Es gibt keine Wiederkehr - John Mair - E-Book

Es gibt keine Wiederkehr E-Book

John Mair

0,0

Beschreibung

Im Affekt und halb aus Versehen tötet der britische Boulevardjournalist Desmond Thane seine Geliebte – ohne freilich zu ahnen, dass sie für eine internationale Geheimorganisation tätig war. Deren Agenten und Profikiller sehen ihre politische Verschwörung in Gefahr. Also müssen sie Thane aus dem Weg schaffen, um jeden Preis und auf ihre Weise …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 378

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


John Mair

Es gibt keine Wiederkehr

Ein Klassiker des Polit-Thrillers

Herausgegeben vonMartin Compart

Übersetzung ins Deutsche von Jakob Vandenberg

INHALT

Es gibt keine Wiederkehr

Der vergessene Klassiker

Nachwort von Martin Compart

Var. Und was sagen diese Magier oder Weisen über jene wilden Geister, welche in den Einöden hausen?Luc. Von ihnen schweigen sie; nur dieses eine sagen sie: Dass jene, die sie aufsuchen, sei es durch Zufall oder aus freien Stücken, niemals wiederkehren.

Nicholas Ryam: A Brief Discourse upon the History, Polity and Religion of the Golden Tartars, London 1697

ERSTES KAPITEL

A. phalloides, allgemein bekannt als «weiße» oder tödliche Amanita bzw. als Grüner Knollenblätterpilz, und die verwandte Art Amanita verna (der «Todesengel» von Bulliard – ach, der poetische alte Bulliard!) sind verantwortlich für die allermeisten tödlich verlaufenden Pilzvergiftungen. A. phalloides ist strahlend weiß, wenn man von der Haube absieht, die ins Bernsteinfarbene spielen kann. Seinen Namen verdankt der Pilz der Ähnlichkeit mit einem Phallus, allerdings ist die Analogie bei weitem nicht so evident wie im Fall des Phallus inpudicus (sic!). Die Giftigkeit ist jedenfalls hoch ausgeprägt, und schon kleine Portionen können den Tod herbeiführen (gut!).

Symptome: Ein Prodromalstadium von sechs bis zwölf Stunden ohne manifeste Symptomatik weicht einer Phase heftigster Schmerzen im Unterleib, begleitet von Erbrechen und Durchfall, wobei das Erbrochene Blut und Schleim enthält. Auf Phasen abklingender Beschwerden folgen krampfartige Schmerzattacken mit erneutem Erbrechen; im Französischen heißt der charakteristische Ausdruck «la face voltueuse» (klingt wie eine der Beschreibungen von Bulliard). Ein Nachlassen der Kräfte, Erschöpfung, Zyanose, Gelbsucht und eine Kälte der Haut (hat sie ohnehin schon) stellen sich rasch ein, und im Zustand der Bewusstlosigkeit folgt der Tod binnen weniger Tage (zu langsam). Die Heilungschancen sind schlecht (gut), die Sterblichkeit liegt bei sechzig bis hundert Prozent (hervorragend).

Opiumvergiftung: Im postmortalen Zustand gibt es keine charakteristischen Hinweise, abgesehen vom Opiumgeruch des Mageninhalts. Häufig kommt es zu einem Blutandrang in der Lunge (noch nachschlagen!) und zu extremer Blässe der Haut. Der Magen befindet sich in der Regel in gutem Zustand. Opium selbst lässt sich nicht nachweisen, nur der Geruch und einige physikalische Eigenschaften, die leicht zu verbergen sind (gut). Toxizität: Fünf Samenkapseln sind für die meisten Menschen tödlich. (Klingt sehr vielversprechend. Weiter prüfen.)

Obwohl er sich an einem Ecktisch des Lesesaals akribisch Notizen machte, wusste er nur zu genau, dass er Anna Raven niemals töten würde. Nicht, dass ihn sein Gewissen beschwert hätte (es sei denn, seine moralische Haltung hätte sich ins Gewand der Trägheit gehüllt). Es fehlte ihm einfach an Entschlossenheit zu einem Werk, das einen wirklich hohen Aufwand an Planung, Vorbereitung und Sorgfalt in der Durchführung erforderte, zumal er nicht die Nerven besaß, die Angst vor allmählicher Entdeckung und übler Strafe zu ertragen. Sein Entschluss, Anna zu töten, entsprang seiner Schwäche, er war ein letzter Versuch, einem öden und endlosen Unglück zu entfliehen.

Deprimiert begriff er, dass all seine sorgfältigen Nachforschungen auf dem Gebiet der kriminalistischen Chemie ebenso töricht und selbstvergessen ausfielen wie die Exzerpte der übrigen Besucher. Eigentlich war er ein Bruder im Geiste jenes alten Knaben am Tisch E 17, dessen wirr wuchernder grauer Bart für alle Ewigkeit über ein riesiges Faksimile des Codex Vaticanus kratzte, welchen er dem Vernehmen nach in ein umgangssprachliches Aramäisch übersetzte – als Vorstufe zu einer sorgsamen Übertragung ins historische Hochhebräisch. Das Los dieses Alten war umso beklagenswerter, als er der Cousin jener fülligen kleinen Dame am Tisch K 11 war, die eine zweifellos fingierte wissenschaftliche Arbeit vorschob, um sich ohne Unterlass in leicht anstößige französische Romane des 18. Jahrhunderts zu vertiefen. In ferner Zukunft wäre er vermutlich selbst vollkommen verrückt, und Besuchern gegenüber würde man mit respektvollem Spott auf einen alten Mann weisen und ihnen zuflüstern, er plane den Giftmord an einer Frau, die bereits vor fünfzehn Jahren an Altersschwäche gestorben sei.

Viertel nach zwei. International Features verlangte nach ihm. «Aber selbstverständlich», so hatte es Mr. Poole oft genug ausgedrückt, wobei er seinen Kopf zur Seite legte und sich wie ein großherziger, schüchterner Trotzki über den kleinen Bart strich, «selbstverständlich erwarte ich von meinen Redakteuren nicht die gleiche strikte Pünktlichkeit, die unser Unternehmen bei den jungen Mitarbeitern voraussetzt, und ich weiß ja auch, wie sehr Ihnen, Thane, Ihre, nun ja, demokratischen Freiheiten am Herzen liegen, hehe!» (Er kicherte immer bei diesen dezenten Abschweifungen, die er für kultivierten Humor hielt.) «Aber Sie wissen ja Bescheid, unsere Direktoren machen die Regeln, nicht ich, und sollten sie uns dabei ertappen, wie wir, hm, uns verspäten, möchten sie vielleicht unsere – hehe – Angelegenheiten und Affären näher begutachten!»

Nein, heute wäre er der eisernen Faust des Mr. Poole in ihrem rüschenbesetzten Handschuh durchaus gewachsen; und während er die Bahnhofshalle durcheilte, die Treppe hinab Richtung New Oxford Street, ordnete er im Kopf bereits sein Arbeitspensum für den Nachmittag. Unterschwellig jedoch kreisten seine Gedanken unablässig und zwanghaft von einem Punkt seines Dilemmas zum nächsten: Wie könnte er bloß über Anna Raven hinwegkommen, sie besitzen und wieder loswerden?

Er war sich später niemals wirklich sicher, ob sein anfängliches Interesse an ihr sich tatsächlich rein zufällig ergeben hatte. Das Café Royal war gut besucht, aber auch nicht so voll, dass der leere Platz an ihrem Tisch der einzige freie Stuhl gewesen wäre. Und ihr Äußeres war keineswegs von herausragender Attraktivität. Eine dunkelhaarige, kräftige Frau Anfang dreißig; besonders ins Auge fielen ihre schlanken Finger und ihr schnelles Mundwerk – Eindruck machte sie erst ganz allmählich und nicht auf den ersten Blick. Je länger Desmond sie kannte, desto weniger hätte er ihre körperlichen Eigenschaften beschreiben können. Wenn er später über seinen allerersten Eindruck nachdachte, war es eine freudige Überraschung, dass eine Dame, die allein an einem Tisch saß, einen wirklich guten Burgunder trank.

Nachdem er den Raum zweimal umkreist hatte, blieb er vor ihrem Tisch stehen.

«Dürfte ich mich setzen? Oder erwarten Sie eine Freundin?»

«Ich erwarte niemanden. Ich habe keine Freunde.»

Erst jetzt nahm er sie zum ersten Mal wahr.

Es war die Zeit zu Beginn des Krieges, als man Fremde noch ansprechen konnte, ohne mit Argwohn betrachtet oder als Trunkenbold abgetan zu werden. Desmond jedenfalls imponierte die direkte Art dieser Frau, die sich später als Anna Raven vorstellte, und so begann er ein Gespräch. Sie behauptete, aus dem Süden Englands zu stammen; und obwohl ihr Englisch nach jener unnatürlichen Übergenauigkeit des gebildeten Ausländers klang, hätte er – außer auf diesem intuitiven Weg – keine Einwände gegen ihre englische Herkunft vorbringen können. Jedenfalls wusste sie sich auszudrücken, und sie war ohne Frage ungewöhnlich intelligent. Dabei fehlte es ihr aber offenbar an speziellen Interessen und Neigungen, oder sie wusste diese gut zu verbergen; jedenfalls vermittelte sie den Eindruck einer selbstbewussten Person von unbegrenzter Kompetenz auf ihrem speziellen Arbeitsgebiet. Sie war stark. Sie war ungewöhnlich. Sie zog ihn an.

Desmond selbst wusste ziemlich genau, dass er eine außerordentlich gute Figur machte. Seine Eloquenz ließ ihn klüger erscheinen, als er tatsächlich war, er konnte sich rasch auf jeden Zuhörer einstellen, und er beherrschte die schwere Kunst, zu schmeicheln und gleichzeitig distanziert zu wirken. Seiner Eitelkeit zum Trotz war er klüger, als die meisten Leute glaubten (wenn auch weniger klug, als er selbst annahm), und als er sich an diesem Abend in Positur setzte, um nach Bekannten Ausschau zu halten, in Wirklichkeit aber, um sein eindrucksvolles römisches Profil zu präsentieren, wusste er nicht nur ganz genau, was er da tat, sondern es war ihm dabei auch vollkommen klar, dass Anna sein Manöver ebenfalls durchschaute und sein Gehabe als Kompliment auffassen würde. Tatsächlich beherrschte Desmond in der Regel die Technik derartiger Zufallsbegegnungen. Die Kontrolle verlor er nur dann, wenn seine Gefühle das Ruder übernahmen.

Eine ganze Stunde lang plauderten sie beiläufig und unpersönlich. Schließlich blickte sie ihm direkt in die Augen und sagte:

«Es ist spät. Ich muss gehen.»

«Darf ich Sie vielleicht nach Hause begleiten?»

Sie schwieg einen Augenblick. «Ja», erwiderte sie dann ganz langsam in ihrem pedantischen Englisch, «ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden.»

Desmond verspürte plötzlich das Flackern eines Zweifels: nicht das flüchtige Gefühl von Langeweile und ermüdenden Selbstzweifeln, die er schon so oft in vergleichbaren Situationen erlebt hatte, sondern eine blitzartige Vorahnung künftiger Komplikationen, so wie ein Kopfschmerz dem nahenden Gewitter vorauseilt. Er schob seinen Stuhl geräuschvoll zurück und half ihr in den Mantel.

Im Taxi schwiegen beide. Sie rückte nicht nahe an ihn heran, lehnte sich aber auch nicht zur Seite, sondern saß ganz einfach und ungezwungen neben ihm. Ihre Hand ruhte auf dem Sitz zwischen ihnen, und nach einer Weile legte er die seine darauf und streichelte ihre Finger. Sie blieb vollkommen desinteressiert und unbeteiligt, sodass Desmond, der diese Haltung passiven Widerstands gelegentlich selbst angewandt hatte, aber von Frauen nicht gewohnt war, sich zunächst ein wenig ärgerte und schließlich wirklich ratlos schien. Anna war nicht kalt, sondern ruhig; nicht distanziert, sondern eher gedankenverloren. Ihm war, als habe er Buddha anstößige Avancen gemacht. Er räusperte sich und sagte:

«Ich glaube, der Taxameter beweist als einzige Uhr tatsächlich, dass Zeit Geld ist. Wenn Big Ben nach dem gleichen Prinzip funktionierte und den Staatshaushalt in Tausenderschritten zählte, würde sich die Wählerschaft vermutlich viel mehr für die Politik der Regierung interessieren.»

Sie schwieg weiter, und er fühlte sich so unbeholfen und lächerlich wie schon seit vielen Jahren nicht mehr.

Sie hielten an einem Platz in Bloomsbury vor einem großen Haus, dessen Inneres man in kleine Apartments unterteilt hatte. Der Wein, den Desmond getrunken hatte, war inzwischen vollständig verflogen, und während er nach Geld suchte, um den Fahrer zu bezahlen, hatte er das Interesse an diesem vermeintlich vielversprechenden Abenteuer bereits verloren, und er war entschlossen, sich auf der Außentreppe zu verabschieden. Doch als er sich umwandte, hatte Anna bereits die Haustür geöffnet und wartete im matten blauen Licht der Vorhalle auf ihn. So verzog er nur das Gesicht und folgte ihr nach oben.

Ihr Apartment war klein und nach konventionellem Geschmack komfortabel ausgestattet. In dieser Art hätte man das Mobiliar auch gut telefonisch bei irgendeinem teuren Laden in Auftrag geben können: Die Möbel wirkten ansehnlich, deuteten aber in keiner Weise auf persönliche Vorlieben hin. Diese Ausstattung verhielt sich zu wirklich gutem Geschmack wie das Menü eines großen Hotels zu einem wirklich guten Essen: Alles schien einfach und ordentlich für eine gut situierte Person arrangiert zu sein, die für Häuslichkeit absolut nichts übrig hatte. Das einzige markante Objekt im Raum war ein großer schwarzer Schreibtisch am Fenster, der auf merkwürdige Weise vom femininen Regency-Stil aller übrigen Stücke abstach. Der Tisch störte auf irritierende Weise, wie eine Bühnenrequisite, die sich ins falsche Stück verirrt, oder wie ein Zimmermannshammer, den jemand in einem fertig dekorierten Schaufenster vergessen hat.

Anna wandte sich nach ihm um. «Möchten Sie einen Brandy?»

«Danke, sehr gern.»

Sie reichte ihm ein Glas und ließ sich auf dem Sofa am Kamin nieder, wo sie sich eine Zigarette anzündete.

«Nehmen Sie selbst keinen?»

«Nein, hier trinke ich nie. Ich habe ihn nur für meine Gäste.»

Die Antwort verwirrte ihn, doch ihr Ton verwehrte weitere Fragen. Nach kurzem Zögern nahm er neben ihr Platz, legte seinen Arm um ihre Schultern und küsste sie auf den Mund. Ihre Lippen waren so kalt, dass die Wärme ihrer Zunge beinahe etwas Obszönes hatte; und als sie sich zurücklehnte, wobei sie ihn weder von sich stieß noch seine Küsse erwiderte, schien sie wie unter Drogen oder schlafend. Er ließ seine Hand den Rücken ihres Kleides hinabgleiten, dann berührte er ihre kleinen Brüste. Ihre Brustwarzen wurden unter seinen Fingern fester, sie selbst bewegte sich aber nicht, und ihr Atem blieb unverändert. Als er ihre Lippen wieder freigab, nahm sie erneut einen Zug aus ihrer Zigarette.

Er fühlte sich wie der ratlose Fachmann, der sich vorsichtig an eine ganz neue Art von Bombe herantastet und nach der Zündkapsel sucht. Ein Blindgänger womöglich, dachte er und unterdrückte ein Kichern. Sein Arm lag unbequem und verkrampfte sich, aber da Anna ihre Haltung ein wenig geändert hatte, konnte er die Hand nicht zurückziehen, ohne sie dabei nach vorn zu stoßen. Zum zweiten Mal an diesem Abend fühlte er sich unwohl, und so etwas mochte er nicht. Keiner von ihnen sagte ein Wort, und schließlich erhob er sich rasch.

«Wo habe ich eigentlich mein Glas abgestellt?»

Auf dem Weg zum Kaminsims blickte er in den Spiegel und sah, wie Anna ihn mit einem neugierigen Lächeln betrachtete, doch als er mit dem Glas in der Hand umkehrte, hatte sie sich wieder zurückgelehnt und ihren abwesenden Gesichtsausdruck angenommen.

Ein Spiel also, oder etwa nicht? Oder eine Gefühlsperversion, eine höhere Form von Masochismus – Vergnügen durch Passivität zu verhindern? Sogleich spürte er, überrascht, eine Welle der Zuneigung: Er hatte sein Selbstvertrauen wiedergefunden. Aber nun war sie am Zug: Wollte sie spielen, musste sie jetzt einen Zug anbieten. Er blieb vor ihr stehen, schaute auf sie herab und schwieg entschlossen.

Sie erhob sich.

«Ich bin müde und muss ins Bett», sagte sie und zog einen Vorhang zurück, der zunächst nur eine Bettnische abzutrennen schien, doch dann betrat sie ein großes Schlafzimmer.

Erneut war Desmond verunsichert, zögernd bewegte er sich auf die Tür zu.

«Ja, es ist ziemlich spät. Ich bin selbst sehr müde, ich muss morgen früh zur Arbeit.»

Sie antwortete nicht, kehrte ihm aber den Rücken zu und streifte ihr Kleid ab. Sofort kehrte Desmond um und fasste sie bei den Schultern. Kaum hatte er sie berührt, wandte sie ihm das Gesicht zu, sie schlang einen Arm um seinen Hals und zog seinen Mund zu sich herab. Mit der freien Hand fingerte sie an seinen Hemdknöpfen.

«Zündkapsel», sagte er.

Beide lachten.

Während der ersten Monate verlief ihre Beziehung so zufriedenstellend, wie ein abgeklärter Genussmensch sie sich nur wünschen konnte. Sie teilten gemeinsame Vorlieben, sie erhoben keinerlei Ansprüche auf den anderen, und als Geliebte erwies Anna sich als einfühlsam und raffiniert und von einer stets anziehenden Sinnlichkeit, die ohne Leidenschaft auskam. Desmond jedoch, trotz aller intellektuellen Wertschätzung einer solchen Affäre, wurde dieser vollendeten und doch kalten Erotik rasch überdrüssig; ihm fehlten jene Gefühle, die er nach außen hin verabscheute. So wuchs in ihm, wonach er sich sehnte: Während die Lust dahinging, keimte die Zuneigung, und er verliebte sich in eine Frau, deren körperliche Reize er nicht mehr empfand. Nun interessierte er sich für Annas Leben und ihre persönlichen Dinge; was er dabei erfuhr, missfiel ihm zwar, doch das änderte nichts an seinem Verlangen, sie voll und ganz zu besitzen. Man hört gelegentlich von jenem Typus von Mann, der alles zerstört, was er liebt – doch gibt es auch jene, die zwanghafte Liebe empfinden, wo sie mit voller Absicht zerstören.

Anna blieb stets reserviert, und ihre Offenheit war oberflächlich; nur in sehr seltenen und verwirrenden Momenten zeigte sie ihre Empfindungen.

Eines Abends, es war kurz nach ihrem ersten Zusammentreffen, bemerkte sie seine ungewöhnlich kräftigen, dunkel behaarten Handgelenke und Unterarme. Ihm schmeichelte ihr Interesse an dem einzig bemerkenswerten Teil seiner physischen Ausstattung, und so prahlte Desmond und rühmte sich der Kraft seiner Arme: er könne sein gesamtes Gewicht an einer einzigen Hand hinaufziehen und sogar einen Stapel Spielkarten zerreißen. Dazu aufgefordert, hatte er einer Vorführung zugestimmt, und ohne sonderliche Mühe verbog er einen beachtlichen Schürhaken.

Anna schien diese sinnlose Demonstration fasziniert zu haben, sie umfasste seine Hände und zog sie gegen ihre Brust. «Ich bewundere Kraft», sagte sie und küsste seine Handgelenke.

Er reagierte seltsam gereizt und entzog ihr seine Hände.

Sie lachte. «Amer Liebling! Soll ich dich lieber auf den Kopf küssen?»

«Warum denn nicht?»

«Das Leben gehört den Starken.»

«Sentimentaler Unfug! Es gehört den intellektuell und psychisch Starken, wenn du so willst – jedenfalls nicht muskulösen Tölpeln.»

Sie legte ihm die Hand auf die Lippen und zog den halb Widerstrebenden an sich. Seit sie miteinander schliefen, hatte er sie noch nie so leidenschaftlich erlebt.

Aus Gründen, die er nicht durchschaute, blieb diese kleine Begebenheit wie ein störender Fleck in seinem Gedächtnis haften. Und noch etwas brachte ihn aus der Fassung. Sie hatten auf ihre übliche und wenig konkrete Weise über den Tod gesprochen, als Anna sagte:

«Ich habe noch niemals einen Toten aus der Nähe gesehen, obwohl ich das schon immer gern wollte.»

«Wenn ich jetzt ein mittelalterlicher Ritter wäre, würde ich einfach den nächsten Passanten anhalten und dir einen zum Geschenk machen. Aber wie die Dinge heutzutage liegen, werden bald überall in Europa Leichenberge herumliegen, du brauchst dir also keine Sorgen zu machen – warte einfach ab, bis die Luftangriffe beginnen.»

«Aber ich meine es ernst. Ich möchte wirklich gern einen Toten sehen.»

«Nun, nichts leichter als das. Schau dir einfach die Anschlagtafeln vor den Polizeiwachen an, bis irgendwo ein unbekannter Leichenfund gemeldet wird. Dann gehst du hin und erklärst, die Beschreibung passe auf deinen verschollenen Onkel Ben, und bitte sie, dir den Leichnam zu zeigen. Wahrscheinlich gibt es ein paar Formalitäten, aber allzu kompliziert dürfte es nicht werden.»

«Kluger Desmond, er denkt immer sofort an solche Sachen! Komm, wir suchen eine Polizeiwache.»

«Ich glaube, eine liegt gleich um die Ecke.»

Sie schlenderten durch Covent Garden und blieben im bläulichen Schimmer eine Lampe in der Bow Street stehen. Desmond beugte sich zum Schwarzen Brett herunter.

«Tatsächlich, sie hatten kürzlich eine ziemlich gute Ernte. Ich glaube, wir dürften stolz sein auf die Bekanntschaft mit ‹Körper: männlich; Alter: um die sechzig; drei Goldzähne im Oberkiefer; doppelreihiger blauer Anzug; Filzhut; dunkelblaues Hemd; rot gepunktete Krawatte; Lederschuhe; keine Unterwäsche›. Oder wie wäre es mit ‹Körper: weiblich; etwa vierzig Jahre; Muttermal auf der linken Gesichtshälfte bis zum Nacken; Linsentrübung am rechten Auge; grüner Mantel, brauner Glockenhut›? Der Glockenhut klingt wirklich traurig – vielleicht ist es unsere ältere Schwester, die vor vielen Jahren auf die schiefe Bahn geraten ist?»

In diesem Ton plapperte er eine Weile weiter, bis Anna ihn unterbrach. «Entscheide dich einfach, und wir gehen hinein und fragen nach.» Sie schritt auf die Treppe zu.

«Anna! Wo willst du hin?»

«Ich möchte eine Leiche sehen! Worüber haben wir denn die letzten zehn Minuten geredet? Komm mit und halt den Mund.»

Desmond war bestürzt. Er hatte nicht einen Moment daran gedacht, dass sie es ernst meinen könnte, und glaubte auch jetzt noch an einen ihrer spontanen Scherze.

«Ach komm, sei doch nicht albern!»

Sie blickte ihn kalt an.

«Mein lieber Desmond, ich bin nicht wie du. Ich verschwende meine Zeit nicht mit klugen Plänen, die ich niemals umsetzen möchte; ich sage, was ich denke, und tue, was ich will. Ich habe dich nicht um deine Begleitung gebeten: Wenn du zimperlich bist, kannst du ja nach Hause gehen.»

In ihrer Zurechtweisung steckte genügend Wahrheit, um ihn zunächst zum Schweigen zu bringen, und er antwortete ihr nicht. Ohne sich weiter umzuschauen, ging sie die Treppe zur Polizeiwache hinauf. Desmond zögerte einen Augenblick, dann schritt er die Straße hinunter, gleichermaßen ärgerlich auf sie wie auf sich selbst.

Bei ihrem nächsten Zusammentreffen einige Tage später fragte er: «Hast du also deine Leiche gesehen?»

«Ja. Es war schwieriger, als du angenommen hast, aber am Ende ist es gelungen. Es hat mich aber nicht wirklich befriedigt», fügte sie nachdenklich hinzu. «Er war zu alt und schien zu friedlich gestorben zu sein.»

Er starrte sie an und bemerkte, dass sie vollkommen ernsthaft blieb.

«Du ekelhafte kleine Schlampe.» Er schlug ihr ins Gesicht, durchaus heftig. Er erwartete eine Szene, aber sie sagte nur:

«Warum bin ich nicht wie andere Menschen?» Ohne ihr Gesicht mit den Händen zu bedecken, weinte sie leise und bitterlich. Er versuchte, sie zu umarmen, doch sie stieß ihn zurück.

«Geh jetzt», forderte sie ihn mit erstickter Stimme auf, «und komm auf keinen Fall zurück, bevor ich dich anrufe.»

Er ging. Sie meldete sich drei Wochen lang nicht. Beide erwähnten den Vorfall später mit keinem Wort.

Es waren kurze Einblicke in eine seltsame und unerfreuliche Seite ihres Wesens, die ihn durchaus verunsicherten; Eifersucht und Misstrauen aber führten schließlich dazu, dass er sie zu hassen begann.

Schon zu Anfang ihrer Beziehung war ihm bewusst, dass er allenfalls einen begrenzten Ausschnitt ihres Lebens ausfüllte, und die Freiheit von jeglicher Verantwortung, die eine solche Position verleiht, hatte ihm zunächst zugesagt. Vermutlich hatte er anfangs sogar geglaubt, er könne mühelos alles Wissenswerte über sie in Erfahrung bringen und sie, wie alle früheren Damenbekanntschaften, rasch einer der wenigen und belanglosen Kategorien zusortieren. Tatsächlich aber verstand er sie umso weniger, je länger ihre Bekanntschaft währte; und aus anfänglicher Neugierde erwuchs eine Obsession. Sie glich keiner Frau, der er je begegnet war; und der bloße Gedanke daran, dass sie noch ein ganz anderes und weiter gespanntes Leben führen könnte als das ihm bekannte, bereitete ihm ein wachsendes Missvergnügen. Und so erlag er der unter Männern weit verbreiteten, ihm selbst aber bislang fremden Täuschung, dass keine Frau auf Erden der Geliebten das Wasser reichen könne und dass, sollte er Anna jemals verlieren, dieser Verlust niemals zu ersetzen sei. Er wollte sie gar nicht mehr und konnte doch nicht ohne sie sein; er empfand sämtliche Gefühle eines eifersüchtigen Liebhabers, nur nicht die Liebe selbst. Kurzum, er war von ihr besessen, er verabscheute sie und brauchte sie, so wie der Süchtige seine Droge braucht.

Er hatte fast nichts über Anna herausgefunden. Ihm gegenüber hatte sie niemals, ob nun direkt oder indirekt, einen ihrer Freunde erwähnt, gerade so, als verfalle sie in seiner Abwesenheit in eine Art Winterschlaf. Ihre gemeinsamen Treffen fanden in unregelmäßigen Abständen statt, und Ort und Zeit bestimmte ausschließlich sie. Nur ein einziges Mal hatte er sie außerhalb ihrer Verabredungen besuchen wollen, doch obwohl er überzeugt davon war, ihr Gesicht im Fenster erkannt zu haben, hatte sie auf sein hartnäckiges Klopfen nicht reagiert. Ein anderes Mal hatte er versucht, ihr nach einem gemeinsamen Mittagessen zu folgen, doch war sie mit erstaunlicher und ärgerlicher Gewandtheit in der Menge untergetaucht, so wie eine Schlange im hohen Gras verschwindet. Eine Stunde später rief sie ihn an: «Heute nachmittag hast du versucht, mir zu folgen. Solltest du das noch einmal probieren, werden wir uns nie wiedersehen.» Sie legte auf, ohne seine Entschuldigungen abzuwarten, und ihre Stimme verriet ihm, dass sie Wort halten würde.

Sie schien viel Geld zu besitzen, das sie mit kalter und sorgloser Extravaganz ausgab, doch weigerte sie sich stets, ihn in teure Restaurants oder West-End-Theater zu begleiten. Von Anfang an hatte sie es zudem strikt abgelehnt, auch nur einen einzigen seiner Freunde zu treffen (seine eigene Verschwiegenheit billigte diese Haltung), und ihre gemeinsamen Stunden verbrachten sie an einer seltsamen Mischung verschiedenster Orte, von Kew bis Box Hill, in Baudenkmälern, riesigen Hotelkomplexen, für die beide eine seltsame Vorliebe hegten, und auf Hunderennbahnen, wo sie sich als kaltblütige und erfolgreiche Spielerin entpuppte.

Sie ging irgendeiner Beschäftigung nach, und er registrierte, dass die Lederauflage auf ihrem Schreibtisch abgenutzt war, als würde dort regelmäßig gearbeitet. Hinweisen und Fragen wich sie allerdings aus, und etwas in ihrer Art warnte Desmond, dass sie ihn auf der Stelle verlassen würde, falls er sie weiter bedrängte. Mit wachsender Eifersucht fiel ihm das Schweigen immer schwerer, und er befürchtete, sie sei womöglich die Geliebte eines sehr wohlhabenden Mannes oder sogar eine Art Edelhure. Schließlich gelang es ihm, eine Szene zu provozieren und ihr einige seiner Mutmaßungen an den Kopf zu werfen. Zum ersten Mal schien sie wirklich erregt, sie attackierte ihn wütend, sie musste schlucken, und er bemerkte sogar einen Speicheltropfen in ihrem Mundwinkel.

«Wie kannst du es wagen, mich eine bezahlte Geliebte zu nennen! Ich bin niemandes Hure! Meine Arbeit ist zu wichtig, als dass du sie verstehen könntest! Ich habe mich nie in dein Leben eingemischt – wie kannst du dich nur erdreisten, in meinem herumzuwühlen? Du scheinst zu glauben, du hättest irgendwelche Rechte an mir, nur weil ich dich ausgewählt habe, mit mir zu schlafen. Du solltest aber wissen, dass du nur ein sehr kleiner Teil meines Lebens bist, den ich jederzeit zurücklassen kann. Mir scheint, dieser Tag ist nicht mehr fern, und wenn es soweit ist, werde ich dich verlassen und dich niemals wiedersehen und auch nie wieder an dich denken.»

«Um Himmels willen, schrei nicht so laut und behalte deine schlechten Manieren für dich», hatte er matt erwidert; wütend stolperte er die Treppe hinunter und schwor sich, dieses Mal tatsächlich nicht mehr wiederzukehren. Natürlich kam er dann aber doch zurückgekrochen, und Anna schien beschämt und betrübt über ihren Ausbruch. Ihre Beziehung aber hatte von da an ihre Leichtigkeit verloren. Das war alles vorbei.

Obwohl ihr intimes Einvernehmen nun praktisch ausgelöscht war, schleppte die Beziehung sich noch elend dahin, einem unheilbar kranken Krebspatienten gleich, der, von den Ärzten narkotisiert und aufgeschnitten, sein schreckliches Leben noch um ein paar weitere nutzlose Monate in die Länge zieht. Anna, die Desmond als Liebhaber mochte und ihn auch als Person zu schätzen schien, war genügsam und abgehärtet genug, seine wechselnden Launen zu entschuldigen; offenbar bereitete sie sich darauf vor, das öde Finale nach ihren eigenen Wünschen zu gestalten.

Desmonds Fall war anders gelagert. Ihm war jetzt klar, dass er Anna niemals wirklich besitzen oder auch nur begreifen würde, und er ahnte, dass ihr Tod ihn zutiefst befriedigen musste. Sie am Leben zu wissen und außerhalb seiner Sphäre, einen anderen Mann liebend oder, schlimmer noch, ohne an ihn zu denken, in fremder und angenehmer Gesellschaft, zu der ihm der Zutritt verwehrt war – diese Vorstellung wucherte wie eine Geschwulst in seinem Seelenfrieden; wie eine Entzündung, die niemals heilte, die man nie vergaß und die man herausschneiden musste.

So rann ihre Affäre noch ein wenig dahin, bis vor genau einer Woche. Als er sich früh am Morgen von Anna verabschiedete, erzählte sie ihm, sie werde London innerhalb von zehn Tagen verlassen und sie sollten sich besser nicht mehr sehen. Sie war sehr freundlich und rücksichtsvoll, und auch er reagierte mit vollendeter Höflichkeit und gut gelaunt. Er küsste ihr die Hand und zitierte lächelnd «Sprach der Rabe: Nimmermehr», sachte schloss er die Tür und bog draußen ohne Hast um die Ecke des Platzes. Erst dort, außer Sichtweite, lehnte er sich erschöpft gegen eine Wand und plante den Mord.

Ihm blieben noch drei Tage. Er musste sie aufhalten. Er vermochte es nicht, und er wollte es auch nicht, selbst wenn er gekonnt hätte. Er wollte sie töten. Aber er war doch ein Narr; er hatte nicht das Naturell zum Mörder. In ein paar Wochen würde er schon darüber hinwegkommen. Er musste sie wiedersehen! Wenn sie doch nur tot wäre. Er musste ein wenig verrückt sein.

Zwei Uhr dreißig. Hinter ihm schloss sich die Tür von International Features.

An jenem Nachmittag war eine ganze Menge Arbeit zu erledigen. Captain McCulloch, der vor einiger Zeit einmal einen Beitrag von zweihundert Wörtern über Torffeuer auf den Hebriden im Blatt untergebracht hatte, bombardierte die Redaktion inzwischen mit einer vierzigtausend Wörter zählenden Rückschau auf seine Erlebnisse im Lande der Yogis; er hatte schriftlich mit einem persönlichen Anruf gedroht und musste nun taktvoll, aber endgültig abgewürgt werden. Einer der Freunde von Mr. Poole hatte einen vollkommen unbrauchbaren Artikel eingereicht, den man komplett umschreiben musste, da man ihn nicht ablehnen durfte. Und zu allem Überfluss hatte Mr. Poole selbst schon zum dritten Mal an jenem Tag ein brillanter Geistesblitz ereilt, weshalb er Desmonds sofortigen Einsatz verlangte.

«Ah, Thane, hier sind Sie ja! Was halten Sie von einer Artikelreihe, die wir … hm … vielleicht ‹Warum ich meinen Mann liebe› nennen könnten – natürlich ist das nur ein Arbeitstitel», fügte er eilig hinzu und lief ein wenig rot an. Mr. Poole schien sich immer ein wenig für die Niveaulosigkeit der Beiträge zu schämen, die seine Firma produzierte, andererseits widersetzte er sich hartnäckig sämtlichen Versuchen, daran etwas zu ändern.

Desmond bestätigte ihm, dass es sich seines Erachtens um einen sehr hübschen Titel handelte.

«Ich könnte mir vorstellen, dass die Bekenntnisse von, nun ja, einigen jungen Frauen stammen, die mit unterschiedlichen Typen aus unserer Leserschaft verlobt sind – also sagen wir, einem Arzt, einem Architekten, einem Immobilienmakler …» Er stockte und rieb sich den Schnurrbart; ihm schien sonst niemand einzufallen, der die unzähligen Journale tatsächlich lesen mochte, die seine Redaktion mit Beiträgen versorgte.

«Warum sollte eine der Damen nicht mit einem Journalisten verlobt sein?»

«Nein, nein, wir müssen da sauber bleiben.» Mr. Poole kicherte, stolz auf seine klare Haltung.

«Aber wer soll das alles schreiben?» fragte Desmond, der die Antwort schon ahnte.

Mr. Poole wischte die Frage mit schuldbewusster Nonchalance vom Tisch.

«Oh, ich dachte, Sie hätten dafür Zeit, Thane; das ist genau Ihr Stil – ich kenne niemanden, der das besser könnte. Die Korrekturfahnen auf Ihrem Schreibtisch haben keine Eile – Sie können sie leicht übers Wochenende durchsehen. Ich würde die Fahnen ja selbst mit nach Hause nehmen, aber wie es aussieht, habe ich gerade Arbeit für zehn unter den Händen.»

Diese zehn kamen Desmond bekannt vor. In den Gesprächen seiner Vorgesetzten tauchten sie regelmäßig auf – vermutlich die zehn faulsten und inkompetentesten Vertreter ihrer Zunft. Mr. Poole plapperte weiter:

«Bei den Artikeln lasse ich Ihnen natürlich freie Hand, aber bringen Sie bitte einiges … ähm … aus dem Leben mit hinein.»

«Sie meinen, etwas leicht Anrüchiges? In Ordnung, überlassen Sie das mir.»

«Nein, nein, nichts in dieser Art», unterbrach Mr. Poole hastig, «Sie erinnern sich doch an den Ärger mit dem Beitrag ‹Ist Abtreibung Sünde?›, den wir dem Familienjournal für Johannesburg geschickt hatten, auf Ihren Rat, möchte ich hinzufügen. Es hieß, sie hätten daraufhin fünfhundert Abonnenten verloren.»

«Okay, aber ich vermute mal, dass sämtliche Mitglieder der Familien, die ihr Abo gekündigt haben, die Hefte jetzt heimlich im Buchhandel kaufen. Sie dürften im Gegenzug Hunderte von Lesern gewonnen haben.»

Mr. Poole war sich nicht sicher, was er von dieser Bemerkung halten sollte. Dann hellten sich seine Züge auf.

«Sie sind ein Witzbold, Thane, und ein Zyniker! Sie haben Miss Prestwood erschreckt! Nicht wahr, Miss Prestwood?»

Die Sekretärin kicherte, Desmond lächelte pflichtschuldig, und Mr. Poole ließ ihn gehen, unter vergnügtem Glucksen, weil alles sich so heiter und demokratisch-informell gelöst hatte.

Zurück am eigenen Schreibtisch, atmete Desmond tief durch und begann zu schreiben:

«Mein Liebhaber ist Arzt, und er macht mich glücklich, weil er meinen Leib ebenso versteht wie mein Herz. (Ob P. das mag?) Ich glaube, nur wenige Mädchen haben ihre Männer auf so eigenartige Weise kennengelernt wie ich. Ich brachte meine kleine Schwester zur Ambulanz von St. Margaret’s, und ich erinnere mich noch, wie überrascht und ein wenig skeptisch ich reagierte, weil der Doktor noch so jung war …»

(Es half nichts; er musste Anna wiedersehen und dazu bringen, ihre Pläne zu ändern – oder sie musste ihm zumindest verraten, wohin sie reisen würde. Diese verdammte eiskalte Schlampe. Nein, seine eigene dumme Vernarrtheit sollte verdammt sein. Nicht, dass er sich das Geringste aus ihr machte, natürlich nicht …)

«‹Ich bin nicht gekommen, um mir die Hämorrhoiden Ihres Vaters anzuschauen›, flüsterte er sanft. ‹Ich bin wegen etwas viel Interessanterem hier – um mit Ihnen zu reden!› Mein Herz pochte so laut, dass ich glaubte, er müsse es hören, aber als ich antwortete, klang meine Stimme so ruhig und spöttisch, dass ich sie selbst kaum erkannte. ‹Oh Doktor›, sagte ich, wobei ich mich zum Spiegel wandte und mir übers Haar strich, wie ich es bei Claudette Colbert im Kino gesehen hatte. ‹Ist das nicht ziemlich unprofessionell? …›»

Um viertel nach vier konnte Desmond es nicht länger ertragen. Er konnte sich aber nicht dazu durchringen, Anna persönlich anzurufen; eine kindische Hoffnung riet ihm, dass ein Telegramm mit seiner dringlichen Aufrichtigkeit Eindruck machen würde. Er gab also telefonisch ein Telegramm auf, wobei er sich gleichzeitig albern und verzweifelt vorkam: KOMME HEUTE ABEND SIEBENDREISSIG VORBEI – SOLLTEST MICH IM EIGENEN INTERESSE EMPFANGEN – DT.

Schon als er den Hörer auflegte, war ihm bewusst, dass der Text auf dümmliche Weise melodramatisch klang, und er überlegte, wie er diese Worte ihr gegenüber rechtfertigen sollte. Die Kälte eines solchen Fernschreibens jedoch dürfte selbst Anna ein wenig imponieren, und die passenden Worte würden ihm bei der Begegnung schon noch einfallen. Es musste doch irgendetwas geben, womit man sie anrühren konnte! Liebe womöglich, aber die empfand er ja gar nicht: Hass und Entschlossenheit mussten deren Stelle einnehmen. Was, wenn sie anrief und ihm absagte? Er wandte sich an seine Sekretärin: «Miss Hedley, falls irgendjemand – egal wer – mich heute nachmittag anruft: Ich bin außer Haus und komme heute auch nicht zurück. Bitte seien Sie sehr bestimmt, egal, wer am Apparat ist und wie dringend die Angelegenheit auch klingt.»

Sofort fühlte er sich entspannter, und instinktiv war er sich sicher, dass er mit seiner Redegewandtheit, die ihn noch nie im Stich gelassen hatte, Anna zu irgendeinem Kompromiss verleiten könnte. Inzwischen wollte er sie gar nicht mehr bei sich behalten, er wollte sie einfach nur ganz allmählich verlassen, nach seinem eigenen Zeitplan. Beinahe euphorisch wandte er sich wieder seiner Arbeit zu:

«‹Aber das darfst du nicht, Liebling! Das – das ist ungehörig.› Er lachte und presste mich noch enger an sich. ‹Du herrliches kleines Ding›, flüsterte er. ‹Ich werde dich niemals verlassen, ganz gleich, was die bärtigen alten Herren der Medizinischen Fakultät davon halten. Zerbrich dir nicht dein süßes kleines Köpfchen; es ist wahr, Liebe findet immer einen Weg, und für eine Stunde in deinen Armen würde ich mich mit dem alten Hippokrates höchstpersönlich anlegen.› Seine Küsse durchzuckten mich wie flüssiges Feuer, und die grauen Wände der Krankenhausapotheke lösten sich auf, bis die bunten Medizinflaschen sich in tropische Früchte verwandelten, und es schien mir, als seien wir zwei ganz allein auf einem Atoll inmitten des Pazifik …»

ZWEITES KAPITEL

Als er Anna an jenem Abend aufsuchte, fiel ihm nichts ein, was er ihr hätte sagen können. Ihn überraschte das gar nicht – er kannte ihre Gabe, ihn vollkommen verstummen zu lassen, so wie das Rampenlicht einem nervösen Schauspieler die Sprache raubt. Ungewöhnlich war lediglich seine eigene Gleichgültigkeit ihr gegenüber; während er auf der Schreibtischkante saß und mit den Beinen wippte, fühlte er sich unbeteiligt und überlegen wie ein Biologe, der das natürliche Verhalten seiner Versuchstiere beobachtet. Nach einer kurzen, beiläufigen Begrüßung schwieg er; in blasierter Selbstzufriedenheit summte er leise die Melodie eines altmodischen Tanzliedes.

Anna beendete die Stille.

«Warum bist du hergekommen?»

«Ach, nur eine gesellschaftliche Pflichtübung. Manche Leute haben religiöse Verpflichtungen, ich habe gesellschaftliche, und denen komme ich in angemessener Demut nach.»

«Was hatte dein Telegramm denn zu bedeuten?»

«Nichts, überhaupt nichts. Findest du nicht auch, Postämter sollten Schmuckblätter für schlechte Nachrichten bereithalten, ähnlich wie für Grußtelegramme? Die Todesnachrichten aus dem Kriegsministerium kämen dann auf einem Papier in Schwarz und Silber, an den Rändern eine Girlande aus Totenköpfen, Kreuzen, Urnen und geborstenen Säulen. Ich bin mir sicher, Witwen und Waisen wären begeistert über eine künstlerische Wertschätzung ihres Opfers, die sie einrahmen und an die Wohnzimmerwand hängen können.»

Anna unterbrach ihn ungeduldig.

«Wenn du mir etwas zu sagen hast, sag es bitte jetzt. Ich werde in ein paar Tagen ins Ausland reisen und wahrscheinlich nicht zurückkehren.»

«Ins Ausland? Wie schön für dich. Aber bitte nicht mit einer Reisegruppe: Habe ich mal mitgemacht, aber es stellte sich heraus, dass zu viele Hähne im Korb waren und zu wenig Hennen.» Er kicherte aufdringlich.

Anna fuhr scharf dazwischen:

«Wenn du dich weigerst, vernünftig zu reden, tu, was du nicht lassen kannst. Ich habe jedenfalls gleich einen Termin. Bitte entschuldige, ich muss mich umziehen.»

Er entließ sie mit gnädiger Handbewegung, als sie sich resolut umdrehte und im Schlafzimmer verschwand. Durch einen Spalt im Vorhang über der Tür sah sie sein selbstzufriedenes Lächeln, während er seine Fingernägel begutachtete. Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich. Sie hatte ihre Erfahrungen mit Männern und glaubte auch Desmond zu durchschauen; in dieser Stimmung hatte sie ihn freilich nie zuvor erlebt. Ihr fiel auf, dass seine Gesten auf eine fast unmerkliche, aber doch spürbare Art außer Kontrolle schienen, als wäre er betrunken. Seine Beine wippten ein klein wenig zu kräftig, er sprach laut, und Kopf oder Hände blieben unablässig in Bewegung. Dabei wusste sie, dass er vollkommen nüchtern war, denn seine Augen blickten kalt und unbeteiligt und etwas angestrengt, als starre er auf einen weit entfernten Punkt. Erneut schaute sie zu ihm herüber, und jetzt erst, zum ersten Mal an diesem Abend, sah auch er sie an, als wolle er sich ihr Gesicht in Erinnerung rufen oder ihr Gewicht abschätzen. Während er zu ihr herüberschaute, knetete er weiterhin seine Hände und tastete seine Fingernägel ab. Das erschien geradezu unnatürlich; sein Körper wirkte auf unangenehme Weise wie ein wachsames Tier, das ein eigenes Leben führt, losgelöst vom Verstand.

Desmond musterte Anna mit jener aufdringlichen Neugierde, die man normalerweise nur Eingeborenen entgegenbringt. Wie sie da halb entblößt vor ihrer Ankleidekommode kauerte, schien sie ihm älter als sonst, und die Struktur ihrer Kehle und der Gesichtshaut wirkten mit einem Mal rau gegenüber der Zartheit ihrer Schultern. Ihr Nacken schien allmählich kräftig zu werden, und Desmond vermutete jetzt sogar, die aufrechte Haltung des Rückens müsse das Ergebnis bewusster Anstrengung sein. Kaum erinnerte er sich noch daran, dass sie zu alledem auch Verstand und Persönlichkeit besaß: Für ihn war sie jetzt eine klug konstruierte Puppe, gekrönt mit einer hübsch glänzenden Perücke. Seine Gedanken nahmen eine Wendung ins Hämische, und er überlegte, wie er sie wohl verletzen könnte.

Es war jetzt acht Uhr abends, die Dunkelheit brach an. Anna trat ins Zimmer. Sie strich sich übers Haar und drängte:

«Ich muss bald aufbrechen. Zum letzten Mal: Hast du mir irgendetwas zu sagen?»

«Nichts, was dich interessieren könnte.»

Sie hob ihre Stimme: «Sag jetzt, was du zu sagen hast; ich werde dich nicht wieder fragen.»

«Sprich nicht so laut. Geh, wenn du willst: Ich halte dich nicht auf.»

Seine Ferse stieß gegen den Rand des Tisches und brach einen Splitter aus dem polierten Holz, aber er schien das nicht zu bemerken. Gegen das schwindende Licht im Fenster nahmen sich seine Konturen mit den hängenden Schultern und dem vorgestreckten Kopf aus wie die Silhouette eines bizarren Vogels. Abermals verspürte Anna eine Unsicherheit, einem Zucken im Körper vergleichbar; sie beschloss, sofort aufzubrechen, früher als geplant. Und so trat sie an den Schreibtisch und schob Desmond zur Seite.

«Entschuldige, ich muss hier etwas einstecken.»

Sie öffnete eine der Schubladen und zog ein kleines, in Leder geschlagenes Büchlein heraus, das mit einem Metallschloss versehen war. Desmond riss es ihr aus der Hand und sprang vom Tisch.

«Ah, ein Tagebuch! Wer hätte gedacht, dass du so etwas führst!»

Er schob es sich in die Tasche und näherte sich demonstrativ der Tür. Anna erbleichte und fauchte ihn an:

«Lass diese Albernheit! Gib es mir auf der Stelle zurück!»

«Nicht, bevor ich gelesen habe, was du über mich schreibst. Ich schicke es dir morgen zurück.»

Ihm war klar, wie kindisch er sich aufführte, und doch schämte er sich nicht. Anna zitterte förmlich vor Wut, und er genoss das – jedenfalls in Bezug auf Anna seltene – Gefühl der Überlegenheit. Dann aber griff sie blitzschnell in ihre Handtasche und zog eine kleine Pistole hervor, die sie auf ihn richtete.

«Nun gib mir das Buch zurück!»

Desmond konnte ein spontanes Lachen nicht unterdrücken. Die Szene wirkte so lächerlich und unwirklich wie in einem schlechten Film, und von der Waffe fühlte er sich so wenig bedroht wie von einer Steinzeitaxt im Museum. Scherzhaft riss er die Hände in die Höhe und schlenderte auf sie zu.

«Meine liebe Anna, jetzt siehst du aber albern aus! Die Rolle des Flintenweibs steht dir überhaupt nicht. Bist du sicher, dass du sie auch geladen hast?»

«Gib mir das Buch, oder ich werde schießen.»

Da überkam ihn Zorn auf dieses melodramatische Getue, mit einem raschen Griff schlug er ihr die Pistole aus der Hand, dann packte er sie an ihrem seidenen Halstuch. Er riss kräftig daran und zischte:

«Sei doch keine verdammte Idiotin!»

Sie presste ihn von sich und rammte ihm ein Knie mit aller Gewalt in die Leisten. Er stolperte und riss Anna mit sich auf den Boden. Blind vor Wut rollte er das Halstuch zusammen, bevor er mit aller Kraft daran zog. Erneut traf ihn Annas Knie. Um den Schmerz zu betäuben, zerrte er an der Seide, bis die Adern seiner Handgelenke hervortraten. Und während ihr Leib sich unter seinem Griff wand, fragte er sich in einem sehr entlegenen Winkel seines Hirns, wie lange ihr Kampf wohl noch andauern würde. Auch als sie sich nicht mehr regte, lag er noch auf ihr und drehte das Halstuch fester und fester. Da wusste er schon, dass sie tot war.

Als Desmond vom Boden aufstand, war es vollkommen finster. Er spürte keinerlei Empfindung, griff zur Pistole und nahm wieder auf der Ecke des Schreibtisches Platz, verharrte dort vollkommen regungslos. Es dauerte ein wenig, dann erfüllte ihn Stolz auf seine eigene Kälte; er wanderte im Zimmer auf und ab, stolperte über Möbelstücke und führte Selbstgespräche. Dabei mied er die Ecke, in welcher der Leichnam lag.

«Gut, gut, wer hätte das gedacht! Ich vermute, dafür wird man mich hängen. Glück gehabt, dass wir nicht in Amerika leben: Beim elektrischen Stuhl dauert es eine halbe Stunde, und am Ende stirbt man bei der Autopsie, heißt es jedenfalls. Wer war das gleich nochmal mit der Vermutung, dass der Kopf nach der Enthauptung noch ein paar Minuten lebt und etwas wahrnimmt? Man hört ja sogar, man könne zu Tode gekitzelt werden oder am Niesen sterben. Ein Tyrann könnte das an seinen Feinden ausprobieren, ihr lächerlicher Todeskampf würde ihre Ansichten öffentlich diskreditieren. Wenn jemand beim Hängen zu tief fällt, wird der Kopf abgerissen – man sagt ja, die Leute fallen zu tief, wenn der Henker zu tief ins Glas geschaut hat … Arme alte Anna! Anna wie? Annabell mit dem Totenglöckchen … Vielleicht sehe ich ganz anders aus, jetzt, da ich ein Mörder bin? Mal nachschauen.»

Er zog den Vorhang zur Seite, schaltete eine Leselampe ein und betrachtete sein Abbild im Spiegel, während er sich wie ein Mannequin verrenkte und posierte.

«Wie immer, fürchte ich – sehe halt nicht aus wie ein grober Kerl. Wenn ich mich präsentiere, sehe ich aus wie ein Römer … der schändlichste Römer von allen: Einer, den man auf seinem Schild nach Hause trägt, das Gesicht nach unten, und alle Wunden auf dem Rücken, dazu ein paar Stiche in die Seite vom Zickzacklaufen.»

Er probierte verschiedene Gesten aus und schnitt passende Grimassen, wobei er Annas Pistole auf imaginäre Gegner richtete oder durch seine Tasche hindurch zielte wie ein amerikanischer Gangster. Dann aber fiel er schlagartig in die Wirklichkeit zurück; vor sich sah er eine bleiche, zerzauste Gestalt, die sich auf groteske Weise im Spiegel eines nur schwach erleuchteten Zimmers angrinste, während ein erstarrender Leib halb verdeckt hinter dem Sofa lag.

«Mein Gott!» stöhnte er und erschrak jetzt wirklich.

Er schaltete sämtliche Lampen ein, nahm vorsichtig Platz und versuchte, seine Lage zu überdenken. Kein Gewissen regte sich, auch kein Mitleid mit Anna – wie erwartet hatte der Tod seine Zuneigung ausgelöscht –, doch er fürchtete sich jetzt vor den schmutzigen und langsam näher rückenden Konsequenzen, die ihm drohten, sobald die Polizei eingeschaltet würde. Einige Minuten lang atmete er tief, um sich zu beruhigen, bis sein Verstand wieder halbwegs normal funktionierte.

Zunächst einmal hatte ihn niemand kommen sehen, und bei der Dunkelheit draußen konnte er nahezu sicher sein, das Haus auch wieder ungesehen verlassen zu können. Tatsächlich war ihm niemals irgendjemand in diesem Haus begegnet, möglicherweise war Annas Etage sogar die einzige bewohnte im gesamten Gebäude. Wenn er es recht bedachte, gab es zudem keinerlei Möglichkeit, Anna mit ihm in Verbindung zu bringen. Er hatte sie keinem seiner Freunde gegenüber erwähnt, denn er schätzte Männer nicht sonderlich, die mit ihren Liebschaften prahlten. Er glaubte ohnehin, dass ein eisernes Schweigen in diesen Dingen ein sehr viel größeres Renommee einbrachte als selbstgefällige Anekdoten, jedenfalls wenn man so töricht war und es darauf anlegte.

Anna, da war er sich sicher, war von ähnlicher Diskretion; und selbst wenn sie eine enge Vertraute besessen haben sollte, schien es unwahrscheinlich, dass die Zeit ausgereicht hätte, dieser von seinem angekündigten Abendbesuch zu erzählen. Er hatte Anna nie geschrieben, ihr nie signierte oder anderweitig zurückverfolgbare Geschenke überreicht, und sie hatte ihn keinem Menschen vorgestellt. Scotland Yard konnte ihn eigentlich gar nicht ausfindig machen. Am besten also, er verließ unverzüglich die Wohnung.

Desmond sprang auf, wischte mit dem Taschentuch über den Türgriff und alle Dinge, die er berührt hatte, soweit er sich erinnerte. Leise trat er auf den Treppenabsatz und zog die Wohnungstür sachte hinter sich zu.

Das Telegramm!

Er drückte gegen die Tür, aber sie gab nicht nach. Verzweifelt versuchte er es mit seinen eigenen Schlüsseln, einen nach dem anderen, doch die Tür besaß ein Sicherheitsschloss, und seine Schlüssel passten dort nicht einmal hinein. Er wühlte in seinen Taschen nach irgendetwas Brauchbarem, fand aber nur Annas Pistole. Ratlos wiegte er sie in der Hand. Irgendwo hatte er gelesen, dass man Türen aufschießen kann, und selbst diese kleine Waffe dürfte das Schloss zerschmettern, falls er einen oder zwei Schüsse direkt auf Schloss und Schlüsselloch abfeuerte. Andererseits war das Haus finster und bedrohlich still: In der Wohnung darunter musste der Knall wie ein Donnerschlag hallen. Sollte er abdrücken, würden die Menschen aus allen Türen herbeiströmen, so wie in den Straßen bei einem Unfall: Machte er sich aber klammheimlich aus dem Staub, würde die Polizei das Telegramm unweigerlich finden, die Rufnummer, von der er es aufgegeben hatte, ermitteln, ihn ausfindig machen und verhören, bis er alles gestand. Vielleicht befand sich aber auch sonst niemand im Haus, und im schlimmsten Fall könnte er versuchen, sich den Weg freizuschießen und als Löwe vor den Henker treten und nicht als Schaf.

Er zog seinen Mantel aus, wickelte ihn um die Waffe, um den Schall zu dämpfen, dann presste er die Mündung wenige Zentimer links vom Schlüsselloch aufs Holz und feuerte zweimal.