Es wird jemand sterben - Herbert Pelzer - E-Book

Es wird jemand sterben E-Book

Herbert Pelzer

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Beschreibung

Sie glaubten, es würde alles wieder gut ... 1955 - Ein Dorf am Rande der Eifel. Die Kriegsspuren sind größtenteils beseitigt, und die Bewohner schauen voller Zuversicht nach vorn. Doch die Idylle wird jäh von einer Reihe schrecklicher Vorfälle getrübt. In diesem heißen Sommer verschwinden Menschen spurlos, finden bei Unfällen den Tod oder werden ermordet. Mit Verdächtigungen ist man schnell bei der Hand: Der Dorftrottel könnte es gewesen sein, oder der verkommene Sonderling vom Dorfrand, der seine Frau schlägt. Als die Serie von Todesfällen nicht abreißt, wird Kommissar Kaul aus der Kreisstadt Düren ins Dorf geschickt. Er ist jung und ehrgeizig und wagt den Blick hinter die biederen Fassaden. Er ist dem Bösen auf der Spur, das ganz unerwartet über das Dorf gekommen ist.

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Herbert Pelzer geb. 1956, lebt und schreibt auf dem platten Land vor den Toren Kölns. Zuletzt hat er bis zum Frühjahr 2020 in der Film- und Fernsehausstattung gearbeitet, daneben widmete er sich seit einigen Jahren dem Schreiben.

Seit 2008 verfasste er Beiträge zur Regionalgeschichte, 2017 dann erschien mit Durch die Jahre sein Debütroman. Seine Bücher beschäftigen sich vordergründig mit der Nachkriegsgeschichte seiner Heimat. Schon auf den zweiten Blick entpuppen sie sich als Familienromane, in denen er sorgfältig und schonungslos die gesellschaftlichen Verwerfungen und Abgründe des nicht immer idyllischen Landlebens offenlegt.

HERBERT PELZER

ES WIRDJEMANDSTERBEN

ROMAN

Originalausgabe

© 2021 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von

© arvitalya - stock.adobe.com

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-561-8

E-Book-ISBN 978-3-95441-570-0

Für Gaby

Inhalt

PROLOG

1. KAPITEL Sofia Henschenmacher

2. KAPITEL Die Nissenhütte

3. KAPITEL Die Liebenden

4. KAPITEL Überstunden

5. KAPITEL Im Versteck

6. KAPITEL Sonntagsruhe

7. KAPITEL Else Pröll

8. KAPITEL Martin Schopp

9. KAPITEL Ohne jede Spur

10. KAPITEL Der Streit

11. KAPITEL Hoffnung

12. KAPITEL Das Feuer

13. KAPITEL Im Schuppen

14. KAPITEL Siedemanns

15. KAPITEL Unter der Plane

16. KAPITEL Gärende Maische

17. KAPITEL All diese Toten

18. KAPITEL Heinrich Kabelke

19. KAPITEL Schopp sieht rot

20. KAPITEL Das Alibi

21. KAPITEL Franz Kadenbach

22. KAPITEL Krankenbesuch

23. KAPITEL Im Kartoffelkeller

24. KAPITEL Der Deal

25. KAPITEL Gewitter

26. KAPITEL Früher Winter

EPILOG

PROLOG

Goswin Pröll langweilt sich. Breitbeinig steht er in der gleißenden Mittagssonne und lässt seinen Blick über den staubigen Hof schweifen. Drüben, neben dem Holzschuppen, haben sich seine Hennen hinter einem rostigen Maschendrahtzaun im Schatten der Wand in tiefen Erdlöchern niedergelassen. Die Sonne brennt auf seinen nackten Schultern. Langsam geht er einige Schritte auf den Hühnerstall zu, sein Gang ist schleppend, schlurfend zieht er sein rechtes Bein nach. Schweißflecken zieren sein Unterhemd.

Rechts von ihm liegen die Bimssteine, die Else im vergangenen Winter organisiert hat, zu einem ungeordneten Haufen aufeinandergeworfen. Ständig hat sie ihn bedrängt, endlich das Loch in der Hauswand damit zu schließen. Hohe Triebe sattgrüner Brennnesseln sprießen schon zwischen den Steinen hervor, doch auch an diesem Tag wird Pröll nicht mit der Arbeit beginnen. Er wird gar nichts tun, nicht die Steine beim Haus aufschichten, nicht den Sand sieben, damit man einen feinen Mörtel daraus herstellen kann. Längst ist der Zement in den beiden Säcken, die Else ebenfalls herangeschleppt hat, bei den anhaltenden Regenfällen während des Frühjahrs hart geworden. Er wird auch nicht das wilde Wermutkraut ausreißen, das sich in ihrem kleinen Gemüsegarten ausgebreitet hat, und er wird auch kein frisches Wasser in die Tränke für die Hühner gießen. Nichts dergleichen wird er tun.

Desinteressiert an solchen Aufgaben bleibt er stehen, führt die Bierflasche zum Mund und trinkt sie mit wenigen Zügen aus. Dann fixiert er mit leerem Blick den Zinkeimer, der dicht vor dem Drahtzaun steht, nimmt die Hand aus der Hosentasche und versetzt dem Eimer einen derart heftigen Tritt, dass er mit Wucht gegen den Drahtzaun prallt. Während er scheppernd zu Boden fällt, stieben die Hühner laut gackernd auseinander. Noch einmal holt Pröll aus und tritt zu. Das Scheppern des Eimers und das Rasseln des Zaunes mischen sich mit dem aufgeregten Gegacker der wild umherlaufenden Hühner. Weder Freude noch Mitleid überkommen ihn, ohne die geringste Regung wendet Pröll sich ab, wirft die leere Flasche auf den Steinhaufen, wo sie klirrend zerschellt. Seit Else fort ist, trinkt er noch mehr als zuvor, sein Gang ist schwankend, als er jetzt hinüberschlendert zur Hofeinfahrt.

Hier verläuft die Straße vom Dorf heraufkommend weiter in die Felder hinaus. Jeden Abend mühte Else sich nach der Arbeit auf ihrem alten Fahrrad hierher. Abgekämpft und müde, einzelne Haarsträhnen klebten in ihrem verschwitzten Gesicht, das welke Fleisch schlackerte an ihren nackten Oberarmen. Manche Dorfbewohner benutzten die Bezeichnung Straße, doch tatsächlich ist es nichts anderes als nur ein holpriger Feldweg – übersät von tiefen Schlaglöchern, in denen im Frühjahr und Herbst ausgedehnte Wasserpfützen stehen. Im Winter, wenn die eiskalten Ostwinde über das schneebedeckte Land tosen, ist sein Verlauf unter den Schneeverwehungen oft nur zu erahnen, an solchen Tagen bereitet es große Mühe, zum Haus der Prölls zu gelangen.

Goswin Pröll steht an die Mauer gelehnt und schaut über die sich vor ihm ausbreitende Ebene. Drüben liegt das Dorf in träger Ruhe unter einem wolkenlosen, leuchtend blauen Bilderbuchhimmel. Gerade eben ist die Kirchenglocke nach dem Mittagsläuten verstummt, nur das Trillern der hoch am Himmel flatternden Feldlerchen durchdringt die Stille in diesem Moment noch. Kaiserwetter an einem gewöhnlichen Werktag. Pröll kneift seine Augen zusammen und schaut zum Dorf hinüber. Sieht die Häuser unter blühenden Kastanienbäumen und hinter frisch geschnittenen Hecken stehen. Alle Schäden sind im Laufe der Zeit repariert worden, alle Einschusslöcher zugemauert, die Fenster verglast, die Dächer neu eingedeckt. Einige Neubauten sind im Dorf errichtet worden – mit Vorgärten, in denen Rosen blühen, und mit Garagen, in denen nagelneue Autos stehen. Neue Wände, neue Dächer, neue Häuser und neue Menschen gibt es nun im Dorf. Er denkt an Ursula Markwitz, die mit ihrer Mutter in einer der beiden Nissenhütten lebt. Keine dreihundert Meter entfernt liegen sie noch vor dem Dorf. Er sieht das Blech matt in der Sonne leuchten, nur ein paar schlanke Birken spenden ein wenig Schatten, und Pröll weiß genau um die unerträgliche Hitze, die sich bei diesen Temperaturen unter dem zum Halbkreis gebogenen Wellblechdach staut.

Um der Gluthitze im Inneren zu entkommen, halten sich die alte Markwitz und ihre Tochter im Sommer, sooft es ihnen möglich ist, vor der Hütte auf. Dann schleicht sich Pröll an das Buschwerk zwischen den Birken heran und beobachtet sie. Steht bewegungslos da, starrt Ursula an, und ihr junger, schlanker Körper verheißt ihm in diesen Momenten die Erfüllung seiner lüsternen Begierde.

Gleich bei den Nissenhütten tut sich eine kleine Senke auf, sozusagen direkt vor Prölls Haustüre. Angefüllt mit Bauschutt und anderem Unrat. Seit einiger Zeit laden manche Leute sogar ihren Hausmüll hier ab. Unbeweglich steht Pröll auf dem Feldweg, lenkt seinen Blick von den Hütten zu der Schutthalde, und plötzlich bemerkt er den blau und rot und gelb gemusterten Stoff. Er erkennt es sofort, es ist das Kleid, das Ursula schon so oft getragen hat. Übergangslos setzt er sich in Bewegung, schlurft über den staubigen Feldweg auf die Schutthalde zu, sieht das Kleid daliegen, zwischen all dem schmutzigen Unrat, und schließlich erkennt er einen Arm, ein Bein, und dann begreift er, dass Ursula dort liegt. Als ob der Schutt sie verschlingen wollte, so schlaff und so leblos liegt sie zwischen zerbrochenen Backsteinen und Resten von altem Bauholz. Ihre Glieder sind seltsam verdreht. Pröll tritt ganz nah an sie heran, ihre schulterlangen Haare bedecken ihr Gesicht, er kann nicht erkennen, ob ihre Augen geöffnet oder geschlossen sind. Eine dicke, smaragdgrün glänzende Fliege läuft über ihren Unterarm.

Goswin Pröll hebt sein verschwitztes Gesicht, blinzelt in die grelle Mittagssonne, tut einen tiefen Atemzug, und dann beugt er sich zu Ursula Markwitz hinab.

1. KAPITEL

Sofia Henschenmacher

Dicke Tropfen prasseln gegen die Fensterscheibe, in unruhigen Bahnen laufen sie an ihr herab und sammeln sich in einer Lache auf der hölzernen Fensterbank. Sofia Henschenmacher steht in ihrer Wohnküche und schaut hinaus auf das Dorf, das sich ein wenig unterhalb ihres Grundstücks erstreckt. Draußen liegt die Welt grau und verschwommen von einem dichten Regenschleier umhüllt, niemand ist auf den Straßen zu sehen. Ein schmutzig brauner Sturzbach fließt den Schotterweg vor ihrem Haus hinab, überquert in breiten Wellen die Straße und versickert dann auf der Weide neben Theodor Schopps Hof.

Behäbig richtet sich die Henschenmacher auf, um zurückzugehen an den Herd, auf dem sie ihren Kräutertee warm hält. Vier Löffel Zucker häuft sie in die Tasse, sie trinkt den Tee gerne stark gesüßt, dann kehrt sie zurück zum Fenster und blickt noch einmal hinaus. Als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen, so abrupt schreckt sie zurück beim Anblick der hässlichen Fratze, die ihr von draußen entgegenstarrt. Mit weit aufgerissenen Augen und Mund schält sich das verquollene Gesicht aus dem dichten Regen. Völlig durchnässte Haare hängen wirr durcheinander an dem unförmigen Schädel. Die Hälfte des Tees verschüttet Sofia Henschenmacher auf den Fußboden, so ruckartig bewegt sie sich weg vom Fenster. Draußen schüttelt das Wesen den Schädel, dass die Haare nur so fliegen, und stößt dabei unartikulierte Laute aus.

Die Henschenmacher fasst sich an die Brust, wie wild pocht ihr Herz, doch dann stellt sie die Tasse auf die Kommode und reißt die Tür nach draußen auf: »Warum tust du das? Du unnützer Bengel! Sieh zu, dass du nach Hause kommst, sonst sage ich es deinem Vater.«

Sofort hört Martin Schopp auf mit der Hampelei, bleibt bewegungslos stehen und verzieht das Gesicht zu einem vieldeutigen Grinsen, bei dem er seine ungepflegten Zähne entblößt.

»Verschwinde!«, ruft die Henschenmacher noch einmal und hebt drohend den Zeigefinger.

Da trollt sich der Junge, trottet mit hängenden Schultern den Schotterweg hinab, durch den immer noch rauschenden Regen, als ob es ihn gar nicht gäbe.

Als Martin vor achtzehn Jahren drüben auf dem Hof der Schopps geboren wurde, hat die Hebamme lange auf den Säugling herabgeschaut, dann einen besorgten Seufzer getan und den Eltern geraten, das Kind zu verstecken. »Sonst kommen sie, und nehmen es euch weg.«

Martins Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und war drei Wochen lang nicht in der Lage, das Wochenbett zu verlassen. Der Vater hatte bei einem Tobsuchtsanfall den Kleiderschrank zertrümmert. Später versuchte er, dem Jungen die Blödheit mit Schlägen auszutreiben. Bis Martin in die Pubertät kam ging das so, dann schickte der Amtsarzt nach der Polizei. Martin Schopp wurde in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, wo er nächtelang an ein rostiges Eisenbett gefesselt dalag und seine Wut herausbrüllte. Vor zwei Jahren dann hatten Theodor Schopps Bemühungen endlich Erfolg, sie durften den Jungen zurück nach Hause holen. Seither verbringt Martin die Tage ohne sinnvolle Beschäftigung und ohne die geringste Zuwendung, völlig sich selbst überlassen. Die Kinder des Dorfes rennen schreiend davon, wenn er sich ihnen mit heruntergelassener Hose nähert und schamlos onaniert. Ihre Väter drohen ihm Schläge an, die Mütter bedrängen den Pfarrer, dafür zu sorgen, dass Martin zurück in die Anstalt gebracht wird. Nach jeder Beschwerde schlägt Theodor Schopp seinen Jungen grün und blau, während seine Frau nebenan in der Küche sitzt und den Rosenkranz betet. Dann bleibt Martin zwei Tage lang in seinem Bett liegen und jammert und brabbelt wie ein kleines Kind vor sich hin, doch sobald er wieder aufrecht zu gehen vermag, streift er durch das Dorf und sucht sich ein Tier, das er quälen kann. Mit seiner Steinschleuder aus haltbarem Haselnussholz, in das er feine Riefen und Muster geschnitzt hat, schießt er dann auf Vögel und räumt deren Nester aus. Oder er zertritt die Frösche, die er im Dorfweiher fängt. Einmal hat er dem alten Hofhund mit der Heckenschere den Schwanz abgeschnitten. Und im letzten Winter hat er eine trächtige Katze in einer Drahtschlinge auf ihrem Heuboden erhängt.

Sofia Henschenmacher sieht dem völlig durchnässten Jungen noch eine Weile nach, dann verschwindet er hinter dem Lebensmittelgeschäft an der Ecke, und sie kehrt zurück in ihr Haus. Hochbetagt, sie ist über achtzig, lebt sie inzwischen alleine in diesem Haus, das bereits ihren Eltern gehörte. Ihr Mann ist vor vielen Jahren bereits verstorben, ihre beiden Söhne sind im Krieg geblieben. Sie weiß, dass manche Dorfbewohner sie argwöhnisch beobachten, doch es macht ihr nichts aus. Auch dass die Leute hinter ihrem Rücken tuscheln, kümmert sie nicht. Dass man sie wegen ihres von tiefen Falten durchgezogenen Gesichts, ihrer schlohweißen, stets zerzausten Haare und ihres fast zahnlosen Munds als altes Hexenweib bezeichnet, weiß sie längst.

Und sie weiß, dass die Leute misstrauisch sind, weil sie trotz ihres hohen Alters immer noch in der Lage ist, ohne fremde Hilfe ein eigenständiges Leben zu führen. Doch das kümmert sie nicht im Geringsten. Gelassen beobachtet sie sehr genau, was um sie herum geschieht. Kaum etwas von dem, was vor sich geht im Dorf, bleibt ihr verborgen. Sie registriert, wie sich das Dorf verändert hat, seit der Krieg ihnen eine neue Zeitrechnung aufgezwungen hat. Sie sieht neue Menschen in den Ort kommen, die bleiben und hier einen Neuanfang wagen. Ihn wagen müssen, weil sie dort, wo sie zu Hause sind, alles verloren haben.

Unterdes ist hier alles besser geworden in den letzten Jahren, die Häuser schöner, die Kleider bunter und die Bäuche sind runder geworden. Es geht voran, immer nur nach vorne, ohne einen Blick zurück. Schon ist man wieder wer, redet lauter, lacht lauter, geht aufrechter, als man es vor dem Krieg getan hat. Und bei so viel aufgeregtem Getue verlieren diese Leute allmählich den Glauben an all die Dinge, die kein Gelehrter dieser Welt zu erklären vermag. Die jedoch so real existieren wie Tag und Nacht. Gefangen in ihrem Streben nach allem Neuen und Besseren verlieren die Leute die Fähigkeit, die unzähligen versteckten Zeichen zu deuten, die nur derjenige zu deuten vermag, der um ihre Existenz weiß. Diese Leute wollen oder können nicht mehr an die unzähligen Hinweise glauben, die das Leben für sie bereithält. Die Hinweise auf das, was falsch oder richtig ist. Oder auf das, was kommen wird.

Die Henschenmacher ist anders, sie erkennt und versteht diese Zeichen noch sehr genau, und nie käme es ihr in den Sinn, sich auch nur den geringsten Zweifel daran zu erlauben.

Sie bleibt ihrer Überzeugung treu; alles ist ein großes Ganzes und jedes einzelne Ding steht in Verbindung zu allem. Der Himmel und die Erde, das Feuer und das Wasser, die Dunkelheit und das Licht, die Lebenden und die Toten: Alles verbindet sich zu einem unendlichen Universum. Sie weiß um das Gute und ebenso um das Böse in der Welt. Der Krumme, der oben im Wald haust, ist gefährlich. Dort, wo der lichte Kiefernwald an eine dunkle Tannenschonung grenzt, dort lauert er bei Dunkelheit den unvorsichtigen Zeitgenossen auf, die sich allzu weit in den Wald hineinwagen. Die weiße Nonne jedoch, die draußen in den Feldern umgeht, dort, wo einst das versunkene Kloster stand; sie ist ein harmloses Wesen, das am hellen Tag zur Mittagsstunde am Wegrand hockt und mit durchdringendem Gewimmer um ein Gebet für ihr Seelenheil fleht. Und so weiß Sofia Henschenmacher auch, welche Bedeutung die Rufe haben, die der Steinkauz, der oben im Kirchturm sitzt, in den vergangenen Nächten erschallen ließ. Es sind die Rufe des Todes.

Jemand wird sterben, und es wird schon sehr bald geschehen.

Nachdem sie den Fußboden gewischt hat, befüllt sie ihre Tasse noch einmal mit heißem Tee, wieder gibt sie reichlich Zucker hinein, und setzt sich dann an ihren Küchentisch. Versonnen lässt sie den Löffel in der Tasse kreisen, ihr Blick geht nach draußen, wo der Regen aufgehört hat und am Himmel ein knallbunter Regenbogen erscheint. Süß rinnt der Tee durch ihre Kehle und entfaltet seine wohltuende Wirkung.

2. KAPITEL

Die Nissenhütte

In diesem Moment tritt auf der gegenüberliegenden Seite des Dorfes eine schlanke, hochgewachsene Frau vor eine langgestreckte, mit einem halbrunden Wellblechdach versehene Hütte. Sie schaut hinauf zu dem grellbunten Regenbogen vor einem schwarz-grauen Himmel und zündet sich eine filterlose Zigarette an. Ihre mondän anmutende Erscheinung steht im krassen Widerspruch zu der bescheidenen Behausung, vor der sie nun dasteht und den Rauch der Zigarette inhaliert.

Seit acht Jahren wohnen Metha Markwitz und ihre Tochter Ursula schon in der Nissenhütte, nie hätte sie geglaubt, so lange in dieser Blechbude festzusitzen. Als die amerikanischen Soldaten damals mit Sack und Pack abzogen, haben sie die beiden Nissenhütten am Dorfrand einfach dagelassen. Eine Zeit lang blieben sie ungenutzt, dann hat ein Bauer sie als Lagerraum hergenommen, bis schließlich die in großer Zahl auftauchenden Ostflüchtlinge irgendwo untergebracht werden mussten. Einen Fußboden aus gehobelten Fichtendielen ließ man verlegen und die vorderen und hinteren Öffnungen mit Ziegelsteinen zumauern. Diese Wände wurden mit einer Eingangstür und zwei kleinen Fenstern links davon versehen, auf diese Weise konnte man zwei Familien in jede Hütte einquartieren, jede mit einem eigenen Eingang und einer Trennwand aus Sperrholz genau in der Mitte der Hütten. Damals hat eine mürrische Mitarbeiterin der Amtsverwaltung Metha und Ursula Markwitz in eine der beiden Hütten gesteckt, in deren anderer Hälfte bereits eine Familie mit sechs Kindern hauste. Diese Enge, dieser Lärm bei Tag und bei Nacht, die grimmige Kälte im Winter und die stickige Hitze im Sommer ließen Metha fast verzweifeln, doch etwas Besseres gab es nicht für die mittellosen Neuankömmlinge.

Heute leben die beiden Frauen alleine hier, und Metha muss zähneknirschend akzeptieren, dass ihr Geld immer noch nicht ausreicht, in eine bessere Wohnung zu ziehen. Als die letzten Mitbewohner ausgezogen sind, ließ Metha eine Tür in die Zwischenwand ihrer Hütte einbauen, nun benutzen sie den vorderen Raum als Wohnküche und den hinteren als Schlafraum und Badezimmer ohne fließend Wasser. Durch die kleinen Fensterchen im Schlafraum schauen sie nach hinten raus auf die zweite Hütte, die jetzt leer steht und in der sich fette Ratten und anderes Getier zwischen dem Unrat tummeln, der sich mit der Zeit dort angesammelt hat. Metha tut den letzten Zug an der Zigarette und zerdrückt sie in dem Aschenbecher, den sie auf der Fensterbank zwischen den Blumenkästen deponiert hat. Ihr bereits mit grauen Strähnen durchzogenes Haar trägt sie zu einem festen Knoten am Hinterkopf gebunden, ihre markigen Gesichtszüge verleihen ihr den Ausdruck von Stärke und Beharrlichkeit. Noch einmal schaut sie hinauf zum Himmel, wo der Regenbogen allmählich verblasst. Dicke Tropfen fallen von den Blättern der Birken, unter denen ihre Hütte steht, auf sie herab. Metha Markwitz liebt diese Bäume, sie erinnern sie so sehr an Gumbinnen, wo sie als kleines Kind an die weißen Baumstämme gelehnt dasaß und dem Rauschen der Blätter im Wind lauschte. Vielleicht sind die Birken hier vor ihrer Nissenhütte sogar der wahrhaftige Grund, warum sie immer noch hier ist, manchmal ist sie sich dessen sicher, doch dann wieder erscheinen ihr diese Bäume hier so krumm und so schmächtig, so bescheiden im Vergleich zu den prachtvollen Exemplaren daheim, dass sie über sich selbst den Kopf schüttelt und sich eine Närrin nennt. Nichts von alledem hier ist wie in Gumbinnen. Dort war jedes Ding gut, wohingegen sie hier ihre Tage in dem elenden Dasein einer Bittstellerin verbringt. Mit kaum mehr als fünfzig Jahren lebt sie von einer äußerst geringen Rente; einer geregelten Arbeit nachzugehen, ist ihr nicht mehr möglich, denn ihre Gesundheit ist perdu. Verloren gegangen in den eiskalten Schneestürmen, durch die sie sich auf ihrem langen Weg in den Westen geschleppt haben. Zunichte gemacht von den Rotarmisten. Aufgesogen von den Parasiten, die sich über Monate in ihrer ungewaschenen Kleidung festgesetzt hatten. Dass es ihr in diesem Inferno gelungen ist, Ursula vor den russischen Bestien zu verstecken, erscheint ihr auch heute noch wie ein Wunder. Ihre Ursula, ihre wundervolle Ursula; sie ist der Grund, warum Metha noch nicht vor einen fahrenden Zug gesprungen ist. Für ihre Tochter lebt sie weiter, für sie erträgt sie diesen nagenden Schmerz in sich, und erst, wenn ihr Kind endlich das goldene Leben führt, das ihr zusteht, erst dann kann Metha Markwitz Ruhe finden und abtreten von der Bühne des Lebens, auf der von ihr verlangt wurde, die Rolle des Pechvogels in einem miesen Theaterstück zu spielen. Das Schicksal schuldet ihr ein versöhnliches Ende ihres grässlichen Lebens, darauf hat Metha Markwitz ein Anrecht, und sie ist nicht bereit, auch nur einen Deut von dieser Erwartung abzuweichen.

Als sie in ihre Nissenhütte zurückgehen will, sieht sie Martin Schopp den Feldweg entlangwackeln. Der Dorftrottel geht nicht wie andere Menschen, er zockelt vielmehr, mit ungelenken Schritten zockelt er seiner Wege, und nie weiß man bei ihm, was er im Schilde führt. Vom Dorf her kommt er näher, patscht in die Regenpfützen, ohne dass es ihm etwas auszumachen scheint. Metha Markwitz hegt ein tiefes Unbehagen gegen diesen Kerl, den einige Leute im Dorf einen armen Teufel nennen und bemitleiden, doch ihr gelingt es schon lange nicht mehr, Mitleid für Martin Schopp zu empfinden. Sie ist der Meinung, dass so einer wie er weggesperrt gehört. Unverhofft taucht er vor ihrer Wohnung auf, stiert durch das Fenster in ihr Schlafzimmer hinein und fingert dabei an sich herum. Wie oft schon hat sie sich zu Tode erschrocken, wenn er plötzlich in ihrer Küche steht und sie anglotzt. Dieser Teufel ist zu abscheulichen Dingen fähig, das weiß sie, und aus diesem Grund vertreibt sie ihn vehement, sobald sie ihn erblickt.

Argwöhnisch beobachtet sie, wie Schopp näher kommt. Geh nur weiter, denkt sie bei sich, geh nur weiter, geh hinüber zum Pröll und lass mich in Ruhe. Geh nur hinüber und lass dich wieder verhöhnen von ihm. Sie weiß, dass Goswin Pröll den Dorftrottel verlacht und beschimpft. Dass er ihn herumstößt, nach ihm tritt und ihm ein Bein stellt, damit Schopp in den Dreck fällt und Pröll ihn dafür verlachen kann. Am Anfang ist sie hinübergegangen, als sie beobachtet hat, was auf Prölls Grundstück geschieht, hat gerufen, er solle aufhören damit, doch Pröll hat nur gelacht und gebrüllt, sie solle verschwinden, sonst ginge es ihr genauso. Sie war bei Schopps Eltern, hat erzählt, was sie gesehen hat. Doch der Alte hat nur gelacht und gemeint, das gehe sie nichts an. Seitdem kümmert sie sich nicht mehr um die Sache. Gleich wird sich Goswin Pröll den Dorftrottel wieder gehörig vornehmen, und der wird dastehen und dämlich grinsen, weil er nicht versteht, was mit ihm geschieht.

Zurück in ihrer Küche, beginnt sie damit, das Abendessen für sich und Ursula zu bereiten. Sie führt den Haushalt, und Ursula verdient das Geld, das doch nicht ausreicht, um sie hier herauszubringen.

Ursula Markwitz ist eine Frau, nach der sich die Männer umdrehen. Sie hat die Gestalt ihrer Mutter, doch ihre Gesichtszüge sind harmonischer. Wo Metha mit schmalen, aufeinandergepressten Lippen ihre Mitmenschen verdrießlich anschaut, da lacht Ursula laut auf mit vollen Lippen und offenem Mund, der ihre makellos weißen Zähne entblößt. Ihr sonniges Gemüt wirkt ansteckend auf andere, und weil sie zu jedermann freundlich ist, sind ihr nahezu alle Menschen, die ihr begegnen, gleich zugetan. Sie ist anders als die Bauernmädchen mit ihren breiten Gesichtern und den dicken Waden, sie ist etwas Besonderes, das ruft ihr Metha ständig in Erinnerung, und darum, sagt sie, werde sie es auf gar keinen Fall dulden, dass einer dieser kleingeistigen Habenichtse, die ihr beständig nachstellen, sie zur Frau bekommt.

Seit acht Monaten und zehn Tagen trifft Ursula sich mit Felix Siedemann, dem Sohn der im Dorf hoch angesehenen Apothekerfamilie. Felix hat an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn studiert und anschließend zwei Jahre lang in verschiedenen Apotheken in den Städten Aachen und Köln gearbeitet. Seitdem er wieder zurückgekehrt ist in sein Elternhaus, arbeitet er neben seinem Vater in der Apotheke am Marktplatz in der Dorfmitte, in der schon sein Großvater hinter dem Tresen gestanden hat. Beim Erntedankfest im vergangenen Herbst hat er Ursula zum Tanz aufgefordert, seither sind sie ein Paar, und Ursula spürt, dass Felix sich mit ernsten Absichten trägt. Eine Zeit lang konnte Ursula die Liaison mit Felix Siedemann vor ihrer Mutter geheim halten, doch dann hat sie es erfahren, und Metha war zunächst erzürnt darüber, dass sie die freudige Nachricht von jemand Fremdem erfahren musste. Doch Methas Verärgerung war nur von kurzer Dauer, zu groß war die Freude über diese wundervolle Wendung in Ursulas Leben. Die Siedemanns gehören zu den Honoratioren im Dorf, ihr Haus ist das größte und schönste am Marktplatz. Schon als die Markwitz’ ins Dorf kamen, waren an dem Haus der Siedemanns keinerlei Kriegsschäden mehr zu erkennen. Heute zieren aufwendige Sockel und Gesimse aus kostbarem, weißem Marmor die Fassade. Über der eisenbeschlagenen Eingangstür hängt an einer schmiedeeisernen Halterung ein großes Schild mit dem Namen der Siedemanns, unter dem eine goldene, sich um eine Trinkschale windende Äskulapschlange in der Sonne glänzt. Felix’ Vater kehrte schwer kriegsbeschädigt aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Sein amputierter Beinstumpf schmerzt in der Unterschenkelprothese, das lange Stehen hinter dem Tresen macht ihm zunehmend zu schaffen, weshalb er sich mit dem Gedanken trägt, das Geschäft an seinen Sohn zu übergeben. Wenn da nur nicht diese junge Markwitz wäre. Er selbst hätte ja nichts dagegen, wenn sie als ihre Schwiegertochter ins Haus käme, doch seine Frau ist da ganz anderer Meinung. Sie weigert sich strikt, diese eigentlich doch so nette, junge Frau zu akzeptieren. Hermann Siedemann weiß, dass darüber noch lange gesprochen werden muss in seinem Haus.

Während ihre Mutter zu Hause damit beginnt, das Abendessen zu bereiten, geht Ursula in der Papierfabrik in den Waschraum für die Arbeiterinnen, um sich den Staub der hinter ihr liegenden Tagesschicht vom Leib zu waschen. Nachdem sie sich vor der Waschrinne vollständig entkleidet hat, reinigt sie sich gründlich. Der Waschraum in der Fabrik ist im Gegensatz zu den beengten Verhältnissen in ihrer Nissenhütte ein wahrer Luxus, gibt es doch fließend kaltes und sogar warmes Wasser. Sie ist dankbar für ihre Arbeitsstelle hier in der Fabrik, die Arbeit ist zwar monoton, aber nicht allzu anstrengend. Mit den Zulagen für die Überstunden, die von ihr verlangt werden, verdient sie hier ein, nach ihrer Meinung, recht erkleckliches Gehalt. Das Gejammer ihrer Mutter über ihre Geldsorgen ignoriert Ursula, sie ist zufrieden mit dem, was sie beide zum Leben haben. Wie man hört, sind die Auftragsbücher der Geschäftsleitung voll, es geht aufwärts in diesem Land, mit dieser Fabrik, und Ursula ist überzeugt, dass irgendwann auch sie von der positiven Entwicklung profitieren werden. Vor einigen Monaten sind die ersten Fremdarbeiter aus Italien in der Stadt eingetroffen. Im Westen floriert die Wirtschaft derart, dass es in allen Industriezweigen an Arbeitskräften mangelt. Einige von ihnen arbeiten jetzt in der Papierfabrik; von den Kollegen misstrauisch beäugt, bemühen sie sich darum, es allen recht zu machen, während ihre traurigen Blicke die Sehnsucht nach zu Hause verraten.

Gut gelaunt verlässt Ursula das Fabrikgelände. Ihre saubere Haut fühlt sich gut an, ein Duft von Seife umgibt sie. Sie trägt ihr Lieblingskleid, das ärmellose, taillierte Oberteil geht über in einen weit ausgestellten Rock, das kräftige Blau mit den fröhlichen, roten und gelben Mustern darauf passt ausgezeichnet zu ihrem dunklen Teint. Im Strom der anderen Fabrikarbeiter strebt sie der Straßenbahnhaltestelle zu, ihr Rock schwingt bei jedem ihrer federnden Schritte um ihre schlanken Beine.

Zu Hause angekommen, nimmt sie wie immer gemeinsam mit ihrer Mutter das Abendessen ein. Anschließend erledigt Ursula den Abwasch alleine, ihre Mutter schickt sie hinaus vor die Hütte. Ursula weiß, dass Metha nach dem Essen gerne raucht, und während die Mutter schon hinter der Hütte auf der kleinen Bank sitzt, eine Zigarette anzündet und in ihren Gemüsegarten blickt, den sie etwas abseits von dem Birkenwäldchen angelegt haben, wäscht Ursula fröhlich summend das Geschirr.

Dann sitzen sie nebeneinander auf der Bank. Nach dem Regenschauer am Nachmittag umgibt sie eine wohltuend kühle Abendluft. Schweigend sitzen sie da, Metha zündet sich eine weitere Zigarette an, und plötzlich spürt sie, dass er wieder da ist. Unmerklich stößt sie Ursula an und deutet mit dem Kinn auf die Holunderbüsche gleich hinter ihrem Gartenstück. Ursula bleibt ruhig, sie weiß sofort, was ihre Mutter ihr bedeuten will. So oft schon hat der Pröll ihnen aufgelauert, wenn sie an den Sommerabenden auf der Bank sitzend den Tag ausklingen lassen, während hinter ihnen die Hitze des Tages aus ihrer Hütte entweicht. Konzentriert fährt ihr Blick an dem Blattwerk entlang, bis sie ihn entdeckt hat. Nur nachlässig verborgen, gerade so, als ob er von den Frauen gesehen werden wollte, hockt er da hinter den Holunderbüschen und starrt zu ihnen herüber. Wie sie sich ekelt vor diesem primitiven Kerl! Gleichzeitig erheben Metha und Ursula sich von der Bank, auch an diesem Abend ist es ihnen lieber, sich in ihre Hütte zurückzuziehen und die Zeit hinter vorgezogenen Vorhängen zu verbringen, bis sie zu Bett gehen werden.

In der Türe stehend hält Metha inne, dreht sich noch einmal um und ruft hinüber zu den Büschen: »Verschwinden Sie von hier, Sie ungehobelter Kerl!«

Da tritt Pröll vor, sein Blick ist lüstern, in seinem verschwitzten Gesicht macht sich ein hämisches Grinsen breit. »Schon gut, Metha, schon gut«, flötet er ihr zu und hebt dabei abwehrend seine Hände hoch. »Es ist ja nichts passiert. Noch nicht …« Dann verzieht er sein Gesicht zu einer hässlichen Grimasse, schiebt seine feuchte Zunge zwischen die geöffneten Lippen und lässt sie vibrieren, bis er sich abwendet und seelenruhig über die Schutthalde hinüber zu seinem Haus schlendert.

Hinter ihm fährt der auffrischende Abendwind in die Holunderbüsche und lässt seine Blätter rascheln.

3. KAPITEL

Die Liebenden

Das Pendel der französischen Kaminuhr tickt hörbar. Dunkle Eichenmöbel verströmen die Atmosphäre einer gutbürgerlichen Wohnung. Sie hatten Glück: Als sie im Herbst ’45 aus Thüringen zurückgekehrt sind, fanden sie den überwiegenden Teil ihrer Wohnungseinrichtung mehr oder weniger unbeschädigt vor. Nur in der oberen Etage hatte es einige Schäden durch eindringendes Regenwasser gegeben.

Hermann Siedemann, seine Frau Hertha und ihr Sohn Felix sitzen um den ovalen Esstisch herum, dessen gerundete Beine in gewaltigen Klauenfüßen enden. Schweigend nehmen sie ihr Mittagessen ein. Salzkartoffeln dampfen auf weißen Porzellantellern, dazu gibt es bei Siedemanns, obwohl es ein Wochentag ist, einen krossen Schweinebraten mit dicker Soße. Hermann Seidemann isst mit Appetit, sein gewölbter Bauch spannt unter einer dunkelgrauen Anzugweste.

»Wie lange soll das noch weitergehen?«, will Hertha von ihrem Sohn wissen, ohne ihn dabei anzusehen. Das Ticken der Kaminuhr erfüllt den Raum. »Die Leute reden bereits über euch.«

Hermann sticht die Fleischgabel in eines der Bratenstücke auf der silbernen Fleischplatte und legt es auf seinen Teller. »Felix! Ich rede mit dir.«

»Damals haben die Leute auch geredet.«

Hertha stutzt, geräuschvoll legt sie ihr Besteck auf den Teller. »Was willst du damit sagen?«

Besänftigend legt Hermann Siedemann seine Hand auf den Unterarm seiner Frau.

»Sie hat nichts und sie ist nichts. Du könntest eine bessere finden.«

»Ich will keine andere, ich liebe sie.«

»Pah! Liebe!«

Jetzt wendet Felix sich seiner Mutter zu. Ihre Blicke treffen sich. Felix hält dem zornigen Blick seiner Mutter stand. »Bei Vater und dir war es doch genauso. Du selbst hast es mir erzählt.«

»Diese Leute sind evangelisch.«

»Das sagt gar nichts über ihren Charakter aus.«

»Sie hat ja noch nicht einmal einen Beruf erlernt.«

»Du hast auch nur als Haushaltshilfe gearbeitet.«

»Ohne Beruf, ohne Bildung, ohne vernünftiges Dach über dem Kopf.«

»Daran trägt sie keine Schuld. Du hast auch nur die Volksschule besucht und keinen Beruf erlernt. Sie ist fleißig und sauber. Was stört dich wirklich an Ursula?«

»Sauber! In ihrer Blechbude gibt es ja noch nicht einmal fließendes Wasser.«

»Habt ihr euch nicht auch am Brunnen hinter Großvaters Haus gewaschen?«

»Was erlaubst du dir?« Hertha Siedemann richtet sich empört auf. »Wie redest du denn mit mir? Willst du meine Eltern beleidigen? Die alles getan haben, um uns Kinder zu anständigen Menschen zu erziehen!«

Hermann Siedemann erhebt beschwichtigend seine Hände. »Bitte! Hertha, Felix, bitte streitet euch nicht bei Tisch. Felix, ich erwarte Respekt von dir. Du bist zu weit gegangen …«

»Vater, ich versuche doch nur daran zu erinnern, wie es bei euch war. Habt ihr etwa vergessen, dass deine Eltern auch gegen eure Beziehung waren? Aus den gleichen Gründen, die ihr heute gegen Ursula anführt.«

Herthas Blick wechselt zwischen den beiden Männern hin und her. Sie atmet hörbar durch die Nase, ihre Lippen sind fest zusammengepresst.

»Junge, lass uns später noch einmal darüber reden. Es ist gleich zwei, wir müssen zurück in die Apotheke.« Damit erhebt sich Hermann Siedemann schwerfällig von seinem Stuhl und streicht mit beiden Händen über seinen runden Bauch.

Hertha beginnt das Geschirr zusammenzustellen, das Porzellan scheppert, das Besteck klappert, dann hält sie inne und sieht Felix böse an. »Das will ich dir jedoch noch sagen, Felix, und damit ist die Sache für mich erledigt: Niemals werde ich zu dieser Beziehung meine Einwilligung geben. Niemals!«

Goswin Pröll schlendert durch die Mulde hindurch zu seinem Haus zurück. Sein rechtes Bein schlurft über den unebenen Boden. Hier und da tritt er nach dem Unrat, den die Leute mit der Zeit zwischen dem Bauschutt abgelegt haben. Scheppernd prallt eine leere Fischdose gegen einen Stein. Dann verlässt er die zugemüllte Senke und geht den Rest des Weges bis zu ihrem Haus weiter auf dem staubigen Feldweg. Das Haus liegt außerhalb des Dorfes, noch weiter weg als die Nissenhütten, und es liegt alleine an dem Feldweg, der aus dem Dorf hinaus in die Felder führt, die gleich hinter dem Grundstück beginnen. Wer es erbaut hat, weiß Goswin nicht, auch nicht, wann es erbaut wurde. Else hat schon immer hier gelebt, zusammen mit ihren Eltern und den Brüdern, die bei den Bauern im Dorf gearbeitet haben. Mehr weiß er nicht über die Familie, sie haben nie darüber geredet. Lange vor dem Krieg sind Goswin und Else zusammengekommen. Er, ein alternder Junggeselle, bärenstark, arglistig und streitsüchtig, ein guter Schmied zwar, der es aber an keinem Arbeitsplatz lange aushält. Sie, eine alternde Jungfrau, sieben Jahre älter als er, die wie ihre Brüder beim Bauern arbeitet. Und die, weil sie unansehnlich und dumm ist, ohne Mann geblieben ist. Nachdem er einige Male nachts an ihre Türe geklopft und sie ihn in ihr Haus und in ihr Bett gelassen hatte, ist er einfach dageblieben. Heute ist sie ihm zuwider. Ihre Hässlichkeit, ihre Sprachlosigkeit, ihre willenlose Bereitschaft, alles, was ihm in den Sinn kommt, mit sich machen zu lassen – all das erfüllt ihn mit Abscheu.

Beim Betreten des Hauses empfängt ihn der durchdringende Geruch von eingelegtem Fisch, wieder einmal werden sie Salzhering und Pellkartoffeln essen. Else steht in der Küche am Herd, und als er sich ihr nähert, riecht er ihren Schweiß. Blitzschnell packt er sie an den Armen, und noch bevor sie reagieren kann, stößt er sie grob zu dem abgewetzten Küchensofa hin. Sie wehrt sich nicht, als er ihr die Kittelschürze bis über die Hüfte hochzieht und den Schlüpfer vom Leib zerrt. Dann wirft er sich auf dem Sofa über sie, grunzt und stöhnt, und als er keuchend von ihr ablässt, spürt er es wieder: dieses Prickeln in seinem Gesicht, als wenn ihn Tausende Nadelstiche gleichzeitig treffen würden. Seit damals befällt ihn das Gefühl immer wieder, seit der Kopf seines Kameraden Weichsel, neben ihm in der morastigen Deckung liegend, von einem Granatsplitter getroffen zerplatzte und Prölls Gesicht über und über mit Weichsels Blut und Hirnmasse eingesaut wurde. Weichsel, ausgerechnet Weichsel, der beste Kamerad, den man sich vorstellen konnte. Der ihm stets den Vortritt ließ, wenn sich ihre Einheit wieder einmal ein Russendorf vornahm. Wenn sie in eine dieser verlotterten Bauernkaten im bolschewistischen Niemandsland eindrangen, um die Bewohner herauszuscheuchen, und Pröll und seine Kameraden die flüchtenden Greise und Kinder abschossen wie die Karnickel. Während dieser Zeit ist Pröll zu dem geworden, was er heute ist: ein gebrochener Mensch, den der Schmerz in seiner verkümmerten Seele allmählich um den Verstand bringt.

Nach dem Essen betrinkt er sich. Else zieht sich bald klammheimlich in das Schlafzimmer zurück, weil sie weiß, wozu er fähig ist, wenn er getrunken hat. Mehr noch als sonst fürchtet sie dann seinen Jähzorn. Ohne jede Regung sieht er, wie sie das Zimmer verlässt. Diese Frau interessiert ihn schon lange nicht mehr. Es ist unwichtig, was sie tut, unwichtig, wer sie ist. Ihre Lohntüte am Samstagabend auf dem Küchentisch, das ist das Einzige, was ihn noch hier in diesem Loch hält. Wieder trinkt er aus der bereits halbleeren Flasche Weizenkorn, als wäre sie mit Wasser befüllt. Dann steht er auf von seinem Stuhl, torkelt hinaus vor das Haus, wo er sich an den windschiefen Lattenzaun lehnt und trübsinnig hinüberstarrt zu der Nissenhütte. Langsam legt sich die Stille der Nacht über das vor ihm liegende Dorf, aus den beiden Fenstern dringt fahles Licht nach draußen in die blaugraue Dämmerung. In der Ferne ertönt das Bellen eines Hundes. Goswin Pröll setzt die Flasche erneut an und trinkt in tiefen Zügen, bis schließlich der letzte Tropfen durch seine Kehle geflossen ist. Das Rülpsen schallt weithin hörbar durch den lauen Sommerabend.