Ermutigung und Anerkennung - Barbara Hennings - E-Book

Ermutigung und Anerkennung E-Book

Barbara Hennings

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Beschreibung

Jedes Kind will anerkannt werden, seinen Beitrag leisten und zur Gemeinschaft dazugehören dürfen. Es ist neugierig auf die Welt und will sie kennen lernen. Die Kunst, mit Kindern umzugehen, liegt darin, diese Ressourcen zu nutzen und im Vertrauen auf die Fähigkeiten des Kindes eine entspannte Beziehung zu gestalten. Barbara Hennings zeigt ausführlich und anhand vieler Beispiele aus dem heutigen Familienalltag, wie das in der Praxis konkret aussieht und orientiert sich dabei an den Grundsätzen von Rudolf Dreikurs.

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Seitenzahl: 242

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Barbara Hennings

Ermutigung undAnerkennung

Der Erziehungskompassnach Rudolf Dreikurs

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Vogelsang Design

Umschlagmotiv: © istockfoto.com --- tinozafirov

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80114-3

ISBN (Buch) 978-3-451-61219-0

Inhalt

Dank

Einleitung: Ein Kompass

Kapitel 1: Wohin soll die Reise gehen?

Welche Menschenbilder haben wir zur Verfügung?

Das Menschenbild von Alfred Adler

Kapitel 2: Was braucht ein Kind?

Das Bedürfnis dazuzugehören

Das Bedürfnis besser zu werden

Das Bedürfnis nach Bedeutung

Das Bedürfnis nach Ermutigung

Kapitel 3: Glück braucht Gemeinschaft

Kapitel 4: Die bedeutenden Bs

Verbunden sein

Befähigt sein

Bedeutung haben, gebraucht werden

Beherzt sein

Kapitel 5: Sind Kinder gleichberechtigt?

Kapitel 6: Wie Kinder ihre Persönlichkeit erschaffen

Kapitel 7: Notlösungen

Erste Notlösung: ungebührliche Aufmerksamkeit

Zweite Notlösung: Streben nach Überlegenheit durch Machtkämpfe

Dritte Notlösung: Vergeltung

Vierte Notlösung: Rückzug in vermeintliche Unfähigkeit

Was Eltern tun können

Kapitel 8: Forscher am Werk – das Abenteuer Lernen

Lernen durch Spiel

Erfahrungen verarbeiten

Lernen durch Bewegung

Kapitel 9: Der rote Faden – Ermutigung

Was genau ist Ermutigung?

Spezifische Ermutigung gibt Orientierung

Lob und Ermutigung

Kapitel 10: Zäune und Grenzpfosten

Was ist eine Grenze?

Was ist eine Regel

Grenzen gelten auf Zeit

Regeln haben einen Sinn

Kinder lernen durch Wiederholung

Wenn Regeln gebrochen werden

Kapitel 11: Lernen durch das LARA-Prinzip

Erzieherische Konsequenz

Natürliche Folgen

Logische Folgen

Das LARA-Prinzip

Strafen

Kapitel 12: Reden ist Silber – Gespräche sind Gold

Ich-Botschaften statt Vorwürfe

Krisengespräche

Kapitel 13: Die andere Seite – zuhören!

Kapitel 14: Machtkämpfe – Provokation oder SOS?

»Mein Kind hat einen starken Willen!«

Aus Machtkämpfen aussteigen

Machtkämpfe sind erlernt!

Nach der Krise

Geht es ohne?

Kapitel 15: Todsünden in der Erziehung

Ständiges Schimpfen

Etiketten aufkleben

Abwerten, demütigen

Ironie, Sarkasmus, auslachen

Vergleichen

Mitleid

Verwöhnung, Verzärtelung

Liebesentzug

Schlagen

Kapitel 16: Schatzsuche statt Fehlerfahndung – Potential fördern

Das Potential von Kindern erkennen

Edelsteine

Anerkennung geben

»Selber«

Werte

Kapitel 17: Demokratieschule Familienrat

Wessen Problem ist es

Wie geht der Familienrat?

Anerkennung geben

Familienziele oder Familienmotto

Familienratfallen

Die Familie stärken

Kapitel 18: Alle Eltern können gute Eltern sein

Erziehung ist immer auch Selbsterziehung

Was wirkt in der Erziehung?

Was müssen Eltern wissen?

Erziehungsstile und deren Nebenwirkungen

Zum Schluss: Geist und Seele brauchen Nahrung

Literatur

Dank

Ohne meine Familie hätte ich nie die Erfahrungen machen können, die mein Leben so bereichert haben und mich zur Ermutigung und zur Individualpsychologie geführt haben: habt Dank!

Dank gebührt vor allem meinen Lehrern und Kollegen, durch die ich Ermutigung und die Individualpsychologie kennen gelernt habe. Mit Namen nennen müsste ich sehr viele. Ich beschränke mich bewusst, ohne die anderen weniger wertzuschätzen, auf meine Lehrer Theo Schoenaker und Peter Pollak.

Ich danke auch den vielen Eltern, die mir in Beratung und Kursen ihr Vertrauen schenkten, und last but not least, den Freunden, die mein Schreiben geduldig begleitet haben und ertrugen, dass in meinem Kopf nur noch »das Buch« Platz hatte. Dank auch den vielen Autoren, die mein Wissen erweitert haben. Ich habe sie zitiert und hoffentlich keinen übersehen. Wenn, dann entschuldige ich mich. Besonderen Dank sage ich: Ina Frey von Fischhase® für die Grafiken, Renata Häusler für klärende Vorschläge beim Lesen des Manuskripts, Friederike Sophie Hennings für den Blick von außen, Peter Pollak für Lesen und Ermutigen, Peter Raab für die Ermutigung zum Schreiben und Christoph Ruge für Gespräche und Computerhilfe.

EinleitungEin Kompass

Ein Kompass zeigt die Himmelsrichtung an. Wenn man sich im Gelände verlaufen hat, hilft ein Kompass, den Weg zu finden. Das Ziel muss man allerdings vorher kennen! Eltern heute haben es viel schwerer als frühere Generationen. Die alten, autoritären Erziehungsmethoden mit Belohnung und Strafe haben ausgedient. Die 68er Generation hat dagegen ebenso erfolgreich protestiert wie gegen die überkommenen politischen Gedanken. Der Laissez-faire Stil, den diese Generation ausprobierte, hat nicht die gewünschten Resultate gebracht. Was nun?

Alfred Adler (1870–1937), der Begründer der Individualpsychologie, hat vor über hundert Jahren einen gangbaren Weg gewiesen. Sein Schüler Rudolf Dreikurs hat ihn geebnet. Viele seiner Schüler haben ihrerseits weiter daran gearbeitet, weil sie fanden, dass er sicher zum Ziel führe. Ein zentraler Gedanke Adlers war, dass Kinder nicht geprägt werden von den Eltern, sondern selber auf sehr kreative Weise ihre Persönlichkeit miterschaffen. Sie beobachten genau und lernen, wie sie ihre Ziele erreichen können. Die Aufgabe der Eltern ist, ihnen zu helfen, gute Meinungen über sich selber und ihre Möglichkeiten zu bilden und gute Strategien zu entwickeln, um in der Familie, im Kindergarten und in der Schule und später im Leben ihren Platz zu finden. Negatives, zerstörerisches Verhalten ist ebenso erlernt wie konstruktives Verhalten, das dem Kind selbst und der Gemeinschaft zugute kommt. Adler sieht Entmutigung als die Wurzel allen Fehlverhaltens. Fehlverhalten ist ein Symptom für die Entmutigung des Kindes. Ermutigung hingegen schafft Beziehung, gibt Kindern ein gutes Selbstwertgefühl, lässt sie die Probleme des Alltags anpacken und ihr Potential wachsen. Ermutigung ist nicht alles, aber ohne Ermutigung ist alles nichts.

Erziehung ist immer eine Gratwanderung. Es gibt keine Patentrezepte, auch wenn Eltern sich das manchmal wünschen. Erziehung ist Beziehung – zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Partnern, zwischen Eltern und Großeltern und zwischen Eltern und den Institutionen Kindergarten und Schule. Ohne eine gute Beziehung gibt es keinen guten Einfluss, sondern Widerstände. Druck schafft meistens Gegendruck, in jedem Lebensbereich. Kindererziehung ist immer auch Selbsterziehung.

Es geht nicht darum, richtige oder falsche Methoden aufzeigen. Ihre Kinder sollen sich zu lebensfrohen, selbstbewussten, kompetenten und der Gemeinschaft verpflichteten Erwachsenen entwickeln. Wenn Ihnen die Erziehungsziele, die ich im ersten Kapitel nenne, zusagen, dann könnte dieses Buch ein Kompass für Sie sein, der Ihnen im alltäglichen Erziehungsdschungel Orientierung gibt.

Kapitel 1Wohin soll die Reise gehen?

Wenn ich in Kursen oder Vorträgen frage, was Ihre Kinder können sollten, wenn sie erwachsen sind, lauten die Antworten der Eltern meist:

»Mein Kind soll glücklich sein.«

»Meine Kinder sollen selbstständige, selbstbewusste Erwachsene werden, die für sich sorgen und für sich einstehen können.«

Die Frage geht die unsere ganze Gesellschaft an. Erziehung im weitesten Sinn bestimmt, wie die nächste Generation leben wird, ihre Werte, die Art des Umgangs miteinander, die Ziele, die sie verwirklichen wird. Deshalb sollte sie am Anfang aller Bemühung um die Kinder stehen. Was sollen die Kinder lernen? Welche Fähigkeiten sollen die Kinder haben, wenn sie erwachsen sind? Was macht Menschen leistungsfähig? erfolgreich? glücklich? Oder sogar alle drei?

Eltern und Politiker sich weitgehend einig: eine möglichst gute Bildung – gemeint war, bis vor kurzem, rein kognitives Wissen, das man sich aneignen und weitergeben kann. In der politischen Bildungsdebatte geht es meist um Bildung für die Wirtschaft. meistern noch mit Frust umgehen. Menschen im Arbeitsleben brauchen Wissen und fachliche Qualifikationen, die sie in der Ausbildung, im Studium oder in der Weiterbildung erwerben. Zusätzlich brauchen Arbeitnehmer aber auch Lebenskompetenz! Ohne Sie können Menschen ihre Fachkenntnisse nicht wirklich einsetzen!

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert:

»Lebenskompetenzen sind diejenigen Fähigkeiten, die einen angemessenen Umgang sowohl mit unseren Mitmenschen als auch mit Problemen und Stresssituationen im alltäglichen Leben ermöglichen. Solche Fähigkeiten sind bedeutsam für die Stärkung der psychosozialen Kompetenz.« (WHO 1994)

Dazu gehören:

1. Selbstwahrnehmung und Einfühlungsvermögen.

2. Umgang mit Stress und negativen Emotionen.

3. Kommunikation, Selbstbehauptung/Standfestigkeit.

4. Kreatives, kritisches Denken, Probleme lösen

5. Information.

(http://cms.eigenstaendig.net/?page_id=39 am 26. Oktober 2013)

Lebenskompetenz entsteht nicht von allein. Wie also können Eltern ihre Kinder ausrüsten? Wie bereiten sie sie vor für das Leben, das sie in fünfzehn, zwanzig Jahren führen werden?

Welche Menschenbilder haben wir zur Verfügung?

Wie wir über Menschen denken, bestimmt unser Denken über Erziehung. Jahrtausende lang ging die Menschheit davon aus, dass Menschen von Natur aus böse sind, und dass sie das Gute lernen müssen. Im Alten Testament steht: Wer sein Kind liebt, züchtigt es. Thomas Hobbes spricht davon, dass ein Mensch für den anderen wie ein Wolf sei, also ein Raubtier. Darwin spricht vom Überleben des Stärkeren. Und doch spricht die Bibel davon, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf. Gott, der Allmächtige, der liebende Schöpfer, schuf den Menschen nach seinem Ebenbild! Das hieße doch, dass der Mensch im Wesen gut und anderen zugewandt ist!

Bahá’u’lláh, der Begründer der Bahaí-Religion, schreibt:

»Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschätzbarem Wert. Nur die Erziehung kann bewirken, dass es seine Schätze enthüllt und die Menschheit daraus Nutzen zu ziehen vermag.«1

Auch hier sehen wir das große Potential des Menschen und seine Aufgabe: zum Fortschritt der Menschheit beizutragen. Die Aufgabe der Eltern (und aller, die in die Erziehung und Bildung involviert sind) ist es, das Potential der Kinder zu fördern, ihre Edelsteine, also alle ihre Anlagen, Fähigkeiten und Begabungen zu fördern und ihnen zu helfen, ihre im Ansatz guten Charaktereigenschaften so zu entwickeln, dass sie diese für sich und andere Menschen oder die Gemeinschaft einzusetzen lernen. Soweit die Religion. In der öffentlichen Wahrnehmung gelten immer noch darwinistische Gedanken von Konkurrenz und Kampf gegeneinander als die normale, angeborene Lebensform. Dem widersprechen die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung. Die Neurobiologie bestätigt, dass der Mensch seiner Natur nach zum Miteinander, nicht zum Gegeneinander geschaffen ist. Fähigkeit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Empathie sind angeboren! Wettbewerb und Konkurrenzdenken sind erlernt, nicht umgekehrt. Joachim Bauer beschreibt in seinem Buch »Prinzip Menschlichkeit«: »Wir sind – aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen. Kern aller menschlichen Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben.«

Das Menschenbild von Alfred Adler

Dieses Buch basiert auf der Individualpsychologie von Alfred Adler (1870–1937), einem der »Gründerväter« der modernen Psychologie. Adler, und später seine Schüler, vor allem Rudolf Dreikurs (1897–1972) waren ihrer Zeit weit voraus. Die Hirnforschung der letzten zwanzig Jahre bestätigt, was Adler vor über hundert Jahren lehrte. Er sah in Menschen vor allem soziale Wesen. Menschen können nicht allein leben. Zusammenarbeit ist eine Grundvoraussetzung unseres Lebens. Deshalb sind soziale Fähigkeiten und gute Beziehungen lebensnotwendig!

Deshalb fordert Adler: »Das Kind muss für die Gemeinschaft erzogen werden!«

Alfred Adler spricht von drei sozialen Lebensaufgaben, die alle Menschen zu lösen hätten. Er nannte sie Lebensaufgaben, weil sie uns ein Leben lang begleiten, und sie sind sozial, weil wir sie nicht allein, sondern nur in Beziehung zu und in Gemeinschaft mit anderen lösen können. Es sind die Aufgaben Liebe, Arbeit und Gemeinschaft. Unter Liebe verstand er Partnerschaft und Sexualität, aber auch den Umgang mit der Familie, der Herkunftsfamilie und der eigenen Familie mit den Kindern und später auch deren Partnern und Kindern. Unter Arbeit verstand er nicht nur die Erwerbstätigkeit, sondern alle Arbeit, die wir verrichten. Das Arbeitsklima, der Umgangston, die Anerkennung, von denen die Atmosphäre zwischen Menschen geprägt wird, beeinflussen ihr Wohlbefinden und ihre Leistungsbereitschaft auf beträchtliche Weise. Die Lebensaufgabe Gemeinschaft umfasst nicht nur unsere Freundschaften, sondern auch den Umgang mit Menschen, die wir in allen Lebensbereichen außerhalb der Arbeit und der Familie treffen, also die Erzieherinnen2 und Lehrer der Kinder, die anderen Eltern, Mitglieder in Verein und Partei, Nachbarn und Menschen, die wir im Alltag und in der Freizeitgestaltung treffen, sei es an der Kasse oder in der Straßenbahn. Adlers Schüler Rudolf Dreikurs und Harald Mosak formulierten zwei weitere Aufgaben. Sie nannten sie einen Kosmos. Hier geht es um den Sinn des Lebens – warum wir überhaupt hier sind auf dieser Welt. Die Wissenschaft hat erkannt, dass Menschen, die für sich eine Antwort auf diese Frage gefunden haben, gut mit Lebenskrisen umgehen können. Die letzte Aufgabe ist der Umgang mit sich selbst. Mit sich selbst im Einklang sein und Frieden mit sich gemacht zu haben, trägt wesentlich zu einem glücklichen Leben bei. Hier geht es nicht um Selbstverwirklichung um jeden Preis, sondern um die Balance zwischen für sich selber sorgen und für andere Menschen da sein.

Als Ideal und gleichzeitig als Maßstab für das Leben in der Gemeinschaft formuliert Adler das Gemeinschaftsgefühl. Die Glücksforschung bestätigt, dass gelungene zwischenmenschliche Beziehungen wesentlich zum persönlichen Wohlbefinden und Glück jedes Einzelnen beitragen. Leben in der Gemeinschaft mit der Gemeinschaft für die Gemeinschaft führt zu Glück! Eine Kultur der Zusammenarbeit, gegenseitiger Hilfsbereitschaft und des Sich-Kümmerns entspricht dem positiven Menschenbild viel mehr als Elitedenken, eine Ellbogen- und Mitnahmementalität, als der Egoismus, den der Turbokapitalismus zu fordern und fördern scheint. Anzeichen für einen Wechsel im Denken sind da. Junge Erwachsene heute wollen Familie, Beziehungen, Freundschaften und einen sinnvollen Arbeitsplatz miteinander vereinen.

Welche Werte und Fähigkeiten brauchen unsere Kinder für diese neue Gesellschaft, die sich langsam abzeichnet? Da gute Beziehungen wichtig sind, brauchen sie das, was Beziehungen fördert, also Werte wie Ehrlichkeit, Höflichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit, Gerechtigkeit. Sie brauchen Fähigkeiten zur Zusammenarbeit, zur Freundschaft, zur Liebe. Sie sollen sich einbringen und zurücknehmen können. Sie sollen Konflikte aushalten und lösen können. Dafür brauchen sie ein gutes Selbstwertgefühl und die Bereitschaft, sich am Arbeitsplatz, in der Familie, im Freundeskreis und in der Gemeinschaft einzusetzen. Sie sollen einen Beruf ausüben und Geld verdienen und das Geld sinnvoll für sich und ihre Familien nutzen, ohne in Schulden zu geraten. Dafür brauchen sie Leistungsbereitschaft, Ausdauer und Frustrationstoleranz. Sie sollen sich eine Meinung bilden können in all dem Informationsüberfluss. Sie sollen sich sinnvolle Ziele setzen und diese auch erreichen können.

Dies ist ein ziemlich großer Katalog von Werten und Fähigkeiten, die Kinder in fünfzehn Jahren lernen sollen – neben der Bildungsmaterie der Schulen. Nach ungefähr fünfzehn Jahren ist die aktive Phase der Erziehung abgeschlossen. Sie wird im fließenden Übergang abgelöst durch die Phase der Begleitung – die Eltern begleiten ihren nun jugendlichen Nachwuchs in die Selbständigkeit und Eigenverantwortung des erwachsenen Menschen.

Kapitel 2Was braucht ein Kind?

Alfred Adler beschreibt vier grundlegende menschliche Bedürfnisse:

Das Bedürfnis dazuzugehören

Das Bedürfnis, besser zu werden, zu wachsen, zu lernen

Das Bedürfnis, Bedeutung zu haben, wertgeschätzt zu werden

Das Bedürfnis nach Ermutigung

Das Bedürfnis dazuzugehören

Am Anfang eines jeden Elternkurses sprechen wir darüber, wie Menschen sich fühlen, denen das Zugehörigkeitsgefühl abhanden gekommen ist in der Familie, am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis. Die Gefühle haben ein breites Spektrum: von Unbehagen über Traurigkeit, Wut, Aggression, Hilflosigkeit, Verzweiflung, über Minderwertigkeitsgefühle bis zu körperlichen Symptomen wie Unwohlsein, Magendrücken, Übelkeit und Kopfschmerzen. Wenn es Erwachsenen so geht, wie geht es dann erst den Kindern, die noch nicht die Fähigkeit haben zu erkennen, was sie brauchen und das auch zu sagen oder für sich selber zu sorgen? Jedes Kind will seinen festen Platz haben im Familiengefüge, im Kindergarten, in der Schulklasse, im Sportverein oder bei den Pfadfindern – wo immer es teilnimmt. Leider ist die bloße Zugehörigkeit zur Familie oder zu jeder anderen Gruppe keine Garantie dafür, dass Menschen sich auch zugehörig fühlen! Erwachsene können etwas dafür tun. Kinder brauchen die Hilfe der Erwachsenen, um es zu lernen.

Theo Schoenaker3 hat im Modell dargestellt, wie das Zugehörigkeitsgefühl gelingen kann. Stellen Sie sich ein Haus vor. Es braucht ein Fundament, ein Dach und tragende Wände. Im Modell gibt es zwei tragende Wände oder Säulen. Die dürfen nicht einstürzen, sonst fällt das Gebäude in sich zusammen. Die A-Säule steht für annehmen. Jeder Mensch möchte sich als Person angenommen fühlen, so wie er oder sie ist. Das ist ein Grundbedürfnis! Stellen Sie sich vor, Sie dürften sich nicht zeigen, wie Sie sind, aus Angst, abgelehnt zu werden. Könnten Sie dann entspannt arbeiten? Niemand kann zur Höchstform auflaufen, wenn er sich ständig beobachten muss. Seine Aufmerksamkeit ist dann nicht bei der Arbeit, sondern bei sich: »Wie wirke ich jetzt auf andere? Komme ich an? Mögen die mich?« Kinder sind besonders darauf angewiesen, dass Eltern sie annehmen, so wie sie sind, und nicht so, wie sie sie gerne hätten! Die zweite tragende Wand, die B-Säule, bezieht sich auf das Verhalten oder das Handeln. Menschen, die sich angenommen fühlen, wollen mitmachen, mitdenken, mitarbeiten. Sie entwickeln Ideen, arbeiten gerne mit anderen zusammen, setzen sich ein in der Familie und am Arbeitsplatz. Kindern geht es auch so. Wenn Sie mit Kindern leben und arbeiten, kommt es vor, dass Sie mit deren Verhalten nicht einverstanden sind. Das dürfen Sie zum Ausdruck bringen. Auf das Wie kommt es an! Bitte lassen Sie die A-Säule stehen! Das heißt, vermitteln Sie dem Kind klar, dass Sie es in seiner Person annehmen, so wie es ist, aber dass Sie es nicht mögen, wenn es den Bruder schlägt, mit Essen spielt, jeden Tag zu spät nach Hause kommt oder keine Hausaufgaben macht. Sagen Sie nie: du bist böse! Nicht das Kind ist böse, höchstens sein Verhalten. Kinder fühlen sich schnell ungeliebt und abgelehnt, wenn sie getadelt werden. Die Basis und feste Grundlage, sozusagen das Fundament des Hauses des Zugehörigkeitsgefühls ist Ermutigung. Ermutigung ist unerlässlich, wenn Sie Kinder erziehen. Und das Dach? Auf das Dach gehört ein G für Gemeinschaftsgefühl. Nur wenn das feste Fundament der Ermutigung da ist und die A-Säule der Annahme der Person und die B-Säule des Beitragens fest im Boden zementiert sind, sind die Voraussetzungen für die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls gegeben. Kinder, die sich angenommen fühlen, trauen sich etwas zu. Sie tragen bei. Sie denken mit und machen mit. Wer im guten Sinne beiträgt, erhält Anerkennung von anderen Menschen und spürt Befriedigung und Freude im Herzen. So, nur so, kann Gemeinschaftsgefühl wachsen.

Das Bedürfnis besser zu werden

und zu lernen, sich zu vervollkommnen, ist bei Kindern offensichtlich. Wie oft fallen sie hin, bis sie laufen können! Sie untersuchen alles: ihr Spielzeug, den Inhalt der Regale und Schränke, die Blumenerde im Topf und das Wasser in der Gießkanne. Kleine Kinder sind Forscher, sie wollen in ihrer Umgebung ganz genau Bescheid wissen. Diese Neugier ist ihr Antrieb zum Lernen! Jedes jüngere Kind möchte so schnell wie möglich das können, was das ältere Kind schon kann. Wachsen und sich entwickeln ist eine lebenslange Aufgabe. Allerdings vollzieht sie sich in der Kindheit sehr schnell und mit »Wachstumsschmerzen«.

Das Bedürfnis nach Bedeutung

ist ein weiteres Grundbedürfnis. Jeder Mensch, groß oder klein, möchte seinen eigenen Platz füllen und Wertschätzung erfahren, im Familiengefüge, in der Kindergartengruppe, in der Schulklasse oder später am Arbeitsplatz. Jeder möchte als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen werden. Kinder brauchen dafür immer wieder Bestätigung, manchmal mehrmals täglich.

Das Bedürfnis nach Ermutigung

ist am wenigsten bekannt und vielleicht am wichtigsten. Hirnforscher, zum Beispiel Gerald Hüther, bestätigen heute, was Adler im letzten Jahrhundert formuliert hat: Alle Menschen brauchen Ermutigung. Ermutigung erlaubt Menschen, ihr Potential zu entfalten.

Kinder brauchen sehr viel Mut, um die vielfältigen Herausforderungen zu meistern, die das körperliche, seelische und geistige Wachstum mit sich bringen. Sie brauchen Mut, um die Ängste zu überwinden, die mit neuen Situationen einhergehen, die Eingewöhnung im Kindergarten, die Geburt eines Geschwisterkindes, ein Umzug, eine Familienkrise, um nur die großen zu nennen. Sie brauchen Mut, um mit Fehlern, mit Blamagen, mit Rückschlägen, mit ihren Gefühlen von Unterlegenheit und Unzulänglichkeit umzugehen. Sie werden zwar mit einem großen Vorschuss an Mut geboren. Aber dieses Reservoir muss täglich aufgefüllt werden – durch Ermutigung. Sie brauchen die geduldige, einfühlsame Begleitung der Eltern und Pädagogen und ihr Vertrauen. Deshalb sagt Alfred Adler: »Wer ermutigen kann, braucht von Kindererziehung gar nicht so viel zu verstehen.«

Kapitel 3Glück braucht Gemeinschaft

»Kinder sollen für die Gemeinschaft erzogen werden.«

Alfred Adler

Der Begriff »Gemeinschaftsgefühl« ist ein Fachbegriff der Individualpsychologie. Individualpsychologen im englischen Sprachraum nennen es »social interest«. Also Interesse im sozialen Bereich, für soziales Geschehen. Adler war seiner Zeit weit voraus. Er sprach schon vor 100 Jahren vom Gemeinschaftsgefühl, als er als Lazarettarzt während des Ersten Weltkriegs formulierte: »Was die Welt braucht, ist mehr Gemeinschaftsgefühl!« Sein Gemeinschaftsgefühl ist ein Ideal. Es bezeichnet die Fähigkeit, beizutragen zum Wohlergehen der ganzen Gemeinschaft. Menschen mit Gemeinschaftsgefühl können ihre eigenen Belange vertreten, nehmen aber auch die der anderen als genau so wichtig wahr und berücksichtigen sie. Sie schauen sachlich und ausgewogen über den zeitlichen und räumlichen Tellerrand eines Geschehens hinaus. Adler definiert:

»Mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen – das scheint mir eine … Definition von dem zu sein, was wir Gemeinschaftsgefühl nennen.«

An anderer Stelle spricht er einfach von einem »Mitmenschen«. Adler fordert:

»Kinder sollen lernen, dass Menschen nur gemeinsam, in der Gemeinschaft, stark sein können, und dass Gemeinschaft nur funktionieren kann, wenn jeder seine eigenen Beiträge zum Ganzen leistet.«

Menschen mit Gemeinschaftsgefühl engagieren sich mit anderen für eine gute Sache. Sie fragen nicht: »Was krieg ich?«, sondern »Was kann ich geben, wie kann ich beitragen?« Sie tun etwas, nicht um sich zu profilieren, sondern weil sie es für richtig, wichtig und notwendig halten. Sie spielen im Laienorchester, sie engagieren sich ehrenamtlich, sie gehen zum Elternabend. Einige übernehmen Pflichten im Elternbeirat, in der freiwilligen Feuerwehr, im Verein. Sie leisten gute Arbeit in ihrem Beruf. Jeder Sportler, der in seiner Freizeit Nachwuchs trainiert, jede Nachbarin, die zeitweilig Kinder hütet, jeder Lehrer, der auf der Klassenfahrt seine Nachtruhe opfert, zeigt Gemeinschaftsgefühl. Nicht der oder die Beste zu sein, sondern sein Bestes zu geben, ist Ausdruck von Gemeinschaftsgefühl.

Das Gemeinschaftsgefühl ist im Menschen angelegt wie das Sprachvermögen. Ein Kind, das in einer Familie aufwächst, in der oft und über viele Themen miteinander gesprochen wird, entwickelt einen größeren Wortschatz als ein anderes, das sehr häufig vor dem Fernseher oder Computer sitzt und das selten lebendige Sprache hört. Von Medien lernen Kinder nicht sprechen – dafür brauchen sie das lebendige Gegenüber. Gemeinschaftsgefühl lernt ein Kind durch das Vorbild der Eltern und durch seine Möglichkeiten, in der Familie beizutragen. Es muss gefördert werden.

Die Familie ist hektisch, sie sind spät dran. Die Kinder sind umgezogen, nun sind die Eltern dran. Das Baby liegt in der Wippe und schreit. Nicky, der »große« Bruder, selbst erst vier, setzt sich neben sein Geschwisterchen. Er fängt an zu singen, ein Lied, das er im Kindergarten gelernt hat. Noch eins und noch eins. Er schaukelt die Wippe sanft. Das Baby wendet sich ihm zu, mit einem Schluchzer und großen Augen und lächelt endlich. Er strahlt und singt weiter, bis die Eltern fertig sind und sie aufbrechen können.

Nicky hat Gemeinschaftsgefühl. Er nimmt wahr, dass das Baby traurig und einsam ist. Er empfindet Mitgefühl und will helfen. Er hat eine Idee und Ausdauer. Er singt, bis das Baby sich beruhigt hat4. Beide Kinder sind zufrieden.

Ein Konzert in einer Barockkirche, am späten Nachmittag. Alle Plätze sind verkauft. Eine Familie mit drei kleinen Mädchen, geschätztes Alter 10, 5 und 4, sitzt in einer Bank. Direkt hinter ihnen sitzt eine Familie mit zwei Teenagern, 13 und 14. Die H-Moll Messe von Bach ist eine Herausforderung an die Konzentration eines jeden musikalischen Erwachsenen, geschweige denn an die eines Kindes. Die fünf Kinder reagieren sehr unterschiedlich. Musikalisch sind sie alle, sonst säßen sie nicht im Konzert. Beide Elternpaare haben das Anliegen, ihre Kinder an Kunst und Kultur heranzuführen. Sicher haben sie den Kindern auch eingeschärft, dass sie sich im Konzert ruhig verhalten sollen. Das gelang nur den jüngeren.

Die drei kleinen Mädchen waren nicht zu hören. Die Mittlere verschlief das Konzert. Die Älteste versuchte, aufmerksam zu folgen, oft gestört von der Jüngsten, die auf der anderen Seite der Mutter saß und öfters mal über diese hinüber kletterte. Die Kleine (4) sah müde aus und langweilte sich. Sie versuchte still zu sitzen, bekam auch eine Decke, um sich hinzulegen. Die ältere Schwester hockte sich dafür an den Rand der Bank, halb hingekniet, um der Kleinen zu ermöglichen sich auszustrecken. Dies geschah ohne unwirsche Geste, still, liebevoll. Mal versuchte die Kleine der Mutter auf den Schoß zu krabbeln, sie zu umarmen, mal setzte sie sich links, dann rechts von der Mutter hin. All dies geschah wie im Stummfilm: lautlos. Es war rührend, zu beobachten wie das kleine Kind sich mühte, trotz seiner Langeweile und Müdigkeit lautlos zu sein, um niemanden zu stören. Jede Kommunikation geschah mit Blicken – kein noch so leise geflüstertes Wort wurde gewechselt.

Anders die beiden Teenager. Sie waren ausgestattet mit Stiften, Papier, einem Comic. Sie tuschelten, rissen sich gegenseitig die Sachen weg, legten ihre verschiedenen Materialien auf die Ablage, die für das Gesangbuch gedacht war. Immer wieder fiel etwas herunter und wurde unter Knarren und Geraschel aufgehoben. Der Junge knipste mit seinem Kugelschreiber den Takt zum Piano der Alt-Arie, das Mädchen demonstrierte sein Desinteresse mit raschelndem Umblättern der Buchseiten. Offensichtlich hatten die Eltern ihren beiden Halbwüchsigen nicht zugetraut, was für die viel Jüngeren selbstverständlich war: ein Konzert zu hören und sich angemessen zu verhalten. Sie hatten ihnen Bücher und Stifte erlaubt, wie man das für eine längere Autofahrt tut. So hatten die Jugendlichen zwar gelernt, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht zu langweilen brauchten, aber sie hatten nicht gelernt, dass es genau so wichtig ist, die Menschen, die ein Konzert HÖREN möchten, nicht zu stören.

Die kleinen Mädchen zeigten Gemeinschaftsgefühl, indem sie die den anderen Konzertbesuchern erlaubten zuzuhören; die beiden Teenager Egozentrik: Sie nahmen nur sich selber wahr. Das Gegenteil von Gemeinschaftsgefühl ist Egozentrik. Ein Mensch mit Gemeinschaftsgefühl bewegt sich auf der »nützlichen Seite des Lebens«, ein Egozentriker, laut Adler ein zutiefst entmutigter Mensch, bewegt sich auf der »unnützen Seite.«5 (siehe Grafik). Wohlgemerkt: mit Gemeinschaftsgefühl ist nicht Gutmenschentum gemeint. Es geht darum, dass Kinder sozial nützliches Verhalten lernen im Gegensatz zu sozial unnützem Verhalten (landläufig Verhaltensauffälligkeiten), damit sie in guten Beziehungen mit anderen Menschen zusammenleben und zusammenarbeiten können.

Das Bedürfnis des Menschen, sich zugehörig zu fühlen und Gemeinschaftsgefühl zu leben, ist offen für Missbrauch. Gruppen, die andere ausschließen, egal ob elitäre Klubs oder Neonazis, mögen innerhalb ihrer Gruppe sehr zum Wohl der Mitglieder beitragen. Aber sie zeigen kein Gemeinschaftsgefühl im Adlerschen Sinn. Auch Kinder und Jugendliche, die sich in Cliquen zusammentun und andere ausgrenzen, die nicht die gleichen Ansichten haben wie sie oder die richtigen Kleider tragen, haben kein Gemeinschaftsgefühl. Es passiert in jeder Gesellschaft, dass eine Gruppe sich ein Gefühl von Zusammenhalt und Zugehörigkeit auf Kosten anderer verschafft, indem sie sich definiert über Gedanken wie »wir sind besser als andere, wir haben Lösungen für ein Problem, wir haben recht, sei wie wir oder du bist ein Feind«. Damit wird das Prinzip der Gleichwertigkeit (Kapitel 6) verletzt. In Familien, Nachbarschaft oder in Firmen läuft es über Besserwisserei, über Lästern und üble Nachrede oder sogar über Mobbing, dessen übelste Form wohl das Mobbing im Internet – Cyber-Mobbing, ist. Die Übergänge sind fließend. Lästern und üble Nachrede sind Gift für das emotionale Klima jeder Gemeinschaft. Sie rauben den Betroffenen Mut und Selbstvertrauen; sie machen krank.

Kapitel 4Die bedeutenden Bs

Wenn ich Eltern frage, was Kinder brauchen, um zu gedeihen, antworten alle ungefähr gleich: Urvertrauen, Geborgenheit, Verständnis, Liebe. Das stimmt. Wie schaffen Eltern es, dass Kinder tief im Inneren wissen, dass die Eltern sie verstehen und lieben? Wie stellen Eltern sicher, dass die Liebesbotschaft ankommt?

Adler und Dreikurs haben uns vermittelt, wie wichtig das Zugehörigkeitsgefühl ist. Betty Lou Bettner, eine amerikanische Individualpsychologin, stellt dar, wie das entsteht. Sie zerlegt es sozusagen in seine Bestandteile. Sie nennt sie die »Crucial C’s, connect, capable, count, courage, die Kinder brauchen, um Gemeinschaftsgefühl entwickeln zu können. Sie spricht von »needs«, also Notwendigkeiten oder Bedürfnissen, die alle Menschen haben. Bedürfnis ist ein starkes Wort. Bedürfnisse sollten ernst genommen und erfüllt werden. In ihrem Buch »Die schöpferische Kraft – Wie Kinder ihre Persönlichkeit erschaffen« heißen die »Crucial C’s« die »Bedeutenden Bs«:

Verbunden sein, in Beziehung sein

Befähigt sein, sich fähig und kompetent fühlen

Bedeutsam sein, die Überzeugung haben, es kommt auf mich an, ich werde gebraucht

Beherzt sein, also Mut haben

Diese Bedürfnisse sind so wichtig, dass Kinder sie sich auf jeden Fall erfüllen. Das kann auf positive Weise geschehen oder auf negative, wie wir im Kapitel Notlösungen sehen werden.

Verbunden sein

Wir wissen aus der Entwicklungspsychologie, dass Babys Bindung brauchen, um zu gedeihen. Schon in den 50er Jahren sprach John Bowlby in England von der Notwendigkeit der Bindung von Säuglingen und Kleinkindern an eine feste Bezugsperson, um eine stabile Psyche zu entwickeln. Es dürfen auch mehrere sein, also Vater und Mutter und eine Tagesmutter oder Pflegemutter, solange diese Bindungen stabil sind. Es ist relativ leicht, mit einem Baby Verbindung aufzunehmen und zu halten. Das Lächeln und Plappern von Babys ist unwiderstehlich und ruft bei allen Eltern die gleiche Reaktion hervor: Sie lächeln zurück, machen seine Geräusche nach, sprechen ständig mit dem Kind, während sie es wickeln oder mit ihm spielen. Sie machen Fingerspiele, zeigen ihm Dinge, berühren es zärtlich, streicheln es. All dies schafft engen Kontakt und Beziehung. Schwieriger wird es, wenn die Kinder mobil werden, krabbeln und anfangen zu laufen, dann noch eigenständiger werden und mit dem ersten »Nein«, mit Trotz und den ersten Wutanfällen reagieren. In solchen Momenten ist es schwieriger, eine gute Beziehung zum Kind zu halten. Kinder können Eltern manchmal zur Weißglut bringen!

Kinder brauchen eine gute, liebevolle, warmherzige Beziehung zu ihren Eltern! Das ist emotionale Nahrung. Deshalb ertragen sie es kaum, wenn die Beziehung abreißt. Kritik, schimpfen, meckern, nörgeln, an allem etwas aussetzen, ständig ermahnen und verbessern, predigen, Vorwürfe machen, beschuldigen, klein machen oder beschämen unterbrechen die gute Verbindung. Im kindlichen Schwarzweiß-Denken interpretiert das Kind: Mama liebt mich nicht mehr. Das tut weh. Kinder, die sich nicht geliebt fühlen, empfinden sich als minderwertig. Ihr Selbstvertrauen leidet. Dagegen wehren sie sich!

Eine Mutter und ihr kleines Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, sind mit dem Fahrrad unterwegs. Vielleicht sind sie auf dem Weg zum Kindergarten. Sie haben am Straßenrand angehalten. Die Mutter tippt in ihr Smartphone, höchst konzentriert. Ich erhasche einen Blick auf das Gesicht des Kindes und erschrecke über seinen Ausdruck.