Erziehungsfalle Angst - Silke Pfersdorf - E-Book

Erziehungsfalle Angst E-Book

Silke Pfersdorf

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  • Herausgeber: Diana
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Kinder werden heute überwacht, noch bevor sie das erste Mal Luft geholt haben.

Wir wollen nur das Beste für unsere Kinder. Also lassen wir sie keinen Moment aus den Augen und kutschieren sie von Termin zu Termin, damit sie sich nicht verlaufen, nicht nass werden oder im Dunkeln das Fürchten lernen müssen. Doch was wird aus Kindern, die so behütet aufwachsen, ohne Freiraum für eigene Grenzen und Erfahrungen?

Die Angst der Eltern vor den Gefahren des Lebens macht sie zu Bodygards, die jeden Schritt ihrer Kinder überwachen wollen. Aus der Traum von heimlichen Entdeckungsreisen in Nachbars Garten, von Klingelstreichen und vom Versteckspielen im Wald.
Doch wie können Kinder Vertrauen in das Leben entwickeln, wenn sie nie allein sind, um etwas auszuprobieren oder gar Verbotenes zu tun? Viele Kinder sind heute Luxusobjekte und Hoffnungsträger ihrer übermotivierten Eltern. Mit knappen Freiräumen und in einer Welt, auf die Erwachsene ständigen Zugriff beanspruchen. Kinder ohne Kindheit. Kinder, die nie lernen, Verantwortung zu tragen, sich ohne Mutters Rückendeckung zu behaupten, ihre Persönlichkeit zu entwickeln.
Die BRIGITTE-Autorin Silke Pfersdorf warnt vor einer Generation weichgespülter Egoisten und überlegt sich konstruktive Lösungen.

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Seitenzahl: 297

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Vorwort
 
Kapitel 1 – Die neue deutsche Kindheit
Schwanger. Der Bauch wächst – die Angst auch
Das Baby ist da. Das Projekt (m)eines Lebens beginnt
Applaus für Netz und doppelten Boden
 
Kapitel 2 – Mama ist doch die Beste – und sie will es bleiben
Mein Haus, mein Auto, mein Kind
Ein Kind braucht seine Eltern. Oder brauchen die Eltern ihr Kind?
Sind Mütter bessere Menschen?
Nicht ohne meine Mutter: Wenn Kinder älter werden
 
Kapitel 3 – Wer sind die Angstmacher?
Antiautoritäre (Aus-)Handelsbilanz
Das Ende der Behaglichkeit
Die Säulen der Angst: Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn
Elternglück bis zum Umfallen
Kinder, ein einziges Event
Die Angst der Eltern vor sich selbst
Lebensprojekt Einzelkind
Allein zu Haus mit dem Kind
 
Kapitel 4 – Glückliche Kinder – glückliche Eltern
Glückliche Kindheiten
 
Kapitel 5 – Die Unbekömmlichkeit einer überbehüteten Kindheit
 
Kapitel 6 – Guck mal, was da wächst!
Ringlein, Ringlein, du musst wandern: Angst gebiert Angst
Überbehütung: Angst hält klein
Inseltage, eine Kindheit lang
Standleitung zu Mama und Papa
 
Kapitel 7 – Immer auf der Hut
Auf wackligen Kinderbeinen – Angst lebt gefährlich
Von Windeln und toten Hosen
Wenn Kinder es dicke haben: Angst kann krank machen
ADHS
Übergewicht
Stress
Allergien
Ewige Peter-Pan-Jungen und Immer-noch-Girlies
Wer ist da nur im Kinderzimmer?
 
Kapitel 8 – Man kann einiges tun – und noch mehr einfach lassen
Weg mit: »Wir haben Schuld!«
Weg mit: »Du kannst so viel kaputt machen!«
Sätze, die guttun: Erziehung in wenigen Zeilen
 
Kapitel 9 – »Eltern sollten sich gegenseitig ermutigen«
 
Kapitel 10 – Ist Kindheit wirklich gefährlicher geworden?
Elternangst 1 – Das Böse lauert überall: Kinder sind vor sexuellem Missbrauch ...
Elternangst 2 – Der Tod wartet vor der Tür: Man kann sein Kind bei dem Verkehr ...
Elternangst 3 – Die Gewalt unter Kindern hat zugenommen: Mein Kind ist in der ...
Elternangst 4
Elternangst 5 – Die Umwelt wird immer giftiger. Und unsere Kinder immer kränker
Elternangst 6 – Mein Kind muss doch was leisten, wenn es was werden will. Und: ...
Und das Restrisiko: Wie fördere ich mein Kind denn richtig?
Elternangst 7 – Wenn ich nicht bei meinem Kind bin, habe ich oft Angst, es ...
 
Literatur
Danksagung
Copyright
Meinen Kindern Svea und Fabian
Vorwort
Es war auf dem Weg zurück in meine Kindheit. Langsam kurvte ich mit meinem Wagen durch Oberricklingen, den Stadtteil von Hannover, in dem ich aufgewachsen war. Vom Rücksitz aus beäugten meine Kinder Svea und Fabian neugierig die Gegend. »Gibt’s ja nicht, der Park ist auch noch da«, rief ich begeistert aus. »Ihr glaubt gar nicht, wie klasse man dort spielen konnte. Die Bäume – mit dicken Ästen, ganz nach oben sind wir geklettert. Und wenn wir Hunger kriegten, sind wir rüber zum Fleischer, da gab es schon mal ein paar Scheiben Mortadella umsonst. Im Winter, wenn es früh dunkel wurde, war es richtig gruselig, Verstecken zu spielen. Herrlich!« Meine Kinder starrten auf das dichte Buschwerk, an dem wir gerade vorbeifuhren. »Hat Oma das denn auch Spaß gemacht?«, wollte mein neunjähriger Sohn wissen. »Die war doch gar nicht dabei«, antwortete ich verdutzt. »Aber wer«, fragte er, »hat denn auf euch aufgepasst?«
Ja, wer hatte eigentlich auf uns aufgepasst? Von mittags bis späten Nachmittag, nach den Hausaufgaben bis zum Abendbrot. Wo wir gewesen waren, hat selten einer gefragt. Und zwischendurch mal anrufen, ging auch schlecht – es gab ja keine Handys. Dafür gab es abends Pflaster für aufgeschlagene Knie oder Schimpfe, wenn die Hose zerrissen oder voller Matsch war. Klar, manchmal verliefen wir uns auch, irgendwo im Straßendickicht der Vorstadt. Oder wir stiegen falsch aus der Bahn, die wir nehmen mussten, wenn wir ins Freizeitheim zum Tischtennisspielen wollten. Dann mussten wir sehen, wie wir noch hinkamen. Gebracht hat uns jedenfalls keiner. Wenn man Pech hatte, wurde man von ein paar Jugendlichen verprügelt, irgendwo auf den Wegen, wo die Kinder wohnten, mit denen wir nicht spielen durften. Keiner ging dazwischen. Erst recht kein Erwachsener. Die waren irgendwie immer woanders. In den Nachmittagsstunden unserer Kindheit jedenfalls kamen sie nicht vor. Da waren nur Freunde, die draußen mit uns spielten, Abenteuer erlebten in Hinterhöfen und Gassen, auf wilden Wiesen, Baustellen.
Diese Kindheit gibt es heute nicht mehr. Weil es die Eltern nicht mehr gibt, die zu so einer Kindheit nun mal gehören würden: Eltern, die das Leben nicht nur als Aneinanderreihung von Fast-wäre-es-passiert-Momenten betrachten, die ihre Kinder nicht ständig behüten wollen vor Gefahren, die sie überall wittern: In Pfützen können Kleinkinder ertrinken, von Bäumen können sie stürzen, um auf Zäunen zu landen, die sie aufspießen. Ein Auto könnte sie erwischen, und der nächste Sextäter wartet bestimmt schon um die Ecke. Himmel, sind wir ängstlich geworden. Sorgenfalteneltern, eine ganze Kindheit lang. Heute tragen nur noch wenige Kinder einen Schlüssel um den Hals – Eltern trauen sich einfach nicht mehr, ihre Kinder unbeaufsichtigt daheim zu lassen. Dafür tragen die wenigen verbliebenen Mütter und Väter von Schlüsselkindern oft schwer am Vorwurf, ihre Kinder zu vernachlässigen.
Wir glauben, unseren Kindern alles zu geben. Und nehmen ihnen dabei mit unserer Angst so viel. Die Freiheit, natürlich. Aber auch jede Menge selbst erlebte Welt. Ein Kind, das Nudelwasser einmal allein aufsetzen darf, verbrüht sich vielleicht. Und wenn es das erste Mal mit dem Bügeleisen hantiert, könnte es sich verbrennen, sicher. Aber es macht eben auch jede Menge Erfahrungen. Unter anderem am Ende die, wieder etwas Neues dazugelernt zu haben, wieder einen Schritt weitergekommen zu sein.
Die Zeitschrift Brigitte hatte das Thema in ihrer Ausgabe 7 im März 2006 in einem Dossier unter dem Titel »Wie viel Angst dürfen Eltern haben?« aufgegriffen – und viele Eltern erkannten sich und ihre Befürchtungen darin wieder. Die Frage ist nur: Wie wird man die Ängste los? Wo ist der Schlüssel zu dem Käfig, in dem wir unsere Kinder gefangen halten? Wie können wir ihnen die Freiheit wiedergeben, ohne selbst vor Sorge zu vergehen?
Indem wir dem Risiko einmal ganz nüchtern ins Auge sehen, zum Beispiel. Tatsächlich nämlich ist Kindheit viel sicherer geworden. Unter den Kindern gibt es weniger Verkehrstote denn je, die Zahl der Sexualmorde ist rückläufig. Und wir müssen uns nicht ständig einmischen, weil Kinder eine Menge selbst regeln können. Ihre Streitigkeiten, ihre Wut, auch ihre Traurigkeiten. Kinder brauchen Krisen – und das Gefühl, selbst hindurchgestiefelt zu sein. Das macht sie stark.
Als ich das Kapitel schrieb, in dem es um genau diese Momente ging, durch die man seine Kinder am liebsten eigenhändig auf starken Armen tragen möchte, damit ihnen nur ja kein Leid geschieht und ihr zartes Seelchen Schaden nehme, rief meine Tochter Svea von einer Gruppenfahrt an. »Hol mich ab, Mama«, flüsterte sie. Sie hatte sich gleich mit mehreren Freundinnen überworfen, fühlte sich einsam, sie litt. Mein erster Impuls: hinfahren, abholen, mein Kind retten. Dann erst wurde mir klar: Da muss sie durch. Allein. Ich kann ihr nicht alles im Leben abnehmen, ich darf es gar nicht. So wie ich ihr nicht jeden Baum verbieten kann, auf den sie klettern möchte, nicht den Schwimmbadbesuch mit Freundinnen (und ohne Aufsichtsperson), nicht die Fahrt mit der Bahn zum Reitklub. Wer begreift, dass es genau diese Freiheit ist, die Kinder erst fürs Leben rüstet, lernt loszulassen.
Dieses Buch ist kein Ratgeber. Es erklärt Eltern, dass die ständige Bemutterung den Kindern schadet – und gibt ihnen jede Menge Gründe, mit mehr Mut an die Erziehung zu gehen.
Kinder, die mit Stützrädern Fahrradfahren lernen, haben es schwerer, Balance zu lernen, als Kinder, die ohne diese Hilfen auskommen mussten. Genauso ist es eben auch mit vielen anderen Hilfestellungen, die wir unseren Sprösslingen geben, weil wir Angst haben, sie kriegen es allein ja doch nicht hin, oder sie könnten sich womöglich irgendwelche Blessuren holen. Klar, auf zwei Rädern kann man umfallen. Das ist halt das Leben. Das richtige Leben.
1
Die neue deutsche Kindheit
Von umsorgten Eizellen, gepamperten Kleinkindern und Müttern mit Tunnelblick
 
 
 
Fotoalben liebe ich. Erinnerungen zu Standbildern eingefroren, Momente voller Glück, Lachen und Weißt-du-noch!-Geschichten. Aber dann schiebt sich plötzlich auch ein großes Fragezeichen in meine Gedanken: Welches Bild werden meine Kinder in ihren Köpfen bewahren?Von den Tagen, als sie klein waren – und von uns, ihren Eltern. Ich habe Angst, meinem Bild in ihnen wäre eine dicke Sorgefalte ins Gesicht geschrieben. Und nicht das Lachen und die Lebensfreude, mit dem ich mich viel lieber sehen würde. In solchen Augenblicken wird mir klar, was ich an mir als Mutter hasse: meine Unsicherheit. Meine ständige Furcht, meinen Kinder zu wenig Zeit, zu wenig Liebe, zu wenig Bildung, zu wenig Zuspruch zu geben. Das ständige Gefühl, als Mutter nicht gut genug zu sein.
Eine Angst, die viele Eltern kennen. Eine von vielen Ängsten. Eltern heute wissen, dass Kinder sich in der Sandkiste Bakterien einfangen können, sie wittern Gifte im Babybrei und in der Farbe, mit denen die Wiege gestrichen wurde, sie freuen sich nicht mehr an einem blühenden Baum, weil sie ahnen, dass ihr Kind eines Tages von seinen herrlichen Ästen stürzen könnte, auch von den bunten Sprossen eines Klettergerüsts. Alles Schöne trägt für uns einen Grauschleier der Unsicherheit. Eltern heute haben eine genaue Vorstellung davon, was alles passieren kann. So wie sie wissen, dass Erziehung ein unerhört schwieriges Geschäft ist. Sie können es schließlich täglich lesen. In den Zeitungen, in den Ratgebern, die zu Dutzenden in den Buchläden stehen: Kinder ersticken an den Haaren ihres Teddys, verbrühen sich an heißer Suppe, werden vom Nachbarn mit Gummibärchen angelockt und verschleppt, von Mitschülern gemobbt.
Die Schwangerschaft – neun, zehn sorgenvolle Monate, ob das Kind im Bauch auch gesund heranwächst; die Kindergarten- und die Schulzeit – mit Erziehern, Lehrern und anderen Risikofaktoren. Die ständige Befürchtung, die Sprösslinge könnten irgendwo im weiten Feld des Lebens den Weg verfehlen oder zu kurz kommen. Wir sind bestens informiert über jedes noch so kleine Risiko; die Angst aber verstellt uns letztlich auch den Blick darauf, wie groß die Gefahr wirklich ist.
Manchmal vermag die Angst den Eltern fast den Atem zu nehmen. Aber, noch schlimmer: Sie nimmt ihn auch den Kindern. Weil Eltern sie mit ihrer Angst umklammern.
Das leichte, entspannte Leben mit unseren Kindern haben wir verlernt. Und unsere eigene Unbeschwertheit auch ein bisschen – weil wir uns in unseren Sorgen mit kaum noch etwas anderem beschäftigen als mit unserem Nachwuchs. Angst ist das Fundament für den Thron, auf den wir unsere kleinen Prinzen und Prinzessinnen gesetzt haben.
Sabine, neununddreißig, stöhnt in der Babygymnastikgruppe, dass ihre Tochter Agnes sie so auf Trab hält, dass sie morgens nicht einmal mehr zum Duschen kommt. Agnes, wohlgemerkt, ist ein zwei Wochen alter Säugling. Den allerdings zehn Minuten unbeaufsichtigt, aber halt wach in seinem Bettchen rumoren zu lassen, würde Sabine nicht einfallen. Das Kind könnte sich die Zudecke wegstrampeln, eine sich im Zimmer verirrte Biene könnte es stechen, und womöglich erstickt es an der Milch, die es kurz vorher noch gesaugt hat. In zehn Minuten können in den Vorstellungen vieler Mütter Welten einstürzen.
Hannah schnallt ihren Dreikäsehoch Martin jeden Mittag nach dem Essen in den Kindersitz und fährt glatt zwanzig Minuten bis ins nächste Dorf und wieder zurück, »weil Martin sonst einfach nicht einschläft, und er braucht doch seinen Schlaf«.
Vor vielen Schulen stauen sich morgens und mittags ganze Autokolonnen, weil Mütter oder Väter aus Angst vor bösen fremden Menschen und verantwortungslosen Rasern ihren Kindern nicht zumuten wollen, die Viertelstunde zu Fuß dorthin und wieder zurück nach Hause zu laufen. Obwohl es nie weniger Sexualstraftaten in Deutschland gab, obwohl die Zahl der Kinder unter den Unfalltoten deutlich gesunken ist.
Nicht wenige der Kleinen haben noch nie das oberste Ende eines Klettergerüsts erklommen, weil wir sie stets bereits nach der fünften oder sechsten Sprosse herunterzerrten.
Deutschland – Sorgenfaltenland. Von einer Leichtigkeit des Seins ist nichts zu spüren, stattdessen ersticken ganze Familien fast unter der Decke ihrer Ängste. Wir haben immer weniger Kinder und immer weniger Mut, sie großzuziehen, wie wir selbst groß geworden sind – nebenbei halt. Als Teil einer Familie, nicht aber als ihr Dreh- und Angelpunkt.
Irgendwie schafft es unser Nachwuchs, unseren Tagesplan so grundlegend durcheinanderzuwirbeln, nur weil er nach seinem Belieben schlafen, essen, spielen will, und wir selbstverständlich alle Pläne, eigenen Wünsche, Erledigungen darauf abstellen, aus lauter Furcht, den Kleinen sonst nicht gerecht zu werden.
Irgendwann fingen wir an, ihren Lebensraum zu dem unseren zu erklären – in ihren Schulen ein- und auszugehen, uns bis zur Selbstaufgabe in ihren Kindergärten und Sportklubs zu engagieren und unsere Freundinnen danach auszusuchen, ob ihre Kinder mit unseren etwas anfangen konnten. Komplette Nachmittage verplemperte ich schon bei einer ständig nervös an ihrer Kochschürze nestelnden Nachbarsmutter, während unsere Kinder miteinander durch den Garten tollten. Wir redeten nur über das völlig verfehlte Konzept des nahe gelegenen Kindergartens, in den wir unsere Lieblinge natürlich nicht gesteckt hatten, und darüber, wie leicht die Kleinen in den Teich der städtischen Parkanlage fallen könnten. Wir waren sicherlich nicht auf den Kopf gefallen – wir hatten einfach keine anderen gemeinsamen Themen. Unsere Kinder hatten sie aber: Einträchtig bauten sie im Sandkasten an einer Ritterburg, mümmelten gemeinsam Apfelschnitze, versanken in ihrer Barbie- und-Ken-Welt.
Mit jeder Verabredung für einen dieser entsetzlich langweiligen Tage förderten wir die sozialen Fähigkeiten unserer Kinder, schufen wir ein Stück glückliche Kindheit, turnten wir nach, was wir in irgendwelchen Ratgebern über die wichtige Hilfe der Eltern beim Aufbau der Freundschaften ihrer Kinder gelesen hatten. Und wir hatten die kleinen Racker unter Kontrolle – es konnte nichts passieren. Der Glauben daran wärmte, gab ein gutes Gefühl. Eines, das den schalen Geschmack vertrödelter Stunden locker übertünchte.
Klar gab es Nachbarn, Bekannte, sogar Cousinen und andere Verwandte, die unsere Angst nicht sahen, nur unser angeblich lockeres Mütterleben. Klar, dass sie uns für neurotische Glucken hielten. Aber hatten sie Kinder? Eben nicht. Sie verstanden nicht, dass ein aufgeschrammtes Kinderknie sofort in Jod getunkt und am besten vom Spezialisten begutachtet werden musste. Dass man Kinder davor bewahren musste, auch nur zehn unbeaufsichtigte Minuten verbringen zu müssen. Sie wussten halt nichts von Müttern.
Das Kind, der Nabel unserer neuen Welt. Unser Lebensprojekt, vor dessen Gewaltigkeit wir insgeheim erzittern. Ein Kind, für das wir natürlich nur das Beste wollen. Und genau das macht uns ja so hilflos. Denn wie das Beste zu erreichen ist, darüber streiten sich die Geister. Selbst die Experten finden offenbar keine einheitlichen Antworten. Die Unsicherheit pappt uns Eltern wie angeklebt auf der Seele.
Auf jeden Fall wollen wir unseren Elternjob gut machen. Es soll uns keiner was vorwerfen können – am wenigsten unsere Kinder selbst, irgendwann später. Junge Eltern von heute, fand das Allensbacher Institut bei einer Umfrage im Frühjahr 2006 heraus, wissen genau, wie ihr Kind sein sollte. Der Katalog ihrer Wertigkeiten liest sich nicht eben bescheiden: Erziehung zu Höflichkeit und gutem Benehmen steht für 89 Prozent aller Eltern unter vierundvierzig Jahren an erster Stelle – fünfzehn Jahre zuvor waren es nur 68 Prozent. Es folgt mit 80 Prozent die Vermittlung des Anspruchs, bei der Arbeit ordentlich und gewissenhaft zu sein (1991: 67 Prozent), und bei 69 Prozent steht die Sparsamkeit unter den Top Ten der Erziehungsstile (1991: 44 Prozent). Wissensdurst zu haben und ständig den Horizont zu erweitern, wünschen sich 71 Prozent für ihre Kinder (1991: 55 Prozent). Sich durchzusetzen, ist damals wie heute bei 75 Prozent der Eltern ein Wert, den Kinder unbedingt lernen sollen. Nie war Erziehung zukunftsorientierter und stärker auf Wirkung nach außen und aufs Fortkommen und Bestehen des Nachwuchses in einer Leistungsgesellschaft gerichtet als heute.
Früher liefen Kinder nebenher – heute laufen Mutter und Vater ihnen hinterher. Beeilen sich, jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen, die Stolpersteine des Lebens wegzukicken, die Schotterpisten fein zu harken, auf dass sich kein zartes Kinderfüßchen auch nur einen Kratzer hole. Dafür haben wir die Kindheit verlagert – von der freien Wildbahn in den eingezäunten Schonbezirk. Dort lebt es sich sicherer und antiseptisch und hermetisch abgeriegelt. 78 Prozent aller Mütter und 66 Prozent aller Väter sind laut einer Forsa-Umfrage für die Zeitschrift Brigitte überzeugt davon, dass der Alltag heutzutage gefährlicher ist als noch vor einigen Jahrzehnten. Vor einem solchen Dasein muss man seinen Nachwuchs doch schützen, selbst wenn die Lebensfreude dabei auf der Strecke zu bleiben droht. Mutlos sind wir Eltern mit den Jahren geworden. Verzagte, wenn auch liebevolle Angsthasen. Der Radius, in dem Grundschulkinder sich heutzutage bewegen, ist seit den siebziger Jahren von zwanzig auf vier Kilometer geschrumpft.

Schwanger. Der Bauch wächst – die Angst auch

Als mein Gynäkologe mir in der sechsten Woche bestätigte, dass ich schwanger sei,habe ich vor Freude geweint.Jetzt habe ich prompt sämtliche Wehwehchen, die man da so haben kann – Übelkeit,Müdigkeit,alles.Mürbe macht mich aber etwas ganz anderes: Beim Stöbern im Internet und in Foren rund um die Schwangerschaft lese ich immer wieder Horrorgeschichten. Statistiken über Fehlgeburten, Gefahren von Infektionen, was das Kind alles an Krankheiten haben kann. Ich kann an fast nichts anderes mehr denken als daran, dass mir das Glück, bevor es richtig angefangen hat, wieder genommen werden könnte. Ich habe Angst vor allem, dass ich was Falsches esse, dass ich eine Pilzinfektion kriege.Verdammtes Internet. Ich bekomme das erste Mal Infos en masse, die ich eigentlich nie haben wollte. Ich stehe wie unter Hochspannung. Es juckt – eine Infektion? Es sticht am Muttermund – ist das normal? Wegen jedem Ziehen bin ich beunruhigt, könnte täglich zum Gyn rennen, dabei bin ich sonst kein hysterischer Typ. Da mache ich mir schon Sorgen, ob ich später wohl auch so eine Mutter sein werde? (Heidrun, zweiunddreißig Jahre, in einem Internetforum für Mütter)
Wir kriegen ein Kind, wie wunderbar, eine Nachricht aus purem Gold, jedes Wort ist glücksbeladen. Ein unschuldiger Zustand, eine Art von Paradies sozusagen. Aber eines, in dem die Schlange offenbar schon auf der Lauer lag. Denn so wie Adam und Eva sich nach der Vertreibung aus dem unbedarften Wohlgefühl plötzlich nackt und schutzlos fühlten, wird zukünftigen Vätern, werdenden Müttern zum Glückwunsch zur Schwangerschaft inzwischen gleich noch eine weitere Gabe verabreicht: die Angst. Herzklopfen, nicht nur aus Freude. Zum dicken Bauch da unten tragen wir weiter oben ein paar massive Sorgenfalten – mit einer Schwangerschaft ist schließlich nicht zu spaßen; die Frucht mag auf die Blase drücken, aber viel schwerer lastet die Verantwortung für ein weiteres Leben von nun an auf den Schultern.
Alles wird gut? Offenbar nur für Randgruppen: 80 Prozent sämtlicher zukünftigen Mütter werden von den Ärzten zu Risikopatientinnen erklärt – seit die Liste der Risikofaktoren bei Schwangerschaften in den letzten fünfzehn Jahren von siebzehn auf zweiundfünfzig aufgepumpt wurde, ist das Alter allein längst nicht mehr der kritische Punkt; inzwischen wird der Gynäkologe fast bei jeder zukünftigen Mutter fündig: Heuschnupfen, Übergewicht oder eine krumme Wirbelsäule können fürs Prädikat »Risiko« schon ausreichen. Bekannte Nebenwirkungen: klamme Gefühle, Unsicherheit. Die Sorge, was ist mit meinem Kind, ist zu einem Stammgast in den Frauenarztpraxen geworden. Sie hat sich eingenistet zwischen den Monitoren, Reagenzgläsern, Ultraschallgeräten. Hat die pure Freude aufs Kind in die Flucht geschlagen. Sechs bis sieben statt der drei vorgeschriebenen Ultraschall-Checks sind inzwischen an der Tagesordnung. Dann sind da noch die Untersuchung des Fruchtwassers (Amniozentese), um Chromosomenveränderungen festzustellen, zum gleichen Zweck die Gewebeentnahme aus dem späteren Mutterkuchen (Chorionzottenbiopsie), die Blutentnahme zum Voraussagen eventueller Behinderungen (Alpha-Feto-Protein-Bestimmung oder Triple-Test, Nabelschnurblut-Punktion), die Nackenfaltenuntersuchung, weil eine verdickte Falte auf Herz- und andere Fehler hinweisen könnte, sowie die Vermessung des Nasenbeins beim Fötus. Allein die Zahl der Chorionzottenbiopsien und der Fruchtwasseruntersuchungen sind von 1976 bis heute von 1800 auf 80 000 gestiegen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten verfünffachte sich die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft. Der Segen dieses Methodenreigens: Mehrlinge können entdeckt, Krankheiten schon im Mutterleib behandelt werden. Bisweilen ist es ein Fluch, weil er die Angst, das ständige Bangen um das, was sein könnte, schürt. Mit der Folge: werdende Mütter am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Dabei kommen 97 Prozent aller Kinder mit oder ohne Zitterpartie ihrer Mütter kerngesund zur Welt, ein Prozent sind durch genetische Defekte behindert, weitere zwei Prozent werden während der Schwangerschaft oder unter der Geburt geschädigt. Aber: Entdecke die Möglichkeiten, und das möglichst früh, und alles im Namen der Sicherheit. Doch hinter dem schönen Wort »Sicherheit« versteckt sich immer auch etwas anderes – nackte Angst. Selbst die des Arztes übrigens: Entgeht ihm ein eigentlich sichtbarer Defekt des Kindes, hat er womöglich versäumt, eine achtunddreißigjährige Schwangere über die Möglichkeit einer Fruchtwasseranalyse zu informieren, muss er im Zweifelsfall Unterhalt zahlen – wozu 1984 erstmals ein Arzt verurteilt wurde, nachdem seine vierunddreißigjährige Patientin, der er von der Fruchtwasseranalyse abgeraten hatte, ein Kind mit Downsyndrom zur Welt brachte.
Früher warteten werdende Mütter aufs Kind, heute erst einmal auf die Testergebnisse. Ängstlich, versteht sich – mag das Gefühl im Nachhinein auch Erleichterung sein. Unterdessen verblüffen immer mehr Schwangere ihre Gynäkologen mit medizinischem Detailwissen und insistierenden Fragen rund um die angeblich natürlichste Sache der Welt. »Was zur Beruhigung der Schwangeren auf den Markt kam«, sagt Annegret Braun, Leiterin der Stuttgarter Pränatalen Diagnostikberatungsstelle der Diakonie, »hat sich zu einem Geschäft mit der Angst entwickelt.« Die Anwendung der Tests habe fast »kulthaften Charakter« angenommen.
Geburtsvorbereitung im Zeichen der neuen Angst: Das Vertrauen ins Bauchgefühl schwindet – Kinderkriegen wird immer mehr zu einer kopfgesteuerten Angelegenheit. Unter Qualitätskontrolle durchläuft das Großprojekt Kind also seine Startphase. Über japanische Schwangere, die ihre Bäuche mit monoton dahingeplapperten englischen Vokabeln aus dem Kassettenrekorder beschallen, in der Hoffnung, ihren Babys damit für später einen Startvorteil beim Fremdsprachenlernen zu verschaffen, müssen wir hierzulande nicht mehr grinsen; seit Experten verkündeten, dass klassische Musik gut fürs Hirn ist, beschallen ganze Heere baldiger Mütter auch in Deutschland ihren ungeborenen Nachwuchs mit Beethoven-Sinfonien und Mozart-Sonaten. Sofern sie nicht gerade beim Schwangeren-Bauchtanz bei ausgebildeten Hebammen für die leichte Geburt trainieren, die dem Kind möglichst wenige Traumata beschert, und sich aus gleichem Grunde möglichst schon nach dem ersten Ultraschall in die Suche nach dem idealen Krankenhaus stürzen oder mit ihren Partnern im Schwangerschaftskurs korrektes Hecheln üben. Die Panik ist hochgradig ansteckend: »Ich habe hier zum Beispiel gerade einen Brief bekommen«, erzählt Franz Joseph Freisleder, Kinder- und Jugendpsychologe sowie ärztlicher Direktor der Heckscher-Kinderklinik in München in einem Gespräch mit der Zeitschrift Brigitte (7/2006): »Ein Siebenundvierzigjähriger schreibt, seine Frau sei im dritten Monat schwanger. Er hatte ein Interview mit mir zum Thema Depressionen bei Kindern gelesen und bittet nun um ein Beratungsgespräch. Damit er als Vater später alles richtig machen kann.«

Das Baby ist da. Das Projekt (m)eines Lebens beginnt

Dass irgendwann ein kerngesundes Baby vor einem liegt, können Eltern eigentlich kaum anders als mit ungläubigem Staunen quittieren. Das Geschenk, ohne Zweifel, ist großartig. Aber schon nagt die Frage, ob man damit auch umzugehen weiß. In den Generationen vor uns blieb weit weniger Zeit, das Wunder Kind ausgiebig zu bestaunen. Sein Zuhause aber zu einer Art Intensivstation mit Vierundzwanzig-Stunden-Beobachtung umzurüsten, wäre diesen wohl ohnehin lächerlich erschienen. Unsere Lieblinge heute nuckeln, schlummern und brüllen nicht anders als die Kinder vor dreißig, vierzig oder auch hundert Jahren – und wir schauen dauerverliebt zu. Und überlegen dabei, ob wir den Säugling noch montags zum Babyschwimmen anmelden sollten, wo doch dienstags schon Babymassage im Kalender steht und donnerstags die PEKiPgruppe. Das Prager-Eltern-Kind-Programm (PEKiP), das Eltern anregen soll, zum »Spielpartner ihres Kindes« zu werden und »eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Eltern und Kindern anzuregen« (gelingt das eigentlich nur noch unter Anleitung?), gehört schließlich zum Standardprogramm, ohne das heutzutage offenbar kein Kind ins Leben entlassen werden sollte. »Du gehst nicht in PEKiP?« Ich kenne die Frage. Ich musste sie mir anhören, mehrmals. Meine neuen Freundinnen aus der Schwangerengymnastik waren erschüttert. Und ich komplett verunsichert. Ich vernachlässigte meine Tochter, ganz klar. Der einzige Ausweg: sich mit dem Nachwuchs anmelden. Dalli, dalli.
Entdecke die Möglichkeiten: Wer die Wahl hat, ist vor allem mit der Qual der Verantwortung belastet. Es geht schließlich um das Kind. Ein Menschlein, das der Bearbeitung harrt. Formbar, steuerbar, machbar. Ein Projekt, das es zu meistern gilt. Von wegen Bereicherung: Jedes weitere Angebot im Kurskatalog wäre purer Stress. Da wird nicht etwa die Auswahl größer, sondern die verfluchte Sorge, seinem Kind mit der falschen Entscheidung womöglich irgendwelche frühkindlichen Erfahrungen vorzuenthalten. Vermutlich würden wir uns in schwachen Minuten sogar ernsthaft mit den Kursbeschreibungen von Baby-Yoga oder Säuglings-Tango beschäftigen – aus lauter Angst, unseren Kindern einen wichtigen Startvorteil beim Rennen um die besseren Plätze im Leben zu verwehren.
Da schütteln wir den Kopf über das Gejammer der Mütter von allzu markenhungrigen Teenagern – aber wie war das denn beim Aussuchen des Kinderwagens und anderer wichtiger Säuglingsaccessoires? Meiner hochschwangeren Nachbarin Monika, die beim Babyausstatter angesichts der hochpreisigen Gefährte nach etwas günstigeren Modellen schielte, gab die Verkäuferin deutlich zu verstehen, dass einem das Wohl des Kindes ruhig ein bisschen mehr wert sein sollte. Meine Freundin kaufte das Luxusmodell. Sie wollte schließlich nicht als schlechte Mutter gelten.
Erstklassige Materialien für erstklassige Kinder von erstklassigen Müttern. Keine Generation vor uns startet so perfekt vorbereitet ins Abenteuer Kind – daheim in den Regalen stapeln sich die Ratgeberbücher, die gesammelten Theorien der Elternschaft. Rund 750 Millionen Euro gaben die Deutschen 2004 für Erziehungsbücher und einschlägige Zeitschriften aus. Hunderte von Vätern und Müttern machen Erziehungsführerscheine, Tausende kommen zu Elterntreffs, die »Stadtteilmütter« oder »Dialogische Begleitung« heißen, Hunderttausende suchen Beratungsstellen auf und erbitten Hilfe bei anonymen Elterntelefonen, wunderte sich der Spiegel im Juli 2005. Tatsächlich sind in den zehn Jahren zwischen 1993 und 2003 die Zahl der Konsultationen in deutschen Erziehungsberatungsstellen von 200 000 auf 300 000 gestiegen. Die Menge der Gespräche am kostenlosen Elterntelefon des Bundesfamilienministeriums verdreifachte sich zwischen 2001 und 2003.
Die Eltern lassen sich überschwemmen mit einer Flut von Infos, die verarbeitet, gelernt, beachtet sein wollen – und den Druck in Wirklichkeit nur ins Unermessliche treiben. Und in schön abgegrenzte Kapitel lassen sich auch nur Worte fassen, nicht aber die Taten, Ereignisse und kleinen Katastrophen, die das Leben mit Kindern nun mal ausmachen. Im Kopf jedoch türmen sich die guten Vorsätze, alle nackte Theorie maßstabsgetreu in die Tat umsetzen zu wollen, dem Egoismus abzuschwören und von nun an die Welt in ein Kinderparadies zu verwandeln.
Eltern heute stürzen sich mit einer Wucht in ihre neuen Aufgaben, die selbst Kinderprofis umhaut. Vor allem Mütter, die selbst nicht mehr ganz jung sind. »Die eigenen Interessen und Vorlieben rücken dabei in den Hintergrund«, bemerkt der amerikanische Soziologe Frank Furedi in seinem Buch Die Elternparanoia. Mütter und Väter horchen nicht mehr in sich selbst hinein, so Furedi, fragen sich nicht mehr, was sie eigentlich wirklich wollen, fühlen, hoffen.
 
Hannes und Alice sind seit der Geburt ihrer Tochter Marlies vor sieben Jahren an keinem Abend mehr zusammen ausgegangen, weil das mittlerweile zum Schulkind avancierte Töchterlein nicht ohne Mamas Hand einschlafen mag. Leider duldet Marlies ebensowenig einen Babysitter. Und Hannes und Alice eigentlich auch nicht, unter seiner Aufsicht würde das Kind womöglich statt des Kinderkanals abends einen Krimi im Fernsehen zu sehen kriegen, und mit dem Essen ist Marlies schließlich auch sehr eigen – was, wenn sie an jenem Abend ohne eine warme Mahlzeit zu Bett ginge? Mit dem Erfolg, dass Alice sich abends stets brav zu ihrer Tochter legt – und darüber meist selbst einschläft.
Susanne nahm ihre kleine Tochter bis zum Alter von einem Jahr nie mit in den Supermarkt, geschweige denn in ein Kaufhaus, weil sie in einem Buch gelesen hatte, dass Babys durch laute, ihnen unbekannte Geräusche und Stimmendurcheinander Schäden davontragen können.
Beate trug ihr Kind stundenlang des Nachts durch die Wohnung, weil der Kleine offenbar ein Problem hatte, Tag und Nacht zu unterscheiden – einem Umstand, dem die Spaziergänge nicht gerade abhalfen. »Wenn er nicht schrie, wollte er wenigstens spielen«, sagt Beate. Und ergab sich nachts um vier Uhr, Bauklötze stapelnd, in ihr vermeintliches Schicksal, um das offensichtliche Bedürfnis des Kindes nach Beschäftigung zu stillen. »Das Kind ist eben noch nicht auf den Tag- und Nachtrhythmus umgestellt«, so Beates Überzeugung. »Das muss man langsam angehen, sonst werden daraus ganz nervöse Kinder.«
Eltern heute berichten häufig, dass ihre Kinder herzzerreißend schreien, sobald sie sich nur kurz aus ihrer Nähe entfernen, dass sie keine fremden Betreuungspersonen dulden und sogar bei der geliebten Oma weinen, wenn nicht auch Mama oder Papa greifbar ist. Und sie sind stolz darauf, die Eltern. Bei ihnen wird kein Kind in fremde Hände abgeschoben. Kinder brauchen ihre Eltern, das kann man schließlich überall lesen. Sätze, die aber kaum für jene Väter und Mütter formuliert worden sind, die sich ohnehin den lieben langen Tag um ihre Kinder kümmern.
Tatsächlich führt die Angst vor allen möglichen Gefahren und davor, der Kinderseele versehentlich einen Kratzer zuzufügen, zur Furcht vor der Erziehung allgemein. Ein Kind halbwegs unbeschadet durchs Leben zu bringen, erscheint vielen Eltern als monströses Unterfangen, dessen Gelingen fraglich ist. Ihre Köpfe sind weniger voller Gedanken an Chancen und Glücksmomente als an die drohende Unbill, die lauernden Absturzmöglichkeiten. Deswegen rüsten sie sich mit Netzen und doppelten Böden – und halten ihre Kinder letztlich darin gefangen. Gleichzeitig sind sie enorm unsicher: Wie viele Nein, wie viele Grenze kann ein Kind ertragen, wenn man nicht seinen Willen brechen und es charakterlich verbiegen will? Eine Frage, die Andreas, ein Freund von mir, für sich und seine Tochter eindeutig beantwortet hat: »Lena soll immer ihre eigene Meinung vertreten können, und wenn ich etwas verbiete, und sie akzeptiert das nicht, diskutieren wir darüber.« Lena war dreieinhalb und im Kindersitz des Autos ihres Vaters festgeschnallt, als die beiden auf dem Weg in die Stadt an der Haltestelle vorbeikamen, an der ich auf den Bus wartete. Andreas hielt, ließ mich einsteigen und fragte nach hinten: »Wollen wir die Tante mitfahren lassen?« Lena sagte grinsend: »Nein.« Gut, dachte ich insgeheim, da muss ihr Vater jetzt wohl dem Kind erklären, dass das Auto leider seins ist und er entscheiden kann, wann er wen darin mitnimmt. Tat er aber nicht; Andreas versuchte Lena umzustimmen, bis er fast bettelte, dass ich mitfahren durfte. Er diskutierte tatsächlich mit einer Dreijährigen, aus Angst, dem Kind eine klare Ansage entgegenzusetzen.
Wir lassen unsere Kinder regieren. In unseren Köpfen, in unserem Alltag. »Das Kind wird das Accessoire der achtziger Jahre«, prophezeite die Moderedakteurin Antonia Hilke 1979 in ihrer NDR-Fashion-Fernsehsendung Neues vom Kleidermarkt, als Models mit Babys auf dem Arm über den Laufsteg flanierten – ein paar Jahrzehnte später ist um Kinder längst ein Kult gewachsen, wie es ihn noch nie gab.
Behütete Kinder kennen keine Laufställe und keine Auszeiten, in denen sie einfach mal sich selbst überlassen werden. Die Schutzwälle, hinter denen sich frühere Generationen selbstverständlich eine Ruhepause gönnten, hat unsereins gar nicht erst aufgebaut. Wir sind Workaholics auf dem Gebiet Kind – und gefallen uns in der Rolle. Und schläft das Goldstück ruhig und selig, starren wir aufs Babyfon wie die gepeinigte Angestellte aufs Telefon, da der Chef jeden Augenblick anrufen könnte. Oder wir ergreifen Vorsorgemaßnahmen gegen das Böse, das immer und überall lauert. Wie ein ehemaliger Nachbar von mir: Rüdiger radierte nahezu die komplette Rasenfläche hinter seinem Reihenhaus aus, um dort einen Pool bauen zu lassen. Seine sechsjährige Lena wäre eigentlich lieber mit Freundinnen ins Freibad gegangen, aber »diese öffentlichen Bäder sind ja richtige Keimschleudern – was Kinder sich da alles holen können!«, war Rüdigers Kommentar. Baggerseen? Niemals. Wo Entengrütze schwimmt und manchmal womöglich auch ein toter Fisch.
Mütter – seien wir mal ehrlich: es sind fast nur die Mütter – erklären die Welt gern zu einer einzigen Gefahrenzone. Auch aus nackter Angst vor dem Versagen. Dem Kind nicht gerecht zu werden, die große Aufgabe zu vermasseln, als Rabenmutter von der Stange zu fallen. Während der Schwangerschaft was Falsches gegessen, nicht richtig geatmet, später nicht lange genug gestillt oder mit dem kleinen blauen Fleck am Arm des Kleinen nicht gleich zum Arzt gerannt? Das musste ja falsch laufen. Das Urteil über Gut oder Böse fällt dabei mitnichten das Kind; das tun andere. Andere Mütter zum Beispiel.

Applaus für Netz und doppelten Boden

Sie lauern schon. Füllen Backförmchen voll Sand, schubsen den Fünfjährigen auf der Schaukel an, was er durchaus selbst gelernt hätte, wenn Mutter ihn endlich mal ließe, sitzen keksverkrümelt herum und warten, dass der Kleine Hunger bekommt. Mutter nährt, tröstet – und, viel besser, schimpft mit dem Rotzlöffel, der dem eigenen Sprössling mit der Schaufel eins überziehen wollte; Mutter kittet Sandburgen, weil der Frust eines Kompletteinsturzes für ihre Kleine vermutlich traumatische Folgen gehabt hätte; Mutter hält ihr Söhnchen an der Jacke fest und stützt den Popo, während er das Gerüst hochkrabbelt – wodurch es sich zwar nicht so gut klettern lässt, aber wenigstens sicher. Nirgends ist Mutter so sehr Netz und doppelter Boden wie auf dem Spielplatz. Und nirgends fällt es mehr auf, wenn eine Mutter aus ihrer Rolle fällt.
Ich hatte meine Arbeitsmaterialien, sprich: Kinderausrüstung, selten vollständig, wenn ich mit Svea und Fabian gen Sandkiste spazierte. Ich war die ohne Papiertaschentücher, ohne Mütze, obwohl entweder die Sonne knallte oder ein scharfer Wind pfiff, also die Außenbedingungen mit Sicherheit so waren, dass ein Baby ohne Kopfbedeckung niemals hätte überleben können. Ich rannte auch nicht immer wie ein Sanitäter zum Herzstillstandpatienten, wenn Fabian sich beim Laufen auf die Nase legte. Ehrlich gesagt, ich kriegte es manchmal gar nicht mit. Ich war die, die man mit Tempos, Hütchen und überlegenen Blicken bedachte.
Und der man ab und an ihren heulenden Kleinen in die Arme drückte, weil ich gar nicht mitbekommen hatte, dass dieser gestolpert war. Einmal fiel Fabian die Flasche auf den Boden, er hob sie auf, wollte weiternuckeln, aber fremde Hände schnappten sie ihm weg und reichten sie mir. »Die lag im Schmutz«, verkündete mir der flaschenrettende Engel stolz, als hätte er das Kind davor bewahrt, sich Kloreiniger einzuverleiben. »Macht nichts, davon stirbt er nicht«, hätte ich antworten können. Tat ich aber nicht. Ich eilte zum Wasserhahn und unterzog das Fläschchen einer gründlichen Waschung. Nicht aus Überzeugung, sondern aus dem Gefühl heraus, wieder mal nicht genügend Mütterlichkeit an den Tag gelegt zu haben. Skeptische Blicke erntete ich trotzdem. »Ich koche ja die Sauger immer aus«, raunte noch eine der anderen zu.
Der Mütterpolizei entgeht halt nichts. Das Kind ist noch nicht gegen Zecken geimpft, wo es die neuerdings doch sogar auf entlegenen Nordseeinseln geben soll? Nach drei Monaten schon von der Brust aufs Fläschchen umgestellt, wo man doch weiß, dass nur Muttermilch stark fürs Leben macht? Eine von der Zeitschrift Familie & Co herausgegebene psychologische Studie über die Mütter von heute bestätigt: »Treten die Frauen in der Öffentlichkeit gemeinsam mit ihrem Kind auf, so hat dies einen bestimmenden Einfluss auf ihre Selbstwahrnehmung als Frau zur Folge. Denn weil Müttern ihr großer Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder bewusst ist, übernehmen diese eine Art Visitenkarten-Funktion: Eine Mutter präsentiert sich mit ihrer ureigensten Schöpfung, lässt sich daran messen und misst daran auch andere. Mütter definieren sich damit über ihre Kinder. Das ist einerseits mit sehr viel Stolz verbunden, solange die positiven Eigenschaften eines Kindes offensichtlich werden, führt aber auch zu Neid, Missgunst und sogar zu Wut und Tränen, wenn die eigenen Erwartungen nicht erfüllt werden oder bei anderen Kindern scheinbar besser erfüllt scheinen.
Prototypisch für Außenkontakte werden in den Interviews immer wieder die Spielplatzrunden genannt, an denen sich eine besondere Dramatik des Mutterseins abspielt. Der Spielplatz mutiert oft zum Laufsteg für Mütter, auf dem sich Frauen als Mütter einerseits profilieren können, andererseits aber auch zum Spießrutenlauf, wenn Blamagen dadurch drohen, dass die Erziehungsbemühungen durch die Sprösslinge nicht umgesetzt werden.«
Mütter richten – und sie rächen. Im Namen der Liebe und ihrer Sorge um das Glück ihres Kindes. Einmal habe ich tatsächlich eine Mittdreißigerin in der Sandkiste dabei ertappt, wie sie einem verblüfften Kleinkind seinen schönen, knallroten Eimer wegnahm, weil ihr Sohn danach lautstark brüllte. Nur damit die Tränen versiegen. Damit das Glück wiederkommt. Das letztlich nur ein schaler Triumph ist. Wir haben uns längst angewöhnt, Tränen nicht nur mit tröstenden Worten, sondern mit Hardware zu trocknen. Etwa dann, wenn wir beim zartesten Gemecker unserer Kleinen Fläschchen und Gummibärchen hervorzaubern, ängstlich bemüht, das Bedürfnis zu stillen, bevor heftiges Geschrei den Verpflegungsnachschub einfordert. Kinderwagen auf dem Spielplatz – eine Art Essen auf Rädern. Beladen wie nach dem Einkauf.
»Früher waren Stücke wie Urmel aus dem Eis oder Ritter Rost