Erzählungen - Gustave Flaubert - E-Book

Erzählungen E-Book

Gustave Flaubert

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Beschreibung

Dieser Band enthält Flauberts frühe philosophische Erzählungen "Gedanken eines Zweiflers" sowie "Ein einfältig Herz". Wortgewaltig schildert der Autor von "Madame Bovary" hier seine ganz eigene, jugendlich-frische, aufrührerische Sicht auf die Welt, die Liebe und das Leben. Weiter "Herodias, eine kurze Erzählung von Gustave Flaubert, enthalten in den Trois contes (1877) und zuletz die Erzählund November. Die erste vollendete Erzählung Flauberts wurde 1842 feriggestellt, erschien jedoch erstmals nach seinem Tod 1910. Rauschhaft wie Goethes Werther, doch ungleich erotischer schildert der Protagonist seine Liebeserlebnisse. Die Übersetzungen besorgten Arthur Schurig, August Brücher und E.W. Fischer in der Reihenfolge der Bücher.

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Seitenzahl: 275

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Gustave Flaubert

Erzählungen

Erzählungen

Gustave Flaubert

Impressum

Texte: © Copyright by Gustave Flaubert

Umschlag:© Copyright by Walter Brendel

Übersetzer: © Copyright by Schurig,Brücher, Fischer

Verlag:Das historische Buch, 2024

Mail: [email protected]

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Ein einfältig Herz

Gedanken eines Zweiflers

Herodias

November

Ein einfältig Herz

I

Ein halbes Jahrhundert lang beneideten die Bürgerinnen von Pont -l'Évêque Frau Aubain um ihre Magd Felicitas. Für hundert Franken im Jahre versah sie Küche und Haus, nähte, wusch, plättete, verstand ein Pferd zu schirren, Geflügel zu mästen, zu buttern – allezeit ihrer Herrin treu, die nichts weniger war als eine angenehme Person.

Frau Aubain hatte einen hübschen Jungen ohne Vermögen geheiratet, der ihr bei seinem Tode, zu Beginn des Jahres 1809, zwei ganz kleine Kinder sowie eine Menge Schulden hinterließ. Da verkaufte sie ihre Liegenschaften bis auf die Meierhöfe Toucques und Geffosses, die ihr, wenn es hoch kam, fünftausend Franken Pachtzins eintrugen, und zog aus ihrem Haus in Saint-Melaine in ein weniger kostspieliges, das ihren Vorfahren gehört hatte und hinter der Markthalle stand.

Dieses Haus, ein mit Schiefer verkleidetes Gebäude, stand zwischen einem Durchgang und einer zum Fluß führenden schmalen Gasse. Der Boden drinnen hatte eine andere Höhe als der draußen, so daß man stolperte. Ein enger Flur trennte die Küche von der »Großen Stube«, in der Frau Aubain den ganzen Tag in einem Großvaterstuhle am Fenster zu sitzen pflegte. An der weißgestrichenen Wandtäfelung standen nebeneinander acht Mahagonistühle. Auf einem alten Klavier, über dem ein Wetterglas hing, türmte sich eine Pyramide von Kästen und Schachteln. Zwei bestickte Lehnsessel spreizten sich links und rechts vom Rokokokamin aus gelbem Marmor. Die Standuhr mitten darauf stellte einen Vestatempel vor, und das ganze Zimmer roch ein wenig nach Moder, denn die Diele war tiefer als der Garten.

Im ersten Stock lag zunächst das Zimmer der »gnädigen Frau«, ein sehr großer Raum mit blasser Blumentapete und dem Bilde des »gnädigen Herrn« als Dandy. Von da ging es in ein kleineres Zimmer, wo man zwei Kinderbettstellen ohne Matratzen sah. Dahinter kam die »Gute Stube«, die immer verschlossen blieb und reich an Möbeln mit Leinwandüberzügen war. Sodann führte ein Gang zu einem Studierzimmer. Drinnen stand ein breiter Schreibtisch aus schwarzem Holz und darum ein dreiteiliges Gestell mit Büchern und Schriften in den Fächern. Die Rückwände der beiden Flügel verschwanden unter Federzeichnungen, Gouache-Landschaften und Stichen von Audran, Überbleibseln besserer Zeiten und längst entschwundenen Prunks. Im zweiten Stock lag die Kammer von Felicitas, belichtet von einem Dachfensterchen mit Ausblick über die Wiesen.

Felicitas stand bei Tagesgrauen auf, um die Messe nicht zu versäumen, und arbeitete ohne Unterlaß bis zum Abend. War das Mahl zu Ende, das Geschirr wieder in Ordnung und die Haustür gut verschlossen, dann überdeckte sie noch die glimmenden Kohlen mit Asche und nickte, den Rosenkranz in den Händen, am Herd ein. Beim Einkaufen konnte niemand hartnäckiger feilschen. In Punkto Sauberkeit brachten ihre blitzblanken Pfannen alle anderen Mägde zur Verzweiflung. Sparsam, wie sie war, aß sie langsam und tippte mit dem Finger vom Tische die Krumen ihres Brotes auf, eines eigens für sie gebackenen zwölf Pfund schweren Brotes, das drei Wochen vorhielt.

Zu jeglicher Jahreszeit trug sie ein buntes Kattuntuch, das hinten mit einer Nadel zusammengesteckt war, eine Haube auf dem Haar, graue Strümpfe, einen roten Unterrock und über ihrer Jacke eine Latzschürze, wie die Krankenschwestern.

Ihr Gesicht war hager, ihre Stimme scharf. Mit fünfundzwanzig Jahren sah sie aus wie eine Vierzigjährige. Von den Fünfzigern an nahm man keine Alters Veränderungen mehr an ihr wahr; und in ihrer Schweigsamkeit, mit ihrer steifen geraden Haltung und ihren abgemessenen Bewegungen machte sie den Eindruck einer automatisch funktionierenden Holzfigur.

II

Wie jede andere hatte sie ihre Liebesgeschichte gehabt. Ihr Vater, ein Maurer, war vom Gerüst zu Tode gestürzt. Dann starb die Mutter. Ihre Schwestern kamen dahin und dorthin. Sie selbst wurde von einem Pächter aufgenommen, bei dem sie, noch ein Kind, die Kühe zu hüten hatte. Sie fror unter ihren Lumpen, trank, platt auf dem Boden, aus den Pfützen, wurde um nichts geprügelt und schließlich wegen eines Diebstahls von zwölf Groschen, den sie nicht begangen hatte, fortgejagt. Sie verdingte sich auf einen andern Pachthof, als Viehmagd, und weil sie dem Gutsherrn gefiel, waren ihre Mitmägde eifersüchtig auf sie.

Eines Abends im August – sie war nunmehr achtzehn Jahre alt – nahm man sie mit nach Colleville auf die Kirmes. Ihr wurde sofort schwindelig. Der Lärm der Musikanten, die Lichter in den Bäumen, das bunte Durcheinander der Kleider, der Putz, die Goldkreuze, die herum wirbelnde Menschenmenge, alles das betäubte sie. Bescheiden hielt sie sich abseits. Da trat ein stattlicher, junger Mann – er hatte zuvor, die Ellenbogen auf eine Karrendeichsel gestürzt, seine Pfeife geraucht – auf sie zu und forderte sie zum Tanz auf. Er bezahlte Apfelwein, Kaffee, Kuchen, kaufte ihr ein seidenes Tüchel und trug ihr, im Glauben, sie verstände ihn, an, sie heimzugeleiten. Am Rain eines Haferfeldes zwang er sie roh zu Boden. Sie bekam Angst, begann zu schreien, und er machte sich davon.

An einem andern Abend wollte sie, auf dem Wege nach Beaumont, an einem großen Heuwagen, der langsam dahinfuhr, vorüber, und wie sie sich an den Rädern hindrückte, erkannte sie Theodor wieder.

Ohne irgendwelche Verlegenheit redete er sie an und sagte, sie dürfe ihm nicht böse sein. Der Wein sei schuld daran gewesen.

Sie wußte nicht, was sie antworten sollte, und am liebsten wäre sie weggelaufen.

Gleich darauf sprach er von der Ernte und von den Großen in der Gemeinde. Sein Vater wäre von Colleville weg und habe den Ecots-Hof übernommen, so daß sie jetzt Nachbarn seien.

»So!« sagte sie. Er fügte hinzu, daß man ihn verheiraten wolle, Indessen, er habe keine Eile und warte auf eine Frau nach seinem Geschmack. Sie senkte den Kopf. Da fragte er sie, ob sie nicht auch ans Heiraten dächte. Sie lächelte und sagte, es sei nicht recht, daß er sich über sie lustig mache.

»Bei Gott, das tue ich nicht!« beteuerte er und umfaßte sie mit dem linken Arm. So ging sie von ihm gehalten. Sie verlangsamten den Schritt. Der Wind war weich. Die Sterne funkelten. Die mächtige Heufuhre vor ihnen schwankte dahin, und die vier Gäule schleppten ihre Hufe durch den aufwirbelnden Staub. Dann bogen sie von allein nach rechts ab. Er drückte sie noch einmal an sich. Sie verschwand im Dunkel.

In der Woche darauf erlangte Theodor von ihr ein Stelldichein nach dem andern.

Sie trafen sich hinter dem letzten Gehöft an einer Mauer unter einem einzelnen Baume. Sie war nicht unschuldig wie wohlgehütete junge Damen (die Tiere hatten sie aufgeklärt), aber gesunder Menschenverstand und natürliche Ehrbarkeit bewahrten sie vor dem Fall. Dieser Widerstand steigerte Theodors Verliebtheit, so daß er ihr, um sein Gelüst zu befriedigen (oder vielleicht wirklich treuherzig), einen Heiratsantrag machte. Sie wollte nicht daran glauben. Er schwor bei Tod und Teufel.

Bald darnach gestand er ihr etwas Unangenehmes. Seine Eltern hatten ihm das Jahr vorher einen Ersatzmann gekauft; aber jeden Tag konnte man ihn doch ausheben. Dienen zu müssen war ihm greulich. Diese Schlappheit nahm Felicitas als ein Zeichen seiner Liebe; die ihre verdoppelte sich dadurch. Sie stahl sich nachts hinaus, und beim Stelldichein quälte Theodor sie mit seiner Angst und Not.

Am Ende kündigte er ihr an, er wolle selber auf die Präfektur gehen, um sich zu erkundigen. Am nächsten Sonntag zwischen elf Uhr und Mitternacht werde er ihr berichten.

Als die Stunde kam, eilte sie zum Stelldichein. Statt seiner fand sie einen seiner Freunde.

Der teilte ihr mit, daß sie ihn nicht wiedersehen dürfe. Um sich vor der Aushebung zu sichern, habe Theodor eine ältere schwerreiche Frau geheiratet, die Frau Lehoussais aus Toucques.

Ihr Schmerz war maßlos. Sie warf sich zu Boden, schrie, rief den lieben Gott an und jammerte einsam und allein auf dem Felde bis die Sonne aufging. Wieder im Hof, kündigte sie ihren Dienst; und am Ende des Monats, nach Empfang ihres Lohnes, packte sie ihre paar Habseligkeiten in ein Taschentuch und begab sich nach Pont-l'Évêque.

Vor dem Gasthof ging sie eine Bürgersfrau an, die die Witwenhaube trug, und es traf sich, daß sie just eine Köchin suchte. Das junge Mädchen konnte zwar nicht viel, hatte aber offenbar guten Willen bei geringen Ansprüchen, so daß Frau Aubain schließlich sagte:

»Gut, ich nehme Sie.«

Eine Viertelstunde später hatte sich Felicitas bei ihr häuslich niedergelassen.

Anfangs lebte sie in einer Art Bangigkeit, verursacht vom »Geist des Hauses« und vom Andenken an den »gnädigen Herrn«, das über allem schwebte. Paul und Virginia, die beiden Kinder, das eine sieben Jahre alt, das andere nicht ganz vier, kamen ihr vor wie aus kostbarem Stoffe gebildet. Sie ging geradezu für sie auf, und Frau Aubain mußte ihr verbieten, sie aller Augenblicke zu küssen, was sie höchlichst kränkte. Gleichwohl fühlte sie sich glücklich. Die freundliche Umgebung hatte ihren Kummer verscheucht.

An jedem Donnerstage kamen die Stammgäste des Hauses zum Boston. Felicitas legte die Karten und die Fußwärmer vorher zurecht. Pünktlich um acht Uhr erschienen sie, und kurz vor Schlag elf gingen sie wieder.

Jeden Montag breitete der Trödler, der im Durchgange hauste, seinen Kram an der Erde aus. Dann war die Stadt voller Stimmengesumm, in das sich Pferdegewieher, Lämmergeblök, Schweinegegrunz und das harte Rattern der Karren auf dem Steinpflaster mischten. Gegen Mittag, wenn der Markt in vollem Gange war, erschien auf der Schwelle ein alter hochgewachsener Bauer mit einer Hakennase, die Mütze im Genick. Das war Robelin, der Pächter von Geffosses. Bald darauf stellte sich Liébard ein, der Pächter von Toucques, ein rotes, feistes Männchen in grauer Jacke und sporenklingenden Gamaschenstiefeln.

Beide brachten ihrer Gutsherrin Hühner und Käse dar. Felicitas verstand ihre Hinterabsichten immer irgendwie zu vereiteln, und voll Respekt vor ihr gingen sie von dannen.

Hin und wieder empfing Frau Aubain den Besuch des Barons von Gremanville. Das war ein Onkel von ihr, der sein Vermögen durchgebracht hatte und nun in Falaise auf dem letzten bißchen Anwesen lebte. Er stellte sich stets zur Frühstücksstunde ein, begleitet von einem scheußlichen Pudel, der mit seinen Pfoten alle Möbel beschmutzte. Wie angelegen er sich's auch sein ließ, alleweg als Edelmann zu erscheinen – was so weit ging, daß er jedesmal, wenn er »mein Vater selig« sagte, den Hut lüftete –, schenkte er sich doch, wie es seine Gewohnheit war, Glas um Glas ein und gab schlimme Geschichten zum besten. Felicitas nötigte ihn höflich hinaus: »Sie haben genug, Herr Baron! Aufs nächste Mal!« Und zu war die Tür.

Mit Vergnügen öffnete sie Herrn Bourais, einem ehemaligen Advokaten. Seine weiße Halsbinde und seine Glatze, das Jabot seines Hemds, sein weiter brauner Rock, seine Armhaltung, wenn er eine Prise nahm, kurz seine ganze Persönlichkeit versetzten sie in jene Erregung, die uns erfaßt, wenn wir einem ungewöhnlichen Menschen ins Auge schauen.

Da er die Güter der »gnädigen Frau« verwaltete, verbrachte er mit ihr ganze Stunden hinter verschlossener Tür im Arbeitszimmer des »gnädigen Herrn«. Er fürchtete immer, etwas Dummes zu sagen, hatte grenzenlosen Respekt vor den Behörden und tat, als ob er Latein verstünde.

Zur unterhaltsamen Belehrung schenkte er den Kindern eine Erdkunde mit Kupferstichen. Selbige stellten verschiedene Schauplätze derErde dar, federngeschmückte Menschenfresser, einen Affen, der eine junge Dame raubt, Beduinen in der Wüste, einen Wal, der mit Harpunen erlegt wird, und dergleichen mehr.

Paul erklärte Felicitas diese Stiche. Das war ihre ganze wissenschaftliche Bildung. Die der Kinder lag einem gewissen Guyot ob, einem armen Teufel, der im Rathause angestellt und wegen seiner schönen Hände berühmt war; er pflegte sein Messer am Stiefel zu wetzen. Bei schönem Wetter ward am frühen Vormittag nach dem Gute Geffosses gewandert.

Der Hof lag lehnan, das Haus stand in der Mitte; in der Ferne schimmerte das Meer wie ein grauer Streifen.

Felicitas holte aus ihrem Handkorbe kalten Aufschnitt hervor, und in einem Zimmer neben der Molkerei wurde gefrühstückt. Das Gelaß war das einzige, was von einem verschwundenen Landhause übrig war. Die Tapete war zerfetzt und flatterte im Zugwind. Von Erinnerungen übermannt, ließ Frau Aubain den Kopf hängen. Die Kinder wagten nicht mehr zu reden. »Aber so spielt doch!« sagte sie. Da liefen sie hinaus.

Paul kletterte auf den Boden der Scheune, fing Vögel, flitschte Steine über den Teich oder schlug mit einem Stock auf die großen Fässer, die wie Trommeln dröhnten.

Virginia fütterte die Kaninchen, lief ins Feld nach Kornblumen, und ihre Beine flogen, daß man ihre gestickten Höschen sah.

An einem Herbstabende nahm man den Rückweg über die Weiden.

Der Mond, der im ersten Viertel stand, erhellte einen Teil des Himmels, und Nebel schwebte wie ein Band über den Windungen der Toucques. Rinder lagen im Gras und ließen die vier Menschen ruhig vorübergehn. Auf der dritten Hut erhoben sich ein paar und stellten sich in der Runde vor ihnen hin.

»Keine Furcht!« rief Felicitas und summte ein Liedchen vor sich her, während sie dem nächststehenden Tier mit der Hand übers Rückgrat strich. Es machte rechts um, und die anderen taten desgleichen. Aber als sie die folgende Hut hinter sich hatten, erscholl furchtbares Gebrüll. Es war ein Stier, den der Nebel verbarg. Er kam auf die beiden Frauen zu. Frau Aubain begann zu laufen.

»Nein, nein! nicht so schnell!«

Sie gingen aber doch rascher, hinter sich dumpfes Schnauben, das näher und näher kam. Hufe schlugen wie Hämmer auf den Grasboden. Jetzt galoppierte das Tier!

Felicitas wandte sich um, riß mit beiden Händen Erdklumpen aus und schleuderte sie ihm ins Gesicht. Der Stier senkte das Maul, schüttelte die Hörner und zitterte vor Wut, wobei er schrecklich brüllte.

Frau Aubain war mit ihren beiden Kindern an den Rand der Hut gelangt und trachtete in ihrer Angst irgendwie über den hohen Grenzwall zu kommen. Felicitas wich vor dem Stier schrittweise zurück, währenddem sie unaufhörlich Rasenstücke warf, die ihn blind machten.

Dabei rief sie: »Macht schnell! Macht schnell!«

Frau Aubain sprang in den Graben hinab, hob erst Virginia, dann Paul hinüber, strauchelte bei dem Versuche, die Böschung zu erklimmen, mehrmals, bot allen Mut auf und brachte es endlich zuwege.

Der Stier hatte Felicitas gegen ein Gatter gedrängt. Sein Geifer flog ihr ins Gesicht. Noch eine Sekunde, und er hätte sie aufgespießt. Sie hatte gerade noch Zeit, sich zwischen zwei Latten durchzuzwängen. Verblüfft blieb der mächtige Stier stehen. Von diesem Ereignis redete man in Pont-l'Évêque noch nach Jahren. Felicitas bildete sich nichts darauf ein; ahnte sie ja nicht einmal, daß sie etwas Heldenhaftes getan hatte.

All ihr Augenmerk galt Virginia. Das Kind war infolge des Schreckens nervös geworden, und Herr Poupart, der Arzt, empfahl die Seebäder von Trouville.

Sie waren damals noch wenig besucht. Frau Aubain zog Erkundigungen ein, hielt mit Bourais Rat und traf Vorbereitungen wie für eine Weltreise.

Ihre Koffer gingen am Abend vorher auf Liébards Wägelchen voraus. Am andern Morgen kam er selber mit zwei Pferden, wovon eins einen Damensattel mit einer Samtlehne trug. Auf dem Rücken des zweiten bildete ein zusammengelegter Mantel eine Art Sitz. Frau Aubain stieg auf. Hinter ihr nahm Felicitas Platz, Virginia auf dem Schoß; und Paul setzte sich auf den Esel, den Herr Lechaptois unter der Bedingung bester Fürsorge gestellt hatte.

Der Weg war so schlecht, daß man zu den acht Kilometern zwei Stunden brauchte. Die Gäule versanken bis an die Fesseln im Kot; um wieder herauszukommen, mußten sie gehörig treten. Öfters stolperten sie über die Radgleise, und ab und zu mußten sie springen. An gewissen Orten blieb Liébards Stute plötzlich stehen. Er wartete geduldig, bis sie wieder anging, erzählte von den Leuten, denen die Felder an der Straße gehörten, und knüpfte moralische Betrachtungen an ihre Geschichte. So sagte er mitten in Toucques, als man unter Fenstern vorüberritt, die mit Kapuzinerkresse umrankt waren, achselzuckend: »Hier wohnt eine Frau Lehoussais, die, statt einen jungen Mann zu heiraten ...«

Das Weitere hörte Felicitas nicht. Die Pferde trabten, der Esel galoppierte. Man bog in einen Seitenweg ein. Ein Gattertor ging auf. Zwei Burschen erschienen, und am Misthaufen, dicht vor der Haustür, wurde abgesessen.

Mutter Liébard verlor sich beim Gewahrwerden der Grundbesitzerin in endlose Freudenbezeigungen. Sie tischte ein Frühstück auf, das aus einem Lendenbraten, Kaldaunen, Blutwurst, Hühnerfrikassee, Apfelschaumwein, Obstkuchen und Pflaumen in Rum bestand, und begleitete all das mit Komplimenten für die gnädige Frau, die »prächtig« aussehe, für das gnädige Fräulein, das »wunderhübsch« geworden sei und für Herrn Paul, der sich »riesig herausgemacht« habe. Auch vergaß sie »die seligen Großeltern« nicht, die die Liébards noch gekannt hatten, da sie schon seit mehreren Geschlechtern im Dienst der Familie standen.

Das Gehöft hatte gleich ihnen ein altertümliches Aussehen. Die Deckenbalken waren wurmstichig, die Wände rauchgeschwärzt, die Fliesen grau vom Staub. Auf einer eichenen Anrichte prangten allerlei Gerät, Krüge, Teller, Zinnäpfe, Wolfangeln, Schafscheren. Eine mächtige Klistierspritze erweckte die Heiterkeit der Kinder. Auf den drei Höfen stand kein Baum, unter dem nicht Edelpilze wuchsen und in dessen Geäst kein Mistelbusch saß. Mehrere hatte der Wind hinuntergeworfen; sie waren am Stamm wieder emporgewachsen. Und alle die Bäume bogen sich unter der Last der Äpfel. Die Strohdächer, die wie brauner Sammet aussahen und ungleich dick waren, hielten den stärksten Stürmen stand. Der Wagenschuppen jedoch war halb verfallen. Frau Aubain meinte, sie werde ihn im Auge behalten, und befahl, die Tiere wieder aufzuzäumen.

Man ritt noch eine halbe Stunde, bis man Trouville erreichte. Die kleine Kavalkade saß ab und nahm den Weg über die »Schoren« zu Fuß; das war ein überhängender Fels, unter dem Boote lagen. Und drei Minuten später war man am Ende des Hafendammes im Hofe des »Goldnen Lammes« bei der Mutter David.

Virginia fühlte sich schon nach ein paar Tagen infolge des Luftwechsels und der Wirkung der Bäder nicht mehr so schwach. In Ermangelung eines Badeanzuges badete sie im Hemd; wiederangezogen wurde sie von ihrer Wärterin in einer Zollwächterhütte, die den Badegästen zur Verfügung stand.

Nachmittags machte man mit dem Esel Ausflüge über die »Schwarzen Felsen« hinaus nach Hennequeville zu. Der Weg führte zunächst durch hügeliges Gelände mit Rasen wie in einem Park; dann stieg er auf eine Hochfläche, wo Weidenplätze mit bestellten Äckern abwechselten. Aus dem Dorngestrüpp am Wegrande leuchtete Ginster, und da und dort starrte das Gezack der Äste eines abgestorbenen hohen Baumes in die blaue Luft.

Fast immer machte man auf einer Wiese Rast, Deauville zur Linken, Le Havre zur Rechten und vor sich das freie Meer. Es glänzte in der Sonne, glatt wie ein Spiegel und so still, daß man kaum die Brandung hörte. Sperlinge, die man nicht sah, piepten; und Über alledem wölbte sich der unendliche Himmel. Frau Aubain saß mit ihrer Näharbeit im Gras. Virginia neben ihr flocht Binsen; Felicitas zupfte Lavendel; Paul langweilte sich und wollte wieder fort. Manchmal auch fuhr man im Boot über die Toucques hinaus und suchte Muscheln. Die verebbende Flut ließ Seeigel, Seepferdchen und Seesterne zurück; und die Kinder liefen umher, die Schaumflocken zu fangen, die der Wind herblies. Schläfrig fielen die Wellen über den Sand und verrieselten hier. Der Strand dehnte sich, so weit man sah. Auf der Landseite aber begrenzten ihn die Dünen und trennten ihn vom »Marais«, einem großen rennbahnförmigen Wiesenplan. Nahm man darüber den Rückweg, so wuchs Trouville drüben auf dem Hange der Höhe mit jedem Schritte und lag mit all seinen ungleichen Häusern in lustigem Durcheinander da.

An Tagen, da es zu heiß war, kam man nicht aus dem Zimmer. Die blendende Helle draußen drängte sich in lichten Streifen durch die Stäbe der Jalousien herein. Im Dorf alles still. Unten auf dem Gehsteig kein Mensch. Dies Schweigen allüberall steigerte die Ruhe der Dinge. In der Ferne hämmerten die Stemmeisen der Kalfaterer gegen Schiffsplanken, und schwerer Wind trug Teergeruch heran.

Das Hauptvergnügen war die Rückkehr der Fischerbarken. Sowie sie die Bojen hinter sich hatten, begannen sie zu lavieren. Ihre Segel sanken auf Zweidrittelmast; das Focksegel blähte sich auf wie ein Ballon, und so kamen sie näher, glitten durch die schaukelnden Wellen bis mitten in den Hafen, wo dann mit einem Schlage der Anker fiel. Darauf legte das Boot am Damm an. Die Matrosen warfen zappelnde Fische über Bord. Eine Reihe von Karren wartete auf sie, und Frauen in Wollhauben eilten herzu, um die Körbe zu nehmen und ihre Männer zu umarmen.

Eine von ihnen sprach eines Tages Felicitas an. Kurz darauf kam sie außer sich vor Freude ins Zimmer. Sie hatte eine Schwester wiedergefunden. Und Nastasia Barette, verehelichte Leroux, erschien, einen Säugling an der Brust, an der rechten Hand ein ander Kind und links neben sich einen kleinen Schiffsjungen, der die Fäuste in die Seiten stemmte und die Mütze schief aufhatte.

Nach einer Viertelstunde ward sie von Frau Aubain verabschiedet.

Man traf sie immer wieder in der Nähe der Küche oder auf den Spaziergängen, die man unternahm. Der Mann zeigte sich nicht.

Felicitas faßte Zuneigung zu ihnen. Sie kaufte ihnen eine Decke, Hemden, einen Kochherd. Offenbar beutete man sie aus. Diese Schwäche ärgerte Frau Aubain, der außerdem die Vertraulichkeit des Neffen nicht recht paßte, denn er duzte ihren Sohn; und da Virginia hustete und das schöne Wetter aufgehört hatte, kehrte sie nach Pont-l'Évêque zurück.

Herr Bourais beriet sie in der Wahl einer Schule. Die in Caën galt für die beste. Paul wurde dorthin geschickt und überstand brav den Abschied, froh, in ein Haus zu kommen, wo er Kameraden haben sollte.

Frau Aubain fand sich in die Trennung von ihrem Sohne, weil sie unumgänglich notwendig war. Virginia dachte weniger und weniger an ihn. Felicitas vermißte sein Lärmen. Aber eine neue Obliegenheit lenkte sie ab; von Weihnachten an brachte sie das kleine Mädchen täglich in die Katechismusstunde.

III

Wenn sie an der Kirchentüre das Knie gebeugt hatte, schritt sie durch das hohe Schiff im Gang zwischen den Sitzreihen, öffnete Frau Aubains Bank, setzte sich hin und ließ den Blick umherschweifen.

Die Chorstühle rechts waren voller Knaben, die links voller Mädchen. Der Pfarrer stand am Pult. Auf einem Fenster der Apsis schwebte der Heilige Geist über der Jungfrau; auf einem andern kniete sie vor dem Jesuskind, und hinter dem Sakramentshäuschen stand der Erzengel Michael im Kampfe mit dem Drachen, in Holz geschnitzt.

Der Geistliche erzählte erst aus der Biblischen Geschichte. Sie glaubte das Paradies zu schauen, die Sündflut, den Turm zu Babel, brennende Städte, sterbende Völker, umgestürzte Götterbilder, und von diesem Gesicht verblieb ihr Ehrfurcht vor dem Allerhöchsten und Furcht vor seinem Zorn. Dann hörte sie unter Tränen die Leidensgeschichte an. Warum hatte man ihn gekreuzigt, ihn, der die Kinder liebkoste, das Volk speiste, die Blinden heilte und in seiner Demut mitten unter den Armen, auf der Streu eines Stalles, hatte geboren werden wollen? Die Aussaat, die Ernte, das Keltern, alle diese vertrauten Verrichtungen, von denen das Evangelium spricht, fanden sich auch in ihrem Dasein. Das Auge Gottes hatte darauf geruht und sie seitdem geheiligt. Und zärtlicher denn je liebte sie fortan die Lämmer aus Liebe zum Lamme Gottes und die Tauben um des Heiligen Geistes willen.

Es fiel ihr schwer, sich ihn leibhaft vorzustellen; denn er war nicht nur ein Vogel, sondern auch ein Feuer und zu andern Malen ein Windeshauch. Vielleicht war es sein Licht, das nachts am Rande des Moors flackert; sein Atem, der die Wolken treibt; seine Stimme, die in der Glocken Klang erschallt. Und sie verharrte in Andacht und genoß die Kühle der Mauern und die Stille der Kirche.

Von den Dogmen begriff sie nichts, gab sich auch gar keine Mühe, etwas zu verstehn. Der Pfarrer predigte. Die Kinder sagten her. Schließlich schlief sie ein und fuhr erst jäh auf, wenn die Holzschuhe der weggehenden Kinder auf den Fliesen klapperten.

Auf diese Weise, vom Anhören, lernte sie den Katechismus, denn sie selber hatte als Kind keinen religiösen Unterricht erhalten. Nun aber machte sie alle die frommen Dinge nach, die Virginia tat, fastete wie sie, ging zur Beichte mit ihr. Zu Fronleichnam richteten sie zusammen eine Station her.

Virginias erste Kommunion brachte sie schon lange zuvor um alle Ruhe. Die Schuhe, der Rosenkranz, das Gebetbuch, die Handschuhe bereiteten ihr Sorgen. Und sie zitterte, als sie der Mutter das junge Mädchen ankleiden half.

Während der ganzen Messe war sie beklommen. Herr Bourais verdeckte ihr eine Seite des Chors; aber geradeaus vor ihr stand die Schar der Jungfrauen mit ihren weißen Kränzen über den lang herabhängenden Schleiern. Das sah wie ein Schneefeld aus; und sie erkannte von weitem die liebe Kleine an dem zierlicheren Hals und an der andächtigen Haltung. Das Glöckchen bimmelte. Die Köpfe neigten sich. Es ward ganz still. Dann rauschte die Orgel, und die Sänger und die Gemeinde stimmten das »Agnus Dei« an. Dann traten die Knaben der Reihe nach vor, und nach ihnen standen die Mädchen auf. Schritt vor Schritt, mit gefalteten Händen, zogen sie vor den über und über erleuchteten Altar, knieten auf der ersten Stufe nieder, empfingen eins nach dem andern die Hostie und kamen in derselben Reihenfolge zu ihren Betstühlen zurück. Als Virginia daran kam, beugte sich Felicitas vor, um sie zu sehen; und kraft der Phantasie, die wahre Liebe dem Menschen verleiht, kam es ihr vor, als sei sie selber das Kind dort. Sein Leib wurde der ihre; sie trug sein Kleid; sein Herz schlug in ihrer Brust. Und als es die Lippen öffnete, mußte sie die Augen schließen und wäre beinahe ohnmächtig geworden.

Am nächsten Morgen erschien sie zu früher Stunde in der Sakristei, damit der Herr Pfarrer auch ihr das Abendmahl reiche. Sie empfing es andächtig, empfand aber nicht jene Wonnen wie am Tage zuvor.

Frau Aubain wollte ihre Tochter nach jeder Richtung hin ausbilden lassen, und da ihr Guyot weder das Englische beibringen noch ihr Musikstunden geben konnte, so beschloß sie, sie zu den Ursulinerinnen nach Honfleur zu geben.

Das Mädchen wandte nichts dagegen ein. Felicitas seufzte; sie fand die gnädige Frau gefühllos. Später meinte sie, ihre Herrin habe vielleicht doch recht. Dergleichen ging über ihre Begriffe.

Eines Tages endlich hielt ein alter Kremser vor der Tür; und heraus stieg eine Nonne, die das gnädige Fräulein abzuholen kam. Felicitas hob das Gepäck auf das Wagenverdeck, trug dem Kutscher verschiedenes auf und packte sechs Töpfe mit eingemachten Früchten, ein Dutzend Birnen und einen Veilchenstrauß in den Sitzkasten.

Im letzten Augenblick begann Virginia heftig zu schluchzen. Sie umarmte die Mutter; und die küßte sie auf die Stirn und sagte mehrmals:

»Geh nun! Mut! Mut!«

Der Tritt wurde aufgeklappt; der Wagen fuhr ab.

Hinterher hatte Frau Aubain einen Ohnmachtsanfall, und am Abend kamen alle ihre Freunde, die Familie Lormeau, Frau Lechaptois, die Fräuleins Rochefeuille, Herr von Houppeville und Bourais, um sie zu trösten.

Die Trennung von ihrer Tochter war ihr anfangs sehr schmerzlich. Aber dreimal in der Woche kam ein Brief; und an den andern Tagen schrieb sie ihr, wandelte im Garten auf und ab, las ein wenig und füllte so die Leere der Stunden.

Aus Gewohnheit ging Felicitas am Morgen in Virginias Stube und starrte die Wände an. Es war ihr gräßlich, daß sie ihr nicht mehr das Haar zu kämmen, die Schuhe zu schnüren, sie zu Bett zu bringen hatte, und daß sie nicht mehr beständig ihr reizendes Gesicht sah, sie nicht mehr an der Hand hielt wie ehedem, wenn sie zusammen ausgingen. Um nicht müßig zu sein, versuchte sie zu klöppeln. Ihre Finger waren zu schwer und zerrissen das Garn. Sie taugte zu nichts mehr, hatte den Schlaf verloren; sie hatte, wie sie sich ausdrückte, einen »Knacks« bekommen.

Um sich zu »zerstreuen«, bat sie um die Erlaubnis, daß ihr Neffe Viktor sie besuchen dürfe.

Am Sonntag nach der Messe kam er, mit roten Backen, die Brust bloß, umweht vom Duft der Felder, durch die er gewandert war. Sofort deckte sie für ihn. Sie frühstückten, einander gegenübersitzend, und während sie selber möglichst wenig aß, um die Mehrausgabe wieder einzubringen, stopfte sie ihn dermaßen voll, daß er zuletzt einschlief. Beim ersten Schlag des Vesperläutens weckte sie ihn, bürstete ihm die Hosen, knüpfte ihm die Halsbinde und ging mit ihm, in einer Art Mutterstolz auf seinen Arm gestützt, zur Kirche.

Seine Eltern gaben ihm stets den Auftrag mit, ihr etwas abzuknöpfen, etwa ein Päckchen Zucker, oder Seife, Schnaps, manchmal sogar Geld. Er brachte seine Leibwäsche zum Ausbessern, und Felicitas besorgte diese Arbeit, froh darüber, daß ihn dies zum Wiederkommen veranlagte.

Im August nahm ihn sein Vater auf die Küstenfahrt mit.

Es waren gerade Ferien. Die Ankunft der Kinder tröstete sie. Aber Paul war launisch, und Virginia durfte nicht mehr geduzt werden, was ihrem Verkehr Zwang antat, eine Schranke zwischen sie setzte.

Viktor fuhr nacheinander nach Morlaix, nach Dünkirchen und nach Brighton. Jedesmal, wenn er zurückkam, brachte er ihr ein Geschenk mit: das erstemal ein Muschelkästchen, das zweitemal eine Kaffeetasse, das drittemal einen großen Pfefferkuchenmann. Er wurde hübsch, war gut gewachsen, bekam einen Anflug von Schnurrbart, hatte treuherzige offene Augen und trug ein Lederhütchen, das er wie ein Lotse im Nacken sitzen hatte. Er erzählte ihr ergötzliche Geschichten, die von seemännischen Ausdrücken wimmelten.

An einem Montag, am 12. Juli 1819 (sie vergaß das Datum ihr Lebelang nicht), teilte ihr Viktor mit, daß er für eine lange Fahrt geheuert sei und in der übernächsten Nacht mit dem Paketboot von Honfleur nach Le Havre zu seinem Schoner abgehen werde, der demnächst seine Reise antrete. Er werde etwa zwei Jahre ausbleiben.

Daß sie ihn so lange nicht sehen sollte, versetzte Felicitas in großen Kummer. Um ihm ein letztes Lebewohl zu sagen, zog sie am Mittwoch abend, nachdem die gnädige Frau gegessen hatte, ihre Überschuhe an und lief die drei Meilen von Pont-l'Évêque nach Honfleur.

Am Kalvarienberg wandte sie sich statt nach links nach rechts, verirrte sich in den Lagerplätzen und mußte umkehren. Leute, die sie fragte, sagten, sie solle sich beeilen. Sie ging rund um den Hafen mit seinen vielen Schiffen; stolperte über Taue. Dann senkte sich der Boden. Lichter schimmerten kunterbunt durcheinander; und als sie Pferde am Himmel hängen sah, glaubte sie verrückt geworden zu sein.

Am Rande des Hafendammes wieherten auch welche, erschreckt durch die See. Ein Kran hob sie in die Höhe und ließ sie in ein Schiff hinab, wo sich zwischen Obstweinfässern, Käsekörben, Getreidesäcken Fahrgäste drängten. Man hörte Hühner gackern. Der Kapitän fluchte; und ein Schiffsjunge lehnte am Ankerbalken, die Ellbogen aufgestützt, unbekümmert um all das. Felicitas, die ihn nicht gleich erkannt hatte, rief: »Viktor!« Er hob den Kopf; sie stürzte nach ihm hin – und im selben Augenblick ward die Brücke weggezogen. Das Paketboot wurde von Frauen, die dabei sangen, aus dem Hafen getreidelt. Seine Rippen krachten; die schweren Wogen peitschten seinen Bug. Das Segel hatte sich gedreht. Man sah niemanden mehr. ... Auf dem mondsilbrigen Meere schwamm ein schwarzer Fleck, der immer blasser ward, immer tiefer tauchte und schließlich verschwand.

Als Felicitas wieder am Kreuzberg vorüberkam, kam es ihr in den Sinn, ihn, den sie am meisten auf der Welt liebte, den lieben Gott anzuflehen. Lange stand sie da und betete, das Gesicht in Tränen gebadet, den Blick in den Wolken. Die Stadt schlief. Zollwächter wandelten auf und ab; und ohne Unterlaß, brausend wie ein Wildbach, stürzte das Wasser aus den Löchern der Schleusen. Es schlug zwei Uhr.

Das Sprechzimmer bei den Nonnen wurde vor Tagesanbruch nicht geöffnet. Ein längeres Ausbleiben wäre der gnädigen Frau sicherlich nicht recht, und so machte sie sich auf den Heimweg, trotz aller Sehnsucht, ihren Liebling zu umarmen. Die Mägde im Gasthofe standen eben auf, als sie in Pont-l'Évêque ankam.

Der arme Junge sollte also monatelang auf den Wellen treiben! Seine früheren Fahrten hatten sie nicht in Besorgnis versetzt. Aus England und der Bretagne kam man wieder; aber Amerika, die Kolonien, die Antillen, das lag in verlorenen Regionen am anderen Ende der Welt.

Fortan dachte Felicitas immer nur an ihren Neffen. Brannte die Sonne, so meinte sie, der Durst müsse ihn quälen; witterte es, so fürchtete sie, der Blitz könne ihn erschlagen. Wenn sie hörte, wie der Wind im Schornstein heulte und die Schiefer vom Dache losriß, sah sie ihn im selben Unwetter, hoch auf einem zerbrochenen Maste, ganz hintenübergestreckt, vom Gischt überflutet; oder er wurde – eine Erinnerung an das Geographiebuch mit den Kupferstichen! – von den Wilden gefressen, im Walde von Affen verschleppt, oder er verschmachtete an ödem Gestade. Aber niemals sprach sie von ihren Kümmernissen.

Frau Aubain hatte andre Sorgen: um ihre Tochter.

Die guten Schwestern fanden, sie sei lieb und gut, aber zart. Die geringste Erregung schadete ihr. Das Klavierspiel mußte sie aufgeben.

Die Mutter bekam vom Kloster regelmäßig Bericht. Als eines Morgens der Briefträger nicht gekommen war, geriet sie in Unruhe. Sie ging in der Großen Stube hin und her, immer von ihrem Großvaterstuhle bis zum Fenster. Es war unbegreiflich. Seit vier Tagen keine Nachricht!

Um sie durch Beispiel zu trösten, sagte Felicitas:

»Ich, gnädige Frau, ich habe nun sechs Monate keine!«

»Von wem denn? ...«

Leise erwiderte die Magd:

»Nu ... von meinem Neffen!«

»Ach, dein Neffe!«

Frau Aubain zuckte mit den Achseln und begann von neuem auf und ab zu gehen; was soviel heißen sollte wie: »Was schert mich der? An den denke ich gar nicht! Ein Schiffsjunge! Ein Strolch! Große Sache! Meine Tochter dagegen ... Bedenke doch!« Felicitas war an Roheit gewöhnt, aber das empörte sie. Und doch vergaß sie es wieder.

Es schien ihr ganz natürlich, daß man wegen der Kleinen den Kopf verlor.

Die beiden Kinder waren ihr gleich wert; mit beiden fühlte sie sich durch Herzensbande verbunden; beider Schicksal war auch das ihre.

Der Apotheker teilte ihr mit, daß Viktors Schiff in der Havanna angekommen sei. Er hatte die Nachricht in einer Zeitung gelesen.