Es ist recht sehr Nacht geworden -  - E-Book

Es ist recht sehr Nacht geworden E-Book

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Beschreibung

Was heißt es heute, modern zu sein? Heinrich von Kleists »Das Erdbeben in Chili«, Wilhelm Raabes »Zum wilden Mann«, Gottfried Benns »Gehirne« – nie ist moderner geschrieben worden! Alle drei Texte waren zu ihrer Zeit Avantgarde und gehören heute zum Kanon. In diesem Band treffen sie auf die Gegenwart. Thomas Hettche hat ganz unterschiedliche Autorinnen und Autoren zu einer Re-Lektüre großer Literatur eingeladen, die zu ihrer Zeit mit sämtlichen Konventionen brach. Das Ziel: eine Bestandsaufnahme dessen, was es heute heißt, modern zu sein. Entstanden sind zwölf brillante Essays, die uns Gelegenheit bieten, u.a. Monika Rinck, Durs Grünbein, Ingo Schulze, Felicitas Hoppe und Daniel Kehlmann dabei zuzusehen, wie sie in der Auseinandersetzung mit den Vorbildern ihr eigenes Schreiben reflektieren. In seinem Vorwort geht Thomas Hettche den überraschenden Verbindungen nach, die sich dabei ergeben und macht deutlich, was Erzählen zu allen Zeiten bedeutet hat. Der typographisch liebevoll gestaltete Band bietet zudem die kompletten Originaltexte von Kleist, Raabe und Benn, und erlaubt so eine vergleichende Lektüre.

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Seitenzahl: 515

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Es ist recht sehr Nacht geworden

Kleist, Raabe, Benn

Essays

Herausgegeben von Thomas Hettche

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Thomas Hettche

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Thomas Hettche – Es ist recht sehr Nacht geworden

>> Übersicht Kleist <<

Ulrich Peltzer – Kleist war ungeschickt

Olga Martynova – Von Zufall und Schicksal oder DARUM

1. Jeronimos Vater

2. Von einer Germanistin und der Seifenoper

3. Von dem Kindsmord, dem Absurden und einem Gemälde

4. Warum?

5. Von der Liebe

6. Von Zufall und Schicksal

Aris Fioretos – 8,5 Punkte zum Tremor

Felicitas Hoppe – Ein preußischer Stummfilm

1. Gericht

2. Vertrauen

3. Fallstricke

4. Slapstick

5. Marionetten

6. Gelächter

7. Entscheidungen

8. Ordnungen

9. Mobbing

10. Happy Ending

Heinrich von Kleist – Das Erdbeben in Chili

>> Übersicht Raabe <<

Sibylle Lewitscharoff – Behäbig, wild und grausam

Monika Rinck – Die Rache der ausgeschlossenen Möglichkeiten

Ingo Schulze – Vom Einverständnis mit dem Teufelspakt.

Daniel Kehlmann – Zum wilden Mann. Neun kurze Überlegungen

Wilhelm Raabe – Zum wilden Mann

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

>> Übersicht Benn <<

Durs Grünbein – Das Gehirn in den Händen

Sabine Scholl – Körper im Krieg

Null

Eins: Gehirne

Zwei: Die Eroberung

Drei: Die Reise

Vier: Die Insel

Fünf: Der Geburtstag

Lukas Bärfuss – Die Dinge beim Namen nennen. Zu Gottfried Benns Rönne-Komplex

Katharina Schultens – Der Rest ist das Geschehen. Zu Benns Gehirnen

1. Frau Schultens steht im Medizinhistorischen Museum vorm Gruselkabinett und ruft Herrn Dr. Benn zur Hilfe

2. Die Rezipientin prüft ihre Hypothese anhand des vorliegenden Materials

3. Die Rezipientin berücksichtigt ihre persönlichen sowie die allgemeinen gesellschaftlichen Umstände und befindet sie als unzureichend

4. Die Rezipientin bedient sich im Register ihres biografischen Materials

5. Frau Schultens übernimmt, polemisch

6. Das Exponat wird befragt, weil es nichts zu sagen hat

Gottfried Benn – Gehirne

Gehirne

Die Eroberung

Die Reise

Die Insel

Der Geburtstag

Inhaltsverzeichnis

Thomas Hettche Es ist recht sehr Nacht geworden

In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken. So beginnt die Erzählung Das Erdbeben in Chili. Es ist der erste Text Heinrich von Kleists, der gedruckt wurde, 1807, im damals sehr populären Morgenblatt für gebildete Stände. Kleist war dreißig Jahre alt.

Obwohl er darin von einem konkreten historischen Ereignis erzählte, verwies der junge Autor die Zeitgenossen doch unverkennbar auf eine andere, ungleich größere Naturkatastrophe. Nämlich auf jenes Erdbeben, das am 1. November 1755 zusammen mit einem Großbrand und einem Tsunami die portugiesische Hauptstadt Lissabon fast vollständig zerstörte und dessen Erschütterungen über die Iberische Halbinsel hinaus noch in Frankreich zu spüren waren. Mit 30000 bis 100000 Todesopfern ist es eine der verheerendsten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte. »Alles«, schrieb damals der fassungslose Immanuel Kant, »was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß man zusammen nehmen, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweiflung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Muth niederschlagen.«

Die Nachricht dieser Katastrophe verbreitete sich in Windeseile durch ganz Europa, löste hitzige Debatten unter den Philosophen der Aufklärung aus und zerstörte für immer den Glauben, der Mensch lebe in einer von Gott gut eingerichteten Welt. Was bleibt und was hilft nach diesem Verlust? Literatur. »Eine solche Erzählung«, hoffte Kant, »würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können. Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen.«

Doch ganz so einfach ist es nicht mit den »geschickteren Händen«. Ulrich Peltzer stellt in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen kategorisch klar: »Schreiben ist kein therapeutischer Akt.« Und auch diese genuin zur Moderne gehörende Verweigerung der Literatur hat, wenn man so will, mit dem Erdbeben von Lissabon zu tun, denn mit dem Glauben an eine gut eingerichtete Welt endete auch die Bereitschaft der Literatur, sich in Dienst nehmen zu lassen, für welche Sache auch immer. Sie zog sich von der Bühne der Welt zurück in das Vieraugengespräch von Autor und Leser. Es war die Geburt der intimen bürgerlichen Lektüre aus dem Geist der Katastrophe.

Die téchne des Lesens, die damit sich zu entfalten begann, ist eine Schnittstellenkunst, die zweierlei erst erzeugt, den Text und seinen Leser. Sie erschafft erst den Raum, in dem Literatur im emphatischen Sinn sich ereignen kann. Das war die Hypothese, der ich von 2018 bis 2020 in einer Veranstaltungsreihe der TU Berlin nachging. An jener Hochschule also, an der Walter Höllerer Ende der 50er-Jahre sein Institut für Sprache im technischen Zeitalter gründete, ein Name, der noch immer treffend den Rahmen benennt, in dem jede Beschäftigung mit Literatur in unserer Gegenwart stattfindet, zumal heute, da im Medienwandel, den wir erleben, das Verständnis für die Geschlossenheit eines literarischen Textes, das Wissen um seinen Traditionsraum, die Techniken seiner hermeneutischen Aneignung zunehmend verloren gehen. Heinrich von Kleists Erdbeben in Chili, Wilhelm Raabes Zum wilden Mann und Gottfried Benns Gehirne waren die kanonischen Texte, an denen wir drei Jahre lang im Seminar in diesem Sinn eine Emphatische Lektüre – so der Titel der Veranstaltungsreihe – erprobten, und zwar gemeinsam mit Schriftstellern, die ich einlud, ihre eigenen Leseerfahrungen in Form jener Essays beizusteuern, die dieser Band versammelt.

Weshalb gerade diese drei Texte? Weshalb Kleist? Weil er, bevor er in das Königsberg des kurz zuvor gestorbenen Kant reiste, dessen Philosophie ihn in eine tiefe Krise gestürzt hatte, an seine Verlobte schrieb: »Wenn man überlegt, daß wir ein Leben bedürfen, um zu lernen, wie wir leben müßten, daß wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins u seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich u die Seele u das ganze Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht giebt – kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern? Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich u deutlich anvertraue, was Recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinen Feinden zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten u mit Andacht ißt er ihn auf.«

Das ist die Disposition, aus der heraus dieser Spross einer preußischen Offiziersfamilie, der gegen die französischen Revolutionstruppen gekämpft und überstürzt seinen Abschied genommen, ein Studium begonnen und abgebrochen, sich verlobt und die Verlobung wieder gelöst, Goethe seine Penthesilea auf den »Knien seines Herzens« überreicht und Zurückweisung erfahren hatte, der nach Frankreich gereist war, um sich Napoleon anzuschließen, und zurückgeschickt wurde, dieser gescheiterte und immer weiter scheiternde Kleist, der sich schließlich, vier Jahre nach dem Erscheinen des Erdbebens in Chili, erschoss, das Scheitern einer Liebe in einer scheiternden Gesellschaft erzählt.

Er beginnt mit der Geburt eines Kindes, die ein unstatthaftes Liebesverhältnis ans Tageslicht bringt, erzählt die Verhaftung des Kindsvaters und wie das Liebespaar durch das Erdbeben glücklich Tod und Gefängnis entkommt. Er schildert dann jenen Moment, in dem alle gesellschaftlichen Schranken ebenso einstürzen wie die Mauern der Stadt, und wie die beiden Liebenden in der Atempause einer Nacht, inmitten der Katastrophe, einen utopischen Moment des Friedens erleben. Doch schon mit dem Dankgottesdienst der Überlebenden am nächsten Tag konstituiert sich die Gesellschaft neu, und Kleist lässt das Liebespaar von einem rasenden Mob auf den Stufen der verschont gebliebenen Kathedrale töten.

Man liest das atemlos und zugleich irritiert. Die Erzählung, durch die Kleist’schen Konjunktivkonstruktionen kühl und distanziert, scheint keinerlei Deutung geben zu wollen für das, was sie schildert. Die Figuren scheinen keine Innenwelt zu haben und weisen unser Bedürfnis nach Identifikation ab. Die Handlung, die Zufälle auf Zufälle zu häufen scheint, enttäuscht unsere Erwartungen. Und so bleiben wir am Ende der Geschichte ergriffen, doch seltsam ratlos zurück und wüssten noch nicht einmal zu sagen, was eigentlich ihr Thema ist: die Brutalität der Natur und des Schicksals? Die Feier eines Rousseau’schen Naturzustandes? Die Grausamkeit der Menschen? Der Triumph der Liebe? Oder doch jener der Moral? Wovon nur handelt dieser monströse Text?

In seinem Essay Wasser, Gänsehaut notiert Aris Fioretos zur Bildfolge eines antiken griechisches Gefäßes, sie enthalte alles, »was man sich von einem Roman wünschen kann. Es finden sich darauf Spannung, Schönheit, Verstecke, Besinnung, Präzision, jäher gewaltsamer Tod und eine überraschende Geburt.« Besser lässt sich Kleists Erdbeben in Chili nicht charakterisieren, zumal Fioretos anhand des Vasenbildes auf eine Lektüreempfindung zu sprechen kommt, die jener des Kleist-Textes verblüffend gleicht: Ein Roman sei wie kaltes Wasser, das unsere Haut berührt, der Schauer beim Lesen gleiche ihrer physiologischen Reaktion. Man kann von einer sinnlosen Katastrophe nicht sinnstiftend erzählen, ließe sich so Kant entgegnen, denn dann erreicht man die Wirklichkeit des Katastrophischen nicht.

Und katastrophisch ist bei Kleist alles und vor allem die Liebe. Es ging diesem Dichter um Literatur, die ernst nimmt, nicht mehr entscheiden zu können, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, und die trotzdem an der Möglichkeit des Erzählens festhält. Das Zwischenreich, aufgespannt zwischen Sinn und Kontingenz, in dem die Literatur seit dem Erdbeben von Lissabon ihren Ort hat, manifestiert sich bei Kleist in seinen Figuren. Alle können sie, wie Max Kommerell schreibt, »Rätsel sein für sich, für einen Partner, für die Umwelt, für uns«. Dieses Rätsel aber, das wir uns notwendig selber sind, wird bei Kleist nicht gelöst, sondern ausgehalten. Im Erdbeben in Chili kulminiert dieser Rätselcharakter in einem einzigen, in dem berühmten allerletzten Satz der Erzählung. Kleist lässt jenes Kind der Liebe überleben, von der er erzählt hat, doch nur zu dem Preis, dass ein anderes irrtümlich an seiner Stelle erschlagen wird. Und dessen Vater, der vergeblich versucht hat, die Liebenden vor dem Mob zu retten, und dessen Kind man gerade den Kopf an einem Kirchenpfeiler zerschmettert hat, nahm hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.

Freuen? Nach dem Tod des eigenen Kindes? Und müssen? Schaudernd beenden wir diese Erzählung im Wissen darum, nichts zu wissen und doch unendlich viel, das wir nicht in Worte fassen können, verstanden zu haben.

Das aber ist eine Empfindung, die uns, gleichgültig, aus welcher Epoche der Text stammt, bei dem wir sie haben, Modernität bedeutet. Eine Spur verläuft, quer zu den Gräben literaturgeschichtlicher Perioden, durch die Zeit, und wer diese Fährte aufnimmt, wird belohnt mit der Erfahrung, dass es Texte gibt, die einen mit unerbittlicher Neuheit treffen. Wir halten sie auf eine bestimmte Weise für glaubwürdig, denn sie geben uns die Gewissheit, etwas über die Welt zu erfahren, das wir vorher nicht wussten. Das ist wirklich geschehen, sagt der Text, es ist nicht ausgedacht, sondern abgenommen von der Wirklichkeit. Glaubhaft wird diese Behauptung durch die Genauigkeit der Erzählung und die Geschlossenheit der Fiktion, die psychologische Stimmigkeit von Figuren und Handlungen und all jene anderen Mittel, die das realistische Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, seit Flauberts Madame Bovary, seit Dickens’ Oliver Twist, Tolstois Krieg und Frieden und Melvilles Moby-Dick, perfektioniert hat.

Roland Barthes war nun der Ansicht, dieser »Wirklichkeitseffekt« entstehe durch »das Verlöschen der Sprache zugunsten einer Realitätsgewißheit: Die Sprache zieht sich zurück, verbirgt sich und verschwindet, so daß nur noch das Gesagte nackt übrigbleibt. Das meiste, was wir Erzählung nennen, besteht in der Modulation dieser Bewegung.« Und diese Bewegung gelinge nur, weil ein solches Erzählen geläufige kulturelle Codes verwende, es handle sich dabei, urteilte Barthes abfällig, um ein »Erbrechen der Stereotypen«. Das aber bedeutete, die Anmutung von Realität, die Literatur zu erzeugen imstande ist, wäre nichts als Schein, die Behauptung, die Literatur nähme die Welt in den Blick, nichts als Ideologie.

Aber handelt es sich bei den Modulationen, von denen Barthes spricht, nicht vielmehr um eben jene Rätsel, wie etwa Kleists Erdbeben in Chili sie uns aufgibt? Um das Fantastische, das plötzlich hereinbricht, um Erwartungen, geweckt und schon unterlaufen? Wie sollte ein Schriftsteller wie Kleist nicht wissen, dass Realität weder einfach zu haben noch abzutun ist? Gerade ihm ist sie doch schon immer das, was Kant eine regulative Ideenannte, also etwas, dessen objektives Sein vorausgesetzt werden muss, sich der Abbildung aber entzieht. Das Wissen darum, wie Joseph Vogl es einmal formulierte, dass es »eine Welt oder eine Wirklichkeit da draußen gibt, die sich ungerührt, indifferent, selbstgenügsam, souverän und in völliger Unabhängigkeit von Denkprozessen und Begriffen behauptet«.

Das Reale ist real gerade darin, dass es kontingent und souverän sich der Erzählbarkeit widersetzt, und zwar am offensichtlichsten im Moment der Katastrophe, von der die Literatur deshalb nicht müde wird zu erzählen. Jede Katastrophenerzählung ist eine über die Möglichkeiten realistischen Erzählens selbst: »Etwas bricht herein, über die Protagonisten wie über uns Leser. Es bricht herein mit metaphysischer Gewalt; es bricht herein wie ein Teufelssturm, wie das Donnerwetter des Jüngsten Gerichts. Und das, was da hereinbricht, mit Gewalt und Komik, ist der Realismus.«

Daniel Kehlmann schreibt das in seinem Essay über Wilhelm Raabes Erzählung Zum wilden Mann, die 1873 entstand, also ein halbes Jahrhundert nach Kleists Erdbeben in Chili, und uns im zweiten Jahr der Emphatischen Lektüre beschäftigte. Raabe, einer jener deutschen Realisten, die im Vergleich zu ihren Kollegen aus Paris und London als etwas provinziell gelten, weil sie dem Fantastischen so viel Raum geben, lässt seine Erzählung in einer Regennacht vor der Apotheke eines kleinen Städtchens im Harz folgendermaßen beginnen: Wir suchen einfach, wie gesagt, vorerst unter Dach zu kommen und eilen rasch die sechs Stufen der Vortreppe hinauf; der Erzähler mit aufgespanntem Schirm von links, der Leser, gleichfalls mit aufgespanntem Schirm, von rechts. Schon hat der Erzähler die Tür hastig geöffnet und zieht sich den atemlosen Leser nach, und schon hat der Wind dem Erzähler den Türgriff wieder aus der Hand gerissen und hinter ihm und dem Leser die Tür zugeschlagen, dass das ganze Haus widerhallt: wir sind darin, in dem Hause sowohl wie in der Geschichte vom wilden Mann!

Wir werden so vom Erzähler im Wortsinn in die Geschichte hineingezogen und registrieren das verblüfft, als erklärte uns ein Zauberer seine Tricks oder als würde die vierte unsichtbare Wand plötzlich durchstoßen, die Bühne und Zuschauerraum trennt. Aber: »Wer spricht?«, fragt Monika Rinck. »Wenn es der Erzähler, der ein Bündnis mit seiner Leserschaft eingehen wird, nicht sein kann, bleibt diese Stelle eigenartig leer. Oder ist’s ein Schatten aus einer anderen Welt?« Natürlich ist er das. Jeder Versuch, die Fiktion einer Erzählung zu durchbrechen, indem der Autor von sich selbst spricht, schafft nicht Authentizität, sondern nur eine weitere literarische Figur, die, wie alle Figuren, auf eine andere Welt verweist, die zugleich die eigentliche ist. Doch diese Welt liegt im Dunkeln. Es ist recht sehr Nacht geworden, stellt Raabe gleich zu Anfang fest.

Allerdings vergisst der Leser jenen seltsamen Anfang schnell wieder und folgt gern einer zunächst ganz biedermeierlichen Geschichte um einen Apotheker, seine Schwester und einen unerwarteten Gast. Doch je mehr Raabe seine Geschichte entfaltet, beginnt er Perspektive gegen Perspektive zu setzen, und plötzlich geht es erstaunlich modern um eine Fabrik für Dosenfleisch in Brasilien, um Kolonialismus und Sklavenhandel, dann wieder ist von einer Blutschuld die Rede, einem Henker und gar einem Teufelspakt, Gründerzeitökonomie koppelt sich mit Schatzgräberei, Liebigs Chemie mit einem mythischen Schiffsarzt, und wenn am Ende das ganze biedermeierliche Setting in Trümmern liegt, in das uns der Erzähler zu Beginn der Gewitternacht mitgenommen hat, weiß man: Nichts von dem, was einem gerade erzählt worden ist, ist das, was es scheint.

»Es haben wenige meiner kleineren Dichtungen das Publikum so intriguirt wie diese«, hält Raabe lakonisch fest. Das hat mit der Erzählweise dieses Schriftstellers zu tun, der betont, »ein Drittel« dessen, was er erzähle, habe »der Leser selber herauszudenken, zu fühlen und empfinden«. Was nichts anderes bedeutet, als dass wir die Sätze, die wir lesen, in unseren Köpfen ergänzen müssen zur Ganzheit einer Welt. Wenn wir Literatur als Wirklichkeit empfinden, erleben wir insofern eigentlich genau das Gegenteil, nämlich die Übereinstimmung der Erzählung mit jenen Konventionen, die uns vertraut sind, und zwar je mehr, je welthaltiger der Text zu sein behauptet. Weshalb der Realismus sein Versprechen, ein Erkenntnismittel jener Wirklichkeit zu sein, die sich immer entzieht, nur einzulösen vermag, wenn er miterzählt, was zwischen dem Text und uns geschieht, wenn wir lesen.

Und eben das ist es, was Wilhelm Raabe in Zum wilden Mann tut. Sobald sich in der Geschichte ein Element zu sehr mit Bedeutung auflädt und so den realistischen Charakter des Textes zu gefährden droht, zerstreut er in einer erzählerischen Bewegung der Metonymisierung jenen Sinn wieder, den er eben erst etabliert hat, um dann, wenn die Erzählung sich im realistischen Detail zu verlieren beginnt, wieder Prozesse der Bedeutungsaufladung in Gang zu setzen. Was eben jene Modulation beschreibt, aus der laut Barthes das »meiste, was wir Erzählung nennen, besteht«, einen ständigen Abgleich von Sensation und Deutung, von Kohärenz und Kontingenz.

Nichts anderes ist Realismus: Wir konstruieren unsere Welt in Sprache und aus Sprache, aber zugleich gibt es die Welt, sprachlos, ohne uns. Wir können sie nicht erreichen und müssen es doch. Dieses Eingeständnis macht die Modernität von Texten aus, egal wann sie geschrieben wurden. Und weil in der Katastrophe und der Liebe diese unaufhebbare Kluft uns am direktesten berührt, ist Literatur von beidem besessen. Es könne sein, vermutet Olga Martynova in ihrem Essay Warum Straßenbahn? Warum Lissabon?, »dass die Lissabonner, die seit mehr als zweieinhalb Jahrhunderten nach und neben der Katastrophe leben, ein Geheimnis kennen: Es gibt Dinge, die nicht überwunden werden können.«

Die Schönheit von Literatur ist daher immer auch die ihrer Vergeblichkeit. Darum, dass eine emphatische Lektüre sich dies eingesteht, kreisten unsere Gespräche im Seminar auch angesichts des dritten Textes, der uns nach Kleist und Raabe beschäftigte und dessen Konstruktion Durs Grünbein so zusammenfasste:

»Einen Text so zu komponieren, daß man ihn immer wieder

lesen wird, um in seine Kammern einzudringen,

um zu begreifen, was da komplex erfaßt wurde,

bis der Leser versteht, daß er hier dasselbe erleben soll

wie beim Gang durch eine Kunstausstellung, ein Museum

mit lauter Bildern, die zum Verweilen einladen

(nur daß Satzkonstruktionen hier das Visuelle ersetzen).

Also: lauter Bildergefüge. Und einen Kommentator, den Autor,

das moderne Ich, das durch den Ausstellungstext führt.«

Wovon ist die Rede? Von Gottfried Benns Gehirne. Novellen, einem halben Dutzend kurzer Erzählungen, deren erste so beginnt: Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert hatte, fuhr durch Süddeutschland dem Norden zu. Er hatte die letzten Monate tatenlos verbracht; er war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer merkwürdigen und unerklärlichen Weise erschöpft.

Es ist das Jahr 1916, und wieder ist, seit Raabes Der wilde Mann, annähernd ein halbes Jahrhundert vergangen. Gottfried Benn, Pfarrerssohn aus der Prignitz jenseits der Oder, »wo die Ebenen weit«, hatte sein Medizinstudium in Berlin gerade erst beendet. Vier Jahre zuvor war sein erster Gedichtband Morque erschienen, neun Gedichte, die Skandal machten und heute Schullektüre sind: Kleine Aster, Schöne Jugend, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke. Es geht um Medizin, Körper, Schmerz, Gleichgültigkeit, Armut und den Tod. Das Nest kleiner fiepender Ratten in einer Wasserleiche, der vom Krebs zerstörte Schoß einer Frau. Er habe die Gedichte während eines Sektionskurses am Klinikum Moabit in einer Nacht aufgeschrieben, erklärte Benn später. Sie machten ihn berühmt wegen ihrer scheinbaren Kälte.

Welche Anstrengung diese Kälte bedeutete, zeigt ein Gedicht Benns über seine Mutter, die in jener Zeit an Krebs starb. Der gläubige Vater hatte verhindert, dass der junge Arzt ihr Leid mit Morphium linderte.

»Ich trage dich wie eine Wunde

auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.

Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt

das Herz sich nicht draus tot.

Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre

Blut im Munde.«

Zu Kriegsbeginn eingezogen, arbeitete Benn 1916 als Militärarzt in einem Krankenhaus für Prostituierte in Brüssel. Hier – er hörte die Kanonen der Yser-Schlacht von fern – erfand er Rönne, die Hauptfigur seiner Erzählungen, die er uns folgendermaßen vorstellt: »Das ist Rönne, Arzt, mittelgroß, von gesunder Konstitution, linkes Augenlid hängt leicht herunter, meistens mißvergnügt, Dyspepsie im Gehirn, Neigung zu Fettansatz und Transpiration.« Erkennbar ist dies ein unsentimentales Selbstporträt. Benn sieht uns durch seine Figur hindurch an. Diese Prosa zu lesen, bedeutet, über ihren Verfasser nachzudenken, was höchst zeitgenössisch anmutet, ist doch das Memoir die vielleicht populärste literarische Form der Gegenwart. Doch anders als bei seinen aktuellen Epigonen, ist Rönne gerade nicht einfach ein Abbild des Autors, es gibt da eine offensichtliche Differenz, diese Texte zielen nicht auf Authentizität, die Konturen von Rönne und Benn flirren und dem entspricht ein Flirren der Sprache.

Ha, heute nicht einfach, Beine breit und herab vom Stuhl, mein Fräulein, die feine blaue Ader von der Hüfte in das Haar, die wollen wir uns merken! Ich kenne Schläfen mit diesen Adern, es sind schmale weiße Schläfen, müde Gebilde, aber diese will ich mir merken, geschlängelt, ein Ästchen Veilchenblut! Wie? Wenn nun das Gespräch auf Äderchen kommt – gepanzert stehe ich da, in Sonderheit auf Hautäderchen: An der Schläfe?? O meine Herren!! Ich sah sie auch an anderen Organen, fein geschlängelt, ein Ästchen Veilchenblut. Vielleicht eine Skizze gefällig? So verlief sie –, soll ich aufsteigen? Die Einmündung? Die große Hohlvene? Die Herzkammer? Die Entdeckung des Blutkreislaufes – – –? Nicht wahr, eine Fülle von Eindrücken steht Ihnen gegenüber? Sie tuscheln, wer ist der Herr? Gesammelt steht er da? Rönne ist mein Name, meine Herren. Ich sammle hin und wieder so kleine Beobachtungen; nicht uninteressant, aber natürlich gänzlich belanglos, kleiner Beitrag zum grossen Aufbau des Wissens und Erkennens des Wirklichen, ha! ha! Und Sie, meine Damen, wir kennen uns doch! Gestatten Sie, daß ich Sie erschaffe, umkleide mit Ihren Wesenheiten, mit Ihren Eindrücken in mir, unzerfallen ist das Leitorgan, es wird sich erweisen, wie es sich erinnert, schon steigen Sie auf.

Dieser Ton Rönnes hat die Literatur nicht mehr losgelassen. Es ist der Ton einer Überforderung und des Ichverlusts, von Nervosität und hohler Männlichkeit, der Härte und zugleich sentimentaler Sehnsucht. »So etwas war nicht zu finden woanders«, schreibt Klaus Theweleit, »bei keinem George oder Trakl oder Heym oder Brecht, auch Rilke nicht oder sonstwo in deutscher Sprache. Zeilen, die ich jetzt Rocktexten näher finde als den Gedichten anderer deutscher Lyriker. Lyrics. Bennsche Klänge, sounds eher als Bedeutungswörter … Wortkonglomerate, die in den Körper eingingen … nicht wie, sondern als eine Musik. Woran liegt diese Wirkung?« Das ist die Frage, die sich bei Benn immer wieder neu stellt – ungefähr alle dreißig Jahre erlebt er eine Wiederentdeckung –, denn tatsächlich fällt es schwer, sich diesem politisch zweifelhaften und menschlich unangenehmen Dichter zu entziehen, es sei denn durch Verweigerung. Wohin verlockt er uns? In die Sphäre der Unschärfe, die zwischen einem Text und uns existiert und die er wie wenige offen zu halten verstand. In jenes Zwischenreich, von dem die Rede war, aufgespannt zwischen Sinn und Kontingenz wie der Schirm von Raabes Erzähler. Es ist der Hallraum der Sprache selbst, in ihr nur entsteht Literatur. Jeder Vers Benns sagt: Es ist recht sehr Nacht geworden. Wir haben die Katastrophe bereits hinter uns. Geblieben von ihr ist uns die Kälte der Vergeblichkeit, doch sie berührt uns im Schauer der Lektüre tröstlich wie kaltes Wasser.

»Wie mich dieser angebliche Satz Benns durch meine Zwanziger begleitet hat: Man habe sein literarisches Material kalt zu halten«, schreibt Katharina Schultens. »Bis in den Marmorgarten meiner eigenen Medusa hallte er mir nach. Ich flüstere ihn noch immer unter jedem neuen Gedicht.«

Mein Dank gilt Hans-Christian von Herrmann, der mich zu diesem Experiment ermuntert und es geduldig begleitet hat. Der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung und dem Verein der Freunde der TU Berlin danke ich für ihre finanzielle Unterstützung, Florian Höllerer vom Literarischen Colloquium Berlin, dass er sein Haus für Veranstaltungen des Seminars geöffnet, und Thomas Geiger, der den Abdruck der Essays in der Sprache im technischen Zeitalter ermöglicht hat.

Inhaltsverzeichnis

ÜbersichtKleist

Text

Heinrich von Kleist – Das Erdbeben in Chili

Essays

Ulrich Peltzer – Kleist war ungeschickt

Olga Martynova – Von Zufall und Schicksal oder DARUM

Aris Fioretos – 8,5 Punkte zum Tremor

Felicitas Hoppe – Ein preußischer Stummfilm

Inhaltsverzeichnis

Ulrich Peltzer Kleist war ungeschickt

Kleist war ungeschickt. Ein Fremder in jeder Gesellschaft, stotternd, errötend. Als sei er inferior und hätte sich nur eingeschmuggelt, in einen Berliner Salon, in ein Theater, irgendwo. Was kann, was soll aus einem werden, der mit 14 – ein halbes Kind ist er noch – zu den Soldaten kommt, um wenig später schon in seinen ersten großen Krieg zu ziehen? Einem Klima des Todes preisgegeben, des Gefechts, von Befehl und Gehorsam, in dem das Überleben sich dem Zufall verdankt. Als eine absichtslose Verkettung von Umständen, deren Endpunkte gleichwohl festzustehen scheinen, unsterblicher Ruhm oder ein Grab ohne Namen. Die Vorhersehung lässt keine Fragen zu, trotzdem spricht sie, ordnet an, hat seltsame Ideen, wie ein gelangweilter Despot, der morgen vergessen hat, was ihm gerade eben eingefallen ist.

 

Sich bereitwillig in die Launen des »Tyrannen Schicksaal« zu ergeben, ist des jungen Kleists Sache aber nicht. Höchst unwürdig ist das in seinen Augen für einen »freien, denkenden Menschen«. Der nämlich, so teilt er es forsch der Schwester Ulrike mit, »bestimmt nach seiner Vernunft, welches Glück für ihn das höchste sei, er entwirft sich einen Lebensplan, und strebt seinem Ziele mit allen seinen Kräften entgegen«.

 

Pläne haben, Pläne machen kann man immer. Wenn man dazu bloß in der Lage ist. Der Plan als Abbild der Natur als einem ewigen und gesetzmäßigen Kontinuum, eins entwickelt sich organisch aus dem anderen, und allem wohnt eine – möglicherweise sogar göttliche – Logik inne. Dem schließt sich die Idealfigur der Natur als Baum an, des Sozialen als Modell einer Stratifizierung. Adel, Klerus, Volk. Bourgeoisie und Proletariat. Jede Abweichung, jeder Ausbruch aus der dem Einzelnen zugedachten Rolle lässt sich erklären, psychologisch oder politisch. Besser hätte ich gesagt: soll sich erklären lassen, andernfalls müsste man Wahnsinn in Anschlag bringen, eine schwer fassliche, sich dem Verstand vielleicht gar nicht erschließende Raserei der Affekte. In einem Brief an eine »theure Freundinn« schreibt Kleist am 29. Juli 1804, er ist 26 Jahre alt: »Ich bin nicht im Stande vernünftigen Menschen einigen Aufschluß über diese seltsame Reise zu geben. Ich selber habe seit meiner Krankheit die Einsicht in ihre Motiven verloren, und begreife nicht mehr, wie gewisse Dinge auf andere erfolgen konnten.«

Was wollte er? »Wie von der Furie getrieben«, so Kleists eigene Worte, hatte er Frankreich »mit blinder Unruhe in zwei Richtungen durchreiset«, um schließlich in Boulogne sur Mer zu landen, »wo ich«, wieder Kleist, »wenn Bonaparte sich damals wirklich nach England mit dem Heere eingeschifft hätte, aus Lebensüberdruß einen rasenden Streich begangen haben würde.«

Ein unwiderstehlicher Drang nach Bewegung, eine Fliehkraft, die ins Exzentrische gerichtet ist, in Zonen, die wohltemperierte Charaktere meiden in ihren Phantasmen von Ausgleich und Gespräch. Dunkelzonen, die nur erhellt werden von grellen Wortblitzen – das Reich unserer Gespenster, spukhafte Szenen voller Angstlust hinter den Fassaden und Codes einer unbefragten Normalität.

 

Immer wieder gerät Kleist, geraten wir mit Kleist auf Schlachtfelder, seine Figuren, genau wie seine Leser, stets im Bann eines Verhängnisses, dem zu entrinnen praktisch nicht gelingen kann. Manchmal ein erschöpftes Aufatmen, bevor es zum nächsten unheilvollen Ansturm kommt. Die furchtbarsten Tode ereilen Schuldige wie Unschuldige, da wird ein Verräter von einer Bärin in einem Käfig, in den man ihn gelockt hatte, zerrissen, der Schädel eines Säuglings an einem Kirchenpfeiler zerschmettert. Was einem dann noch übrig bleibt, ist, wie es im Erdbeben in Chili heißt, die Leichname jetzt fortschaffen zu helfen.

Wahrscheinlich gibt es keinen deutschen Autor, bei dem Gewalt und Gewaltverhältnisse so präsent sind, dazu Täuschung, Verkleidung, Somnabulismen, Betrug. Dass es gut ausgehen möge oder wenigstens nicht die allerschlimmste Wendung nähme, wünscht man sich inständig, wenn Kleist ein Einsehen hat, inszeniert er finale Arrangements, denen etwas Wundersames eignet – wer’s glaubt, wird selig.

 

Doch Kleist hat kein Einsehen, diese von mir in allzu kolloquialer Manier gewählte Formulierung, die so etwas wie Verständnis ausdrückt, kalkulierte Milde gegenüber einem erlösungsbedürftigen Publikum, geht an der narrativen Verfahrensweise seiner Erzählungen, der Dramaturgie seiner Stücke im Grunde völlig vorbei. Kleist ist an Zusammenstößen interessiert, er lässt Gestalten und Affekte aufeinanderprallen, ohne sich gängigen literarischen Vermittlungspraktiken zu unterwerfen. Keine berechenbare Ökonomie der Gefühle, sondern Frontalkollisionen von nervösen Zuständen, es ist wenig verwunderlich, dass sein Personal – gänzlich überwältigt von innerem Aufruhr und situativer Hilflosigkeit – in Ohnmacht fällt, zu stammeln beginnt, sich falschen Verbündeten zuwendet. Graziös ist das nicht, auch mangelt es jeder auktorialen Freundlichkeit, dafür gestattet Kleist den Menschen in den Fängen seines Erzählapparats Intensitätserfahrungen, die ihnen (wie auch uns) unvergleichlich sind, Epiphanien der Seele in Augenblicken äußerster Not, einer sie wie ein Geschoss durchdringenden Liebesbegegnung.

 

Legende, Polizeibericht, bizarre Meldung aus der Rubrik Vermischtes, Fußnoten historischer Ereignisse, Poe’sche Horrorstory – avant la lettre – scheinen sich bei Kleist oft zu verschränken, er beginnt hier und endet dort in einem Maschinengefüge aus von Einschüben und Anmerkungen mal gebremsten, dann wieder irrsinnig beschleunigten Hypotaxen, einem Räderwerk gleich, dem man nicht mehr entkommt, ist man erst einmal drinnen. Ich jedenfalls muss bei der Kleist-Lektüre gelegentlich an die emblematische Filmsequenz aus Chaplins Moderne Zeiten denken, als der Tramp von einer gewaltigen Konstruktion aus Antriebsriemen und rotierenden Zahnrädern verschlungen wird, im letzten Moment dann von einem Kollegen gerettet, der den Rückwärtsgang einschaltet. Der Rückwärtsgang existiert für Kleist nicht, wie sein Erzählen von einem blutigen Ernst ist, allein die Leichtigkeit, wenn wir’s so nennen wollen, des Amphitryon – und nicht die derbe Komik des Zerbrochenen Krugs – versieht sein Werk mit einer Prise Humor, ansonsten gibt es bei ihm wenig zu lachen. Kleists Welt war nicht danach, eine Welt des Krieges, der die Subjekte und Territorien, auf denen sie nicht heimisch sein können, affiziert und durchpulst, er selbst hin- und hergerissen zwischen Adoration des Weltgeistes, dessen Verkörperung damals den Namen Napoleon führte, und Widerstand um jeden Preis. Und sei es, dass man das Eigene zerstört, um es nicht in die Hände des Feindes fallen zu lassen, ein Programm der Barbarei, das Hermann in der Hermannsschlacht als Bedingung seiner Führerschaft gegen die vorrückenden Römer in einer Reihe rhetorischer Fragen an die anderen germanischen Fürsten folgendermaßen skizziert: »Wollt ihr […]/Zusammenraffen Weib und Kind,/Und auf der Weser rechtes Ufer bringen,/[…] Verheeren eure Fluren, eure Herden/Erschlagen, eure Plätze niederbrennen,/So bin ich euer Mann.«

Kleist hier, mit einer gewissen Exklusivität, als Typus seiner Epoche deuten zu wollen, ist so fruchtlos wie jeder Versuch, ihm und seiner Dichtung mit den Begrifflichkeiten der psychoanalytischen Orthodoxie zu Leibe zu rücken. Ödipales Begehren zu diagnostizieren, eine neurotische Fixierung oder narzisstische Defizite, Kleist also auf dem Feld imaginierter Konflikte zwischen, sagen wir, abwesendem Vater und kaltherziger Mutter zu reterritorialisieren, heißt, seinen Furor im Leben und im Schreiben – wie andererseits auch seine Sprachhemmungen und Schamanwandlungen im gesellschaftlichen Verkehr – zu reduzieren auf eine Position unaufgeklärter Innerlichkeit, die seinen realen und seinen textuellen Bewegungen, seiner Hetzjagd in Sätzen und zu Pferde durch halb Europa nicht nur nicht beikommt, sondern sie ums Ganze verfehlt. Wo bei Kleist Familien auftauchen, ähneln sie oft mehr Racketes als romantisches Idyll zu sein, und das nicht aus Verzweiflung oder Enttäuschung über zu wenig empfangene Liebe, eine Kasernenhofjugend, sondern als Wesensbestimmung einer Gruppe, deren Solidarität erkauft wird mit Unterwerfung, ein schnöder Zwangsverband aus Gier und Opportunität.

Auch wenn das Kunstschaffen nie ein kompensatorischer Akt ist, wäre es synthetisch, Kleist als Person und Autor seiner Zeit zu entheben. Einige Stichworte sollte man nennen: ein Aufwachsen in Uniform, das Disziplinarregime der preußischen Armee, die Erfahrung der Schlacht vor jeglicher Erfahrung mit dem Geschlecht, revolutionäre Unruhen, die ganz Europa erschüttern, feudalistische Reaktion, wechselnde politische Koalitionen mal gegen, mal mit Frankreich, der Aufschein bürgerlicher Freiheit jenseits der rigiden Ordnung einer Militärbürokratie, Napoleon als Agent des Code civil und zugleich imperialistischer Befehlshaber, den zu bekriegen, Frankreich zu bekriegen, Staatsräson in Preußen, in Deutschland, für die nächsten 150 Jahre werden sollte, fresst Staub, ihr Feinde, »Heil! Heil! Heil!«

Kleist ist umgeben von Kriegsmaschinen, von bewaffneter Macht, der Tod nie fern. Wenn man so will, zwei Jahrzehnte eines fortgesetzten Ausnahmezustands. Während Staaten verschwinden oder neu konstituiert werden, durchqueren bislang unbekannte Kräfte das soziale Feld und wühlen es auf, an Herkunft und göttliche Legitimation gebundene Herrschaft beginnt zu wanken und taumeln, nicht zuletzt nationales Pathos reorganisiert sie. Und das um den Preis der Emanzipation, deren Abglanz der französische Kaiser auf seinen Feldzügen immer noch ausstrahlt – falls strahlen nicht ein zu starkes Wort ist. Wo, wie findet sich in alldem ein Platz für jemanden, der eine andere Politik verfolgt als die der besseren Kreise, wo Höflichkeiten zirkulieren und sentimentale Verträge geschlossen werden? Der unbedingt agiert, ein Irrender über Schlachtstätten, auf denen sich immer wieder Affekte entladen, die nicht einzutauschen sind gegen die Empfindsamkeitswerte des Gefühls, Metaphysik und private Handelsware des bürgerlichen Subjekts. An Kleist kann man sich die Finger verbrennen, seine Literatur ist einer Bewegungsenergie unterworfen, deren mitreißende Kraft so grausam sein kann wie von größter Zartheit erfüllt – als sei das eine vom anderen gar nicht zu trennen. Wenn Kleist eines nie ist, dann erbaulich, kein Wunder, dass sein Versuch, einmal staatstragend zu sein, in der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen ziemlich misslingt, ein General fällt nicht in Ohnmacht und ein Prinz zeigt keine Todesfurcht. Als ich das Stück, den Prinz Friedrich von Homburg oder die Schlacht bei Fehrbellin, zum ersten Mal gelesen habe, war mir völlig unbegreiflich, wie man daraus ein Modell nationaler Erweckung machen kann, mir schien es eher ein Traumspiel zu sein, Albtraumspiel und Wünscheerfüllungsfantasie und Anamnese des soldatischen Körperpanzers in einem. Wenn die preußischen Offiziere zum Schluss ihr kriegerisches Gebrüll anstimmen, »Zum Sieg! Zum Sieg!«, und dieses aus heutiger Sicht schwer erträgliche »Heil! Heil! Heil«, kam mir das und kommt mir das immer noch wie eine Travestie vor, rasch hinten drangeklebt, um einen strategischen, nicht-literarischen Zweck zu erfüllen, vielleicht eine kleine Pension aus der königlichen Schatulle oder irgendein Pöstchen im Staatsdienst. Nur hätte Kleist dann einen anderen Protagonisten wählen müssen als einen Schlafwandler, mit dem die Hofgesellschaft ihre blöden Späße treibt.

 

In Gang gesetzt wird das Stück, der Prinz von Homburg, durch eine Irregularität, einen Angriffsbefehl des Prinzen entgegen königlicher Order. Das ist sein dramaturgischer Kern, der Angelpunkt, um den herum sich alles Spätere entwickelt. Eine Infamie, aus Sicht der Macht, selbst wenn die Schlacht dadurch gewonnen wird. Solche Irregularitäten, Normabweichungen, gebrochene Versprechen, Vertrauensmissbrauch oder kaum zu entschuldigende Fahrlässigkeiten finden sich fast überall in Kleists Werk, als seien sie die unabdingbaren Antriebskräfte seines Erzählens. Dazu ein Gefühlsüberschwang, der sich jedweder Konvention entzieht. Etwas Unerhörtes ereignet sich, durchbricht die Ordnung des Rationalen, die der Garant für die Kontinuität des Lebens ist. Für seine Planbarkeit. Die Beständigkeit der Verhältnisse. Dass darin ein infektiöser Herd nistet, bleibt im Regelfall verborgen, wie die Kosten, die sozialen, moralischen, politischen, die von jedem Einzelnen zu zahlen sind, um den Schein einer quasi prästabilierten Harmonie aufrechtzuerhalten.

Die Natur macht keine Sprünge, natura non facit saltus, hieß es seit der Antike, sie ist stetig und frei von Plötzlichkeit, differenzierbar, zu beschreiben in universalen Gesetzen. Relativ und nur temporär gültig ist hier nichts, und die Annahme, dass die moderne Naturwissenschaft zu Kleists Zeiten wie alchemistischer Zauber betrachtet worden wäre, sicher nicht allzu weit hergeholt. Wer es wagt, am Bild der Natur, und eben auch der menschlichen, als im Prinzip sorgsam geknüpftem, ebenmäßigem Gewebe zu zweifeln, muss als Sonderling gelten, wer es aktiv infrage stellt durch sein Tun, gehört sofort in Ketten und interniert. Er wird zum Fall, zu einem Objekt polizeilicher Akten, wie nicht selten zum Gegenstand einer über Generationen kolportierten Erzählung. Kurzgeschichte oder Anekdote, die das Geschehen noch einmal aufblitzen lässt, nicht selten narrativ zurechtgebogen, um Moralvorstellungen zu genügen bzw. die Gerechtigkeit walten zu sehen. Immer aber handelt es sich um die furchterregende, nicht mehr vermittelbare Erscheinung leidenschaftlicher Unvernunft in einer Welt der Vorschriften und Hierarchien, von Machtbeziehungen und wechselseitigen Verpflichtungen – die man, koste es, was es wolle, nach jeder Störung schnellstens wieder einzurichten hat.

Im Zentrum dieser Geschichten stehen oft obskure und unglückliche Existenzen – wie Foucault sie im Vorwort zu einem Buch, das dann nie erschienen ist, charakterisiert –, berichtet wird uns von ihrer Verzweiflung, ihrer Wut, ihrer Liebessehnsucht, ihrem diffusen Wahnsinn. Weder »Größen der Geburt, des Vermögens, der Heiligkeit, des Heldentums oder des Genies« prädestinieren sie für irgendein Aufsehen, wie Milliarden vor und nach ihnen dazu bestimmt, »ohne Spur vorüberzugehen«, wenn sie nicht »gleichwohl von einem Feuer durchquert worden« wären, beseelt gewesen wären »von einer Gewalt, einer Energie, einem Exzess«, »die ihnen in den Augen ihrer Umwelt und gerade im Verhältnis zu ihrer Mittelmäßigkeit eine Art von erschreckender oder erbarmungswürdiger Größe gab«. Foucault spricht hier nicht von Kohlhaas, oder einer anderen Kleist’schen Figur, sondern von denen, die durch Denunziation in den Lettres de cachet unversehens in die Mühlen der absolutistischen Justiz gerieten, aus ihrer Anonymität und ihrem Schweigen gehoben in jenen kurzen »Nachrichten-Novellen«, als die er die Lettres im Archiv der Nationalbibliothek liest, ein Schock der Wörter und Sätze, »aus dem für uns immer noch ein Effekt von Schönheit und Schauer entsteht«.

Die Zufälligkeit, mit der es die Opfer der administrativen Willkür trifft, korrespondiert hier auf subkutane Weise mit der Vorform eines neuen literarischen Imperativs, mit einer neuen Ethik des Erzählens, das seine Aufgabe in der Zukunft nicht mehr darin haben sollte, »den überhellen Glanz der Gestalt, der Gnade, des Heldentums, der Mächtigkeit sinnlich zu manifestieren; sondern hinzugehen und zu suchen, was am schwierigsten wahrzunehmen ist, was am tiefsten verborgen ist, was am unbequemsten zu sagen und zu zeigen ist, schließlich was man am meisten untersagt und anstößig ist«. Das menschliche Wesen und die Modalitäten sozialer Beziehungen bis zur Kenntlichkeit entstellt im Furor der Anklage, der Nachrede, des Internierungsbescheids, Zwänge und Abgründe. So heißt es, exemplarisch, über einen jungen Strolch und Gassenbuben: »Er ist ein Monster von Libertinage und Gottlosigkeit … Wohl gewöhnt an alle Laster: spitzbübisch, unbelehrbar, ungestüm, gewaltsam, seinem eigenen Vater in bewusster Absicht nach dem Leben zu trachten imstande … immerzu in Gesellschaft mit Weibern der letzten Hurerei. Alles was man ihm von seinen Gaunereien und Liederlichkeiten vorhält, macht überhaupt keinen Eindruck auf sein Herz; er antwortet darauf nur mit dem Lachen des Ruchlosen, welches seine Verhärtung erkennen lässt und nur zu lernen gibt, dass er unverbesserlich ist.«

In dieser Beschreibung den Umriss Nicolos zu erkennen, einer der beiden Hauptfiguren in Kleists Erzählung Der Findling, fällt nicht schwer, im Großen und Ganzen ist hier alles versammelt, was ihm vorzuwerfen wäre: ein junger Mann, der – ich kompiliere Kleist – vor Begierde nach dem weiblichen Geschlecht glüht und nicht nur ein Verhältnis mit der Beischläferin des Bischofs eines Karmeliterklosters unterhält, sondern dem alten Hahnrei das gemeinsame Kind auch noch untergeschoben hat, sich des Weiteren an seine Stiefmutter heranmacht und perfide zu verführen versucht, den gutmütigen Vater, der ihm das Leben einst rettete und ihn an Sohnes statt annahm, um sein Vermögen betrügt und aus dem Haus jagt, um schließlich »die abscheulichste Tat, die je verübt worden ist, auszubrüten«.

Der Findling Nicolo handelt unserem zeitgenössischen Verständnis nach grundlos, wenn wir als Begründung seines Handelns eine Art von psychodynamischer Kausalkette supponieren wollten, die ihren Anfang nehmen würde in einer elenden Kindheit und dem Tod seiner leiblichen Eltern durch eine pestartige Krankheit. Es geht hier – und bei Kleist im Allgemeinen – nicht um ein Innen, das gutachterlich zu durchleuchten und in eine logische, eine mehr oder minder ausdifferenzierte Beziehung zu setzen wäre zu einem Außen, zur Empirie, sozusagen, unserer Erlebnisse und Erfahrungen mit einer Person und ihrem Verhalten – wie es, spätestens seit Freud, ein allgemein geläufiges Erklärungsmuster will. Warum ist es, aus welcher individuellen Disposition, zu diesem oder jenem Vorfall gekommen? Ein analytischer Zusammenhang, von dem eigentlich auch unser Mitgefühl und unsere Hilfsbereitschaft abhängen, wie er die Grundlage jeden Urteils bildet, etwa in der Rechtsprechung, wo die Schuld, die einer auf sich geladen hat, größer oder kleiner wird je nach Motiv. Zwar ist Nicolo in der Vorstellung Kleists von Wollust und Rachedurst erfüllt, als er sein Verbrechen ausheckt, aber beides widerfährt dem Übeltäter, stößt ihm zu wie eine elektrische Entladung, die weder vorherzusehen noch abzuwenden war durch ein wenig mehr Selbstkontrolle, Intelligenz oder irgendeine therapeutische Prävention. Eine mörderische Energie, die sich nicht zergliedern, biografisch nicht zurückführen lässt auf ein Initialereignis und denkbare Folgeschäden, wie ein Angriff aus dem Nichts.

Oder anders: ein rasender Streich, den man begeht oder begangen haben würde, wie es Kleist von seinem Ritt an die Kanalküste berichtet. Wie von der Furie getrieben sei er gewesen, als er die Reise antrat, dann gesteht er »der teuren Freundinn«, er habe »die Einsicht in ihre Motiven verloren, und begreife nicht mehr, wie gewisse Dinge auf andere erfolgen konnten«. Tatsächlich ein Geständnis, denn zu wissen und zu begründen, warum man so und nicht anders gehandelt hat, ist bare Münze im geschäftlichen wie im privaten Verkehr und konstituiert recht eigentlich das bürgerliche Subjekt. Sein Selbstverhältnis und seine Beziehungen in einer rational zu durchdringenden Welt, deren Conditio sine qua non der angemessene Tausch ist, sei es von Gütern, sei es von Gefühlen.

 

Das Mittelmaß ist dabei der verbindliche Standard, Übertreibungen schädigen nicht nur den Einzelnen, sondern jedes soziale und, darf man ergänzen, letzten Endes auch jedes künstlerische Gefüge. Das, was man sein vorgestelltes inneres Gleichgewicht nennen könnte, zentral ausgerichtet, symmetrisch, ohne Exaltationen. Keinen Platz hat im einen wie im anderen »das Magische, Magnetische, Dämonische, die vornehme Gespenstigkeit des Hellsehens, die Krankheit des Schlafwandlers usf.«. Der hier so spricht und dekretiert, ist Zuchtmeister Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik im Abschnitt über den Charakter, um dessen möglichen Mangel an »innerer, substantieller Gediegenheit« er ernsthafte Sorge trägt. Denn diese Gediegenheit ist nicht nur die Basis des Geschäfts, sondern soll auch der Regent des Erzählens sein. »Sonderbare Herrlichkeiten des Gemüts«, die einerseits im Individuum selbst, andererseits ihm fremdartig und jenseitig sind, haben da nichts zu suchen, vielmehr seien »aus dem Bereiche der Kunst […] die dunklen Mächte gerade zu verbannen, denn in ihr ist nichts dunkel, sondern alles klar und durchsichtig […] Der wahrhaft ideale Charakter hat nichts Jenseitiges und Gespensterhaftes, sondern wirkliche Interessen, in welchen er bei sich selbst ist, zu seinem Gehalte und Pathos.«

Wer sich einen Plan vom Leben gemacht hat, in der Wirklichkeit seiner Interessen wie im Elysium der Kunst, und ihn, ganz im Sinne Hegels, sachlich verfolgt, der schwankt nicht, erliegt keinen Erscheinungen, kennt keine unbeherrschbaren Kräfte – ganz im Gegenteil, so jemand prüft, wägt ab, ist kühn, wenn sein Verstand es beglaubigt, und verzichtet, wenn sich ein Vorpreschen nicht lohnt. Der Rest ist »Krankheit des Geistes«, nebulos, eitel, leer. Ausdrücklich nennt Hegel an dieser Stelle neben E. T. A. Hoffmann den Prinzen von Homburg als Negativbeispiel, für ihn ein pathologischer Fall, indes allein erst durch die Pathologie, die Merkwürdigkeiten des Protagonisten die Poesie in ihr ureigenes Recht gesetzt wird – die »dunklen Mächte« als Sphärenmusik eines Menschseins außerhalb der Ordnung einer klassifizierenden und exkludierenden Vernunft, behördlicher Repression, familiärer Zurichtung. Höchst gefährliche Mächte, das will ich keineswegs unterschlagen, der Tod ist ihr ständiger Begleiter. Kerker, Schafott, Naturgewalt, Amok. Jedoch sind allein sie imstande, Momente des größten Glücks hervorzurufen, rauschhafter Liebesverschmelzung, unsäglicher Wonne, einer Seligkeit, »wie nur ein Dichter davon träumen mag«.

 

Der Traum (oder Albtraum) des Dichters Kleist währt kaum mehr als 24 Stunden. Dann sind die Liebenden vom Mob erschlagen, und St. Jago, der Ort ihrer Begegnung, liegt weitflächig in Schutt und Asche. Das Erdbeben in Chili führt von der Apokalypse übers Paradies ins Inferno, nicht ohne uns zuvor noch, in der gerafftesten Form, zu Zeugen des zärtlichen Einverständnisses zwischen Donna Josephe, der Tochter eines der reichsten Edelleute der Stadt, und Jeronimo Rugera, ihrem Hauslehrer, gemacht zu haben. Geraffteste Form meint, dass Kleist sich der Notwendigkeit, ein Liebesverhältnis als dramatischen Ausgangspunkt der Erzählung zu etablieren, in einer Weise entledigt, die alles ausspart, was romantische Empfindsamkeit erwarten würde. Nachdem Jeronimo und Josephe von, ausgerechnet, ihrem Bruder beim Vater-Patriarchen denunziert wurden und man Josephe in ein Kloster gesperrt hat, kommt es nicht etwa zur Schilderung seiner oder ihrer Gefühle, von Verzweiflung oder Sehnsucht, und auch nicht zu einem, Spannung oder Anteilnahme garantierenden, Bericht über Jeronimos Suche nach der Geliebten, sondern zu der unvermittelt erfolgenden Feststellung, dass er durch einen glücklichen Zufall […] hier [im Kloster] die Verbindung von neuem anzuknüpfen gewußt hatte.

In der Sprache des Films ausgedrückt, handelt es sich um eine Art von radikalem Jump Cut, dem sich gleich zwei weitere anschließen, im nächsten Satz kommen die beiden in einer verschwiegenen Nacht im Klostergarten zusammen und schon im übernächsten sinkt Josephe während einer feierlichen Prozession auf den Stufen der Kathedrale von St. Jago in Mutterwehen nieder. Was in den neun Monaten dazwischen passiert ist – ob sie sich weiter gesehen haben oder Briefe wechselten –, ist für Kleists Erzählen ohne Bedeutung, genauso wie jeder biografische Hintergrund Jeronimos. Weiß man von Josephe zumindest, dass sie einer wohlhabenden Kolonialistenfamilie des spanischen Amerikas entstammt, erfährt man von ihm lediglich, dass er einen Vater hat, das aber erst am Ende der Geschichte, als ebendieser Vater plötzlich aus dem städtischen Lynchmob auftaucht, um seinen Sohn, einen Jedermann mit keinem anderen Kennzeichen als dem des leidenschaftlich Liebenden, mit einem ungeheuren Keulenschlage zu Boden zu strecken.

Ohne Sentiment, jede Seelenexegese, bewegt sich Kleist, nicht nur im Erdbeben im Chili, hier aber vielleicht am entschiedensten, von einem Intensitätspunkt zum anderen, vom Auftaktsatz an, in dem uns wie ein Donnerschlag mitgeteilt wird, dass Jeronimo sich in seiner Zelle zu erhängen versucht, weil Josephe an diesem Tag, ob ihres unverzeihlichen Vergehens gegen das klösterliche Gesetz, hingerichtet werden soll. Konstruktive Ausgewogenheit, Ursachenforschung oder gar narzisstischer Genuss am und im eigenen Erzählen sind Kleist vollkommen fremd. Er schleudert seine Figuren in ein katastrophisches Geschehen, zu dem es keine Distanz gibt in irgendwelchen Momenten innerer Einkehr, weitergehender Reflexion oder Historisierung, seine Leser sind der Abfolge des Dramas so schutzlos ausgeliefert wie die Liebenden und Leidenden in seinem Malstrom.

Rettung bzw. kurzfristige Erleichterung verschaffen nur Zufälle, philosophisch gewendet, die Kontingenz des Lebens und der Geschichte selber. An prominentester Stelle das titelgebende Erdbeben, das Jeronimo aus dem Gefängnis befreit und Josephe vor ihrer Hinrichtung bewahrt. Schreckensbilder vom Untergang der Stadt lösen sich ab, Flammen lecken, Stimmen ächzen, der Fluss tritt Menschen verschlingend über seine Ufer. Diese Heimsuchung der Natur als Strafgericht zu verstehen, das uns Genugtuung verschafft gegen die bigotte Hartherzigkeit der Bewohner St. Jagos, für die Josephens Hinrichtung ein Theaterspektakel ist, bei dem man sich um die besten Plätze balgt, wäre eine mehr als verkürzte Lesart. Gott ist abwesend, kein intelligibler göttlicher Plan vollzieht sich, und ein schnelles Dankgebet Jeronimos für seine Rettung reut ihn sofort – zu fürchterlich das Wesen über den Wolken, als dass man es überhaupt ansprechen oder Vertrauen zu ihm haben könnte. Gräuel über Gräuel beklemmen Jeronimos Herz, gleichwohl weint er, auf einem Hügel vor der Stadt dem Verderben entkommen, im selben Augenblick vor Lust, daß er sich des lieblichen Lebens, voll bunter Erscheinungen, noch erfreue. Von »innerer, substantieller Gediegenheit« zeugt das, wie eine Reihe anderer, abrupter Gemütsbewegungen, die von ihm Besitz ergreifen, nicht, viel eher von der Kompromisslosigkeit affektiver Qualitäten und Zustände, die – naturgemäß, hätte ich fast gesagt – in strikter Opposition zur sublimatorischen Gefühlswelt eines Bürgertums stehen, das sich an der Schwelle zur Macht befindet, ohne sie, wenigstens in Deutschland, jemals revolutionär überschreiten zu können (und mehr als offensichtlich existieren da Verbindungen). Dass der Geheime Rat Goethe den deklassierten Adeligen Kleist nicht besonders mochte, ihn als infantil und effeminiert bezeichnete, lässt sich in diesem Zusammenhang durchaus als Abwehrmechanismus verstehen, der hinter der persönlichen Beleidigung aufs Subversive der Kleist’schen Produktion abzielte, auf die Sprengkraft einer Dramatik und einer Prosa, die sich den ästhetischen wie den politischen Kategorien ihrer Zeit schlechthin entzieht.

 

»Zuweilen«, schreibt Kleist am 15. August 1801 in einem langen Brief an die Verlobte Wilhelmine von Zenge, »wenn ich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen und prächtigen Bänden die Werke Rousseaus, Helvetius’, Voltaires stehen, so denke ich, was haben sie genutzt? Hat ein einziges seinen Zweck erreicht? Haben sie das Rad aufhalten können, das unaufhaltsam stürzend seinem Abgrund entgegeneilt?« Und wenig später: »Was heißt das auch, etwas Böses thun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die beßten.«

Skepsis am Gedanken eines allgemeinen Menschheitsfortschritts geht hier über in den Zweifel an der Linearität, der logischen und moralischen Konsequenz menschlichen Handelns, die Verhältnisse zwischen Mittel und Zweck werden fragwürdig, Vorsätze können sich in ihr Gegenteil verkehren. Und man weiß nie genau, warum, welches Relais falsch geschaltet war. Sich auf Wahrscheinlichkeiten zu verlassen, ist leichtsinnig, mit dem Schlimmsten wie mit dem Idealen muss immer gerechnet werden, sich dagegen zu wappnen, überfordert den Einzelnen. Folgerichtig beraubt uns Kleist, insbesondere aber im Erdbeben, jeder Illusion von einer vordergründig aufklärerischen Heilkraft des Erzählens, jedes Glaubens an ihm offenstehende didaktische Möglichkeiten oder Lebenshilfe, Sinnstiftung, die Besänftigung oder zumindest Rationalisierung unserer Ängste.

Das Unwahrscheinliche tritt bei Kleist als Ausfall gegen die Norm, narrative, politische, kulturelle Norm, ganz selbstverständlich ein, der Effekt ist Verstörung. Unsäglichkeit. Unsägliches Leid, unsägliches Glück. Das eine vermag instantan ins andere umzuschlagen, und Trennlinien sind schwer zu ziehen, im Rückblick wird es einem ganz deutlich: So war der Schmerz in jeder Menschenbrust mit so viel süßer Lust vermischt, daß sich […] gar nicht angeben ließ, ob die Summe des allgemeinen Wohlseins nicht von der einen Seite um ebenso viel mehr gewachsen war, als sie von der anderen abgenommen hatte. Beleg für Josephe, die hier über das interne Verhältnis der Empfindungen spekuliert, sind Bewohner St. Jagos, die in der Katastrophe, als alles um sie her zusammenstürzte, Römergröße gezeigt hatten, Beispiele zu Haufen von Unerschrockenheit, von freudiger Verachtung der Gefahr, […] von ungesäumter Wegwerfung des Lebens, als ob es, dem nichtswürdigsten Gute gleich, auf dem nächsten Schritte schon wiedergefunden würde.

Was bei Kleist auch für das Glück gilt, auf dem nächsten Schritte kann’s wiedergefunden werden und seinen Zauber entfalten, als hätte es zuvor nicht das andere gegeben, Leid, Niedertracht, Schmählichkeiten. So erblickt Jeronimo unter den Geretteten in einem Tal plötzlich Josephe und ihr gemeinsames Kind; wie beider Überleben gelang, wird zwar erzählt, ist aber nur das Präludium für Bilder bukolischen Friedens, in dem die Geliebten nebst dem kleinen Philipp während der Nacht geborgen sind, unter einem Granatapfelbaum, der seine Zweige, voll duftender Früchte, weit ausbreitete.

Warum es nicht immer so sein könne, wie man dort hingelangt, sind Fragen, die sich nicht erst einem Leser Kleists stellen, Kriegsherren und Ideologen beantworten sie auf ihre Unheil meist potenzierende Weise. Dennoch bleibt die Idee der Versöhnung virulent, wie im Traum des Propheten Jesaja von einer Welt, in der Kalb und Löwe zusammen weiden und ein kleiner Junge sie hüten kann. Als sei der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume, aufgegangen, um den Worten Jesajas humane Gestalt zu geben, bietet sich dem Auge in jenem Tal, in dem die Geflohenen lagern, am nächsten Morgen eine Szene universeller Eintracht, in der jede soziale Schranke aufgehoben ist. Auf den Feldern […] sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen […] als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte.

Wie wenig sonst auf Familie zu bauen, wie brüchig diese Vision ist, müssten Jeronimo und Josephe aus eigener leidvoller Erfahrung eigentlich wissen – ein hämischer Bruder verrät sie, der Vater reißt sie auseinander –, trotzdem schließen sie sich dem Zug des Volkes zurück in die Stadt an, um in der einzigen Kirche St. Jagos, die das Erdbeben verschont hatte, an einer feierlichen Messe teilzunehmen, den Himmel um Verhütung ferneren Unglücks anzuflehen. Fluchtpläne, die sie schon geschmiedet hatten, rücken in den Hintergrund, beide wissen nicht mehr, was sie von der Vergangenheit denken sollten, vom Richtplatze, von dem Gefängnisse, und ob sie nicht bloß davon geträumt hätten. Auch weil die Schicksalsgenossen im Tal sie mit so vieler Vertraulichkeit und Güte behandelt haben, dass die Idee, sie seien nun alle versöhnt, umstandslos von Jeronimo und Josephe in die nähere Zukunft projiziert wird. Hätten sie Kleists Brief an das Fräulein von Zenge gekannt, wären sie vielleicht vorsichtiger gewesen, zu verschlungen sind die Dinge dieser Welt, zu volatil, zu wenig kalkulierbar.

 

Was folgt, ist nicht ein, sondern das Inferno, die Hölle selbst. Als der älteste Chorherr während seiner Predigt das Erdbeben zum Weltgericht erklärt, für das die Sittenverderbnis in St. Jago verantwortlich zu machen sei, werden Jeronimo und Josephe unter den dicht gedrängt stehenden Gläubigen erkannt, und auf der Stelle verwandelt sich die Gemeinde, die vor ein paar Stunden noch ein Inbild prophetischer Friedfertigkeit bot, in eine unbarmherzige Hetzmasse, wie Canetti sie in seiner berühmten Studie bestimmt hat: »Sie ist aufs Töten aus, und sie weiß, wen sie töten will. Mit einer Entschlossenheit ohnegleichen geht sie auf dieses Ziel los […] Die Konzentration aufs Töten ist eine besonderer Art und an Intensität durch keine andere zu übertreffen. Jeder will daran teilhaben, jeder schlägt zu.«

Und Kleist erspart uns nichts. Auf einer Strecke, die ein Fünftel der ganzen Erzählung einnimmt, beschreibt er detailliert das, »was am tiefsten verborgen ist […] was man am meisten untersagt und anstößig ist.« Die jähe Metamorphose des Nachbarn zum Fürsten einer satanischen Rotte, der nicht davor zurückschreckt, einen Säugling, den er für den kleinen Philipp hält, mit noch ungesättigter Mordlust hochher im Kreise zu schwingen, um ihn dann an eines Kirchenpfeilers Ecke zu zerschmettern. Wenn auch zwei, drei Edelleute die Angegriffenen zu schützen versuchen, verrichtet der Mob sein Werk, bis schließlich nichts anderes mehr zu tun bleibt, als die Leichen fortzuschaffen. Jeronimo, Josephe, das Kind und eine junge Dame, die man im Blutrausch mit Josephe verwechselt hatte.

Dass der kleine Philipp, der das Massaker überlebt, von den Eltern des getöteten Säuglings in einem Akt der Substitution, einer Spiegelung der Figuren – wie es sie im Übrigen auch im Findling gibt –, als Pflegesohn angenommen wird, ist kaum ein Trost, sondern lediglich eine abschließende, etwas aufgesetzte, schon etwas ermattete Wendung in einer von schockhaften Wendungen des Handlungsverlaufs zutiefst imprägnierten Geschichte. Unendlich beseeligendes Glück und bodenlose Niedergeschlagenheit, Todesandrohung und befreiende Flucht, überirdisch leuchtende Hoffnung und teuflische Bosheit gehen fast ineinander über, im rasenden Wechsel von Krise zu Lösung und erneuter Krise wird vom Autor Kleist ein narrativer Zyklus aufgebaut, in dem alle, Protagonisten wie Leser, von der ersten Zeile an gefangen sind. Glück und Unglück, Fortschritt und Regress stehen dabei in so intimer Beziehung, dass es unmöglich wird, dies aus dem in kausaler Linearität abzuleiten oder sie, das wäre eine Minimalforderung, in ein plausibles Verhältnis zu setzen. Es ist hier immer der Zufall, der darüber entscheidet, wohin sich die Fabel fortbewegt. Zufällig hat Jeronimo einen Strick in der Zelle, um sich zu erhängen, zufällig bringt er den Aufenthaltsort von Josephe in Erfahrung, zufällig tut sich die Erde auf, als das Schicksal der Liebenden schon besiegelt scheint. Nicht nur gegen Ende des Michael Kohlhaas, auch in einer Anekdote Kleists mit dem Titel Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten findet sich, beinah wortgleich, die Feststellung, dass »die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wahrheit ist«. Die Wahrheit, anders formuliert, ist nicht immer wahrscheinlich, sie entdeckt sich an Orten, in Verhaltensweisen, denen gemeinhin abgesprochen wird, psychologisch akzeptabel oder gesellschaftsfähig zu sein. Kleist hingegen wusste, dass die Potenzialität des Menschen unbegrenzt ist und die scheinbare Unverrückbarkeit der Welt nur den Zustand ihrer größten Trägheit anzeigt.

 

Eine Welt, die sich so unempfindlich zeigt wie Charaktere von »innerer, substantieller Gediegenheit«, die doch nichts weiter als eine Prätention ist. Sie mit leidenschaftlicher Aufrichtigkeit durcheinanderzubringen oder sogar dagegen auszuspielen, ist eine Täuschung, wie sie sich von der Kanzel herab oder hinter einem x-beliebigen Katheder notorisch anzubieten pflegt; wenn nicht eine ideologisch motivierte Lüge, wie jene andere vom geschichtlichen Telos. Dem Schicksal »schöne Streiche« zu spielen, wie Rimbaud es von sich und dem Wahnsinn sagt, ist zweifelsfrei die vornehmste Aufgabe eines Menschen, der stets mit allem zu rechnen hat. Für den die »dunklen Mächte« in sich und der Welt eine Realität bedeuten, die in jeden Plan, jedes Vorhaben einzutragen ist. Ohne Garantie, den Plan später auch gebrauchen zu können, am besten, man vergisst ihn wieder, und zwar gründlich, in dem Moment, in dem er fertig geworden ist.

 

Kleist war ungeschickt, von niemandem und nichts mit etwas betraut. Er stotterte und errötete, als dürfe er nicht verraten, wovon er Kenntnis hatte. Aber man wollte es auch nicht hören. Nichts verspüren von dem kosmischen Beben, das seine Stücke und Erzählungen erschüttert und auf kommende Beben verweist. Ein Sinn für Konterbande wäre nötig gewesen, doch das ist meist zu viel verlangt. Ahnte er das? Ein Schmuggler zu sein? Ein Sprengmeister, ein Nomade, ein Reisender von fern, dessen Sprache zu entziffern schaudern und glücklich macht … und uns eine Wahrheit enthüllt, die hinter der Ordnung der Dinge liegt, in unserer Brust, in den Tiefen des Weltalls … die Kunst zu leben, des Schreibens.

 

Ein Autopsiebericht stellt fest, dass die Kugel, mit der sich Kleist erschoss, in seiner Schädeldecke stecken blieb, am 21. November 1811, gegen vier Uhr nachmittags.

Inhaltsverzeichnis

Olga Martynova Von Zufall und Schicksal oderDARUM

1. Jeronimos Vater

Ein Novize, der in seinem weltlichen Leben den Namen Antonio Rugera getragen hatte, dachte in einem vom Mond erhellten und von Orangenblütenduft erfüllten Klostergarten in Madrid über das ihm noch bevorstehende Gelübde nach. Womöglich habe ein Mann ein ähnliches Gefühl am Vorabend seiner Hochzeit, dachte er, als das Oberhaupt einer der vornehmsten und reichsten Familien Spaniens erschien, mit dessen Tochter der unglückliche Novize eine zärtliche Verbindung hatte, welche zu keinem glücklichen Ende führen konnte, weil Antonio zwar aus einer guten, aber derart verarmten Familie stammte, dass ihm nur wenige Lebenswege geöffnet waren. Aus Stolz und Verzweiflung entschied er sich für das klösterliche Leben. Aber gesegnete Leibesumstände seiner Geliebten, von welchen er keine Ahnung hatte, waren bemerkbar geworden, sodass sie ihrem Vater alles gestehen musste und dieser, da der Abt in jenem Kloster sein Bruder war, zu dieser nächtlichen Zeit erschien und die Klostergemeinschaft von dem unreinen Schäfchen befreite. Man sollte ihn als niederträchtigsten und elendsten Sünder erschlagen, aber des ungeborenen unschuldigen Wesens wegen werde er verschont, sagte der würdige Alte, seinen Zorn nur mit großer Mühe im Rahmen haltend, aber nicht auf demselben Boden geduldet, wo die ehrenvolle Familie lebte. Gleich am nächsten Morgen wurde die traurige Hochzeit gefeiert und das Paar nach Übersee geschickt, mit einem Brief an den mütterlichen Onkel der Braut. Während der Überfahrt stand Antonio auf dem Deck und bewunderte mit Ehrfurcht die unendliche Weite des Ozeans, als plötzlich Piraten das Schiff enterten. Die Schiffsmannschaft siegte zwar am Ende, die neu vermählte junge Frau starb aber einige Minuten nach der, wegen Erschütterung zu frühen, Niederkunft. Zum Glück gab es unter den Passagieren eine junge Mutter, die den Neugeborenen Jeronimo unter ihre Fittiche nahm und ihn stillte. Der Vater der unglücklichen Frau und ihr Oheim, der in Chili wohnte, brachten den kleinen Jungen in einem Kloster unter, wo er zwar Bildung, aber keine anderen Mittel erwarb als die Möglichkeit, ein Hofmeister zu werden. Der eigene Vater sah in diesem Kinde die Wurzel von all seinem Lebensunglücke, und als der Sohn der gleichen Tat, wie er sie einst begangen hatte, beschuldigt wurde, dachte der Vater, dass dies ein Erbfehler sei und dass er seine Pflicht zu erfüllen und seinen lasterhaften Samen auszurotten habe. Als er diesen Sünder richtete, ging es ihm in den Tiefen seines Herzens fast, als müsste er sich freuen.

Ich erlaube mir an dieser Stelle ein einziges (dafür aber in seiner Erklärungsverweigerung, wie sie sich die Philologen nur selten erlauben, prächtiges) Zitat aus der Wissenschaft: »Dass unter den Mordknechten auch der alte Rugera auftaucht, um