den Wiederaufbau der kapitalintensiven Basisindustrien, sondern vor allem auch für produktivitätssteigernde Investitionen verwendet werden. Und schließlich hatte der Marshall-Plan auch eine politische Bedeutung, weil es gelungen war, auch die sowjetisch besetzte Zone Österreichs in das Programm miteinzubeziehen und derart eine Spaltung, wie sie in Deutschland geschah, zu verhindern. Darin lag vielleicht der tatsächlich nachhaltigste Erfolg dieses Hilfsprogramms.

Ein Erfolg anderer Art war schließlich die Unterzeichnung des Staatsvertrages – ein auch für mich persönlich ganz besonderes Ereignis. Ich war damals, im Jahr 1955, gerade 17 Jahre alt, und im Unterschied zu vielen bin ich nicht zum Belvedere gefahren, sondern zum Stephansplatz. Ich erinnere mich noch an das Schlagen der Pummerin [Anm.: die größte Glocke im Stephansdom]; das hatte eine solche Wirkung, dass der Brustkorb ins Beben kam. Das war mein persönliches Staatsvertragserlebnis.

HB — Ein junger Mann am 15. Mai 1955 auf dem Stephansplatz mit der Pummerin, das ist ein starkes Bild. Von nun an war Österreich wirklich frei. Ab wann hat für Sie auch Europa als Gemeinschaft eine Rolle gespielt?

HA — Sehr früh. Ich erinnere mich, dass mich mein Vater in den Musikvereinssaal mitgenommen hat, wo Paul-Henri Spaak, ein belgischer Sozialdemokrat und zusammen mit Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer einer der „Väter“ der beginnenden europäischen Integration, einen Vortrag hielt. Spaak war auch der erste Präsident der Montanunion. Als dann 1957 die Römischen Verträge beschlossen wurden und wir sehen konnten, wie die Schranken hochgingen, war das ein beglückendes Erlebnis. Doch die Russen haben uns eine Teilnahme an dieser europäischen Integration verweigert, sodass wir erst 1995 – mit Ende des Kalten Krieges, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und nach der Volksabstimmung von 1994, bei der fast eine Zweidrittelmehrheit für den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft erreicht wurde – beitreten konnten. Zuvor gehörten wir der EFTA, der Europäischen Freihandelszone an, die aber nahezu unbedeutend geworden war, nachdem Dänemark, Irland und Großbritannien im Jahr 1973 der EWG beigetreten waren. Inzwischen sind die Briten leider bzw. entsetzlicherweise mit dem Brexit von 2016 wieder ausgetreten, mit der Konsequenz einer Schwächung Europas und zum eigenen Schaden.

1962 waren wir als sozialistische Studenten zu einem Seminar der EWG in die Georg-von-Vollmar-Akademie am Kochelsee in Bayern eingeladen und natürlich begeistert von den Perspektiven der Europäischen Integration. Aber die Gegebenheiten erlaubten einen Beitritt nicht. 1967 unternahmen sozialistische Ökonomen wie Stefan Wirlander, Josef Staribacher, Heinz Kienzl und andere, bei einem Treffen mit der Parteispitze, also mit Bruno Pittermann, Karl Waldbrunner, Bruno Kreisky, Karl Czernetz und Robert Uhlir, bei dem ich das Protokoll führte, den Versuch, einen Beitritt zu thematisieren, um eine weitere wirtschaftliche Benachteiligung zu verhindern. Die Ökonomen mussten aber zur Kenntnis nehmen, dass die Parteispitze angesichts der Haltung der Sowjetunion einen solchen nicht für realisierbar hielt.

Davon abgesehen haben wir als sozialistische Studenten Seminare veranstaltet, zu denen wir ausländische Studenten einluden, die in volksdemokratischen Staaten studierten, um ihnen die Systemunterschiede näherzubringen und sie mit dem Eisernen Vorhang bekannt zu machen. Zu diesen Aktivitäten gehörte auch die Teilnahme an der Gegenveranstaltung zu den letzten außerhalb des Sowjetbereiches stattfindenden kommunistischen Weltjugendfestspielen in Helsinki. Zusammen heißt dies: Unsere Haltung war unzweideutig antikommunistisch und gegen das sowjetische Unterwerfungssystem.

HB — Sprechen wir noch über die Neutralität. Ohne diese hätte es den Staatsvertrag nicht gegeben. Aber die Welt hat sich grundsätzlich verändert. Wie sollen wir heute mit der Neutralität umgehen?

HA — Zur Neutralität ist folgendes Faktum zu erzählen: Im Jänner 1954 hatte US-Präsident Eisenhower im Weißen Haus mit seinem Außenminister Dulles ein Frühstück, bei dem er auch auf Österreich zu sprechen kam. Eisenhower meinte damals, dass er sich für Österreich eine Neutralität nach dem Muster der Schweiz, also westlich orientiert und militärisch sich selbst verteidigend, vorstellen könne. Das wiederum teilte Dulles dem sowjetischen Außenminister Molotow mit, und dieser verkündete das dann bei einer Konferenz in Berlin. Die Russen haben diese Idee gerne aufgegriffen, weil sie verhindern wollten, dass Bundeskanzler Adenauer mit der Bundesrepublik Deutschland der NATO beitritt. Deutschland war zu diesem Zeitpunkt längst geteilt. Die Sowjetunion war in der Folge bereit, einem Staatsvertrag mit Österreich zuzustimmen, sofern Österreich seine Neutralität beschließen würde, um eine solche auch für ganz Deutschland zu erreichen. Adenauer war darüber verärgert und führte die Bundesrepublik in die NATO. Bei den Verhandlungen in Moskau, die zum Moskauer Memorandum und zum Staatsvertrag führten, war die Neutralität nicht unumstritten. Der damalige SPÖ-Vizekanzler Adolf Schärf wollte nicht blind einwilligen, und zu Hause [Anm.: in Österreich] hat Innenminister Helmer, ebenfalls SPÖ, immer wieder darauf hingewiesen, dass die Russen uns besetzt und alles wirtschaftlich Verwertbare, vor allem das Erdöl und die industriellen Einrichtungen, aus der von ihnen besetzten Zone weggeschleppt hatten, weshalb er sich nicht vorstellen konnte, dass wir neutral sein könnten. Bundeskanzler Raab von der ÖVP wollte jedoch unbedingt den Staatsvertrag und hätte dafür auch noch die USIA-Betriebe, die die Russen im Osten Österreichs als Enklave behalten wollten, zugestanden. Doch Schärf war finster entschlossen, dem nicht zuzustimmen, und daher ist das auch nicht zustande gekommen. Man muss sich nur vorstellen, was das ein Jahr später bedeutet hätte, wenn es diese industriellen Enklaven mit „Werkschutz“ gegeben hätte, als in Ungarn 1956 der Aufstand ausbrach. Aber so viel zu den damaligen Rahmenbedingungen bei der Entstehung der Neutralität. Diese haben sich inzwischen grundsätzlich geändert. Weder in den Statuten der UNO noch in den Verträgen der Europäischen Union gibt es diese Einrichtung der Neutralität. Und nicht zuletzt hat die Aggression Russlands gegen die Ukraine vieles geändert, wie man auch am Beispiel Finnlands und Schwedens und auch an der Diskussion in der Schweiz sehen kann. Die Sicherheit Europas können wir nur in der Geschlossenheit bzw. auf der Basis eines Beistands gewährleisten. Das sieht auch der Lissabonner Vertrag der EU vor, den wir als Mitglied unterschrieben haben. Dort heißt es: „uneingeschränkte Beistandspflicht für alle Mitgliedsländer der EU“. Es gibt zwar für neutrale Staaten eine Ausstiegsklausel, aber durch die später erfolgte Ergänzung unserer eigenen Bundesverfassung haben wir von uns aus erklärt, dass wir alle außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen der EU mittragen, sodass die sogenannte „irische Klausel“ durch unsere eigene, autonom getroffene Entscheidung ausgeschalten wurde. Danach müsste sich unser heutiges, neutrales Verhalten entsprechend ausrichten, was im Falle der Ukraine nur sehr eingeschränkt der Fall war und ist.

HB — Da könnten wir mehr machen?

HA — Da hätten wir schon mehr machen müssen, auch wenn wir immerhin Zehntausende Flüchtlinge aufgenommen haben. Aber die Haltung vieler politischer Strömungen gegenüber Putin passt ganz und gar nicht; die Freundlichkeit und das Verständnis angesichts seiner von Anbeginn aggressiven imperialen Ziele ist unpassend und auch verfassungsrechtlich nicht gedeckt.

HB — Kommen wir zur Zukunft. Wenn ich Sie richtig verstehe, müssen wir die Sicherheit in Europa gemeinsam schaffen.

HA — Das können wir nur gemeinsam, und noch für lange Zeit wohl auch nicht ohne die Unterstützung der Amerikaner. Das Schlimmste, was uns passieren könnte, wäre, dass die USA wie in der Zwischenkriegszeit und wie mit damals verhängnisvollen Folgen in Isolation gegenüber Europa gehen bzw. sich nur mehr auf den indopazifischen Raum konzentrieren.

HB — Unser Wohlstand ist seit dem Beitritt zur EU deutlich gewachsen, österreichische Unternehmen sind in Osteuropa sehr erfolgreich. Sie persönlich sind unternehmerisch auch in China aktiv. Wie müssen wir uns in der EU positionieren, damit der Wohlstand nicht gefährdet ist?

HA — Wir können und dürfen in der EU nicht das Rumpelstilzchen spielen, also zum Beispiel den Rumänen und den Bulgaren den Zugang zum Schengenraum verwehren, und das aus rein populistischen Gründen. Gleichzeitig machen wir gegenüber der Slowakei und Slowenien Grenzkontrollen, lassen aber über Ungarn überzählige Migranten ins Land, ohne in der Lage zu sein, sie zu integrieren. Das ist unverständlich und schafft uns international und national riesige Probleme. Wir nehmen sie in unser Sozialsystem auf, lassen sie aber nicht arbeiten – das ist die schlechteste aller möglichen Lösungen. Davon abgesehen fehlt es in der Migrationsfrage in Europa an Solidarität. Was für uns ein innenpolitisches Thema mit Nahrung für den Rechtspopulismus ist, das ist für ganz Europa eine Zerreißprobe. Neben der militärischen Bedrohung aus dem Osten und dem Konflikt im Nahen Osten ist das eine echte Bedrohung, sofern wir das nicht in geordnete Bahnen bekommen, wie das den Schweizern und den Dänen erfolgreich gelungen ist.

HB — Noch einmal zur Wirtschaft. Die weltweite Konkurrenz wird härter, da haben wir als Österreich alleine keine Chance, als Europa aber schon. Was müssen wir tun? Sie selbst waren einmal Initiator eines Bildungsvolksbegehrens, Sie waren in Forschungseinrichtungen aktiv. Sind Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologieentwicklung die Schlüssel zur Bewahrung des Wohlstands in Europa?

HA — Europa ist erstmals im 18. Jahrhundert durch die Industrielle Revolution zu Wohlstand gekommen, allerdings mit höchst ungleicher Verteilung, was zur Entstehung des Industrieproletariats geführt hat. Dieses konnte sich erst im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert von seinen Fesseln befreien. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat das zuerst in Skandinavien, später auch bei uns zu dem immer geräumigeren Wohlfahrtsstaat geführt, den wir inzwischen erreicht haben. Mittlerweile haben wir eine Rekord-Sozialquote und Sozialausgaben von 140 Mrd. Euro. Da sollte es nicht möglich sein, dass hierzulande Armut beklagt werden muss. Hier besteht ein schwerer Fehler im Sozialsystem. Es wird aber auch nicht besser, wenn wir uns aus ideologisch-populistischen Gründen ärmer reden wollen, als wir tatsächlich sind. Man kann nicht einerseits sagen, dass wir eines der wohlhabendsten Länder sind, andererseits aber steigende Armut beklagen. Da muss etwas an der Durchführung nicht stimmen, denn schließlich haben wir auch eine der höchsten Steuerquoten der Welt. Da läuft folglich einiges falsch. Da gibt es Reformbedarf. Aber zurückkommend an den Anfang der Industrialisierung: Damals hatte Europa – zuerst England und dann die westeuropäischen Staaten – selbst nicht nur die Technologie, sondern auch ausreichend Rohstoffe, vor allem Eisenerz und Kohle als Energieträger. In allen drei Bereichen sind wir mittlerweile von der Autonomie in die Abhängigkeit gelangt. Hinsichtlich der Energie sind wir entweder vom Nahen Osten, von den USA oder – zumindest bis vor kurzem – von Russland abhängig. In Österreich fehlen uns auch die derzeit wichtigsten Rohstoffe, wie sie vor allem für die Digitalisierung oder für die Klimapolitik benötigt werden, also die seltenen Erden, Kupfer, Nickel, Lithium, und was auch immer sonst noch dazu gehört. Was jedoch noch weitaus schlimmer ist, ist der Umstand, dass wir technologisch zurückgefallen, weit zurückgefallen sind, vor allem im Bereich der Digitalisierung, bei der Mikroelektronik und der Künstlichen Intelligenz. Und das, obwohl wir in Europa noch immer allgemein gesehen ein gutes Bildungswesen haben, auch wenn das österreichische inzwischen weit hinterherhinkt. Es mangelt uns nicht nur an ausreichend Lehrpersonal, sondern auch an herausragenden Universitäten. Wenn von zwanzig der weltbesten Universitäten nur eine am europäischen Kontinent