Es wird einmal... - Rosalie Tinker - E-Book + Hörbuch

Es wird einmal... E-Book und Hörbuch

Rosalie Tinker

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Beschreibung

Magie im Gepäck, denn die Zauberkraft schläft nie. Du musst sie nur zu neuem Leben erwecken! Was ein Aufenthalt im elterlichen Wochenendhaus alles mit sich bringen kann, das erlebt Marie mit Haut und Haaren. Unglaublich, vor ein paar Tagen war alles noch normal, und heute soll sie plötzlich eine Welt retten, von der sie noch niemals zuvor gehört hat. Doch Marie selbst weiß nicht einmal, wo ihr Platz in diesem Universum ist. Gelingt es ihr, den Zauber dieses fremden Reiches in den Alltag ihrer Mitmenschen einfließen zu lassen? Aber wie finden Märchen und Phantasie ihren Platz in unserer modernen Gesellschaft?

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Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Zeit:9 Std. 6 min

Veröffentlichungsjahr: 2022

Sprecher:Lena Tiemann

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Für Mayla

und all die Kinder, die

mit großen Kulleraugen

die Welt betrachten

und dabei an Magie

und an Wunder

glauben.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Valerie

Marie

Kapitel 6

Valerie

Kapitel 7

Marie

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Regeln des Märchenlandes

Kapitel 16

Valerie

Marie

Kapitel 17

Valerie

Marie

Valerie

Marie

Valerie

Marie

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Valerie

Marie

Valerie

Marie

Valerie

Marie

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Valerie

Marie

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Valerie

Marie

Valerie

Marie

Kapitel 31

Kapitel 32

Valerie

Marie

Valerie

Kapitel 33

Valerie

Marie

Kapitel 34

Kapitel 35

Valerie

Marie

Epilog

Einige Monate später ...

Es wird einmal ...

Danksagung

Über die Autorin

Prolog

Zum Märchenonkel nochmal«, fluchte Karli.

»Karli, du weißt doch, dass hier nicht geflucht wird«, rügte Luminie.

»Das war doch kein Fluch, ich hab keine Kraftwörter verwendet«, wehrte sich Karli.

»Das mag sein, Karli, doch deiner Stimme kann ich entnehmen, dass du wütend bist und mit Wut im Bauch lässt es sich schwer fliegen. Ist es nicht so?«

»Aber eure kleinen, ach so zauberhaften Mädchen haben mir wieder zusätzliche Punkte auf meinen roten Prachtkörper gemalt. Jetzt brauche ich wieder tausend und einen Regenfall, um zurück zu meinen sieben Punkten zu kommen«, beschwerte sich Karli lautstark.

»Ach Karli, es sind doch noch Kinder«, sagte Luminie und betrachtete liebevoll die etwa zweijährigen Mädchen, die vor dem lodernden Kamin saßen. Eins davon hatte kupferrote Haare und das andere schwarze. Im kindlichen Spiel hatten sie die Welt um sich herum völlig vergessen.

»Kinder, die eines Tages Prinzessinnen sein sollen«, brummte Karli.

»Prinzessinnen sind sie doch noch früh genug, für jeden Teil eines Lebens gibt es eine bestimmte Zeit. Jetzt sollten unsere zwei Mädchen ihre Kindheit mit ganzem Herzen genießen dürfen«, sagte Luminie.

»Wenn du gerade von Zeit sprichst, wohlverehrte Luminie, wann kehrt deine Schwester zurück von ihrer Reise aus dem fernen Land?«, fragte Karli.

»Schon sehr bald, Karli, ich kann es fühlen. Leider wird sie keine guten Nachrichten überbringen«, seufzte Luminie niedergeschlagen.

»Ist es denn bereits soweit?«, fragte Karli.

»Ja, das befürchte ich, lieber Karli, und dabei wird mir mein Herz ganz schwer.«

Kapitel 1

Es ist mal wieder der Tag der Tage.

Nein, wir sprechen nicht von Weihnachten. Weihnachten ist nämlich voller Magie und Glanz, nicht zu vergessen: es gibt Geschenke und ich liebe Weihnachten. Der heutige Tag ist so gar nicht von Freude geprägt. Wir alle sind überhaupt nicht motiviert. Heute ist der Tag von Tante Ernas Geburtstag. Wieso gibt es diesen Tag im Kalender überhaupt? Von mir aus könnte man diesen unsäglichen Tag einfach komplett aus dem Kalender streichen, denn für mich ist er völlig überflüssig. Eigentlich will keiner von uns da hin. Trotzdem macht sich jedes Jahr die ganze Familie brav dazu auf, den Geburtstagskaffee bei Tante Erna einzunehmen. Ich versuche gerade, mein bestes Sonntagskleid glatt zu streichen, doch meine Stimmung ist bereits jetzt im Keller. Wahrscheinlich wirft es aus reiner Bosheit Falten.

»Marie, bist du soweit?«, tönt es aus dem Erdgeschoss. Auch der Stimme meiner Mutter merkt man an, wie angespannt sie vor dem anstehenden Besuchsantritt bei Tante Erna ist.

»Komme gleich.«

Ein letzter Blick in den Spiegel, mein kastanienrotes Haar hängt matt und strähnig nach unten, obwohl ich ansonsten ein waschechter Lockenkopf bin, meine Mundwinkel wollen den Haaren in nichts nachstehen und sind im Keller. In meinem Spiegelbild erkenne ich, dass meine meergrünen Augen ihr sonstiges Strahlen verloren haben, der Kloß in meinem Hals rutscht immer weiter nach unten und fällt wie ein Stein in meine Magengrube.

Besuche bei Tante Erna können einem nur auf den Magen schlagen. Als ich die Treppen betont langsam nach unten gehe, sehe ich, dass meine restliche Familie bereits abfahrbereit im Flur steht. Ich bin mal wieder die Letzte.

Mit Sack und Pack sitzen wir wenige Minuten später in unserer Familienkutsche. Ich habe mal wieder den unbequemen Sitz in der Mitte abbekommen. Überall befinden sich Arme und Beine und man fühlt sich hoffnungslos eingequetscht, sprichwörtlich wie die Sardine in der Dose. Das ist wohl das Los der mittleren Schwester. Mit verschränkten Armen sitze ich da, der Ellenbogen der einen Schwester drückt mir in die Rippen und die Hüfte, der anderen piekst meinen Oberschenkel. Der Sitz und die Lehne drücken wie eh und je im Rücken.

Die Fahrt ins Grauen beginnt. Wenn ich mich bloß an den letzten Geburtstag von Tante Erna erinnere, wird mir ganz schlecht. Ob ich meinen Paps wohl bitten sollte, anzuhalten, um meinen Mageninhalt dem Straßengraben zu zeigen? Wie ein schlechter Tagtraum huschen vor meinen inneren Augen die Bilder des letzten Geburtstagsbesuches vorbei. Beim letzten Mal nahm eine Verkettung unglücklicher Umstände ihren irrwitzigen Lauf. Der bösartige Rauhaardackel meiner Tante Erna hatte mich in den großen Zeh gebissen. Ich hatte daraufhin den heißen Tee quer über den Tisch geprustet, natürlich Tante Erna mitten ins Gesicht. Vom Schmerz gequält, hatte sie vor Schreck ihr Lieblingsgeschirr mit einer ungezielten Armbewegung auf den Fußboden befördert. Tausend Scherben waren das Ergebnis gewesen.

Nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hatte, wurde sie bitterböse. Ihre wertvollen Teller waren zerstört und ich war mal wieder der Grund für all das Übel. Die Scherben musste natürlich ich aufkehren. Den Rest des Kaffeenachmittags wurde ich natürlich wohlweislich von Tante Erna ignoriert.

Es ruckelt. Unsere Familienkutsche kommt zum Stehen. Oh nein, sind wir etwa schon da? Aus meinen Tagträumen gerissen, starre ich ungläubig aus dem Fenster. Tatsächlich. Tante Erna steht bereits wartend in ihrem Vorgarten. Ihr böswilliger Rauhaardackel natürlich direkt an ihrer Seite.

Kaum ausgestiegen, habe ich bereits das Gefühl, dass Dackel Emil mich verächtlich von der Seite anschielt. Kann natürlich auch Einbildung sein. Da steht sie also, Tante Erna, die Mensch gewordene Figur meiner Albträume. Sie ist klein und rund, besser gesagt mehr rund als klein. wenn man sie als geometrische Figur beschreiben sollte, wäre sie ein Kreis. Die grauen Haare sind zu einem festen Dutt geschlungen. Oberteil und Rock unterscheiden sich in den Farbnuancen von mausgrau. So steif, wie Tante Erna stets dasteht, da stehen die Bügelfalten akkurat, was bleibt ihnen auch anderes übrig.

Ein Seufzer entringt sich meiner Kehle, als ich ihr als letzte meiner Familie die Hand schüttele. Sie taxiert mich genau mit ihren blassblauen Augen. Blaue Augen, in denen sich ein Gewitter der Bösartigkeit abzuspielen scheint. Tante Erna verzieht ihre Lippen zu einem dünnen Strich, die blassrosa Farbe ihrer Lippen scheint beinahe zwischen ihren Zähnen zu verschwinden. Noch sagt sie allerdings kein Wort. Meine Hand lässt sie aber sofort los, als sei sie ihr in irgendeiner Form lästig. Ihre Hand wischt sie sich an ihrem Rocksaum ab und bittet, nein falsch ausgedrückt, sie befiehlt uns in ihr Haus. Ich als Letztes, Emil trabt herrschaftlich vor mir her. Ich habe sein Tempo einzuhalten. Wenn Emil könnte, würde er mir bestimmt mit viel Freude die Haustüre vor der Nase zuknallen oder mir dreist auf meine frisch geputzten Sonntagsschühchen kacken.

Die anderen haben bereits die Kaffeetafel erreicht, als ich ins Wohnzimmer trete. So bekomme ich mal wieder den unbeliebtesten Platz von allen ab, den neben Emil, dort will nämlich keiner aus meiner Familie sitzen, außer Tante Erna selbst. Der Rauhaardackel sitzt immer mit am Tisch, der Platz rechts von Tante Erna ist stets für ihn reserviert.

Er hat seinen eigenen hohen Hocker – seien wir ehrlich, es ist ein Hochsitz, der eigentlich für Babys verwendet wird – damit er groß genug ist, um am Tisch mit dabei zu sein. Sein goldener Napf steht längst auf dem Tisch.

Während Tante Erna die anderen bereits mit ihren abstrusen Anekdoten aus ihrem Alltag unterhält, würde ich am liebsten unter den Tisch rutschen. Für mich sind das allerdings keine Anekdoten, denn bei solchen gibt es wenigstens etwas zu lachen, meine Familie lacht an manchen Stellen nur anstandsweise. Während sie erzählt, bindet sie Emil eine gestärkte Serviette um den Hals.

Der Anblick ist einfach nur lächerlich. Emil, der von Natur aus nicht gerade der schlankeste seiner Genossen ist und seinen Bauch beim Gehen auf dem Boden schleift, sieht im Sitzen noch viel mopsiger aus. Zwischen Hals und Kopf scheint es keinen Abstand mehr zu geben. Die Serviette wirkt wie eine Halskrause. Irgendwie muss ich dabei an den kopflosen Nick aus Harry Potter denken, der wäre mir auf alle Fälle der liebere Tischnachbar.

Ein kleines Glucksen zieht die Aufmerksamkeit der anderen auf meine Wenigkeit. Emil, der gerade aus Dankbarkeit die Handgelenke von Tante Erna leckt, wendet den Kopf in meine Richtung und lässt ein kehliges Knurren vernehmen. Mit Emil war noch nie gut Kirschen essen. Tante Erna tätschelt natürlich sofort ihren Liebling und blickt mich über ihre goldenen Brillenränder erbost an.

Wieso habe ich mich erdreistet, ihren heißgeliebten Emil zu verärgern? Zur Strafe wird mir der Job zugeteilt, den Napfkuchen aus der Küche zu holen. Anschneiden muss ich den Kuchen dann auch noch. Erst, als alle mit Kuchen und Tee oder Kaffee versorgt sind, darf ich mich wieder hinsetzen. Meine Mutter blickt mich mitleidig an. Ich senke schnell den Blick, um nicht gleich wieder aufzufallen.

Das Gespräch dümpelt eine Weile vor sich hin. Paps – der herzensgute Mensch – versucht, Konversation mit seiner verschrobenen Schwester zu führen. Kaum vorstellbar, dass diese zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten tatsächlich Geschwister sein sollen. Wer weiß, vielleicht wurden sie bei der Geburt vertauscht.

Paps ist so ein herzlicher Mensch, meist ruhig, kein Mann der vielen Worte, aber immer für einen da. Er ist lustig und voller Weisheit. Tante Erna ist das verbitterte Gegenteil. Ihre Bitterkeit hat sie früher altern lassen als nötig. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, die nur aus ihrem geschätzten Emil besteht. Kinder hat sie nämlich keine. Paps sagt ja immer, dass Tante Erna nur so ist, weil sie einsam ist. Aber wer so verbittert und bösartig ist, muss sich nicht wundern, wenn keiner Zeit mit einem verbringen will. Neben mir schmatzt Emil glücklich an seinem Napfkuchen. Dabei sabbert er auf mein Handgelenk. Iiiih, Hundesabber. Verstohlen wische ich das schleimige Zeug an Tante Ernas Spitzentischdecke ab.

Der Napfkuchen ist wie immer trocken und ohne Geschmack. Zum Würgen. Die Krümel scheinen auch bösartig zu sein. Schnüren sie mir doch beinahe die Kehle zu. Schnell spüle ich die letzen Bissen mit Tee hinunter. Hagebuttentee. Noch so ein Graus. »Hauptsache nass und spült die Krümel fort«, denke ich mir.

Ich blicke in die Runde unserer illustren Kaffeegesellschaft. Links von Tante Erna sitzt mein Paps.

Wahrscheinlich schon deshalb, weil er sich von uns allen noch am besten mit Tante Erna versteht.

Paps gibt gerade wieder eine wunderbare Weisheit von sich: »Wer den Kaffee nicht schätzt, dem sollte man kein Koffein geben.«

Zugegeben, Paps erfindet gerne Weisheiten und Zitate, man könnte ein ganzes Buch damit füllen. Doch das finde ich so charmant und einzigartig an ihm. Tante Erna entlockt es nur ein gereiztes Hüsteln.

Ob sie wohl selbst spürt, wie trocken ihr oller Kuchen ist? »Ob das einfach die Reste des Kuchens aus dem letzten Jahr sind?«, frage ich mich eine Spur angeekelt. Auf meinen Paps folgt meine kleine Schwester Rosalie, der fröhlichste Mensch, den ich kenne. Wenn man sie ansieht, geht einfach die Sonne auf. Auch jetzt liegt ein seliges Lächeln auf ihren Lippen. Der Schalk springt aus ihren Augen.

Selbst von hier kann ich die süßen Sommersprossen auf ihrer Nase zählen. Rosalie lässt sich einfach nie die Stimmung vermiesen. Mit ihren siebzehn Jahren ist sie das Küken unserer Familie. Auf dem nächsten Stuhl thront meine ältere Schwester Cassandra. Sie war schon immer etwas eitel, der Titel Diva passt sehr genau zu ihr. Auch heute hat sie die Beine kokett übereinandergeschlagen, sitzt extrem aufrecht da, die dunklen, beinahe rabenschwarzen Haare hat sie zu einem sorgfältigen Pferdeschwanz gebunden. Die Serviette ist korrekt über den Oberschenkeln ausgebreitet. Geziert führt sie die Kuchengabel samt Napfkuchen zum Mund. Man sieht kaum, dass sie kaut. Vielleicht versucht sie ja, das trockene Zeug einfach mit einem großen Schluck loszuwerden.

Meine Mami schließt unseren Familienkreis. Mit ihren lockigen blonden Haaren sieht sie aus wie Engel. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich ihr lockiges Haar geerbt zu haben scheine. Genauso zart ist ihr Wesen, eine wunderbare Frau. Mein Paps kann sich glücklich mit ihr schätzen.

Dem Gespräch bin ich gar nicht mehr gefolgt, als ich meine liebe Familie so betrachtet habe. Tante Erna lässt sich gerade erzählen, was ihre zwei Lieblingsnichten so machen, denn ich gehöre eindeutig nicht dazu. Rosalie hat mit ihrer Ausbildung zur Floristin begonnen und schwärmt gerade davon, wie sehr sie Blumen liebt. Die Gute hat natürlich auch heute der ollen Tante einen selbstgebunden Strauß mitgebracht. Eine sehr schöne Arbeit, wie ich finde.

Doch ich habe das dumpfe Gefühl, dass der kleine Strauß in dieser Umgebung viel schneller verwelken wird, als ansonsten üblich ist. Denn Blumen sind Stimmungsgeschöpfe, sie spüren, wenn wir traurig oder glücklich sind oder eben verbittert. Bei Verbitterung sind auch sie geknickt. Schon wieder gedanklich abgeschweift.

Tante Erna löchert inzwischen Cassandra mit Fragen zu ihrem Studium, irgendetwas mit Finanzen. Cassandra arbeitet nämlich in der ortsansässigen Bank.

Tante Erna scheint zufrieden zu lächeln. Zwei ihrer Nichten sind in der Arbeitswelt angekommen und machen eine Ausbildung oder ein Studium. Eine davon sogar mit einer sicheren und vielversprechenden Arbeit bei der Bank des Vertrauens. Die andere blüht mit ihren Blumen förmlich auf. Obwohl sie ja denkt, dass sie nur mit Blumen spielt, es nicht wirklich als lebenswichtige Aufgabe ansieht, kann sie doch darüber hinwegsehen. Das ist wohl auch der Kükenbonus. Ich hoffe ja gerade inständig, dass sie mich einfach übergeht. Kein Wort zu meiner Wenigkeit verliert. Doch weit gefehlt. Ich spüre ihren hartnäckigen Blick bereits auf mir. Emil stützt sich inzwischen mit beiden Vorderpfoten schmerzhaft auf meinem linken Handgelenk ab. Auch er scheint mich festnageln zu wollen. Wie schwer kann eigentlich so ein Rauhaardackel sein, frage ich mich im Stillen. Mir kommt Emils Last zentnerschwer vor.

Schon als Tante Erna die Lippen öffnet, um zu sprechen ziehe ich innerlich die Schultern nach oben. Am liebsten würde ich mich jetzt in einen schützenden Kokon zurückziehen.

»Na, Marie, was gibt es bei dir zu erzählen?« Doch sie lässt mich gar nicht erst zu Wort kommen.

»Still!«, unterstreicht sie nun den Monolog, der kommen soll. »Du bist inzwischen 21 Jahre alt, wenn ich mich nicht irre, hast du ein Jahr an den Stränden dieser Welt herum getingelt und es Work & Travel genannt. Dann folgte ein Jahr, in dem du so vor dich hin gejobbt hast. Was war da dabei? Zeitung austragen, Rasen mähen für die Nachbarn, Stallhilfe … Du hast doch Abitur gemacht, Mädchen. Hoffentlich hast du auch den Grips von deinem Vater geerbt. Also warum um alles in der Welt fängst du nicht endlich was mit deinem Leben an? Nein, du bist faul und liegst deinen Eltern weiterhin finanziell auf der Tasche. Sie sollen dich wohl durchfüttern, bis du vierzig oder noch älter bist. Was denkst du dir eigentlich?

Dein armer Vater arbeitet in seinem unsäglichen Beruf als Bestatter doch eh schon mehr, als es ihm gut tut.«

Ich sitze stocksteif da, mein Herz pocht entsetzt gegen meine Rippen und ich bin schockiert über die schrecklichen Dinge, die Tante Erna über mich sagt. Erneut bekomme ich einen Kloß im Hals, der mir beinahe den Atem nimmt. Mir ist heiß und kalt zugleich. Doch wieder einmal kann ich mich nicht wehren. Gegen die Schimpftirade von Tante Erna kommt man auch nicht an. In einer kurzen Atempause von Tante Erna wirft Paps hüstelnd ein, dass ich schon noch meinen Weg machen werde und dass er ganz fest an mich glaubt. Genügend Luft in den Lungen, fängt Tante Erna gleich nochmals an.

»Jetzt nimm sie doch nicht auch noch in Schutz, Wolfi!«, poltert sie los. »Du verwöhnst sie viel zu sehr. Da wird sie nie lernen, dass sie für sich selbst zu sorgen hat. Du solltest sie vor die Tür setzen und zweimal die Haustür abschließen. Dann merkt sie schon, was es heißt, auf eigenen Beinen stehen zu müssen.«

Bei diesen Worten springe ich auf und flüchte. Die Tränen rinnen mir über die Wangen. Ich bin in meinen Grundfesten erschüttert. Gegen das Auto gelehnt, schluchze ich vor mich hin. Hoffe, dass meine Familie bald kommt und wir die Heimreise antreten.

Kapitel 2

Wie von Geisterhand wähle ich eine der Nummern meiner drei besten Freundinnen.

Ich brauche dringend seelischen Beistand.

»Marie, dass du dich schon so früh meldest. Ist euer schrecklicher Besuch bei Tante Erna etwa schon zu Ende?«, sagt Bella Rose.

Ich breche wieder in haltloses Schluchzen aus und kann keine Worte finden.

»Oh mein Gott, was ist denn passiert? Wie kann ich dir helfen? Geht es dir gut?«, fragt Bella Rose bestürzt.

Unter Schluchzen bringe ich hervor: »Tante Erna hat mich vor meiner ganzen Familie auflaufen lassen. Sie hat keine guten Worte für mich gefunden, nur geschimpft …«

»Tut sie das denn nicht immer? Tante Erna war doch schon seit allen Zeiten ein deprimierter alter Hausdrache.«

»Du kannst es dir nicht vorstellen, sie hat mich tief verletzt mit ihren Worten. Ich fühle mich wie ein Häuflein Elend. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Bleib, wo du bist und schicke mir deinen Standort in einer Nachricht. Ich hole dich sofort mit dem Fahrrad ab und bringe dich nach Hause«, verspricht mir Bella Rose.

»Marie, bitte versprich mir, dass du jetzt nichts Doofes anstellst. Ich bin gleich bei dir.«

»Ja«, hauche ich ins Telefon, ehe ich mich am Straßenrand zusammenkauere. Die Minuten scheinen unendlich ins Land zu ziehen. Minuten, in denen mein Tränenstrom nicht zum Versiegen kommt. Nicht mal meine eigene Umarmung gibt mir Halt. Mein Herz ist kalt und schwer.

»Marie, ich bin hier«, sagt Bella Rose und zieht mich sofort in ihre Arme, drückt mich fest und lässt mich nicht mehr los.

»Es ist schon gut, ich bin jetzt hier, weine dich ruhig aus, ich halte dich fest«, beruhigt mich Bella Rose und streicht mir dabei sanft über den Rücken. Als mein Schluchzen immer leiser wird, fragt Bella Rose: »Wo sind deine Eltern? Wieso bist du hier ganz allein und weinst dir die Augen aus?«

»Die sind noch bei Tante Erna. «

»Haben sie dich etwa einfach so ziehen lassen, obwohl du so verletzt worden bist und von Herzen geweint hast? So kenne ich deine Familie gar nicht.«

»Ich doch auch nicht, ich fühle mich mutterseelenallein. Danke, dass du da bist. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.«

»Überlasse das Denken einfach mir, dafür bin ich jetzt da. Kannst du aufstehen, Marie? Lass mich dich nach Hause bringen auf dem Radel. So wie früher. Weißt du noch? Ich und Sophie haben immer in die Pedale unserer Drahtesel getreten und Matty und du habt auf den jeweiligen Gepäckträgern die Beine baumeln lassen.«

»Ja, wie früher. Bitte bring mich einfach nach Hause.«

»Natürlich, sitz einfach auf, der Drahteselexpress startet in wenigen Sekunden«, versucht Bella Rose mir wenigstens ein Schmunzeln zu entlocken.

Während Bella Rose und mir der Fahrtwind um die Nase weht, komme ich wieder ins Nachdenken. Wie eine Ertrinkende klammere ich mich an Bella Roses Hüfte und habe meine tränennassen Wangen an ihren Rücken gelehnt. Ich weiß doch selbst, dass ich die Einzige bei uns im Hause bin, die ihre Bestimmung, ihren Beruf, ihren Lebensinhalt noch nicht gefunden hat. Ich habe es ja erst selbst darauf geschoben, dass ich mich einfach nicht entscheiden kann, dass mir immer tausend Dinge im Kopf herumspuken. Die Welt ist schließlich voller Angebote und Träume. Ich habe doch nicht nur an den Stränden dieser Welt getingelt. Ich war ehrenamtliche Helferin, die eine Umweltorganisation dabei unterstützt hat, die Strände vom Müll zu befreien.

Das war zumeist harte Knochenarbeit gewesen. Die Tage waren lang. Der Rücken oft sonnenverbrannt und schmerzend von dem unendlichen Bücken. Wenn ich auf das letzte Jahr blicke, habe ich einige Jobs in der nahen Umgebung gemacht. Überall wurde ich gemocht und sie beteuerten mir alle, wie fleißig ich wäre und dass ich immer mit anpacken würde. »Kann das etwa schlecht sein?«, frage ich mich. Meine Tränen sind inzwischen versiegt. Meiner Kehle entspringt immer wieder ein kleines Aufseufzen. Wie wohl meine Eltern und meine Schwestern über mich denken? Denken sie etwa gleich wie Tante Erna? Ich weiß es nicht. Sie haben nicht wirklich versucht, mich zu verteidigen, als sie mich verbal so angegriffen hat.

Mein Blick ist von den vielen Tränen ganz verklärt, so bekomme ich vom Rückweg nicht viel mit. Erst, als Bella Rose bremst, schaue ich wieder auf.

»Soll ich dich noch reinbringen, Marie?«

»Nicht doch, Bella Rose, du hast schon genug getan.«

»Beste Freundinnen sind immer füreinander da. In guten und in schlechten Zeiten, das ist ganz einerlei.«

»Danke, dass es dich gibt, Bella Rose. Dass du ohne Wenn und Aber auf deinen Drahtesel gestiegen bist und mich abgeholt hast. Du bist wirklich ein Engel.«

»Kein Problem, Marie, du würdest dasselbe für uns tun. Bist du dir sicher, dass du jetzt allein sein möchtest? Ich kann auch noch bleiben.«

»Danke vielmals. Ich glaube, ich möchte jetzt alleine sein und nachdenken«, hauche ich und drücke Bella Rose einen Kuss auf die Stirn.

»Du kannst mich jederzeit anrufen oder bei mir vorbeikommen, das weißt du«, sagt Bella Rose und umarmt mich nochmal liebevoll, ehe sie ihren Drahtesel besteigt und davonfährt. Allerdings nicht, ohne sich mehrmals sorgenvoll nach mir umzudrehen. Ich versuche, ihr fröhlich zuzuwinken, was deutlich in die Hose geht.

Oh nein, wieder einmal habe ich keinen Schlüssel dabei. Wie sollte es anders sein? So bleibt mir nur eine mutige Kletterpartie über unsere Kletterrose aufs Dach, von dort durch die Dachluke in den Dachboden und dann ins Haus. Ich habe ja beinahe Übung darin. Ist nämlich nicht das erste Mal, dass ich diesen Weg wähle.

In meinem Zimmer angekommen, möchte ich mich am liebsten wieder aufs Bett werfen und mir weiter die Augen aus dem Kopf heulen. Doch meine Augen brennen inzwischen schmerzhaft, sie sind trocken und stark geschwollen. Keine einzige Träne wagt sich noch ins Freie. Von dem vielen Geheule brennt inzwischen mein ganzer Körper, er schreit vor lauter Demütigung und Verletzung. Ich spüre die Gänsehaut auf meinen Armen. So allein habe ich mich noch nie gefühlt.

Ich konnte noch nie gut mit Tränen und Einsamkeit umgehen. Wünsche mir dann immer eine liebevolle Umarmung, die Trost spendet. Doch jetzt bin ich mutterseelenalleine. Ich hätte Bella Rose vielleicht nicht einfach so wegeschicken sollen. Bella Rose ist immer so liebevoll und bei ihr fühle ich mich sofort geborgen. Jetzt bin ich meinen Gedanken aufs Äußerste ausgeliefert. Ein schwarzes Loch scheint mich anzuziehen und verschlingen zu wollen. Ich will hier raus, schreit es plötzlich aus meinem Inneren. Ich möchte niemanden meiner Familie sehen, sie haben mich so schmerzlich im Stich gelassen. So springe ich auf, werfe einige Dinge in meine große Handtasche, springe auf mein Fahrrad und radle zu unserem kleinen Wochenendhaus.

Schnaufend komme ich zum Stehen. Werfe das Fahrrad einfach ins Gras. Ich bin so rasant gefahren, dass mir jetzt beinahe die Luft zum Atmen fehlt. Ich habe weder den Fahrtwind, noch die Landschaft wahrgenommen.

Zu besseren Zeiten liebe ich es, die Landschaft in mich aufzusaugen, wenn wir uns auf den Weg zu unserem Ferienhaus machen. Trotz meiner verhagelten Stimmung gönne ich mir einen langen Blick auf unser kleines Domizil. Mit seiner karminroten Holzvertäfelung steht das Haus in einem satten Kontrast zu dem Grün, das es umgibt. Die Fensterumrahmungen und Fensterläden sind reinweiß gestrichen und erinnern mich immer wieder an Schnee. Zahlreiche winterliche Wochenenden habe ich hier im Kreis meiner Familie verbracht, bei stundenlangen Schneeballschlachten, danach saßen wir bibbernd vor dem Kamin, um uns aufzuwärmen und haben Marshmallows über dem offenen Feuer gegrillt.

Bei dieser Erinnerung scheint mein Herz wieder etwas aufzutauen und weniger zu schmerzen. Als ich mich sattgesehen habe, hole ich den Schlüssel unter dem losen Fensterbrett hervor. Ich stecke ihn ins Schloss. Es knarzt fürchterlich, doch für mich ist es wie Musik in den Ohren. Ich rüttele etwas an der Türklinke und dann bin ich da. In unserem Wochenendhaus.

Es ist alles so, wie ich es schon seit Jahren kenne. Wenn man unser Ferienhaus betritt, steht man sofort im größten Zimmer. Küche, Ess- und Wohnzimmer sind darin vereint. Eine Wendeltreppe führt ins obere Stockwerk, wo sich nochmals sieben kleine Zimmer befinden, ein Zimmer für jedes von uns drei Mädchen, ein Zimmer für meine Eltern, ein zusätzliches Gästezimmer, ein Badezimmer und die kleine Bibliothek meiner Mutter. Das hört sich alles riesig an. Doch unser Wochenendhaus ist klein und niedlich, erinnert mich eher an ein kleines windschiefes Hexenhäuschen. Leider verzieren die Hauswände keine Lebkuchen, denke ich beinahe wieder schmunzelnd. Es ist ein Holzhaus, ähnlich den Schwedenhäusern. Leuchtend rot, allerdings etwas windschief. Dafür mit Charakter und Charme, wie Paps stets sagt. Unser Haus liegt an einer Waldlichtung. Nur ein paar Schritte vom Haus entfernt, gibt es auch einen kleinen See. Im Umkreis gibt es keine weiteren Häuschen, so sind wir hier ganz für uns alleine. Ruhe umgibt mich. Erschöpft sinke ich auf das froschgrüne Sofa. Weinen macht müde, sehr müde. Ich fühle mich total ausgelaugt. Ob man nach ausdauerndem Weinen wohl vermehrt trinken sollte, um seinen Wasserhaushalt wieder aufzufüllen, frage ich mich.

Ich nehme mir vor, nur kurz die Augen zu schließen. Sollte ich doch das Häuschen auf meinen Einzug vorbereiten. Lüften, etwas Staub wischen, Bett beziehen und so weiter. Über diesen alltäglichen Gedanken döse ich schließlich ein.

Dong, Dong, Dong. Erschrocken sitze ich kerzengerade auf dem Sofa. Was war das? Hektisch blicke ich umher. Doch so viel kann ich gar nicht erkennen, es ist stockdunkle Nacht. Wo kam die denn so plötzlich her? Mein Herz pocht laut. Beruhigend lege ich meine Hand darauf. Erinnere mich an die große Uhr, die auf dem Kaminsims steht. Es schlägt gerade Mitternacht.

Kein Grund, in Panik zu verfallen, denn an Geister, die an Mitternacht auftauchen sollen, glaube ich nun wirklich nicht. Einfach ein paar Mal ein- und ausatmen. Dann Kerzen anzünden und sich bettfertig machen.

»Gute Idee«, stimme ich mir selbst zu. Doch war das gerade nicht ein Lachen? Bin ich etwa nicht alleine im Haus? Aufregung macht sich wieder in mir breit. Wer kam nochmal auf die dusselige Idee, den Schlüssel so zu verstecken? Eigentlich kann sich den ja jeder dort holen. Doch ich bin alleine, was soll ich tun? Ich kann ja schlecht Paps vorschicken. Leise suche ich nach meinem Handy. Taschenlampe an. Ab zur Wendeltreppe. Schritt für Schritt schleiche ich die Treppen empor. Keine Ahnung, was ich tun werde, wenn jemand in einer dunklen Ecke auf mich lauert und mich anspringt. Mein Herz klopft nun bis zum Hals, meine Hände zittern. Ich bin zum Zerreißen angespannt.

Oben angekommen, verharre ich mucksmäuschenstill auf dem Treppenabsatz. Komisch, jetzt scheint es völlig ruhig zu sein. Doch meine Sinne sind nun aufs Äußerste geschärft. Meine Ohren nehmen zarte Harfenklänge war. Auch mein Geruchssinn schlägt an, ich beginne zu schnuppern. Riecht es hier nicht auch dezent nach dem teuren Lavendelbadesalz meiner Mutter? Ich bin verdutzt. Ich taste mich vorsichtig an der Wand entlang. Das erste Zimmer auf der linken Seite ist das meiner kleinen Schwester Rosalie.

Die Türe steht einen Spalt offen. Ein Lichtschimmer dringt hindurch. Mutig schiebe ich die Türe ein Stück weiter auf. Hoffe, dass sie nicht zu knarzen beginnt und mich so verraten würde. Ich erhasche einen kleinen Blick in das Zimmer. Ohhhh, was ist das? Da sitzt eine blonde Frauengestalt, die mich sehr an Prinzessin Rosalie Aurora erinnert, auf einem rosafarbenen Ohrensessel. Sie hat sich scheinbar die Fingernägel lackiert und ist über der Harfenmusik einfach eingeschlummert. Das kann doch gar nicht sein, Rosalie Aurora gibt es nur im Märchen. Ich reibe mir die Augen.

Doch das Bild, das ich vor meinen Augen sehe, verändert sich nicht. Das viele Weinen scheint mich konfus und etwas verrückt gemacht zu haben. Ich taumele zurück, versuche, dabei nicht den Halt zu verlieren. Doch da vernehme ich eine weitere Stimme, die leise spricht. Sie kommt aus dem nächsten Zimmer, dem meiner Schwester Cassandra. Magisch angezogen linse ich auch dort durch den Türspalt. Ich falle vom Glauben ab, da sitzt wiederum eine Frau, die einer wohlbekannten königlichen Hoheit wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein scheint, diesmal ist es Prinzessin Ivy. Ivy, die mit ihren Waldtieren ein fröhliches Picknick abhält.

Blinzelt sie da nicht gerade in meine Richtung? Nicht, dass sie mich noch entdeckt hat. Eilig zucke ich zurück. Stolpere über die nächste Diele und bleibe dabei an der Türklinke des Badezimmers hängen.

Mit einem vernehmlichen Klicken springt diese auf. Ich kann mich gerade noch so am Türrahmen abfangen. Erschrocken vom beinahen Sturz blicke ich nach oben. Zuerst sehe ich nur eine Wolke von Dunst und Badeschaum. Der Luftzug meines überstürzten Eintretens lichtet den Dunst von einer Sekunde auf die nächste.

Ich erkenne rotes Haar. Hängt da etwa eine Schwanzflosse über den Badewannenrand? Ja, eindeutig, die Schwanzflosse wippt auf und ab.

Unglaublich, in unserer Badewanne sitzt nun auch noch jemand, der Prinzessin Ava wie aufs Haar gleicht. Ich fasse mir an die Stirn, sie scheint zu glühen. Hatte ich mir durch meine Heulerei etwa eine fiese Erkältung an Land gezogen? Ava scheint mich noch nicht entdeckt zu haben, obwohl ich so rasant den Raum betreten habe. Sie kämmt sich mit einer goldenen Gabel hingebungsvoll ihr rotes Lockenhaar. Oh mein Gott, das kann doch gar nicht sein. Ich bin eindeutig verrückt geworden. Ob ich mich wohl selbst einweisen lassen sollte?

Da spricht mich Ava mit einer glockenhellen Stimme an: »Hallo Marie, wir haben auf dich gewartet.«

»Was? Ihr habt auf mich gewartet?«

Bei diesen Worten mache ich einen Schritt nach vorne. Wohl zu eilig. Denn ich rutsche auf den nassen Fliesen aus und verliere den Halt. Polternd lande ich auf den kalten Fliesen. Stoße mir den Kopf an den goldenen Füßen der Badewanne. Es wird stockfinster um mich herum.

Kapitel 3

Au, was ist das? Mein Kopf pocht schmerzhaft. Ich öffne die Augen. Ich liege auf dem froschgrünen Sofa. Die Sonne blinzelt durch das Fenster. Es scheint bereits später Vormittag zu sein. Ich habe geschlafen. Doch woher kommen nur diese rasenden Kopfschmerzen? Ich entschließe mich dazu, ein entspannendes Bad zu nehmen. Danach werde ich mich bestimmt besser fühlen.

Müde und voller pochender Kopfschmerzen schlurfe ich ins Bad. Über das Waschbecken gebeugt, nehme ich den Duft von Lavendel wahr. Flashback. Durch meinen Kopf tanzen tausend Bilder. Rosa Sessel, Waldtiere, Rote Haare. Woher kommen diese Bilder in meinem Kopf? Habe ich letzte Nacht etwa so lebhaft geträumt, dass ich vom froschgrünen Sofa gefallen bin und mir den Kopf gestoßen habe? Stumm, aber ratlos schüttele ich den Kopf. Keine gute Idee. Der rasende Kopfschmerz lässt mich schmerzhaft zusammenzucken, mir wird beinahe übel. Habe ich mir heute Nacht etwa eine Gehirnerschütterung zugezogen? Doch lieber erst mal ruhig durchatmen, kaltes Wasser ins Gesicht spritzen und dann ein Glas kaltes Wasser trinken, nehme ich mir vor.

Mit dem Glas kaltem Wasser setze ich mich erst mal in die kleine Bibliothek meiner Mutter. Dieser Ort hat mich schon immer auf wundersame Weise beruhigt und geerdet. Der Sessel ist so kuschelig weich, dass ich mich gleich geborgen fühle. So geborgen, als würde mich meine Mutter gerade liebevoll umarmen und mir versprechen, dass schon alles gut werden würde. Meine Mutter ist Buchhändlerin. Ihre Welt sind die Bücher. Hier bewahrt sie alle ihre Lieblingsbücher auf. Ich kann mich daran erinnern, wie wir als Kinder zu ihren Füßen gesessen haben und ihr aufmerksam gelauscht haben. Sie hat uns abertausende Male aus ihren Lieblingsbüchern vorgelesen. Wir hatten stets darum gebettelt, dass sie uns die Bücher immer wieder vorliest.

Kein Sonntagmorgen konnte für uns schöner beginnen, als eingekuschelt in unseren Bettdecken bei unserer Mutter zu sitzen und ihrer melodischen Stimme zu lauschen. Ein seliges Lächeln legt sich über meine Lippen. Das sind so schöne Erinnerungen.

Nun meldet sich auch mein Magen. Er knurrt wie der böse Wolf aus dem altbekannten Märchen Rotkäppchen, ebenfalls ein Märchen, dass ich seit meiner Kindheit in- und auswendig kann. Seit dem schrecklichen Napfkuchen von Tante Erna habe ich nichts mehr gegessen. Inzwischen scheint es auch schon Mittag geworden zu sein. So begebe ich mich in die Küche. In der Hoffnung, dass es dort auch etwas Essbares zu finden gibt. Doch Mama denkt eben immer mit, die Schränke sind gefüllt mit einer Vielzahl an Konservendosen.

So mache ich mir eine Dose Ravioli warm und esse sie direkt aus dem Topf. So hungrig bin ich. Nebenbei schalte ich mein Handy wieder ein, vor lauter Wut auf mich und meine Mitmenschen hatte ich es gestern noch ausgeschaltet. Mein Handy beginnt eilig, mehrmals hintereinander zu piepsen. Ein Blick aufs Display verrät mir, dass mehrere neue Textnachrichten eingegangen sind, eine von Mama, eine von Papa und eine von meiner Schwester Rosalie. Die drei machen sich Sorgen um mich und haben das auch alle in ihren Nachrichten betont, sie bitten um ein kurzes Lebenszeichen von mir. Cassandra war meine Gefühlswelt immer schon zu kompliziert.

Ich schreibe Mum eine kurze Nachricht, dass es mir gut geht und ich gedenke, für ein paar Tage in unserem Wochenendhaus zu bleiben. Ein erleichtertes »Gott sei Dank geht es dir gut« folgt. Die letzte Nachricht ist von meinen drei Freundinnen: »Marie, bitte pass auf dich auf. Wir machen uns Sorgen um dich. Nur ein Wort von dir und wir machen uns sofort auf den Weg zu dir, egal wohin. Ein einzelnes Kleeblatt ist niemals alleine. Gemeinsam in glücklichen und traurigen Zeiten. Immer füreinander da, untrennbar sind wir stark.«

Bei diesen Worten stiehlt sich wieder eine kleine Träne aus meinen Augenwinkeln. Meine Freundinnen und ich waren schon immer ein Herz und eine Seele. Auch ihnen gebe ich kurz Bescheid, dass es mir soweit gut geht und wo ich mich befinde. Dann schalte ich das Mobiltelefon allerdings wieder aus. Ich möchte für mich sein und in Ruhe meinen Gedanken nachhängen. Schmatzend lasse ich mir weiterhin die Ravioli schmecken. Hört mich ja keiner. Tischmanieren brauche ich heute dann wohl keine. Sitze ja schließlich ganz alleine hier am Tisch. Obwohl ich langsam satt bin, fühle ich mich innerlich unruhig.

Ein Gefühl, als wenn man eine wichtige Aufgabe vergessen hat, aber nicht weiß, welche es war. Ich wollte den Aufenthalt hier ja eigentlich dafür nutzen, mir Gedanken über mich und meine Ziele für mein Leben zu machen. Nun sind schon eineinhalb Tage vorbei und ich habe nicht viel mehr gemacht als geschlafen. Also wieder mal keinen Erfolg zu verbuchen.

So stelle ich den Topf, den ich bis auf den letzten Krümel geleert habe, in die Spüle und lasse Wasser einlaufen. Sieht ja beinahe aus wie Blut. Viel Blut. Raviolimord im Wochenendhaus.

Ja, an Fantasie hat es mir noch nie gemangelt. Ob ich wohl mal wieder meine Worte und Gedanken zu Papier bringen soll? So wie früher, wenn ich jeden Tag meinem Tagebuch erzählt habe, was ich an diesem Tag so erlebt habe? Ich glaube fest daran, dass mein Tagebuch so einiges mitmachen musste mit mir. Schade, dass mir die Fantasie bis jetzt zu nichts nutze war.

Ich begebe mich wieder zurück an meinen Lieblingsort. Mamas Bibliothek. Warum sie ihre ganzen Bücher wohl nicht bei uns Zuhause aufbewahrt? Das hat sich mir nämlich noch nie erschlossen. Man möchte doch seine Lieblingsbücher um sich haben. Hier im Wochenendhaus sind wir ja nicht jeden Tag. Vielleicht sollte ich Mum einfach mal danach fragen.

So sitze ich wieder in dem kuscheligen Ohrensessel und lasse meine Augen über die verschiedenen Regalreihen schweifen. Schon die Einbände von Büchern sind faszinierend. Ein kleiner Abschnitt Buch kann schon so viel verraten. Er soll einen zum Lesen animieren. Meine Augen suchen nach etwas, das ich in die Hand nehmen und darin schmökern möchte. Da entdecke ich ein kleines Buch, das zwischen zwei großen breiten Bänden wie eingequetscht dasteht. Das will bestimmt zu mir. Etwas frische Luft atmen. Aus der Enge entschwinden.

So greife ich mir dieses Buch und mache es mir wieder bequem. Ich kann mich nicht erinnern, dieses Buch schon mal in meinen Händen gehalten zu haben. Es ist gerade mal so groß wie meine Handfläche. Also kein gängiges Buchformat. Der Einband ist aus dunkelbraunen Leder. Ich wende das Büchlein. Auf der Rückseite befindet sich gar kein Text. Die Vorderseite ziert auch kein Titel. Komisch. Jedes Buch hat doch einen Titel, selbst auf Notizbüchern prangt in großen Lettern das Wort »Notizbuch«.

Auf der Vorderseite ist mit feinen roségoldenen Linien eine Rose gezeichnet. Die Rose neigt den Kopf nach unten, als wäre sie traurig. Einige Rosenblätter sind bereits herabgefallen. Ein seltsames Buch. Mit den Fingern zeichne ich die Linien der Rose nach. Es beginnt, in meinen Fingerspitzen zu prickeln. Wenn ich genau hinschaue, habe ich das Gefühl, dass die roségoldenen Linien aufleuchten. Erschrocken ziehe ich meine Finger zurück. Nein, keine leuchtenden Linien sind zu sehen.

Bestimmt war es nur eine Sinnestäuschung durch das Sonnenlicht, das direkt auf das weiche Leder gefallen ist. Ohne nochmal die Rose zu berühren, schlage ich das Buch auf. Will es durchblättern und kurz reinlesen. Die erste Seite ist leer. Die nächste auch. Auch die dritte enthält keine Worte. Mit Schwung blättere ich nun alle Seiten durch. In dem Buch steht rein gar nichts. Ist es etwa doch ein Notizbuch?

In mir macht sich ein Gefühl der Enttäuschung breit. Hatte ich doch auf eine spannende Leselektüre gehofft. Ich lege das Buch in meinen Schoß und rücke den Sessel näher an das Fenster heran. Die Sonnenstrahlen, die durch die Glasscheibe scheinen, wärmen mir sowohl mein Gesicht, als auch mein Gemüt. Ich liebe es, wenn die Sonnenstrahlen durch das Glas tanzen und meine Wangen wärmen.

Schon fühle ich mich weniger allein. Wärme ist immer ein Geschenk für mich, sie scheint mich zu umarmen, mir zuzuflüstern, dass ich nicht alleine bin, dass sie immer für mich da ist. Ja, das ist schön. Ich war schon immer ein kleines Sonnenkind. Auch, wenn ich den Hochsommer eher nicht so mag. Warme Sonnenstrahlen im Herbst liebe ich.

Der Blick nach draußen zeigt mir, wie schön unser Wochenendhaus doch liegt. Die Wiese rund ums Haus ist noch satt grün. Die Bäume des Waldrandes wiegen sich sanft im Wind. Von hier kann ich auch einen kleinen Teil des Sees sehen. Auch hier kräuselt sich durch den Wind die Oberfläche des Wassers. Die Sonnenstrahlen glitzern und tanzen wie Diamanten auf der Wasseroberfläche. Ein strahlender Anblick.

Meine Handflächen werden wieder ganz warm. Die Rose hat wie von selbst wieder begonnen zu strahlen. Mich umgibt roségoldenes Leuchten. Wie durch einen Windstoß wird das Buch aufgeblättert.

In der Mitte des Buches angekommen, scheint wieder das rosegoldene Leuchten noch intensiver. Es dreht sich im Kreis. Wie ein Strudel. Mir wird ganz schummerig. Mein Kopf kippt nach vorne. Mein ganzer Körper scheint mitzukippen. Ich purzele durch das Buch. Schließe vor Schreck die Augen.

Kapitel 4

Unsanft plumpse ich nach mehrmaligem Herumwirbeln auf den Boden. Hoffentlich sind alle meine Knochen heil geblieben. Stumm bleibe ich erst einmal sitzen, nicht mal ein kleiner Schmerzensschrei entfährt mir. Was um Himmels Willen ist hier gerade passiert? Ich kann es mir nicht erklären.

Ich traue mich gar nicht, meine Augen zu öffnen. Was ich nicht sehen kann, gibt es nicht wirklich, oder? Lieber erst mal nicht sehen, wo ich bin und was hier gerade geschehen ist. Doch an meinem rechten Zeigefinger spüre ich ein Kitzeln. Oh mein Gott, was ist das? Bin ich etwa nicht mehr alleine? Mein Herz beginnt zu pochen, meine Hände werden feucht, ich höre mich selbst viel zu laut atmen. Das wahre Entsetzen packt mich. Ich möchte schreien, doch ein Schrei könnte vermutlich genau das Falsche sein.

Ich halte es nicht länger aus und muss die Augen erschüttert öffnen. Gehetzt schaue ich mich um, mein Herz klopft mir inzwischen bis zum Hals. Eilends springe ich auf, ich möchte einer potenziellen Bestie nicht aus diesem Blickwinkel gegenüberstehen. Eigentlich möchte ich gar keiner Bestie, die mich möglicherweise als Vorspeise auserkoren hat, begegnen. Wie tausend Ameisen kribbelt es noch immer an meinen Fingern.

Ich wage einen Blick auf meine rechte Hand. Ein kleiner Marienkäfer hat sich darauf verirrt. Beruhigt möchte ich aufatmen, doch Halt, Stopp. Warum ein Marienkäfer? In unserem Haus leben die wohl eher nicht. Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Mein Blick gleitet schnell nach rechts und links. Ich befinde mich nur wenige Schritte vom See, der zu unserem Wochenendhaus gehört, entfernt.

Wie bin ich denn so plötzlich hierhergekommen? Ich kann doch nicht in dem einen Moment in der Bibliothek meiner Mutter sein und eine Sekunde später hier unten am See. Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Menschen können weder in der Zeit reisen noch, teleportieren und zaubern schon gleich gar nicht.

Meine Gedanken drehen sich im Kreis, ich fange an zu taumeln und greife mir verwirrt an die Stirn. Das Kribbeln in meinen Fingern lässt mich erneut zusammenzucken, ehe ich mich wieder an den Marienkäfer erinnere. Das kleine Tierchen scheint einen Tanz auf meinem Finger aufzuführen. Meine Aufmerksamkeit gehört nun ganz ihm. Um ihn besser betrachten zu können, nehme ich meinen Finger nach oben, so ungefähr auf die Höhe meiner Nase. Wie in Kindertagen beginne ich, die Punkte auf dem Rücken des Marienkäfers zu zählen, das beruhigt mich etwas. Es sind sieben nachtschwarze Punkte. Das kleine Kerlchen scheint mir direkt in die Augen zu blicken. Als würde er wahrnehmen, dass wir uns gerade in die Augen blicken, beginnt er zu lächeln. Warte mal. Können Marienkäfer lächeln?

»Marie, du schweifst wieder ab mit deinen Gedanken«, rügt mich der Marienkäfer.

Was, er hat gerade mit mir gesprochen? So weit kommt es noch. Insekten können weder Gedanken lesen, noch sprechen. Das gibt es einfach nicht. Ob ich wieder einmal in einem meiner lebhaften Träume feststecke? Ich habe schon so oft in meinem Leben so lebhaft geträumt, dass ich am nächsten Morgen verknotet in meiner Bettwäsche aufgewacht bin. Ok, dann wache jetzt einfach auf, Marie, versuche ich mich selbst aufzuwecken. Doch irgendwas scheint mich in dieser Traumwelt – anders kann ich es mir nicht erklären – festzuhalten. Entnervt brummt der Marienkäfer erneut mit seinen Flügeln. Durch die Vibration nimmt das Kitzeln auf meinem Finger zu.

»Ich bin Karli, Marienkäfer« summt er vor sich hin.

Nein Marie, das findet alles nur in deinem Kopf statt, deine Fantasie spielt dir mal wieder einen wilden Streich. Versuche einfach, aufzuwachen. Es wird alles gut. Du musst nur aufwachen.

»Marie«, mahnt der Marienkäfer.

»Wie soll ich nur aus diesem vermaledeiten Traumland herausfinden. War das Sandmännchen gestern Nacht etwa betrunken und hat mir all seinen Schlafsand in die Augen gepustet? Mit dem alten Kerl muss unbedingt mal jemand reden. Alkohol im Dienst geht schließlich gar nicht«, schimpfe ich vor mich hin.

»Das Sandmännchen gibt es gar nicht. Das ist eine Erfindung von euch Menschen«, brummt der Marienkäfer ungeduldig.

»Aber dich, einen sprechenden Marienkäfer, soll es etwa geben?«, höre ich meine eigene Antwort.

»Ich sitze doch direkt vor dir auf deinem Finger und du kannst mich mit deinen Augen sehen«, erklärt das gepunktete Insekt. »Hast du je das Sandmännchen gesehen?«

»Nein«, muss ich zugeben. Lasse ich mich etwa gerade wirklich in ein imaginäres Gespräch mit einem Marienkäfer verwickeln? Was soll nur aus mir werden, wenn ich nicht mal zwischen Traum, Fantasie und der Realität zu unterscheiden vermag.

»Marie, deine Gedanken bereiten mir Kopfschmerzen«, kommt es kläglich von Karli, dem Marienkäfer.

»Insekten haben Kopfschmerzen?«

»Ja, und mir brummt bereits nach wenigen Minuten mit dir der Schädel. Könntest du mir bitte die Gnade erweisen, mir einfach zuzuhören?«

»Oh mein Gott, du kannst tatsächlich reden und scheinst ziemlich real zu sein. Ich dachte schon, du bist eine Ausgeburt meiner Träume«, fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

»Dann beginnen wir jetzt noch einmal von vorne. Ich bin Karli der Marienkäfer. Gesandter des Königreiches der Rose.«

»Ich bin Marie. Was für ein Gesandter, was für ein Königreich? Reicht es denn nicht, dass ich versuche, an einen sprechenden Marienkäfer zu glauben?«

»Nein, das reicht nicht. Das Ganze ist viel komplexer, als du es dir jetzt vorstellen kannst. Ich möchte dir etwas zeigen«, summt er weiter.

»Na klar, ich bin dabei«, höre ich mich wie durch Watte sagen. Habe ich gerade eben einem Insekt zugesagt, dass ich ihm bedingungslos folge? Hatte mir meine Mama etwa nicht beigebracht, dass man niemals mit Fremden mitgeht? Ob sie damit wohl auch Krabbeltiere gemeint hat? Der kleine Marienkäfer erscheint mir putzig und liebenswürdig, der kann sicher kein Wässerlein trüben. Doch mit Gewissheit kann ich das natürlich nicht sagen. Zögernd bleibe ich erneut stehen.

»Marie, bitte bleib nicht wieder stehen. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, brummelt Karli.

»Woher soll ich wissen, ob ich dir vertrauen kann? Wer weiß, vielleicht führst du mich auf Irrwegen in meinen Tod.«

»Sei doch nicht so theatralisch. Ich bin ein winzig kleines Insekt, du bist dagegen ein Riese, wenn du es aus meiner Sicht sehen möchtest. Was soll ich dir schon antun?«, widerspricht Karli.

»Wie wäre es, wenn du vorausfliegst und ich dir mit Abstand folge? Dein ewiger Tanz auf meinen Fingern lässt mich ganz fahrig werden.«

»Wenn du mir dann endlich folgst, dann auch das«, murmelt Karli. Nach wenigen Schritten sind wir beide am Ufer des Sees angelangt.

»Hier wohnt Ava, wenn sie nicht gerade ein Bad in eurem Badezimmer nimmt«, erzählt Karli weiter.

»Ja, natürlich.«

Dieser Marienkäfer vermag es wirklich, zu scherzen. »Du glaubst dem alten Karli nicht?«, brummt er unzufrieden.

»Du erzählst mir doch Märchen. Ava kenne ich nur aus einem Film, und Filme erzählen Geschichten, erfundene Geschichten. Geschichten, die uns unterhalten sollen. Ja, ich gebe es zu, in manchen Geschichten steckt ein wahrer Kern, doch der Rest wird von Autoren und ihrem glorreichen Geist erfunden.«

Karli schnalzt dreimal lautstark mit seinen Flügeln. Die Wasseroberfläche kräuselt sich noch viel mehr. Tatsächlich, ich kann einen roten Haarschopf wahrnehmen. Galant schwimmt eine Frau ans Ufer. Lässt ihre Schwanzflosse auf das Wasser klatschen, als würde sie sich selbst Applaus spenden. Mich begrüßt sie mit einem kurzen »Hi«. Mir bleibt vor Staunen der Mund offen stehen.

»Keine Zeit verlieren, ungläubige Marie«, mahnt Karli, als sei er der Wächter der Zeit.

Meine Schritte scheinen seinem Tanzen auf meinem Finger zu folgen, Karli hatte dort wieder postwendend Platz genommen. Ich laufe beinahe so schnell, dass ich es mir zutrauen würde, über meine eigenen Füße zu stolpern. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass Ava weiter lustig ihre Runden im See dreht.

»Augen nach vorn, Marie, du wirst noch stolpern«, erinnert mich Karli prompt.

»Ja, ja«, murmle ich. Meine schnellen Füße tragen mich zum Waldrand.

»Wo willst du denn hin?«, jammere ich. Ich habe nun wirklich Angst, zu stolpern und auf die Nase zu fallen.

»Das wirst du schon sehen«, antwortet Karli knapp.

Wir folgen einem kleinen, schmalen Trampelpfad in den Wald hinein. Warum trage ich eigentlich keine Schuhe?, frage ich mich verdutzt. Die Dornen zerkratzen mir meine nackten Füße.

Plötzlich stoppen wir. Ich blicke immer noch auf meine Füße. Als ich nach oben blicke, kann ich die Waldlichtung erkennen, auf der wir früher immer Indianer gespielt haben. Doch heute steht hier kein Tipi und kein kleines Steinfeuer, um das ich und meine Schwestern immer getanzt sind, sondern auf dem Waldboden kniet Ivy und füttert die Waldtiere.