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Die literarische Bearbeitung des Erotischen scheint eine der schwierigsten künstlerischen Aufgaben zu sein, hat aber stets noch provozierend und stimulierend gewirkt. Die damit verbundenen Probleme sind, abhängig von der Epoche, unterschiedlich: Im 19. Jahrhundert mussten sich die Autoren aller (un-)möglichen Metaphern bedienen, um Erotik zu verbildlichen. Andererseits stößt man in der mittelalterlichen Minnesang-Dichtung und in den Verserzählungen auf Manches, was die liberalsten Verleger auch heute noch in Verlegenheit bringen würde. Dieser Band zu den verschiedenen Sexualitätsbildern in der (deutschsprachigen) Literatur nimmt die historische Komplexität des Problemfeldes Sexualität anhand ausgewählter Textbeispiele literaturästhetisch in den Blick und nutzt analytische Kriterien, um neues Licht auf die verschiedenen literarhistorischen Epochen und kulturellen Bedingungen literarischer Erotik zu werfen.
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Seitenzahl: 618
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Eros und Logos
Literarische Formen des sinnlichen Begehrens in der (deutschsprachigen) Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart
Albrecht Classen / Wolfgang Brylla / Andrey Kotin
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0090-8
Eine Diskussion universeller Lebensbedingungen im fiktionalen Kontext
Erotik ist angesagt; sie war schon immer ein zentral menschliches Thema, in der Dichtung, in der visuellen Kunst, in der Musik und in anderen Medien und bewegt sowie begleitet den Menschen in zahllosen Situationen und unter verschiedenen Umständen. Erotik ist von solch grundlegender Bedeutung für alle Kultur, dass es gar keiner besonderen Erklärung bedarf, warum wir hier einen Sammelband mit literaturwissenschaftlichen Studien zu diesem Thema vorlegen und die Beziehung zwischen der Liebeserfahrung und deren poetischen Umsetzung eruieren. Wohin wir auch blicken, entdecken wir erotische Aussagen, Motive, Sujets und literarische oder visuelle Materialien. Menschliches Leben ist getragen von Erotik und erreicht seine eigene Überhöhung mittels erotischer Energie. Es handelt sich dabei um einen ungemein wichtigen Motor in der humanen Existenz, der uns zunächst zutiefst in die materielle Dimension hineinträgt, von dort aber überraschend auf ein spirituelles Niveau katapultiert. Religion, Liebe, Lust, Ästhetik, Philosophie, Spiritualismus und Sinnlichkeit finden sich alle vereint in und bestimmt von Erotik.
Inwieweit in der Vergangenheit über solche Aspekte mehr oder weniger deutlich gesprochen wurde, einschließlich der Sexualität und sogar der Pornographie, herrscht oftmals Unklarheit, weil man sich mit den relevanten Quellen nicht auseinandergesetzt hat, entweder aus Scheu vor heiklen Sujets, die sich dort finden, oder aus selbstverschuldeter Blindheit, denn gewisse Epochen sollen anscheinend allein von einer bestimmten Sichtweise her beurteilt werden. Dies trifft genauso auf das Mittelalter wie auf die Reformationszeit, auf den Barock und die Klassik zu. Die Literaturgeschichte hat uns da oftmals ziemlich starke Scheuklappen aufgesetzt. Betrachtet man sich z.B. die barocke Aneignung des Epithalamium an Palladius und Celerina von Claudius Claudianis (ca. 400 n. Chr.) durch Johann von Besser, Benjamin Neukirch, Christian Hölmanns und einen Anonymus, kann man nur staunen, wie drastisch die menschlichen Geschlechtsorgane und der ersehnte Koitus beschrieben und zugleich metaphorisiert werden (vgl. dazu den Beitrag von Antonius Baehr).
Zugleich gilt aber, dass sich die westliche Gesellschaft immer wieder vehement gegen die öffentliche Behandlung von Erotik oder Sexualität gewandt hat, was zu einem wichtigen literarischen Thema gerade des 19. und 20. Jahrhunderts anwuchs, wobei doch nur natürliche menschliche Triebe unterdrückt wurden, wie die Werke von Frank Wedekind explizit zum Ausdruck bringen (vgl. dazu den Beitrag von Anja Manneck). Besonders problematisch ist dazu stets noch das literarische Bekenntnis zur Homosexualität gewesen, im Mittelalter weitgehend vollständig unterdrückt, ja tabuisiert, selbst im 20. Jahrhundert mit großer Vorsicht gehandhabt, wie z.B. der Roman Lyrische Novelle (1933) von Annemarie Schwarzenbach (1908–1942) gut veranschaulicht (vgl. dazu den Beitrag von Karolina Rapp). In der modernen Großstadt wie Berlin während der 1920er Jahre gewann sie aber erheblich an Bedeutung, auch wenn sie in der Öffentlichkeit umstritten blieb (vgl. dazu den Beitrag von Marlene Frenzel).
Wie es nicht anders zu erwarten war, spielt auch in der neuesten Literatur die Erotik bzw. das Sexuelle eine gewichtige Rolle, weil hierbei die eigene Identität hinterfragt und neu ausgekundschaftet werden kann. Die Spannungen zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen oder einfach zwei Geschlechtstypen, um die Homosexualität bzw. Transsexualität mitzuberücksichtigen, konstituieren unablässig das Medium der Selbsterprobung, wie jetzt die polnischen Romane von Szczepan Twardoch eindringlich vor Augen führen (siehe dazu den Beitrag von Rafał Biskup).
Gleichgeschlechtliche Liebe hat es immer gegeben, ist oft ein Teil der biologischen Struktur des Menschen, auch wenn gerade die Kirchen stets heftig dagegen gekämpft haben. Umso wichtiger ist das literarische Medium gewesen, in dem homoerotische Anliegen durchaus mehr oder weniger codiert häufiger zum Ausdruck gekommen sind. Wie auch immer, menschliche Kultur, Sprache (Logos) und Natur erweisen sich zutiefst von Erotik determiniert, wenn nicht sogar der Logos ein Ausdruck von Erotik sein dürfte, was uns dazu zwingen könnte, die Literaturgeschichte nach ganz anderen als den bisher verfolgten Kriterien (neu) zu schreiben, insoweit als die Sexualität allenthalben auftritt und eine viel wichtigere Rolle einnimmt, als es die Forschung noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wahrhaben wollte. Erotik dient vielmals als eine Brücke zwischen den Kulturen und ist häufig das Bindeglied zwischen fremden Gesellschaften gewesen, wie wir es u.a. in den Romanen Alfred Anderschs (1914–1980), der Renate Ahrens (geb. 1955) und Joseph Zoderers (geb. 1933) beobachten (zum letzteren vgl. den Beitrag von Verena Zankl und Irene Zanol). Die Liebe katapultiert das Individuum aus seinem vertrauten Lebensbereich, aber oftmals findet es sich dann selbst innerhalb der neuen Liebesbeziehung in einer spannungsreichen und konfliktgeladenen Situation. Ist denn Liebe als solches nicht das Fremde schlechthin? Findet nicht derjenige, der liebt, Gott in sich selbst?
In Krisenzeiten wie dem Ersten und Zweiten Weltkrieg intensivierte sich die Erotik beträchtlich, weil die Menschen angesichts des drohenden Todes dazu tendierten, traditionelle Normen zu vernachlässigen und danach strebten, im Hier und Jetzt sexuellen Gelüsten zu frönen. Polnische Romane, die den Ersten Weltkrieg behandeln, illustrieren dieses Phänomen in höchst eindrucksvoller Weise (vgl. dazu den Beitrag von Paweł Zimniak), aber wir entdecken es auch in der deutschen Barocklyrik (siehe die Beiträge von Wolfgang Brylla und Antonius Baehr) oder im Zauberberg (1924) von Thomas Mann. Heinrich Wittenwilers Ring (ca. 1400) kommt uns hier genauso in den Sinn wie Bertolt Brechts Mutter Courage und ihre Kinder (1938/1939). Eros und Thanatos reichen sozusagen einander die Hände in der existentiellen Erfahrung von Extremen in der menschlichen Existenz.
Szczepan Twardoch (geb. 1979) bietet jetzt ein gutes Beispiel dafür in seinem Roman Morphin (2012; siehe dazu die Studie von Rafał Biskup), in dem sozusagen das Goethesche Diktum vom ‚Ewigen Weiblichen‘ neu aufgegriffen und reflektiert wird. Die frühe Liebesdichtung von Rosa Ausländer (1901–1988), die von der Forschung oftmals eher ignoriert worden ist, vor allem weil sie diese Werke lieber nicht publiziert sehen wollte, verdient ebenfalls kritische Aufmerksamkeit, wie Oxana Matiychuk in ihrem Beitrag überzeugend belegt, denn wenngleich Ausländer, wie andere bukowinische Dichter ihrer Zeit, stark auf die romantische Tradition zurückgriff, gelang es ihr hier, fulminant die Liebeserfahrung sprachlich anzusprechen und ausdrucksmächtig zu reflektieren. Hinzuzufügen wäre auch die Gattung der Liebesbriefe, in denen sich die zwei Partner intensiv austauschen und ihre Gefühle formulieren – vgl. etwa die ungemein aussagekräftigen Briefe zwischen Peter Abelard (gest. 1142) und seiner einstigen Geliebten, dann Ehefrau Heloise –, wie dies der Fall mit den erst jüngst veröffentlichten Briefen Gottfried Benns (1886–1956) an seine Geliebte Ursula Ziebarth war, von der aber nur drei Antwortschreiben an ihn erhalten sind (siehe dazu den Beitrag von Maciej Walkowiak in diesem Band). Benn pflegte diese Beziehung erst gegen sein Lebensende, obwohl er verheiratet war, aber dies entsprach seiner Lebensphilosophie allgemein, obwohl er dadurch immer wieder einen Skandal auslöste. Für ihn war es aber eine zutiefst bewegende Erfahrung, im hohen Alter immer noch Liebe von einer viel jüngeren Frau zu erleben, was seine Vitalkräfte enorm steigerte. Zugleich aber ergaben sich, worauf uns Walkowiak aufmerksam macht, sehr viele Spannungen zwischen Benn und Ziebarth, die intellektuell und sozial gesehen sich um einiges unterschieden. Liebe erweist sich also über alle Zeiten und in allen Kulturen als ein äußerst schwieriges Unterfangen, ungemein Glück vermittelnd, zugleich zutiefst Unzufriedenheit, Frustration und sogar Zorn und Wut auslösend.
Erotik und Sexualität haben aber immer unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen, wurden entweder idealisiert und sogar mystifiziert, wie wir es bei den Romantikern gut beobachten können (siehe dazu Friedrich Schlegels [1772–1829] Roman Lucinde [1799]; vgl. dazu den Beitrag von Andrey Kotin), oder grotesk physisch desavouiert, wie vor allem in der Moderne z.B. von Elfriede Jelinek (geb. 1944) gestaltet.
Beginnen wir aber chronologisch. Das Hohelied Salomos im Alten Testament setzt ein mit diesen erstaunlichen Versen:
Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes; denn deine Liebe ist lieblicher als Wein. Es riechen deine Salben köstlich; dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe, darum lieben dich die Jungfrauen. Zieh mich dir nach, so laufen wir. Der König führte mich in seine Kammern. Wir freuen uns und sind fröhlich über dir; wir gedenken an deine Liebe mehr denn an den Wein. Die Frommen lieben dich.
Und kurz darauf lesen wir:
Da der König sich herwandte, gab meine Narde ihren Geruch. Mein Freund ist mir ein Büschel Myrrhen, das zwischen meinen Brüsten hanget. Mein Freund ist mir eine Traube von Zyperblumen in den Weinbergen zu Engedi. Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen.1
Natürlich soll der Leser hier nicht erotisch erregt werden, aber diese Lieder aus der Zeit von ca. 300 vor unserer Zeitrechnung besitzen viele Ähnlichkeiten mit griechischer und ägyptischer Lyrik säkularer Herkunft und erfüllten daher sicherlich einen doppelten Zweck: einerseits religiöse Metaphern für die Beziehung zwischen Mensch und Gott zu bieten, andererseits diese erotische Tradition für den biblischen Diskurs funktionell zu machen. Wie dem auch sein mag, bestechen diese Verse durch ihre eindringliche Sprache, mit der das Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau höchst sinnlich beschrieben wird, und dies in einem zutiefst religiösen Kontext, wo das Verhältnis zwischen dem göttlichen Liebhaber und dem Gläubigen erotisch ausgemalt wird. Erotik erweist sich mithin als ein Paradox, denn obgleich diese Energie materiell begründet zu sein scheint, ermöglicht sie dem Individuum, genau diese materielle Begrenztheit schnell zu überwinden und zu neuen Dimensionen aufzusteigen.
Wir könnten aber noch weiter zurückschauen und z.B. die erotischen Passagen in Homers Ilias identifizieren, um eine Bestätigung dafür zu finden, dass Erotik von Anfang an eines der Grundelemente jeglicher literarischen Aktivität gewesen sein dürfte (Entführung Helenas durch Paris nach Troja, was den nachfolgenden Trojanischen Krieg auslöste). Aus der römischen Klassik ist uns insbesondere das Meisterwerk von Publius Ovidius Naso bekannt, der die Grundlagen für die literarische Auseinandersetzung mit dem Universalthema ‚Liebe‘ schuf. Zwar starb Ovid um 17 n. Chr. in der Verbannung in Tomis am Schwarzen Meer – auch dies ist etwas umstritten – , aber zeit seines Exils konnte er weiter in Rom publizieren und so wichtige Werke wie seine Tristia und die Metamorphosen schreiben bzw. vollenden. Hier treten so bekannte Liebespaare wie Pyramus und Thisbe, Philemon und Baucis, Orpheus und Eurydike, Pygmalion und Galatea und Leda und Medea auf, die der erotischen Phantasie in der westlichen Welt Tor und Tür geöffnet haben. Die Gründe für Ovids Verbannung mögen darin bestanden haben, dass er nach der Veröffentlichung seiner berühmten Abhandlung Ars amatoria ca. 2 n. Chr., in der das Verhältnis zwischen zwei Liebenden neu auf diskursive Weise ausgelotet wurde, indem er mehr oder weniger Gleichheit zwischen den Geschlechtern postulierte, seine Arbeit an dem Thema fortsetzte und schließlich seine Remedia amoris veröffentlichte, also seine Ratschläge, wie man die Gefahren und Verführungskünste von Liebe überwinden und hinter sich lassen könne. Wie die jüngere Forschung deutlich gemacht hat, diente der Bezug auf seine Remedia bloß als Vorwand, um die politischen Gründe für seine Verbannung zu kaschieren.2 Ovid genoss aber seitdem das höchste Ansehen als Liebesdichter, auch wenn er schließlich eher satirisch die Kehrseite dieses Gefühls beschrieb.
Etwas mehr als 1000 Jahre später verfasste dann der Kleriker Andreas Capellanus seinen eigenen Traktat über die Liebe, Ars amatoria (ca. 1180–1190), der eine verblüffende Struktur aufweist, insoweit als zunächst definitorische Bemerkungen über Liebe und das richtige Alter der Liebenden geboten werden, darauf eine lange Reihe von Dialogen zwischen Mann und Frau, meist unterschiedlichen Sozialstandes, die unterbrochen werden von geradezu juristischen oder allegorischen Texten über die festen Regeln der Liebe außerhalb der Ehe. Zum Abschluss des zweiten Buches stoßen wir schließlich auf eine kurze arturische Erzählung, durch die der absolute Wert von Liebe im höfischen Rahmen erneut deutlich unterstrichen wird. Das Ergebnis besteht dann darin, dass die Gesetze, wonach sich die Liebenden richten müssten, in der ganzen Welt verbreitet werden. Damit scheint jeder notwendige Aspekt angesprochen zu sein, aber das dritte Buch richtet sich auf einmal radikal gegen Liebe an sich und vor allem gegen Liebe außerhalb der Ehe, denn Gott habe diese streng verboten. Außerdem sei Frauen überhaupt nicht zu trauen, wie auch das Liebesstreben grundsätzlich abzulehnen sei. Bis heute fragt man sich daher in der Forschung, welche Intentionen der Dichter wirklich verfolgt haben mag, denn die Dialektik dieses Traktats stürzt uns mehr in Verwirrung, anstatt Aufklärung darüber zu vermitteln, wie das Phänomen der Liebe zu verstehen sei.3
Zur gleichen Zeit entstand geradezu eine Flut an einschlägigen höfischen Liedern und Versromanen, in denen die verschiedensten Blickwinkel bezogen auf die Erfahrung in der Liebe (vor-, außer- und ehelich an sich) durchexperimentiert wurden. Mit am bekanntesten dürften die lais der Marie de France (ca. 1170–1190) oder der Tristan von Gottfried von Straßburg gewesen sein, wo eine höchst problematische Dreiecksbeziehung zur Sprache kommt, insoweit als Tristan und die irische Prinzessin Isolde, die aber mit dem König Marke von Cornwall, dem Onkel Tristans, verheiratet ist, eine heftige Liebesbeziehung miteinander pflegen, die soweit führt, dass sie schließlich vom Hofe verstoßen werden und in einer geheimen Liebesgrotte fern von jeglicher menschlichen Gesellschaft Zuflucht finden, wo sie gewissermaßen in eine Utopie geraten, genießen sie ja genügend ihre gegenseitige Liebe und sind damit von allen körperlichen Bedürfnissen enthoben. Allerdings vermögen Tristan und Isolde nicht unbegrenzt dort zu verharren und sich an ihrer Idylle zu erfreuen, fehlt ihnen ja die Gesellschaft, und als sie zufällig von Marke entdeckt werden, der sich dabei erneut über ihre wahren Gefühle füreinander (freiwillig?) täuschen lässt, kehren sie, weil ihnen die Erlaubnis gewährt wird, erneut an den Hof zurück.
Die Utopie dauert nicht lang, aber in Cornwall bleiben die beiden Liebenden weiterhin erotisch unabwendbar aneinander gebunden, was schließlich zu ihrem Unglück führt.4 Marke ertappt sie schließlich in flagrante, was Tristan dazu zwingt, schnell abzureisen, ohne je zu seiner Geliebten zurückkehren zu können. Die sich anschließenden Komplikationen mit einer anderen Frau, ebenfalls Isolde (Weißhand) genannt, mit der sich Tristan dann verheiratet, brauchen hier nicht gesondert diskutiert zu werden, reicht es ja hervorzuheben, mit welcher Intensität Gottfried die Erotik und Liebe im Leben von Tristan und Isolde auslotet und sie als den höchsten Wert für die höfische Gesellschaft hinstellt, so blasphemisch dies auch innerhalb des christlichen Weltbildes klingen mag. Aber bereits in seinem Prolog hatte Gottfried darauf aufmerksam gemacht, dass die Intention seiner Geschichte auf diejenigen in seinem Publikum zielt, die ein edles Herz und die nötige Tugendkraft besitzen, um den vorzustellenden Liebesstoff in seiner ganzen Paradoxie und Dialektik zu begreifen.5
Nicht unbeachtet bleiben darf in diesem Kontext Walthers von der Vogelweide berühmtes Lied Under der linden (Nr. 16/L 39, 11), wo erotische Phantasie, Reflexionen über persönliche Erfahrungen intimster Art, Schamempfindung und Glückserfahrung in einzigartiger Weise eine Verbindung eingehen.6 Nicht nur hat hier der Dichter eine weibliche Stimme gewählt, sondern zieht auch das Rollenspiel systematisch bis zum Ende durch, um ihre erotischen Erlebnisse vollständig im poetischen Gewand auszuformen. Wie sie berichtet, wartete ihr Geliebter bereits auf sie unter der Linde, dem klassischen Liebesbaum (so bereits bei Ovid), als sie sich verstohlen zur Wiese begab. Dort hatte er aus Blütenblättern und Gras eine Liebesstätte eingerichtet, wo sie sich beide miteinander vergnügten, wie die später daran Vorbeischreitenden deutlich am Eindruck, den ihre Körper hinterlassen haben, erkennen können. Erstaunlicherweise appelliert die Frauenstimme sogar an die Jungfrau Maria, deren Segen sie sich für diese Liebesbeziehung erwünschte (2. Strophe). Obwohl die Sängerin immer wieder darauf insistiert, dass es eine sehr private Affäre gewesen sei, und dass sie sich schämen würde, wenn andere davon erfahren würden, was durch den onomatopoetischen Refrain „tandaradei“ sehr eindringlich gespiegelt wird, erfahren wir doch nur zu deutlich, dass der Öffentlichkeit klar vor Augen geführt werden sollte, was hier geschehen war, denn „des wirt noch gelachet / inneclíche“ (III, 4–5).
Die Betrachter spotten nicht, sie lachen nicht hämisch, und sie drücken keinen Zynismus aus. Sie freuen sich inniglich, dass Liebe stattfand, erfüllt und in vollständiger Harmonie, wie der Augenschein unverkennbar vermittelt. Obwohl wir nicht vernehmen, wie sich die zwei Liebenden zueinander verhielten oder was sie miteinander trieben, erweist sich die ganze Szenerie als höchst erotisch und glückserfüllt: „Bî den rôsen er wol mac, / tandaradei, / merken, wâ mirz houbet lac“ (III, 7–9).7 Genauso macht sich dieses Phänomen in der gesamten höfischen Literatur des hohen Mittelalters bemerkbar, ob wir die Troubadourlyrik, den Minnesang, die Carmina Burana oder den Stil dolce nuovo berücksichtigen. Spielerisch wurde die sexuelle Anziehungskraft für erzieherische und sozialisierende Zwecke eingesetzt und damit gesellschaftlich funktionalisiert.
Wie diese große Faszination an Erotik innerhalb einer Gesellschaft, die zu dem Zeitpunkt bereits weitgehend von der christlichen Kirche durchdrungen war, so tiefgreifende Wurzeln fassen konnte, entzieht sich unserem Verständnis, aber die europäische Dichtung bietet über die Jahrhunderte hinweg eindringliche Zeugnisse von der großen Bedeutung dieses Themas. Sowohl Wolfram von Eschenbach (Parzival, ca. 1205) als auch Dante (Divina Commedia, ca. 1320), sowohl Giovanni Boccaccio (z.B. Decameron, ca. 1350) als auch Geoffrey Chaucer (Canterbury Tales, 1400) stellten Liebesbeziehungen und -konflikte in den Mittelpunkt ihrer Werke, und jedesmal kommt auf sehr individuelle Weise zum Ausdruck, dass die Erotik als ein Katalysator von höchst komplexer Aussagekraft fungierte. Zur gleichen Zeit entstand die große Bewegung der europäischen Mystik, primär getragen von solchen Frauen wie Hildegard von Bingen (1089–1179), Mechthild von Magdeburg (gest. Ende des 13. Jahrhunderts), Marguerite de Porète (gest. 1310), Catarina di Siena (1347–1380), Julian of Norwich (ca. 1341–ca. 1416) oder Teresa da Ávila (1515–1582), die regelmäßig auf traditionelle Bilder von höfischen Liebebeziehungen zurückgriffen, um ihre göttlichen Visionen zu umschreiben.8 Erotik gewann hierbei eine ganz andere Bedeutung, insoweit als die physische Attraktion hin zu einer spirituellen führen sollte, womit Erotik zum Sprungbrett für religiöse Epistemologie umfunktioniert wurde.
Wie Cezary Lipiński in seinem Beitrag über Mechthild deutlich macht, erwies sich dabei oftmals die erotische Ausdrucksweise als effektives Medium, um die visionäre Gotteserfahrung auf epistemologische Weise sprachlich umzusetzen. Gerade weil Mechthild unbändig danach strebte, die apophatische Erfahrung systematisch zu analysieren und praktisch für sich selbst umzusetzen, sah sie sich immer wieder dazu gedrängt, sorgfältig kategoriale Konzepte der Liebe an sich zu entwickeln und diese für den Weg der Seele zu Gott hin anzuwenden. Im Grunde würde es schwerfallen, in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters individuelle Werke zu finden, die nicht in einer oder anderen Art und Weise das Thema ‚Erotik‘ gestalten würden.
Die jeweiligen Absichten und Ziele, die dabei verfolgt wurden, waren meist sehr unterschiedlich, ob religiös oder sexuell, aber das erotische Element an sich erweist sich geradezu als ubiquitär. Alle großen Sammelwerke mit Verserzählungen (fabliaux, tales, novelle, mæren) oder Prosatexten (Schwänke) sind überwiegend von erotischen Anliegen bestimmt, ohne dass eigentlich die Gefahr bestände, dass daraus plötzlich Pornographie oder Obszönität entstände, auch wenn wir Beispiele davon ebenfalls schon in der Literatur der Vormoderne finden können.9
Die Gründe für dieses konsistente Phänomen lassen sich mühelos aufzählen, ohne dass wir jemals ganz erschöpfend damit zurande kämen. Die erotische Attraktion zwischen den Geschlechtern – im Falle der Homosexualität zwischen den gleichen Geschlechtern, was hier durchgängig so verstanden werden soll – hat stets noch das menschliche Leben bestimmt, denn ohne sie käme es kaum zur Fortpflanzung. Die Erotik wäre als das Vorspiel zu bezeichnen, worauf dann die Sexualität folgt, und Dichter aller Zeiten haben stets noch intensiv darauf Rücksicht genommen, was schon vielfach in Spezialuntersuchungen zur Sprache gekommen ist.10 Ein außerordentlich eindrucksvolles Beispiel aus der Romantik liegt uns mit Friedrich Schlegels Lucinde (1799) vor, wo die erotische Verführung der eigentlich sehr willigen Frau in höchst eindringlichen Dialogen vonstatten geht (vgl. dazu den Beitrag von Andrey Kotin). Im Vergleich zu den Gesprächen in Andreas Capellanus‘ De amore (ca. 1180–1190) gelingt es dem männlichen Sprecher, mittels seiner sprachlichen Strategien zum Ziele seiner Wünsche zu gelangen, die aber weit über dem Sexuellen darin bestehen, die Unterschiede zwischen Mann und Frau aufzuheben und im Erotischen die universal-göttliche Vereinigung zu erreichen, was explizit dem bürgerlich-realistischen Ethos zuwiderstrebte und für viele Zeitgenossen als äußerst skandalös erschien.
Erotik und Sexualität spielten also sowohl im Barock als auch in der Romantik, sowohl in der Klassik als auch im Realismus gewichtige, wenn nicht zentrale Rollen. Wem wäre nicht Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) bekannt? Und von hier kann man mühelos zu Robert Musils Roman Mann ohne Eigenschaften (1930ff.) springen, oder auf den Bestseller Der Vorleser von Bernhard Schlinck (1995) eingehen. Die Welt, wie sie in den Romanen oder Dramen, in den Gedichten oder Balladen vor unsere Augen tritt, ist von Liebessehnsucht und Liebeserfüllung bestimmt.11 Das gleiche lässt sich genauso gut für die Literaturen anderer europäischer Länder konstatieren (vgl. Szczepan Twardochs Morphin, 2012), und der Sprung nach Indien oder Japan auf der Fährte nach dem selben Phänomen erweist sich dann als genauso mühelos.
Zu fragen wäre aber sofort, ob es sich überall und zu allen Zeiten um dieselbe parallele menschliche Erfahrung handelt, ob wir also tatsächlich Gemeinsamkeiten bei der Auseinandersetzung mit dem Erotischen feststellen können. Worum handelt es sich bei Erotik an erster Stelle? Natürlich ändert sich dies von Mensch zu Mensch, von Gesellschaft zu Gesellschaft, von kultureller Epoche zur nächsten. Barockdichter haben auf ihre eigene Art das erotische Element in ihrer Lyrik eingesetzt und so dem Thema ihren eigenen Stempel aufgeprägt. Erotik in der Romantik war individuell anders als in der Klassik, und moderne Dichter des 20. und 21. Jahrhunderts bedienen sich neuer, idiosynkratischer Bilder und Interessen, um ihr erotisches Anliegen zu formulieren. Allen gemeinsam bleibt aber, dass die erotische Kraft das Bindeglied zwischen den Geschlechtern ausmacht und dass gerade das poetische Wort dazu dient, dem esoterischen, zugleich aber auch so physisch relevanten Phänomen Ausdruck zu verleihen.
Wählen wir zwei scheinbar sehr weit auseinander liegende Beispiele zum Vergleich und zur Illustration. In einigen der Lieder Oswalds von Wolkenstein (1376/77–1445) vernehmen wir von Badefreuden, die er mit seiner frisch getrauten Frau Margaretha von Schwangau genießt. Obwohl das Lied Kl. 75Wol auff, wol an offensichtlich mehr für den Privatgebrauch gedacht gewesen sein mag, gehört es trotzdem zu den öffentlich präsentierten Liedern, die in seinen beiden Prachthandschriften A und B (Pergament), später auch in der Papierkopie c, enthalten sind.12 Mehr noch als jemals zuvor sehen wir uns in eine höchst intime, zugleich extrem erotische Situation versetzt, denn das junge Ehepaar vergnügt sich in einer Badewanne, die offensichtlich auf einer Wiese aufgestellt worden ist. Nach einem intensiven, wenngleich immer noch topischen Natureingang, in dem die Vogelschar die frühlingshafte Umwelt bejubelt, melden sich Oswald und Margarethe zu Wort, die sich begeistert gegenseitig berühren und sexuell erregen: „,wascha, maidli, / mir das schaidli!‘ / ‚reib mich, knäblin, / umb das näblin! / hilfst du mir, / leicht vach ich dir das rätzli‘“ (34–39). In der folgenden, dritten Strophe bewegt sich der Blick weg von der Badewanne hin zu den Pflanzen und Geschöpfen auf der Wiese, wo überall Freude und Zufriedenheit herrschen, weil der Winter verschwunden ist und dem lieblichen Mai gewichen ist, worauf alles wieder zu wachsen und zu sprießen beginnt. Erotik und Sexualität durchdringen diese Welt, die kaum deftiger beschrieben werden könnte, ohne ins Obszöne abzugleiten.
Beim folgenden Gedicht, Kl. 76Ain graserin durch küelen tou, wird man dies aber nicht mehr so sicher betonen wollen, denn der Dichter bedient sich nun einer kaum noch verhüllten Metaphorik, insoweit als die Arbeit beim Heumachen direkt zum sexuellen Austausch überspringt: „Ain graserin durch küelen tou / mit weissen blossen füesslin zart / hat mich erfreut in grüener ou; / dast ir sichel braun gehart“ (1–4). Nachdem der Liebhaber ihr geholfen hat, das Gatter zu richten – eine Metapher, die sich mühelos in ihrer Anspielung ausdeuten lässt –, bemerkt er, dass ihm die Zeit lang wird und es ihn danach dürstet, ihr erneut seinen Dienst anzubieten: „mein häcklin klain hett ich ir vor / embor zu dienst gewetzet, / gehetzet, netzet; wie dem was, / schübren half ich ir das gras“ (14–17). Während sich die beiden dann zusammentun, d.h. miteinander kopulieren, fordert er sie dazu auf, tüchtig mitzumachen: „,zuck nicht, mein schatz!‘ simm nain ich, lieber Jensel‘“ (18), und so geht es dann noch eine ganze Strophe weiter.13 Hat Oswald dabei die Grenze zum Anstand durchbrochen oder ein Meisterwerk der erotischen Lyrik geschaffen? Wer hieran Anstoß nehmen möchte, dem steht dies ganz frei zu, aber es würde nichts an dem hohen Ansehen ändern, dass Oswald genau für diese und andere Lieder genießt, weil sie so frisch autobiographisch wirken und die Dinge schlicht beim Namen nennen.
Außerdem wäre zu bedenken, wie umfangreich zeitgenössische Dichter in Verserzählungen (mæren) auf Erotik und Sexualität eingingen, ob wir an Geoffrey Chaucer, Heinrich Kaufringer, Franco Sacchetti oder Poggio Branchetti denken. Einige Beispiele kommen in meinem eigenen Beitrag gesondert zur Sprache, in dem ich aufzeige, inwieweit spätmittelalterliche Dichter auf europäischer Ebene darum bemüht waren, Liebeslust, eheliche Liebe, persönliche Ehre, Geldgier und Profitstreben, Identitätsschwächen gerade männlicher Protagonisten und sozialen Machtkampf zu thematisieren, fast so, als ob sie über unsere eigene Zeit vorausschauend geschrieben hätten.
Eine Gruppe von Beispielen aus der Zeit der Anakreontik, die Gedichte von Friedrich Hagedorn (1708–1754), bietet uns die Möglichkeit, sowohl die Wandlungen als auch die Kontinuitäten in der erotischen Lyrik wahrzunehmen, während Wolfgang Brylla Einschlägiges zur Barocklyrik beitragen wird, in der viel mehr deftige Erotik, ja Pornographie zu finden ist, als man gemeinhin vermuten würde. Stark auf die klassische Antike zurückgreifend (Horaz, Ovid etc.) operiert Hagedorn laufend mit erotischen Anspielungen, ohne dabei jemals schlüpfrig zu werden, auch wenn die Aussagen ziemlich eindeutig erotisch gezeichnet sind. In dem besonders bekannten humorvollen Gedicht Die Küsse (in Fabeln und Erzählungen, Erstes Buch, zuerst gedruckt 1738) erfahren wir, dass sich Elisse jeden Kuss, den sie ihrem Geliebten Coridon gewährt, mit dreißig Schafen bezahlen lässt. Sie gewinnt Geschmack daran und begehrt nun selbst, von Coridon geküsst zu werden, so dass er dreißig Küsse für ein Schaf erwirbt. Allerdings erkalten dann bei ihm die Gefühle, was für sie bedeutet, dass sie ihm alle Schafe zurückgeben muss, um überhaupt noch einen Kuss von ihm geschenkt zu bekommen. Zuletzt aber geht dieses Liebesverhältnis in die Brüche, weil sich Coridon einer neuen Dame zugewendet hat, einer Doris, der er kostenlos seine Küsse gewährt.1 Mit am intensivsten mag aber Hagedorn der musa iocosa gefrönt zu haben, als er das Gedicht Der Blumenkranz verfasste, in dem wir erneut auf zwei Liebende stoßen, die sich in freier Natur aufhalten und miteinander zu schäkern beginnen, was schließlich zu den letzten erotischen Freuden führt, über die das poetische Wort aber verschwiegen wird: „Hier schließt sich Buch und Wald / sie huelfreich zu verstecken“ (Erstes Buch, S. 148).
Ganz ähnlich wie bei Walther bekommen wir freilich nur Andeutungen mitgeteilt, denn Hagedorn gelingt es genauso gut wie seinen Vorläufern, die Erotik in der Schwebe zu halten, wenn er zum Abschluss formuliert:
Man glaubt/sie thaten dieß/was einst Aeneas that /
Als Dido und der Held in einer Hoehle waren.
Was aber thaten die? Wer das zu fragen hat /
Der ist nicht werth, es zu erfahren. (S. 148).
Hagedorn bietet die gesamte Palette einschlägiger poetischer Sinnbilder und Motive, Themen und Stoffe auf, um sein Anliegen, Liebe, sexuelle Erfüllung, physische Freuden, Gesang und körperliche Schönheit zu besingen und wird damit zu einem der hervorragendsten erotischen Dichter seiner Zeit. Die Antike wirkte natürlich stark auf ihn ein, aber er besticht noch heute durch seine unbändige Lust daran, das Leben in vollen Zügen so zu genießen, dass die Erotik zwar voll ausgeschöpft werden kann, aber ohne die Grenzen des öffentlichen Anstands zu übertreten.2 Und von hier könnten wir mühelos auf viele zeitgenössische deutsche, französische, italienische oder auch außereuropäische Autoren ausgreifen, ohne zu wesentlich anderen Ergebnissen zu kommen, denn der erotische Diskurs übte allenthalben zutiefst Attraktion aus, wurde aber von Epoche zu Epoche unterschiedlich ausgeprägt.
Springen wir von hier zu Goethes Römischen Elegien, die während seines Aufenthalts in der Ewigen Stadt und auf der Reise durch Italien 1786–1788 bzw. unmittelbar im Anschluss daran entstanden sind. Bereits die erste Elegie endet mit den vielsagenden Versen: „Eine Welt zwar bist du, o Rom; doch ohne die Liebe / Wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom“.1 In der zweiten Elegie betont er sogleich, welch attraktive Position er bei der römischen Geliebten einnimmt, im Gegensatz zu den Einheimischen: „Mutter und Tochter erfreun sich ihres nordischen Gastes, / Und der Barbare beherrscht römischen Busen und Leib“. Mit deutlichem Rückgriff auf die römische Antike, d.h. wiederum auf Ovids Metamorphosen2, hebt Goethe in der dritten Elegie das dort gebotene Vorbild für die unerwartete und überwältigende Liebeserfahrung, die sich aus der günstigen Gelegenheit ergibt, wie die vierte Elegie umschreibt, hervor.
Der Höhepunkt ist aber erst in der fünften Elegie erreicht, wo Goethe davon berichtet, wie er zwar tagsüber durch Rom streift und die klassische Antike studiert, nachts aber bei der Geliebten liegt und durch die lustvolle Erfahrung mit ihr wesentlich tiefere Erkenntnisse gewinnt als alle theoretischen Studien es ihm sonst ermöglichen würden. Stärkste Sinnlichkeit durchglüht ihn, die es ihm erst ermöglicht, die ästhetische Dimension der alten Ruinen zu begreifen und poetisch selbst schöpferisch zu werden: „Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens / Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab? / Dann versteh ich den Marmor erst recht: ich denk und vergleiche, / Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand.“3 Unverhüllt und ganz selbstbewusst entwirft der Dichter ein Glückserleben höchst erotischer Art, wobei die Schönheit des nackten Frauenkörpers unmittelbar mit der Schönheit der antiken Skulpturen in Verbindung gebracht wird und die erotische Empfindung als Anlass für eine ganze Kette an kreativen Leistungen dient. Der Dichter selbst vermag so erst vollständig die Ideen der Antike zu begreifen und auf diesem Wege innovativ neue Verse zu schaffen. Erotik entpuppt sich damit als ein wesentliches Instrumentarium für die Schaffung neuer Lyrik, neuer Kunst und für die Entwicklung eines neuen Weltverständnisses. In Bezug auf moderne erotische Gedichte definiert Veronika Neumann daher das erotische Element folgendermaßen:
das nachhaltig Affizierende, d.h. das durch die Gestaltung des Gedichtes auf die Lesenden spezifisch erotisch Wirkende, zweitens eine Mittlerstellung des Erotischen zwischen den Bereichen Liebe und Sexualität, drittens der zugleich verhüllende und enthüllende sprachliche Schleier und viertens ein eingeschriebenes Streben.4
Wie wir oben bereits gesehen haben, lässt sich genau diese Begriffsbestimmung auch auf die Werke der älteren Literaturgeschichte übertragen, womit interessante Gemeinsamkeiten kulturhistorischer Art zwischen allen Epochen auftreten. Die Sprache, die Bildlichkeit, die äußeren Umstände, die Freiheit, mit der erotische Aspekte ausgedrückt werden, die Freude am Erotischen schlechthin usw. mögen alle immer etwas unterschiedlich gewesen sein, aber die menschliche Natur ist von jeher erotisch geprägt und bedarf des erotischen Gefühls, um sich voll zu entfalten und die ganze Potenz auszuleben. Der poetische Diskurs bot sich schon immer außerordentlich fruchtbringend für dieses Phänomen an, wie die verschiedenen Studien in unserem Band vor Augen führen.
Der Grat, den wir bei der Diskussion von Erotik beschreiten, erweist sich jedoch als schmal und droht, uns leicht bei einem Fehltritt in den Abgrund abstürzen zu lassen, was nicht unbedingt ein Werturteil darstellen soll. Der Fall von E.T.A. Hoffmanns (?) Roman Schwester Monika (1815) illustriert dies eindringlich, denn an sich befinden wir uns hier schon auf dem Gebiet der Pornographie, so wenn an einer Stelle zu lesen ist: „Er zog ihr die zarten kleinen Lenden voneinander und befriedigte seine Lust so vollständig, als es ihm nur möglich war“ (S. 9), oder: „Ehe noch Franziska sich zu besinnen vermochte, stand sie schon mit nackendem Untertheil vor dem weiblichen Areopag, der, entzückt über die Schönheit ihres Hinterns, mit einem dreymaligen Händeklatschen sein Lob aussprach“ (S. 15).5
Friedrich Schlegels Lucinde (1799) hingegen stellte den Versuch dar, das Erotisch-Sexuelle mit dem Göttlichen zu verschmelzen, was freilich erneut viele im zeitgenössischen Publikum brüskierte (vgl. dazu Andrey Kotins Aufsatz). Der Dichter projizierte jedoch zugleich eine selbständig agierende weibliche Protagonistin, die selbst bestimmt, wie sie sexuelle Lust erfahren will.
Wollten wir aber diese Texttradition weiter verfolgen, kämen wir sofort vom Hundertsten zum Tausendsten, denn sexuell-orientierte Literatur gibt es in Hülle und Fülle bis in die unmittelbare Gegenwart, wie es z.B. der neue Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens Setz (2015) illustriert, in dem das Sexuelle in der Balance zwischen Normalität und Anormalität austariert und der sexuelle Trieb als Urgrund im menschlichen Dasein dargestellt wird (siehe dazu den Beitrag von Maciej Jędrzejewski; vgl. dazu auch die Studie von Rafał Biskup über den oberschlesischen Autor Szczepan Twardoch). Wahre Erotik zeichnet sich hingegen durch die kunstsinnige Verhüllung, das Spiel mit der Andeutung aus und verliert sich nicht in drastischer, rein körperlicher Reflexion über die menschliche Kopulation, was ins Gebiet der Pornographie gehört, die z.B. von Charlotte Roche in erstaunlicher und frecher Art und Weise in ihrem Roman Feuchtgebiete (2014) gestaltet wird. Gehört dies noch zur ‚gehobenen‘ Literatur, oder handelt es sich bereits um einen trivialen Text komerzieller Ausrichtung?
Durchforsteten wir die verschiedensten Anthologien mit Lyrik oder Prosa, relevante literarische Zeitschriften oder selbständige Publikationen, würden wir auf eine große Zahl von mehr oder weniger erotischen Beispielen stoßen, und dies aus praktisch allen Epochen der Neuzeit. Verena Neumann macht u.a. auf Else Lasker-Schüler, Rosa Ausländer (vgl. dazu Oxana Matiychuk), Gottfried Benn (siehe die Untersuchung von Maciej Walkowiak), Marie Luise Kaschnitz oder Günter Kunert aufmerksam6, und wir könnten nun viele weitere Namen hinzufügen, denn das Thema ‚Erotik‘ erweist sich als unerschöpflich, als universal und zeitlos und hat sich stets schon in Dichtung und anderen literarischen Werken niedergeschlagen. Sowohl im Druck als auch online finden sich immer weitere Gedichte und andere Texte, die stark durch Erotik geprägt sind und diese mysteriöse aber zentrale Erfahrung im menschlichen Leben gestalten, ob wir an Christian Morgenstern (1871–1914), Theodor Storm (1817–1888), Rainer Maria Rilke (1875–1926), Klabund (1890–1928) oder eine ganze Menge zeitgenössischer Dichter denken. Selbst vom jungen Karl Marx (1816–1883) ist eine große Zahl von Liebeslyrik bekannt, obgleich deren Qualität eher zu bezweifeln wäre, zeigt sich ja hier dieser später so berühmte Denker als ein Epigone durch und durch, der die späte Romantik in seinen Dichtungen explizit wieder aufleben lässt.7
In der Literatur des Berlins während der Weimarer Republik dominierten Themen wie Prostitution, Vergewaltigung und Homosexualität, denn Sinnlichkeit und Erotik spielten eine zentrale Rolle (vgl. dazu die Beiträge von Marlene Frenzel und Arletta Szmorhun). Durchaus nachvollziehbar war wegen der schweren Lebensbedingungen Erotik im öffentlichen Diskurs nach dem Zweiten Weltkrieg weniger relevant oder präsent, aber die gründliche Durchsicht einschlägiger Publikationen beweist, dass zumindest seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein neues Interesse an und Bewusstsein von Erotik zum Vorschein kam, so wenn wir an Marie Luise Kaschnitz (1901–1974), Günter Kunert (geb. 1929), Karl Krolow (1915–1999), Erich Fried (1921–1988) oder Ulla Hahn (geb. 1946) denken.8
Warum aber fühlen sich so viele Dichter und Autoren von dem Thema ‚Erotik‘ zutiefst angesprochen und gestalten dann Texte darüber? Eine fast töricht zu nennende Frage, die genauso wenig zu beantworten sein wird wie die nach der Relevanz von Tod, nach Gott oder nach dem Sinn des Lebens. Die menschliche Kreatur ist eben wesentlich von dem Bedürfnis durchdrungen, solche esoterischen und doch tangiblen Phänomene sprachlich umzusetzen, womit die eigene Phantasie beflügelt wird und sich freier zu bewegen vermag.9
Natürlich steht das Verlangen nach Genuss dahinter, imaginiertem oder realem, und die poetische Aussagekraft dient dazu, den kruden physischen Sexualakt zu überhöhen und ästhetisch zu steigern, wobei zugleich Glücksempfindung hinzukommt, oft auch religiöse Vision, denn die erotische Kraft transformiert den Menschen und lässt ihn zu einem neuen Wesen heranwachsen. Kein Wunder, dass sich der Liebesdiskurs mit dem damit eng verbundenen Prostitutionsdiskurs des 20. Jahrhunderts überschneidet, wie er von Hans Fallada und Hans Werner Richter in ihren Romanen behandelt wird (vgl. dazu den Beitrag von Arletta Szmorhun).
Andererseits gehört das unendliche Sehnen nach sexueller Erfüllung dazu, was Dichter stets noch dazu angetrieben hat, mehr oder weniger deutliche erotische Anspielungen oder sogar derb-deftige Bemerkungen in ihre Werke einzuflechten (vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang Brylla über die Barockdichtung). Dass in der neuesten Literatur auch anti-heteronormative Vorstelllungen von sexueller Identität zur Sprache kommen, wie Marta Wimmer in ihrem Beitrag dokumentiert, braucht dabei nicht mehr zu überraschen. Erotik nimmt schlichtweg immer und überall zentrale Bedeutung ein und spiegelt zugleich sozial-historische Veränderungen und sich neu austarierende Verhältnisse zwischen den Geschlechtern (hetero-, homo-, trans- oder intersexuell) wider.
Daher soll hier zu guter Letzt noch das älteste erotische Lied der deutschen Literaturgeschichte angesprochen werden, um zu demonstrieren, um welch zeitloses und universales Thema es sich wirklich handelt und dass es unsinnig ist, aus modernistischer Sicht die Augen vor Dichtungen der Vormoderne zu verschließen. Selbst im vermeintlich so dominierend christlichen Mittelalter genossen die Menschen erotische und sexuelle Beziehungen, und die christliche Kirche war keineswegs in der Lage, hier einen festen Riegel vorzuschieben, pflegte man ja selbst im monastischen Kontext die ovidische Tradition im Sprachunterricht (vgl. dazu die Carmina Burana, ca. 1220/1240).
Unter den namenlosen Liedern in der berühmten Sammlung Des Minnesangs Frühling finden wir auch den bezaubernden Sechszeiler Dû bist mîn, ich bin dîn, der den Schluss eines lateinischen Liebesbriefes wahrscheinlich einer Frau auf Blatt 114v der ehemals Tegernseer Pergamenthandschrift clm 19411 der Bayerischen Staatsbibliothek München bildet.10 Die Frauenstimme beschwört den Geliebten darauf, dass sie beide eine Einheit bildeten, denn der andere sei fest in ihr Herz eingeschlossen, aus dem er niemals mehr herauskommen werde: „verlorn ist daz sluzzelîn:/dû muost ouch immêr darinne sîn“ (V. 5–6). Die poetische Stimme ist bestimmend, drängend, versprechend und zärtlich zugleich. Die Liebesempfindung ist hier im Herzen angesiedelt, und genau dort sollen sich die beiden Personen treffen und dann nie mehr sich daraus entfernen. Die Sängerin projiziert Glücksempfindung, aber sie drückt auch eine gewisse Besorgnis aus, denn der Geliebte befindet sich ja noch nicht im Herzen, soll erst dorthin gelockt werden; oder, anders gesehen, er befindet sich bereits dort – „dû bist beslozzen“ (V. 3) –, und soll jetzt nur darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Vereinigung der zwei Geliebten bereits geschehen sei, ein Zurück gebe es jetzt nicht mehr, denn der Schlüssel, der das Schloss zum Herzen öffnen könnte, sei verloren gegangen.
Trotz des hohen Alters dieser Tegernseer Verse sprechen sie uns bis heute unmittelbar an, schwingen voller Erotik, Hoffnung und Glück, deuten aber zugleich die potentielle Gefährdung dieser Liebesbeziehung an. Nirgends macht sich sexuelle Thematik erkennbar, wenngleich diese sicherlich mitzudenken wäre, während die reine Liebesempfindung, also das Sehnen danach, mit der geliebten Person innig verbunden zu sein und zu bleiben, das ganze Gedicht beherrscht. Damit ist bereits damals die reine Erotik in höchster ästhetischer Form ausgedrückt worden. Der Dichter oder die Dichterin hat insoweit von vornherein der deutschsprachigen Literaturgeschichte einen bemerkenswerten Stempel aufgedrückt und explizit betont, wie zentral Erotik für alle poetischen Anstrengungen sei.
Hans Castorp und Madam Clavdia Chauchat in Thomas Manns Der Zauberberg (1924) bzw. Ulrich und Agatha in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930–1943) hätten dem ohne weiteres zugestimmt, vor allem weil sie, wie Elisa Meyer in ihrem Beitrag bestätigt, durch ihre inzestuöse Beziehung eine neue Stufe der Erotik erzielen, die quasi religiös-sexueller Art zu sein scheint. Das Körperliche wird aber nicht ausgelebt, weil der sprachliche Austausch erst recht zur Intensivierung ihrer Gefühle füreinander beiträgt. Zugleich beobachten wir die Entwicklung von literarischen Reflexionen über transnormative erotische und sexuelle Beziehungen in den Werken neuester Autoren wie Matthias Hirth, Cornelia Jönnson und Jürgen Lodemann (vgl. dazu den Beitrag von Marta Wimmer).
In der polnischen Literatur, die den Ersten Weltkrieg behandelt, treten bemerkenswert viele Konfliktsituationen auf, in denen Eros mit Thanatos ausbalanciert werden muss, denn der Krieg droht stets noch, die traditionellen ethischen, moralischen und religiösen Bande aufzulösen, was angesichts des massenhaften Sterbens dazu führt, dass die Liebessehnsucht und das sexuelle Verlangen ungemein ansteigen (vgl. dazu den Beitrag von Paweł Zimniak). Die sexuelle Erfüllung, ob nun in Gedichten des 12. Jahrhunderts, in solchen der englischen Renaissance (John Donne) oder in Romanen des 20. Jahrhunderts thematisiert, erweist sich mithin als ein Signament menschlicher Existenz schlechthin. Der Chor an Stimmen, die ein Loblied auf die Liebe im poetischen oder narrativen Rahmen gesungen haben, reicht also von der frühesten Zeit bis in die unmittelbare Gegenwart.
Allerdings kann gerade Sexualität, also die physische Manifestation von Erotik, auch zum Zweck der Machtausübung eingesetzt bzw. missbraucht werden, wie es sich u.a. in Ernst Jüngers Roman Die Zwille (1973) zeigt, den Manuel Mackasare in seinem Aufsatz analysiert. Durchaus ähnlich wie in Heinrich Manns Professor Unrat (1905) thematisierte Jünger die Rolle von Sexualität als Symbolon eines zusammenbrechenden gesellschaftlichen Systems, das zunehmend von Technokratie beherrscht wird, aus dem eventuell nur die Asexualität des Helden Clamor zu retten vermag.
Welche tiefen und umfassenden Probleme die Unterdrückung von Erotik und Sexualität bewirken kann, hat bereits Frank Wedekind (1864–1918) besonders eindringlich in seinen Theaterstücken, Gedichten und theoretischen Reflexionen zum Ausdruck gebracht (vgl. dazu die Studie von Anja Manneck). Wie mühsam besonders homosexuelle Dichter und Autoren um Anerkennung kämpfen mussten, illustriert das Werk der schweizerischen Autorin Annemarie Schwarzenbach (gest. 1942) (vgl. dazu den Beitrag von Karolina Rapp). Wir können aber auch in den früheren Jahrhunderten eine Reihe von Beispielen finden, selbst wenn dort meist das Siegel der Verschwiegenheit nur schwer zu lüften ist. Inzwischen scheint aber sexuelle Identität freier zur Verfügung zu stehen, wie es die neueste Literatur vor Augen führt, in der sogar die ungehemmte Verfolgung von sexuellem Genuss jenseits traditioneller Geschlechterkategorien deutlich positiv gezeichnet wird (vgl. dazu den Beitrag von Marta Wimmer).
Über diesen großen, sich unablässig wandelnden Komplex reflektieren nun die Beiträger zum vorliegenden Sammelband durch wissenschaftliche Spezialuntersuchungen von konkreten Fällen, die aus den verschiedensten Jahrhunderten stammen und auf einer Tagung zum Thema „Eros und Logos: Sexualitätsnarrative in der deutschsprachigen Literatur“ vom 16. bis 17. November 2016 an der Universität Zielona Góra (Uniwersytet Zielonogórski), speziell am Institut für Germanistik (Instytut Filologii Germańskiej) in Zielona Góra, Polen, vorgestellt und diskutiert worden sind. Die Organisatoren, Wolfgang Brylla, Andrey Kotin und ich entwickelten während der Tagung und im Anschluss daran eine enge Kooperation über die Kontinente hinweg, deren Endresultat hiermit vorgelegt wird. Die Redaktion wurde zentral von mir übernommen, dies aber stets in enger Zusammenarbeit mit Brylla.
Klaus Adomeit, Ovid über die Liebe: sein Lehrgedicht „Ars amatoria“ – erläutert mit Hinweisen auf Goethes Römische Elegien (Heidelberger Forum, 107), C.F. Müller, Heidelberg, 1999.
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Peter Dinzelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters: Ein Studienbuch (de Gruyter Studium), Walter de Gruyter, Berlin/Boston, 2012.
Des Minnesangs Frühling, unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. 38., erneut revidierte Auflage, Hirzel, Stuttgart, 1988.
Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 1970/1982.
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Zur Rolle der Erotik in der christlichen Mystik am Beispiel des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg
Zusammen mit der Antwerpener Begine Hadewijch und dem italienischen Franziskaner Jacopone da Todi wird Mechthild von Magdeburg zuweilen als das „Dreigespann der größten mystischen Dichter des 13. Jahrhunderts“1 bezeichnet. Was sie als „hervorragende Vertreterin der Minnemystik oder mystique courtoise“2 erscheinen lässt, und ihr einziges Werk, das Bekenntnis- und Offenbarungstagebuch, das Fließende Licht der Gottheit, einzigartig macht, sei nach Kurt Ruh die Weiterentwicklung der nuptialen Mystik, die einerseits in der mittels der forcierten Dialogizität erstmals erreichten Aufhebung der Distanz zwischen Gott und Geschöpf, andererseits in der bezeichnenden, auf Direktheit und Rückhaltlosigkeit aufbauenden Weiblichkeit des Duktus Mechthilds zum Ausdruck komme.3 Hinsichtlich der Bedeutung ihres Werkes im mystischen Paradigma Deutschlands sind sich die Gelehrten weitgehend darüber einig,, dass „[f]ür die Erforschung der voreckhartischen deutschen Mystik […] unter den Texten in deutscher Sprache Mechthilds ‚Fließendes Licht‘ unbestritten an vorderster Stelle“4 stehe.
Aus diversen Gründen stellt Mechthild seit mehreren Jahrzehnten ein besonderes Faszinosum für die Forschung dar. Ihr Leben und Werk bilden „eine in der deutschsprachigen Literatur vorher so nicht anzutreffende Einheit“5, was auch den Charakter des „Tagebuch[s] ihrer Seele als historische Autobiographie mit Zahlen“6 begründet. Gleichzeitig besticht das sich „definierenden Gattungsbegriffen“7 entziehende Fließende Licht, „ein sehr fraulich unsystematisches Werk“8 – um mit Hans Neumann zu sprechen – nicht nur durch „überall hervortretende Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen gegenwärtigen Erlebnissen und vergangenen Lebenszuständen“9, sondern auch einen schwer zu überbietenden Formenreichtum, der sich von diversen Formen von Liedern, Gedichten und Merkversen über (Lehr-)Dialoge, (Streit-)Gespräche und quasi dramatische Szenen bis hin zu Reden, Erzählungen und Passagen in rhythmischer Prosa erstreckt.10 Vervollständigt wird diese Vielfalt durch zahlreiche Bilder, Allegorien und eine die Möglichkeiten einer hoch entwickelten Metaphorik nutzende „leidenschaftliche Minnesprache“.11 Alle diese Elemente werden originell „in etwas Neues, Eigenes umgeschmolzen, das sich formal kaum einordnen“12 lasse. Geschöpft wird dabei mit vollen Händen nicht nur aus der Tradition der biblischen Literatur (das Hohelied), sondern auch der höfischen Dichtung. Dabei üben einerseits der paradoxe „minneweg der Seele“13, der grob gesehen von der Weltflucht über die unio mystica bis zum freiwilligen Verzicht auf die gerade gewonnene Nähe des Bräutigams („Lassen Gottes“14) verläuft, andererseits die „Gewagtheit der erotischen Bildsprache“15 eine besondere Anziehungskraft auf den heutigen Rezipienten aus.
Zahlreiche Versuche der Dichterin, nicht nur die Mannigfaltigkeit der Aspekte, Modelle, Erscheinungsformen und Modi der Liebe zu beschreiben, sondern auch die Liebe selbst zu typologisieren, trugen im Fließenden Licht zur Fundierung einer fortgeschrittenen Mystik und Philosophie der Liebe bei. So ist das eigentliche Ziel dieses Beitrags, auf das breite Spektrum der dort vorgenommenen Funktionalisierung der Liebe einzugehen16.
Um 1207 (nach Neumann) in einer ritterlichen Familie in der westlichen Mittelmarkt geboren und höfisch erzogen1, soll Mechtild Offenbarungen empfangen haben, die sie als den unmittelbaren Gruß des Heiligen Geistes gedeutet und über dreißig Jahre später zu verschriftlichen begonnen hatte:
Ich unwirdigú súnderin wart gegruͤsset von dem heligen geiste in minem zwoͤlften jare also vliessende sere, do ich was alleine, das ich das niemer mere mohte erliden, das ich mich zuͦ einer grossen teglichen súnde nie mohte erbieten. Der vil liebe gruͦs was alle tage und machte mir minnenklich leit aller welte suͤssekeit und er wahset noch alle tage. (IV, 2, 228)2
„[U]m 1230 [flüchtete sie] aus dem Elternhaus nach Magdeburg in ein Beginenhaus, um ein Leben in asketischer Heimatlosigkeit, Armut und Kasteiung zu führen“.3 Neumann vermutet hinter dieser einschneidenden Entscheidung einen schweren inneren Konflikt:
Die tiefbegriffene Gegensätzlichkeit von weltlichem Herrenturn und geistlicher Gottesknechtschaft, die Unvereinbarkeit irdischer Ehre und religiöser Demut, die Gefährlichkeit der ästhetischen Lebensverwirklichung in Zeremoniell und Kunstübung für die Seele ist gerade das Zentralerlebnis ihrer Jugend und der Anstoß zu ihrer Flucht ins Beginentum gewesen.4
Auf die Frage, warum sie nach der ersten, bereits um 1219 stattgefundenen und anschließend täglich wiederkehrenden Gotterfahrung so lange damit gewartet hatte, gesteht Mechthild am Anfang des vierten Buches (IV, 2, 231), dass es „schon seit langer Zeit […] [ihr] Wunsch gewesen sei, ohne eigene Schuld erniedrigt zu werden“ („Do hatte ich lange vor gegert, das ich ane mine schulde wurde versmaͤhet“). Nach ihrem ca. vierzig Jahre dauernden Aufenthalt im Beginenhof, dessen Vorsteherin sie später wahrscheinlich wurde, begab sie sich um 1270 aus nicht ganz ersichtlichen Gründen – vielleicht in Folge der Bestimmungen „einer Magdeburger Dominikanersynode von 1261 gegen das Beginentum“5, vielleicht – wie Kurt Ruh vermutet – „auf Anlaß der Familie bzw. ihres Bruders Balduin oder Heinrichs von Halle“6, vielleicht aber – wie Ursula Peters und Otto Langer wollen – wegen der „Unsicherheit und Gefährdung der semireligiösen Existenz“7 – in das Zisterzienserinnenkloster Helfta bei Eisleben, wo sie unter der Äbtissin Getrud von Hackeborn in die Ordensgemeinschaft aufgenommen wurde. Dort starb sie um 1282.
1250 hatte Mechthild mit der Niederschrift des Fließenden Lichts begonnen. Zwar wurde sie dazu direkt durch ihren Beichtvater, den Dominikaner Heinrich von Halle, bewogen, doch glaubte sie damit primär der Aufforderung Gottes („du hies mich es selber schriben“ [II, 26, 136]; „Hette es got vor siben jaren nit mit sunderlicher gabe an minem herzen undervangen, ich swige noch und hette es nie getan“. [III, 1, 156]) Genüge zu leisten. Die durch Neumann ermittelte Chronologie sieht drei Entstehungsstufen des Werkes: Bücher I-V (zw. 1250–1259), VI (zw. 1260–1270/71), VII (zw. 1271–1282).8 Das niederdeutsche Original des Fließenden Lichts ist verschollen; auf uns gekommen ist nur eine lateinische, wahrscheinlich kurz nach Mechthilds Tod entstandene Übersetzung der ersten sechs Bücher und eine etwas spätere, auf ca. 1343/45 datierte oberdeutsche Übertragung des ganzen Textes. Der Mangel an tieferer Bildung, den die Mystikerin selbst als ein Handicap ansah und der die lateinunkundige Frau dazu zwang, sich bei der Niederschrift ihres Werkes mit einem deutschen Dialekt zu behelfen, erwies sich im Nachhinein als Glücksfall. Auch in dieser Hinsicht markiert Mechthilds Buch einen tiefen Einschnitt, da es „ein herausragendes Beispiel für den in der Geschichte der abendländischen Mystik epochalen Schritt vom Latein zur Volkssprache“9 darstelle.
Den Namen der vielleicht „kühnste[n] erotische[n] Dichtung, die wir aus dem Mittelalter besitzen“1 verdiente sich das Fließende Licht nicht nur dank seiner „unverhüllt erotischen Metaphorik“.2 Otto Langer stellt als eine besondere Eigentümlichkeit Mechthilds heraus, dass sie in ihrem „Ansatz Brautmystik und Passionsmystik zu einer spannungsvollen Einheit“3 verbinde. Gemeint ist die ausufernde Ekstatik des Liebeserlebnisses, aus der sich auf einer höheren Stufe dessen paradoxe Ambivalenz ergibt. Für die durch Gott liebevoll gegrüßte Seele stellt die traditionell höchste Stufe der mystischen Erfahrung, die unio mystica, d.h. die in Form einer mystischen Hochzeit vollzogene Vereinigung mit Christus als Bräutigam, hier lediglich eine Zwischenetappe dar. Die Bewusstwerdung der verworfenheit der Liebe, deren Ausformung Kurt Ruh übrigens für den originellsten Beitrag Mechthilds hält4, führt zur freiwilligen Entfernung von Gott als Folge des graduell verlaufenden Entfremdungsprozesses. Als der Aufstieg in einen Abstieg umschlägt, sinkt die Seele in die Tiefe ab. Ihre „sinkende Demut“ lässt sie bis auf den Grund der Hölle fallen, wo sie einen Platz unter Lucifers Schwanz einnimmt.
und bringet si denne an die stat, da si nit fúrbas mag, das ist under Lucifers zagel. Moͤhte si denne in der gerunge nach irem willen gotte ze eren da wesen, da woͤlte si nút fúr nemen. (V, 4, 328)
Der Gedanke, dass die freiwillige, Gott zuliebe erlittene Not eine Steigerung der Liebe bedeutet, lässt sich bei Mechthild relativ früh finden. Einige Forscher5 vermuten hinter dieser systemischen Denkfigur, die im Endeffekt darauf hinausläuft, die angenommene Qual als das schlechthinnige Glück der Seele zu verstehen, einen Nachhall der Idee der resignatio ad infernum. Diese später besonders durch Luther popularisierte Anschauung, die von den Gläubigen sogar bedingungslose Akzeptanz der Verwerfung durch Gott fordert, wird im dritten Buch des Fließenden Lichts als eine „dialektische Versöhnung“6 von Liebe und Erniedrigung thematisiert: „von minnen wirt man schoͤne und lobesam, von smacheit wirt man vil hohe in gotte erhaben“ (III, 24, 220, 222): „Das Heilsgeschehen setzt Freiheit voraus, die resignatio ad infernum ist ein Akt der Selbstverantwortung.“7 Mit ihr schließt die große Epopöe, deren eigentlicher Sinn die Reifung der Seele ist. Sie kann zwar mittelfristig durch die Entbindung vom Körper geschehen; letztendlich führt aber kein Weg an der Selbstaufgabe der Seele vorbei:
Als si alsus ufgestigen ist in das hoͤhste, das ir geschehen mag, die wile si gespannen ist ze irme lichamen, und har nider gesunken ist in das tieffeste, das si vinden mag, so ist si denne vollewahsen an tugenden und an helikeit. (V, 4, 330)
Der hier grob skizzierte Prozess vermittelt zwar erste Einsichten in die eindrucksvolle Spannbreite des Erotischen im Fließenden Licht, sagt aber wenig über den systemischen Ansatz Mechthilds mit all den einzelnen Etappen, Stufen und Facetten aus. Und die Mystikerin entpuppt sich hier als Morphologin und Systematikerin der Liebe, die nach scholastischer Art gern katalogisiert und systematisiert, schlechthin. So unterscheidet und charakterisiert sie u.a. sieben Stationen der Liebe (I, 44), sieben Formen der Gottesliebe (II, 11), sechzehn Arten von Liebe (III, 13), sieben Formen der Liebe (III, 24), zwanzig Wirkkräfte der Gottesliebe (V, 30), zehn Wirkkräfte der Liebe (V, 31), vier Eigenschaften der lauteren Liebe (VI, 30), sieben Aspekte des Liebesbegehrens (VII, 45) u.a.m. Das typologische Dickicht macht den Eindruck, als ginge es um die Fundierung einer Wissenschaft der Liebe, eine Tendenz, deren Ursprung womöglich teilweise in der wissenschaftsfreundlichen Atmosphäre Helftas in der Zeit der Äbtissin Gertrud von Hackeborn zu suchen wäre. Trotz ihrer Überzeugung, dass „wenn der Eifer für die Wissenschaft verloren geht, so werde auch die Pflege der Religion aufhören“8, war das Fließende Licht für das auf dem materialistischen Axiom aufbauende 19. Jahrhundert verständlicherweise schon eindeutig dem „Gebiet der Poesie als der Wissenschaft”9 zuzuordnen:
Poesie sind diese Ergüsse einer entzückten Seele und entbehren desswegen aller jener Formen der Wissenschaft, welche so oft nur zu sehr von dem Schönen sich entfernen. Es finden sich daher auch keine Citate, nicht einmal solche aus der heiligen Schrift, denn da ist Alles nur unmittelbare Schilderung innerer Seelenzustände.10
Gleichwohl darf man die Tatsache nicht ignorieren, dass Mechthilds systematischer Einsatz nicht nur nicht im Widerspruch zum dichterischen Charakter ihres Werks steht, sondern ihn erst recht ermöglicht. Man nehme als Beispiel das achtzehnte Kapitel des siebten Buches von den „sieben Tageszeiten, die der Marter unseres Herrn gedenken“, in dem die Ordnung der Zeiten ein Anlass für ausgedehnte Metaphorisierungsmaßnahmen, Bilderreichtum und fortgeschrittene Literarisierung der Sprache ist.
Die Liebe beschreibt Mechthild, indem sie sich generell der Metapher eines Weges bedient, der allerdings alles andere als einheitlich oder strikt auf einen Punkt ausgerichtet ist. Seine Heterogenität setzt nicht nur verschiedene Stufen und Etappen, sondern auch eine Vielfalt der Ziele voraus. Dass es sich am Ende dennoch um den einen Weg handelt, gibt den universellen Zusammenhang allen Streben, Dinge und Erscheinungen in Gott wieder.
Paradigmatisch für die Ekstatik der liebevollen Vereinigung der Seele mit Gott steht der Verlauf ihrer Reise an den Hof des Herrn: