Erziehungsalarm - Kurt Gallé - E-Book

Erziehungsalarm E-Book

Kurt Gallé

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Beschreibung

Was werden Ihre Kinder Ihnen einmal vorwerfen? Noch nie wurden Kinder so sehr beschirmt, behütet, bespaßt und gefördert wie heute. Und noch nie wurden sie so sehr mit sich selbst und mit ihrer Entwicklung alleine gelassen - ohne gültige Regeln, ohne Wegweiser, ohne echte Vorbilder. Was wird eine Generation von Orientierungslosen aus unserer Gesellschaft machen? Ein Plädoyer für mehr Fürsorge, Verantwortung und Disziplin. Eine Streitschrift wider die Vernachlässigung unserer Nachkommen.

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Seitenzahl: 142

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Kurt Gallé

Erziehungsalarm

Weckruf für Eltern undBildungsverantwortliche

Kurt Gallé

ERZIEHUNGS

ALARM

Weckruf für Elternund Bildungsverantwortliche

Vorwegnehmend sei hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Bezeichnung Folgendes erläutert: Es wäre umständlich, wollte man jedes Mal die Doppelform schreiben, und es ist optisch unschön und dem Lesefluss hinderlich, ein „I“ mitten in ein Wort einzufügen. Ich verwende deshalb zur besseren Lesbarkeit entweder die weibliche oder die männliche Sprachform – und wenn es passend ist, auch beide.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2015© 2015 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Christine WiesenhoferCoverfoto: © ollyy | shutterstock.comISBN Printausgabe: 978-3-99100-144-7

ISBN E-Book: 978-3-99100-145-4

Wir dürfen die Kindernicht schwimmen lassenim Meer der Beliebigkeit.

Inhalt

Vorwort

BRENNPUNKTGESELLSCHAFT UND FAMILIE

Die D-Generation und andere leise Umbrüche

Autoritär, antiautoritär, irregulär

Das etikettierte Kind

Über die Erziehungs(un)fähigkeit

Unmündige Erwachsene

Ausgelieferte Werte

BRENNPUNKTMEDIEN UND KOMMUNIKATION

Digitale Miterzieher

Digitaler Autismus

Mediale Vorbildwirkung

BRENNPUNKTSCHULE UND BILDUNG

Die Schwächen unseres Bildungssystems

Zeiterscheinungen und Etikettenschwindel

Die Bildungsstandards

Der kompetenzorientierte Unterricht

Notwendige Erläuterung zum Kompetenzbegriff

Im Start gehemmt – eine klärende Rückschau

Autonomie am Gängelband

Das Gießkannenproblem

Gut gemeinte Ansätze

Ein erster Schritt oder was vom Tage übrig blieb

Fehlgeleitete Erziehungsmittel

Exkurs: Die gute Schule

Zwischen Bewahren und Erneuern

Jenseits vom Mittelmaß

Künftige Bildungsmaßstäbe

ANTHROPOLOGISCHENACHBETRACHTUNG

Verwendete und weiterführende Literatur

Vorwort

Je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit.Je weniger Gleichheit, desto mehr Konkurrenz.Je mehr Konkurrenz, desto weniger Solidarität.Je weniger Solidarität, desto mehr Vereinzelung.Je mehr Vereinzelung, desto weniger soziale Einbindung.Je weniger soziale Einbindung, desto mehr rücksichtslose Durchsetzung.

Desintegrationsprozess nach W. Heitmeyer 1

Da erfahren wir in den Medien von Jugendkrawallen in Staaten, die bislang als soziale Vorzeigeländer gehandelt wurden. Da lesen wir mit Entsetzen, dass ein erst Dreizehnjähriger ein siebenjähriges Mädchen vergewaltigt hat, und erfahren im gleichen Atemzug, dass Opfer und Täter psychologisch betreut werden und wollen glauben, dass damit wieder alles seinen gewohnten Gang geht.

So wie wir heute bestürzt erkennen, welche gravierenden Fehlentwicklungen es in den Erziehungsanstalten vor 50 bzw. 60 Jahren gegeben hat, so fassungslos werden wir uns, die wir gegenwärtig als Eltern, Lehrer, Erzieher, Sozialpädagogen, Psychologen und letztendlich in sozial- und bildungspolitischen Bereichen untätig tätig sind, in den nächsten Jahrzehnten den Vorwurf gefallen lassen müssen, unsere Kinder alleingelassen bzw. sich selbst überlassen zu haben.

Und was noch schwerer wiegt: Wir werden uns in den nachfolgenden Jahrzehnten jenen Konsequenzen stellen müssen, die ein unbetreutes Erwachsenwerden unserer Nachfolgegeneration mit sich bringt, wenn wir nicht rechtzeitig die Reißleine ziehen und einen Schutzschirm in Richtung Fürsorge, Verantwortung und Disziplin öffnen.

Mir ist natürlich klar, dass die hier angeführten Fakten und beschriebenen Sachverhalte die gegenwärtige Situation nicht eins zu eins abbilden – dann wäre dieses Buch ohnehin obsolet.

Es gibt Gott sei Dank nach wie vor Eltern, Lehrkräfte, Pädagoginnen und Psychologen, Sozialarbeiter, Erzieherinnen etc., die nach bestem Wissen und Gewissen – und Können – ihren erzieherischen Auftrag erfüllen, sowie Kinder und Jugendliche, die diesem auch Folge leisten, obwohl dies für beide Seiten, Erziehungsberechtigte und zu Erziehende, aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen immer schwieriger wird.

Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass ein gegen das Establishment aufbegehrender Nachwuchs das etablierte Gefüge einer Gesellschaft etwas zum Wanken bringt – das gab es zu allen Zeiten und ist gut so.

Neu daran ist der Umstand, dass die Art und Weise der Umsetzung in einer bis jetzt nie dagewesenen Gefühllosigkeit verbunden mit einer unverhältnismäßig hohen Häufigkeit zum Ausdruck kommt. Da genügt es bei einer Schulhofrauferei nicht, den „Gegner“ zu besiegen, um dann von ihm abzulassen. Nein, da wird auf den am Boden Liegenden noch eingetreten, und von den Umstehenden gibt es für das Opfer auch keine Hilfeleistung, denn die sind damit beschäftigt, das Geschehen mit Handy oder Tablet festzuhalten.

Neu ist auch die orientierungs- und damit bedenkenlose Überschreitung von bisher allgemeingültigen ethisch-moralischen Grenzen ohne höhere Ziele wie Gerechtigkeit oder Loyalität. Da genügt schon der Wunsch, ein neues Handy besitzen zu wollen, und schon ist man bereit, dieses mittels unverhältnismäßig brutaler Gewaltanwendung an sich zu bringen. Die Statistiken sprechen hier eine klare Sprache: So ist der „Handyraub“, also das gewaltsame An-sich-Bringen eines Mobil- bzw. Smarttelefons unter Androhung oder Anwendung von Gewalt, um 20 Prozent gestiegen.2 Dabei kommt es immer öfter vor, dass die Opfer zusätzlich verbal gedemütigt und körperlich misshandelt werden, obwohl sie ihr Handy den Räubern widerstandslos aushändigen.

Neu ist auch der nihilistische Umgang mit Schuld von direkt oder indirekt Betroffenen auf der Täterseite, die meinen, nötige Grenzziehungen und Konsequenzen aus falsch verstandenem Liberalismus verweigern zu müssen.

Die damit einhergehende zentrale Folgeerscheinung offenbart sich in einer schleichenden Entsolidarisierung, basierend auf einem fehlgeleiteten Verständnis von Freiheit, das sich egozentrisch ausbreitet und zur Unfreiheit des Gegenübers mutiert (wie einleitend im Desintegrationsprozess nach Heitmeyer dargestellt), in einer Gesellschaft, die langsam vergisst, was sie ihren Nachkommen und letztendlich sich selbst schuldig ist.

Mir ist bewusst, dass die von mir über einige Passagen gewählte Textform der Streitschrift (auch wenn sie sich im vorliegenden Werk vorwiegend auf Fakten stützt) ein literarisch äußerst provokantes Mittel darstellt. Sie ist jedoch nach wie vor die beste Option, um sich kontrovers für eine Sache einzusetzen und jene Personen oder Gruppen zu demaskieren, die alles und jedes beschönigen oder gutreden möchten, weil ihnen die nötige Entschlossenheit fehlt, die sie befähigen würde, tatkräftig aus der sie schützenden Komfortzone herauszutreten.

Graz, im März 2015

1Heitmeyer, W.: Über gesellschaftliche Desintegrationsprozesse.In: Politik und Zeitgeschichte, B2-3/1993Quelle: www.soziologie.uni-halle.de/langer/pdf/meth1/xenotheo

2Quelle: http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/711058

BRENNPUNKT

GESELLSCHAFT UND FAMILIE

Die D-Generation und andere leise Umbrüche

Den in diesem Buch angestellten Überlegungen liegt vor allem ein soziokulturelles Verständnis von Generationen zugrunde. In diesem Falle definiert sich der Generationenbegriff nicht nur an der sonst üblichen Altersdifferenz der Vorfahren zu den Nachkommen, sondern orientiert sich auch an der Vorstellung von Generationen als kulturelles Deutungsmuster, in dem es darum geht, Identitäten und Differenzen von Gruppen darzustellen. Demzufolge beschreibt der in diesem Buch verwendete Generationenbegriff vorwiegend, jedoch nicht ausschließlich, das Wesen und nicht den zeitlichen Abstand. Deshalb sind die damit gemeinten Gruppierungen auch keiner Altersgruppe zuzuordnen, sondern ausnahmslos ihrer Beschaffenheit bzw. ihrer Wesensart.

Generationen im genannten Kontext werden demnach gemacht und entstehen durch eine spezifisch historische und kollektive Prägung mit sozialem Wandel als Sub- oder Gegenkultur zum bestehenden Gesellschaftssystem, wie zum Beispiel die Gruppe der sogenannten 68er, die Hippiebewegung, Punks oder Gothics.

Momentan befinden wir uns als Gesellschaft in einer Grauzone, die soziologisch kaum zu fassen ist, zumal sie einer klar ausgewiesenen Definition entbehrt – vielleicht bezeichnen die Historiker und Soziologen sie deshalb gerne als Postmoderne, also die Zeit nach der Moderne, weil sie für unseren Zeitabschnitt noch keine klare Zuordnung festmachen können. Ebenso unscharf sind Festlegungsversuche hinsichtlich unserer Gesellschaftsform – da fallen Begriffe wie Multioptions- oder offene Gesellschaft. Aber was ist damit konkret gemeint, von welchen Optionen ist hier die Rede, für wen ist die damit verbundene Entscheidungsfreiheit vorhanden? Wohl nicht für jene jugendlichen Bildungs- und in weiterer Folge Systemverlierer, die weder einen Schulabschluss noch eine fertige Berufsausbildung vorweisen können und deren Zahl in Österreich mittlerweile an die 80.000-Marke 3 heranreicht. Wenn man aktuellen Medienberichten und im Internet veröffentlichten Statistiken glauben darf, dann zeigt sich europaweit ein noch weit düsteres Zustandsbild.

Ähnlich verhält es sich mit dem Terminus der offenen Gesellschaft, ein Unwort par excellence – entbehrt es doch jeder klaren Zuordnung. Hier tritt offensichtlich jener unserem Zeitgeist innewohnende Euphemismus zutage, den wir aus vielen Lebens- und Sozialbereichen kennen. Ich verweise in diesem Kontext nur auf das beschönigende Hüllwort der „Freisetzung“, wenn eigentlich die Kündigung und damit der Verlust der Arbeit und der Entzug der finanziellen Lebensgrundlage gemeint ist.

Da stellt sich doch zwangsläufig die Frage: Wie definiert sich eine offene Gesellschaft? Ist damit eine Öffnung in alle Richtungen impliziert? Wenn darin nichts „Richtungsweisendes“ erkennbar ist, wenn es nirgendwo Begrenzungen gibt, wenn also etwas nach allen Seiten offen ist, hört man im Volksmund gerne den Ausspruch, dass dann dasjenige oder derjenige etwas undicht sei – und vielleicht liegt er (der Volksmund) damit gar nicht so falsch.

Die genannten Bedingungen bilden den Nährboden für kollektive Verhaltensmuster, die sich in Desinteresse, Destruktion, Desorganisation, Desorientiertheit, Delinquenz und nicht zuletzt in einer gesellschaftlich desolaten Klammerfunktion widerspiegeln und damit die Dynamik einer für unsere Nachfolgegeneration kaum reparablen Desintegration einleitet, weil dieser weder Grenzen noch Perspektiven aufzeigt.

Den aufmerksamen Lesern und Leserinnen dürfte kaum entgangen sein, dass die vorhergehenden (absichtlich lose), aneinandergereihten Substantive alle mit einem „D“ beginnen, was mich veranlasst hat, die Repräsentanten und Repräsentantinnen dieser Eigenschaften als D-Generation zu subsumieren.

Diese sind äußerlich nicht so auffallend wie seinerzeit die Hippies oder in den späten Siebzigern die Punks. Sie postulieren ihre Grundsätze (sofern überhaupt vorhanden oder als solche erkennbar) nicht lautstark, und sie treten auch nicht als Gruppe mit klar gestellten Forderungen auf. Sie sind auch nicht sofort durch Kleidung oder sonstige gemeinsame Äußerlichkeiten erkennbar.

Wie auch immer sie in Erscheinung treten, welche der D-Charakteristik auf sie auch zutreffen mag, sie haben eines gemeinsam: ein äußerst fragwürdiges Verständnis von Freiheit, welches in einer egozentrisch dem Hedonismus verbundenen Selbstverwirklichung zutage tritt und jede Form von Solidarität vermissen lässt.

Es ist durch die Geschichte belegt, dass Subkulturen dort gut gedeihen können, wo die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die nötigen Voraussetzungen dafür bieten. Sie treten entweder als Protestbewegung wider die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf oder entstehen, wie gerade aufgezeigt, im Rahmen der vorhandenen Bedingungen.

Die daran anknüpfende Assoziation zu einem ansatzhaft beginnenden Degenerationsprozess unserer gesellschaftlichen Strukturen ist dabei durchaus beabsichtigt, zumal dieser einem erfahrungsgeschichtlich, kulturphilosophisch untermauerten Regelkreis unterliegt, welcher den sogenannten Späten Zustand einer Zivilisation 4 augenfällig charakterisiert:

Dieser späte Zustand ist geprägt von einer demografisch vorhandenen, jedoch im Lebensstil geleugneten Überalterung einer Gesellschaft und damit einhergehende indifferente Jugendkulturen, verbunden mit der Regellosigkeit anarchisch geprägter (medialer) Unterhaltungsindustrien in Form von Endzeit-Computergames und diversen B-Movies. Dazu gesellen sich die Künstlichkeit digitalisierter Lebens- und Erfahrungsbereiche sowie ein kühler, dem Egoismus verbundener Tatsachensinn anstelle sozial-ethisch-moralischer Überlegungen.

Irreligiosität und ein sich ungesund entwickelnder Materialismus verbunden mit dem Machtanspruch formloser, nicht fassbarer Gewalten, wie sie sich gegenwärtig in einer zügellosen und menschenverachtenden Form des Kapitalismus darstellen, runden das genannte Zustandsbild ab. Degenerative Prozesse gehen zudem einher mit einer unverhältnismäßig hohen Selbstbezogenheit, welche naturgemäß eine Vernachlässigung der Brutpflege mit sich bringt.

Dieser Umstand offenbart sich im Bereich der Erziehung insoweit, als dieselbe gegenwärtig keinen einheitlich klar aufgestellten Regeln folgt. Die daraus folgende Verunsicherung führt mitunter zu Situationen, in denen sich die mit der Erziehung und Bildung betrauten Bezugspersonen unseres Nachwuchses die Verantwortung gegenseitig zuschieben.

Da höre ich von Lehrerinnen und Lehrern, dass sie im Rahmen ihrer lehrenden Tätigkeit endlich wieder „normal unterrichten möchten“ und nicht die Hälfte der Unterrichtszeit damit verbringen wollen, „Verhaltenskunde“ zu unterrichten. Da höre ich von Eltern den Ausspruch, dass das Erlernen grundlegender Verhaltensregeln, wie z. B. „dass man sich für eine Ungehörigkeit zu entschuldigen hat oder seine Sachen in Ordnung halten soll“, durchaus dem schulischen Erziehungsbereich zuzumuten sei. Da höre ich von Kindergartenpädagoginnen, dass Kinder mit fünf Jahren noch immer nicht ordentlich mit Besteck essen können, und von Eltern, dass dies eine Kulturfertigkeit sei, die sie gefälligst im Kindergarten lernen sollen. Dass die genannten Beispiele keine Einzelfälle darstellen, demonstriert der Bestseller vom Niki Glattauer. „Leider hat Lukas …“ ist ein Buch, welches in seiner satirischen Schreibweise zum Schmunzeln anregt, jedoch den Kern der „Sache“, nämlich das Hin- und Herschieben erzieherischer Verantwortung, den Leserinnen und Lesern klar vor Augen führt. Das Buch ist in Form eines Elternheftes gehalten und gibt den „Briefwechsel“ der Eltern und Lehrer von Lukas wieder:

Sehr geehrte Frau Gruber!

Leider stört Ihr Sohn Lukas fast jeden Vormittag den Unterricht. Er tratscht und verweigert jede Form der Mitarbeit (Aufzeigen!). In den Pausen nervt er seine Lehrer mit provozierenden Äußerungen oder er schreibt Hausübungen ab. Reden Sie bitte mit ihm.

Mag. R. S., Klassenvorstand

Sehr geehrte Frau Prof. S.!

Leider verdirbt uns Ihr Schüler Lukas fast jeden Abend die Stimmung. Er schweigt und verweigert jede Form der Mitarbeit (Tisch decken)! Beim Abendessen nervt er seine Familie mit seinem Smart-Trottel oder er streitet mit seiner Schwester. Reden Sie bitte mit ihm!

Mag. S. G., Mutter 5

Ich gehe in meinen weiteren Überlegungen davon aus, dass dieser in Satire gepackte Sachverhalt mit klar geregelten Gesetzmäßigkeiten innerhalb des jeweiligen Gesellschaftssystems zu tun hat und dieses System in seiner Stringenz gegenwärtig aussetzt. Das Ergebnis ist eine permanente Unsicherheit, in der vor Ort erforderlichen Aufgabenteilung, die erzieherischen Maßnahmen betreffend. Lassen Sie mich diesen Ansatz nachfolgend erörtern:

Seit jeher war es die vornehmliche Aufgabe des Elternhauses, die Erziehung ihres Nachwuchses zu bewerkstelligen. Aber auch der Schule bzw. den lehrenden Personen kam ein nicht unwesentlicher Teil der erzieherischen Tätigkeit zu.

Die Geschichte der Pädagogik zeigt eindeutig, dass es hinsichtlich der Verteilung der Verantwortung immer wieder Schwankungen gegeben hat. Jedoch stand die Zuweisung (wo auch immer der Schwerpunkt zu liegen kam) fest, und somit gab es im Prinzip klare Verhältnisse, die kaum zu Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Pädagogen bezüglich der Verantwortlichkeit führten. Gestatten Sie mir daher einen exemplarisch angelegten Denkansatz und schauen wir dazu ein wenig in die Anfänge von organisierter Erziehung und Bildung.

Bildung und Erziehung in strukturierter Form hat ihren Ursprung in der Antike und wird als familiale Phase bezeichnet, da die Schule die Familie in der Erziehung der Nachkommen nur unterstützte: „Wie bei den Griechen erfolgten Erziehung und Unterricht im alten Rom ursprünglich durch die Eltern selbst. Später unterstützte sie dabei der ‚paedagogus‘, ein gebildeter Freigelassener oder Sklave. Erziehung erfolgte nach exempla (vorbildliche Beispiele). Das Vorbild der Eltern und die starke Bindung an den ‚mos maiorum‘ (die Sitte der Vorfahren) bestimmten das Denken der jungen Menschen von klein auf.“ 6

Ähnlich verhält es sich in den darauffolgenden Epochen; von der monastischen Phase des Früh- und Hochmittelalters, in der in erster Linie die Klöster die Bildungszentren waren, über die urbane Phase, beginnend im Spätmittelalter bis in die Zeit des frühen Humanismus, in der sich (von den Bürgern ausgehend) ein differenziertes Bildungssystem entwickelte, bis hin zur Phase der staatlichen Obrigkeit, in der Erziehung und Bildung zur öffentlichen Sache wurde. Die anfänglich herrschenden „Obrigkeiten“, die ihre Weltanschauung zu installieren versuchten, wurden Gott sei Dank von einem demokratisch geprägten Bildungsverständnis abgelöst.

So unterschiedlich sich diese Epochen gestaltet haben – eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie waren geprägt von dem, was die Römer unter „exempla“ und „mos maiorum“ in ihrem Verständnis hinsichtlich der Weitergabe ihrer Lebensprinzipien subsumiert haben. Es sind die allgemeingültigen Wertvorstellungen und damit verbundenen Sitten und Bräuche einer Gesellschaft – das Ethos eines Kollektivs, welches das Gemeinsame sucht und dessen Positionen letztendlich nicht darin enden, auftauchende oder vorhandene Problemfelder dem jeweils anderen zuzuschieben.

Und wenn diesem Ethos ein demokratisches Grund- und Rechtsverständnis zu eigen ist, wenn es durchwirkt ist vom Respekt vor der Würde jeder einzelnen Person unabhängig von Alter, Geschlecht, Rasse und Bildungsstand, also ein den Menschenrechten absolut verpflichtetes Grundverständnis aufweist, dann hat dieses Kollektiv die unabdingbare Verpflichtung, all diese Werte unmissverständlich einzufordern und bei Missachtung gegebenenfalls zu ahnden. Aber gerade in diesen Punkten krankt unser Gesellschaftssystem zeitweilig – und das nicht nur in den ausgewiesenen Bereichen von Erziehung und Bildung.

Autoritär, antiautoritär, irregulär

„Was ist bloß mit unseren Kindern los?“, ist der Ausruf einer genervten Mutter, die im Rahmen eines Elternsprechtages aus dem Klassenzimmer ihres Sohnes kommt. Und sie fügt hinzu: „Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich machen soll!“

In erziehenden Bereichen wie Elternhaus oder Schule macht sich Ratlosigkeit breit. In „Begegnungsfeldern“, die nichts mit Erziehung im herkömmlichen Sinne, sondern mit der Auswirkung derselben zu tun haben, schreitet man zur Gegenwehr. So finden sich im Internet (man kann es kaum glauben) einige Tausend Einträge von Hoteliers, die ihre Destinationen als kinderfrei anpreisen. Dies hat mich veranlasst, in Form einer telefonisch durchgeführten Anfrage 7 nach den Gründen zu fragen. Demnach hat dieser Trend keineswegs mit einer generellen Kinderfeindlichkeit zu tun, sondern schlichtweg mit der Tatsache, „dass einige Eltern ihre Kinder nicht im Griff haben: Kinder, die schrill schreiend durch die Hotellobby rennen und auf den Fauteuils und Sofas herumspringen. Eltern, die mild lächelnd ihre Kinder beobachten und zusehen, wie sie im Suppen-, Salat- und Nachspeisenbuffet herumplantschen, sind den anderen Gästen einfach nicht zuzumuten“. Spricht man Eltern auf das Fehlverhalten ihrer Kinder an, kommen immer die gleichen stereotypen Antwortmuster: „Seien Sie nicht so kleinlich, wir waren alle einmal Kinder. Was wollen Sie, wir haben ja Urlaub und bezahlen dafür. Wie sollen sie es denn lernen, wenn sie nichts ausprobieren dürfen?“