Escape oder schreib um dein Leben - Maria Hademer - E-Book

Escape oder schreib um dein Leben E-Book

Maria Hademer

4,8

Beschreibung

Nicht nur um ihr eigenes, sondern auch um das Leben ihrer Freunde muss die 17-jährige Sophia schreiben, als sie in die Fänge einer mysteriösen Website gerät. Sophia erzählt dem Onlinetagebuch 'biografuturo' ihr Leben. Freundschaft, Liebe und Eifersucht in der Abgeschiedenheit eines kleinen Eifeldorfes. Einmal raus, einfach weg von der ewigen Langeweile, das ist Sophias Wunsch. Würde das Leben doch bloß nach ihren eigenen Vorstellungen laufen! Als Sophia diese Wünsche im Internet preisgibt, ist es schon längst zu spät für Vorsicht. Denn alles, was sie online schreibt, wird Wirklichkeit. Sie erlebt ein mitreißendes neues Machtgefühl, das verheerende Folgen hat. Ein falsches Wort - einmal geschrieben - kann nicht mehr zurückgenommen werden. Als schließlich Sophias beste Freundin durch einen Blogeintrag verschwindet, wird sich Sophia der lauernden Gefahr im Netz bewusst. Doch Aufhören ist unmöglich, und wer würde ihr jetzt noch helfen? Erst als das Mädchen die wahre Macht hinter dem Code der Website erkennt, stellt sich heraus, auf wen sie immer vertrauen kann. Ein Buch geschrieben von zwei Autorinnen aus verschiedenen Generationen. Beide leben im Zeitalter von facebook, tumblr und Second Life. Die Macht des Internets birgt Gefahren, denen weder Erwachsene noch Jugendliche gewachsen sind. Wie viel gerade deshalb wahre Freundschaft und Gemeinschaft zählen, zeigt sich in 'Escape oder schreib um dein Leben'.

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© 2014 1. Auflage RHEIN-MOSEL-VERLAG Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel. 06542/5151 Fax 06542/61158www.rhein-mosel-verlag.de Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-827-2 Ausstattung: Cornelia Czerny Umschlag: Marina Follmann Korrektur: Gabriele Korn-Steinmetz

Maria Hademer/Alice Lenz-Hademer

Escape oder schreib um dein Leben

Rhein-Mosel-Verlag

***

Inhalt

Mittwoch, 19. April

Mittwoch, 19. April, abends

Donnerstag, 20. April

Donnerstag, 20. April, etwas später

Freitag, 21. April

Samstag, 22. April

Sonntag, 23. April

Sonntag, 23. April, später

Montag , 24. April bis Mittwoch, 26. April

Mittwoch, 26. April

Donnerstag, 27. April

Freitag, 28. April

Samstag, 29. April und Sonntag, 30. April

Montag, 1. Mai

Dienstag, 2. Mai

Mittwoch, 3. Mai

Donnerstag, 4. Mai

Freitag, 5. Mai

Freitag, 5. Mai, später

Nacht von Freitag auf Samstag, 5. bis 6. Mai

Nacht von Freitag auf Samstag

Samstag, 6. Mai

Sonntag, 7. Mai bis Dienstag, 9. Mai

Mittwoch, 10. Mai

Mittwochabend

Samstag, 13. Mai

Wie das Buch entstand

***

Für Papa

***

Mittwoch, 19. April

»Hallo, junge Dame, aufwachen! Ich glaube, du musst hier raus!«

Die Stimme des Busfahrers hatte sie geweckt. Sophia reckte sich und suchte ihre Siebensachen zusammen. Sie kannte die Strecke auswendig und war nachmittags in den letzten zehn Minuten meistens der einzige Fahrgast. Rucksack, Lunchbag, Turnschuhe, Jacke, Handy. Alles da.

»Ziemlich viel Zeug«, meinte der Busfahrer gutmütig.

»Bald wird’s besser. Ich mach’ gerade Führerschein.«

»Na dann!« Der Busfahrer nickte ihr zu.

»Bis morgen!«

Sophia stieg aus dem Bus und lief die Kirchgasse hinunter nach Hause. Dabei ließ sie sich die erträglichste Reihenfolge für die Hausaufgaben durch den Kopf gehen.

Wieder so ein angebrochener Nachmittag, den der abenteuerliche Stundenplan der Schule ihr aufzwang.

Lernen – morgens, mittags, abends. Auf dem Weg durch den Vorgarten zur Haustür legte sie ihren zügigen Schulschritt ab, wurde immer langsamer und schlurfte die letzten Meter zur Haustür. Dort wuchtete sie die schwere Schultasche von der Schulter und ließ sie im Flur vor dem Garderobenschrank zu Boden rutschen.

Mama? – war draußen im Garten zu sehen und arbeitete in ihren Beeten.

Paps? – würde erst in ein bis zwei Stunden von der Arbeit am Landgericht zurückkommen.

In der Mikrowelle fand sie einen leckeren Nudelauflauf und sie genoss ihr verspätetes Mittagessen. Oder war es heute eher ein verfrühtes Abendessen?

Sie schaute vom Teller auf, weil sie ein Geräusch an der Hintertür hörte. Ihre Mutter kam aus dem Garten. Vor der Tür zur Küche zog sie die Gummistiefel aus, an denen dunkle Erdbrocken klebten. Sophia wusste, dass ihre Mutter sich danach sehnte, nach dem langen Winter endlich die Gartenarbeit wieder aufnehmen zu können, auch wenn der Boden noch feucht und kalt war. Karen Rosenhaags Gesicht, das von zerzausten Haaren eingerahmt wurde, hatte durch die Frühlingsluft eine frische Farbe angenommen.

»Für Kopfsalat aus dem Hochbeet ist es leider noch zu früh«, empfing sie fröhlich ihre Tochter, während sie die Gartenhandschuhe von den Händen streifte.

»Ich habe genug Salat im Kopf!«, antwortete Sophia mit vollem Mund. Wie ein Dirigent schwang sie die Gabel durch die Luft und deklamierte: »Zerteilen Sie die Nullstellenberechnung und das Shakespeare-Sonett Nummer 62 in kleine Stücke und mischen Sie einige Scheiben Weimarer Republik vorsichtig unter. Schmecken Sie alles mit ein paar Basen- und Säureverbindungen ab und garnieren Sie das Ganze mit gebrochenen verminderten Akkorden. Nun können Sie das gesamte Schulmief-Aroma genießen!«

Ihre Mutter lachte und setzte sich zu Sophia an den Tisch.

»So schlimm?«

»Schlimmer! Einfach ätzend, diese Endlos-Tage!«

Karen Rosenhaag nickte verständnisvoll. »Übrigens, Oma hat angerufen. Du sollst dich mal bei ihr melden.«

»Okay«, murmelte Sophia, dachte allerdings: Jetzt nicht. Später.

Sie verzog sich mit einem Cappuccino ins Wohnzimmer.

Der helle Raum war von der Frühlingssonne angenehm erwärmt. Sophia ließ sich vorsichtig aufs Sofa plumpsen.

Hey! Hier kommt die Queen der Fernbedienung! Sie schaltete den Fernseher ein.

Jetzt erst mal: Chillen! Zerstreuung! Pause!

Seit sie die Oberstufe besuchte, beherrschte die Schule ihre Zeit. Es gab nur rare Busverbindungen in dem kleinen Eifelort, in dem sie wohnte. Das zerstörte alle Vorstellungen von einem aufregenden Teenager-Leben. Stadtbummel? Kinobesuch? Einfach mal ein Kaffee mit Freundinnen? Alles musste sie planen und organisieren. Und dazu fehlte zunehmend die Kraft, je näher die Ferien rückten.

»I got a text!«, meldete sich ihr Handy.

SMS von Julie, ihrer besten Freundin.

»Salut! Lust und Zeit mir beim Packen zu helfen?«

Julie war ein Jahr älter als Sophia. Sie hatte bereits ihr Abitur in der Tasche und konnte nun die Vorsaison für einen Kurztrip nach Paris nutzen. Worum Sophia sie glühend beneidete.

So schön es auch wäre … »Lust, jaaa. Zeit, nein. Viel Spaß in der Stadt der Liebe! Vermisse dich jetzt schon.« Senden.

Heute also auch kein Abhängen am Telefon mit Julie.

Die wöchentliche Probe im Musikverein des Orts versprach wenigstens ein bisschen Abwechslung. Besonders deshalb, weil man sich hinterher im Rush-Hour traf und Neuigkeiten bei Johnny an der Theke austauschte.

Johnny. Eigentlich Johannes Eiler. Er hatte die alte Dorfkneipe übernommen, sie nach seinem Namen umbenannt und die Einrichtung aufgepeppt. Seitdem erinnerte sie eher an einen englischen Pub. Die schweren Vereinspokale und ausgefransten Baumwolldeckchen auf den Tischen – passé. Vor allem die unsäglichen Eichenkronleuchter waren von der Decke verschwunden und durch eine indirekte Beleuchtung ersetzt worden. Dazu modernes Mobiliar aus trendigem Teakholz. Johnny hatte Geschmack.

Und, das gestand sich Sophia ein, er war ein Grund für ihre Mitgliedschaft im Musikverein. Seine immer etwas spöttischen Kommentare zu den dörflichen Ereignissen verwandelten das normale Geschehen in eine Art amüsantes Kabarett.

Lustlos zappte Sophia sich durch das Fernsehprogramm, sie hatte die Wahl zwischen zwei Kochsendungen, Nachrichten und einer Liebes-Soap. Trostlos.

Schließlich raffte sie sich auf und entschloss sich, noch das Material für das anstehende Kunst-Referat im Internet zu recherchieren: Die Gegenüberstellung von Impressionismus und Expressionismus.

Sie hatte eine gute Stunde, bevor die Auffrischungsmaßnahmen für den Abend sie voll in Anspruch nehmen würden.

Mittwoch, 19. April, abends

Das Internet. Welch eine grandiose Erfindung! Sophia liebte das Hin-und-Her-Geworfenwerden auf unerwartete Seiten. Wie von selbst boten sich überraschende Zusammenhänge an und weckten die Neugier, auch noch die nächste angezeigte Website aufzusuchen … wie Rotkäppchen, das immer dachte, weiter hinten im Wald blühe eine noch schönere Blume.

Mist! – das Referatthema hatte sie nach ein paar Klicks aus den Augen verloren … der Wolf würde also die Großmutter fressen. Herrje, Oma! Total vergessen. Sorry, Oma, see you tomorrow.

Die nächste halbe Stunde sollte ihr selbst gehören, schließlich musste sie sich auf den Abend vorbereiten.

Im Bad schaute Sophia ihr Spiegelbild kritisch an.

Hi, Sophia Rosenhaag. Sie mochte ihren Namen. Und gemessen an den Topmodels aus den TV-Serien war sie eigentlich doch recht zufrieden mit sich. Bis auf die Pickel, die Haarfarbe, die Hüfte, die Fingernägel, die Länge der Haare, die Haltung, das Zahnweiß, die Lippen, die Größe, den Po, die Bräune … Es war nicht einfach, 17 Jahre alt und in Johnny verknallt zu sein. Also los!

Sophia packte ihre geliebte Sammlung an Kosmetik und Haarspangen aus und stöpselte ihr Handy an die Boxen, die auf dem Regal neben dem Spiegel standen. Was sollte es heute werden? Smokey eyes? Nein, dadurch sah man bloß deutlicher, wie extrem blass sie war. Lippenstift? Würde nur Instrument und Gläser verschmieren. Also griff sie nach dem Concealer. Doch sogar mit einer doppelten Schicht würde sie diese verdammten Augenringe nicht überdecken können. Das Make-up verdunkelte Sophias Haut längst nicht so stark wie sich ihre Laune verdüsterte, als sie feststellte, dass ihr Lieblingskajal mal wieder fehlte. Dann also Eyeliner. Normalerweise funktionierte sie den Kajal für einen schmalen Lidstrich um, denn die schwarze Paste des Eyeliners, die an dem kleinen Pinsel klebte, war ihr öfter als einmal schmerzhaft ins Auge geraten. Sophia lehnte sich zum Spiegel hin und beobachtete interessiert, wie sich ihre Pupillen den neuen Lichtverhältnissen anpassten. Dann setzte sie den Eyeliner vorsichtig an der inneren Ecke des Augenlids an. Sie schaffte es bis zur Mitte, bevor sie von dem Puderstaub in der Luft niesen musste und mit dem Pinsel eine Art indianische Kriegsbemalung auf ihrer Wange hinterließ.

»For God‘s Sake!«, schimpfte sie und war kurzfristig gewillt dem erbärmlichen Leben des Eyeliners ein Ende zu setzen. Doch, nein, nein, heute sollte ein guter Abend werden. Sie entfernte die schwarzen Streifen und zwang sich zu einem Lächeln. Wenigstens sind meine Zähne schön gerade, stellte sie fest, während sie ein stilles Dankgebet an ihren Kieferorthopäden sandte.

»What doesn‘t kill you makes you stronger«, tönte es aus den Lautsprechern.

»Recht hast du«, nickte Sophia mit neuem Mut und schlich sich in geheimer Rettungsmission zum Zimmer ihrer Eltern, um den Kajal ihrer Mutter zu stibitzen.

Nachdem sie das Schönheitsprogramm durchlaufen hatte, wirkte sie gute zwei Jahre älter, war konform gestylt und fühlte sich der Begegnung der Woche gewachsen.

Zunächst stand ihr allerdings die Probe des Musikvereins bevor.

Sie spielte erstes Alt-Saxofon, worauf sie, nach einem Jahr Unterricht, ziemlich stolz war.

Wenn sie ehrlich war – und sie war meistens ehrlich zu sich – kam ihr die Unterstützung ihres Pult-Kollegen nicht ungelegen. Timo war zwar schüchtern und absolut nicht ihr Typ, aber enorm nützlich. Immer hatte er den Notenständer bereits aufgebaut, der Bleistift lag vorschriftsmäßig gespitzt in greifbarer Nähe und ein Magnet hielt den erforderlichen Radiergummi vom Verschwinden ab.

Timo saß längst spielbereit hinter seinem Pult, als Sophia gut gelaunt den großen Saal in der Bürgerhalle betrat und einige der Musiker begrüßte. Der erste Posaunist drückte ihr gleich einen Zettel in die Hand: »Die kommenden Auftrittstermine!« Die Blechbläser waren einen Schritt weiter und organisierten schon ihre Fahrgemeinschaften zu den einzelnen Events. Ein Durcheinander aus lebhaften Gesprächsfetzen und einigen Tonleiterpassagen erfüllte den Probensaal. Bald erklangen die unvermeidlich quäkenden Anblasversuche noch trockener Klarinettenmundstücke. Zeit für den Dirigenten, in die Hände zu klatschen – das Startsignal für alle.

»Hi, Timo«, grüßte Sophia lässig und nestelte betont konzentriert ihr Mundstück zurecht. So musste sie auf Timos Lächeln nicht reagieren. »Schon wieder Stevie-Wonder-Medley?«

Timo räusperte sich verlegen. »Ja, ich habe den letzten Teil schon vier Stunden geübt und die Stelle immer noch nicht in den Fingern!«

Gott sei Dank! Gut so! Dann würde es also nicht auffallen, dass sie die Noten seit dem letzten Mal nicht angeguckt hatte.

Während der Probe wuchs Sophias Anspannung.

Vor ihrem inneren Auge tauchte Johnnys schlaksige Gestalt auf, seine schnellen Bewegungen hinter der Theke, wenn er die Gläser füllte, der wachsame Blick der grau-blauen Augen, der grau-blauen Augen, der grau… – »Gis«, flüsterte Timo.

»Was?« Sophia kehrte für einen Moment in die Gegenwart zurück, doch der Achtellauf in ihren Noten verlangte volle Aufmerksamkeit und verhinderte eine Antwort. Heute Abend würde sie sich keine Apfelsaftschorle best- »Gis!«, wiederholte Timo eindringlich.

Nervensäge! Wen interessierte denn schon, ob – »Gi-his! Wir sind in A-Dur!«

Dieser Nerd nahm tatsächlich den Bleistift und kritzelte das übersehene Vorzeichen in die Noten. Sophia steigerte sich in einen Hustenanfall und verließ eilig den Probenraum, um Timos scharfem Gehör zu entkommen.

Heute Abend sollte sich entscheiden, ob Johnny sie überhaupt wahrnahm, ob sie eine Chance bei ihm hatte – ja, ob das Leben in diesem verlorenen Nest einen Sinn hatte.

Sie lehnte sich an die Wand im Flur und versank aufs Neue in ihrem Tagtraum.

»Geht es wieder besser?«, hörte sie plötzlich Timos besorgte Stimme hinter sich. Dass er ihr gefolgt war, hatte sie nicht bemerkt. Sie stöhnte heimlich, nickte und schickte ihn mit einem genuschelten »Komme gleich« in den Probenraum zurück. Nur nicht gemeinsam mit Timo wieder dort aufkreuzen.

Dann riss sie sich zusammen und folgte Timo nach ein, zwei Minuten, einem angemessenen Sicherheitsabstand.

Endlich war die Probe zu Ende und damit ihre Qual. Beim Einpacken zog Sophia den Wischer nur flüchtig durch das Instrument. Sie wollte unbedingt als eine der Ersten im Pub ankommen, um noch einen Platz an der Theke zu ergattern. Sonst würde es sich nicht vermeiden lassen, sich an den Tisch mit den anderen Jugendlichen aus dem Verein – also mit Timo und Co – zu setzen, Apfelsaftschorle zu schlürfen und Schulgespräche mit anhören zu müssen.

Nein danke, kein Bedarf. Sophia wollte mehr.

Johnny sah umwerfend aus. Er hatte die Ärmel seines weißen, locker über die Hose hängenden Hemds aufgekrempelt und beherrschte die Zapfhähne und Regale wie das Spiel auf einer Orgel, ohne hinzuschauen. Während er mit traumwandlerischer Sicherheit nach den richtigen Flaschen und Gläsern griff, ließ er trockene Bemerkungen zu den nach und nach eintreffenden Gästen fallen. Johnny war der unangefochtene Star seines Pubs, der Anziehungspunkt für alle im Dorf, die sich abends noch die Stunde außer Haus gönnten.

Für Johnny selbst war die Kneipe ein Hobby. Ansonsten arbeitete er in der Bankfiliale des Ortes.

Keiner charakterisierte die Dorfbewohner so treffend, keiner kommentierte diese übersichtliche Welt so spannend – und deshalb wollte niemand Johnnys Sprüche versäumen.

»Hallo Häkchen!« Er grinste Sophia entgegen, die die Weite ihres Minirocks unterschätzt hatte und sich etwas umständlich auf den Barhocker hievte. Nur nicht einschüchtern lassen – war die Devise. Immerhin hatte er sie begrüßt. Wenn sie das ›Häkchen‹, zu dem er ihren Nachnamen verunstaltet hatte, auch eher mit zusammengebissenen Zähnen schluckte.

Während sie überlegte, wie sie möglichst souverän ihr Bier bestellen sollte, schob ihr Johnny ein bereits gefülltes Glas zu.

»Bisschen wenig Schaum«, imitierte Sophia die typische Beschwerde der Musiker nach der Probe über ein zu früh Gezapftes.

»Geht auch nicht mit Apfelsaftschorle«, gab Johnny amüsiert zurück, »sieht aber besser aus! So an der Bar!«

Sophia schoss die Röte ins Gesicht, ohne dass sie dagegen etwas hätte tun können. Um Johnny nicht anschauen zu müssen, wollte sie aus dem Glas trinken und verschluckte sich dabei elendiglich. Sie prustete das Getränk durch Mund und Nase wieder aus, zurück ins Glas und über die Theke, bis ihr die Tränen in den Augen standen. Der Husten schüttelte sie und nahm ihr fast den Atem. Röchelnd versuchte sie, die Luftröhre freizubekommen, ihr Brustkorb schien platzen zu wollen und der Hustenreiz wollte kein Ende nehmen.

Sie nahm ihre Umgebung kaum noch wahr, hörte nur Johnnys kühle Stimme: »Na ja, aller Anfang is halt schwer«, als sie Timo bemerkte, der sie am Arm fasste und nach draußen führte.

»Vielleicht hast du dich erkältet«, meinte Timo mitfühlend. »Das ist heute schon der zweite Anfall …«

»Kümmer’ dich um deinen eigenen Kram«, zischte Sophia und riss sich los.

Die Verzweiflung erfasste sie mit voller Wucht. Was für eine Blamage! Wie sollte sie Johnny je wieder unter die Augen treten? Sie hörte bereits seine bissigen Bemerkungen, die sie so liebte, wenn sie andere betrafen: Vielleicht hilft dir ja ein Strohhalm beim ersten Bier! Aus dem Glas trinken will gelernt sein, bevor man sich von der Mutterbrust löst. Das lernt man nicht in der Schule …

Zu allem Überfluss erschien nun auch noch Linda!

»Johnny meinte, ich sollte mal nach dir schauen. Ob alles okay ist und so.«

Sophia hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Morgen würde das ganze Dorf über ihren peinlichen Auftritt Bescheid wissen. Linda-Liebling, die zurzeit Johnnys besondere Aufmerksamkeit genoss, würde diese Szene Johnny und allen anderen ausmalen, wie es ihr in den Kram passte.

Sophia konnte die Fassung nicht länger wahren. Sie ließ ihr Instrument im Stich und rannte ohne Jacke und Tasche nach Hause, wo sie sich in ihr Zimmer einschloss, aufs Bett warf und den Tränen hemmungslos freien Lauf ließ.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte sie in ihr Kissen. Am liebsten hätte sie sich gleich unter dem Berg aus unaufgeschütteltem Plumeau, Kissen und Decken vergraben. Wieso passierte immer ihr so etwas? Warum konnte sich nicht ein einziges Mal alles nach ihren Wünschen fügen?

Sie schleuderte die hohen Schuhe in die Ecke und den unbequemen Minirock gleich hinterher. Nicht einmal die Energie, ins Bad zu gehen, brachte sie mehr auf. Ich werde sowieso niemals eine so schöne Haut wie diese dämliche Linda haben, dachte Sophia zerknirscht. Warum also Zeit verschwenden mit Peeling, Cremes und Lotionen?

Sie zog sich ihr Schlafshirt über und kroch ins Bett. Erschöpft tastete sie nach dem Lichtschalter und wartete auf den Schlaf, der die Schande des Abends wenigstens bis zum Morgen ungeschehen machen würde.

Durch ihre geschlossenen Lider blinkte ein Licht aus nächster Nähe vor ihrem Bett. Unregelmäßig. Grün. Rot. Entnervend! Mit einem grimmigen Knurren raffte sich Sophia wieder auf. Sie hatte vergessen, den Laptop herunterzufahren und jetzt blinkten sowohl die Internet-Kontroll-Leuchte als auch der Akku-Status. Gähnend und fröstelnd wartete sie darauf, dass das Gerät aus dem Stand-By-Modus hochfuhr. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie kramte schnell aus dem Kleiderschrank einen Bademantel hervor.

Gedankenverloren betrachtete Sophia ihr Bild im Spiegel der Schranktür …

Der Fingerabdruck-Scanner blinkte auf. Sie meldete sich an.

Als Letztes war sie auf der Website eines Mädchens hängen geblieben, das alle seine Probleme in einen Blog schrieb.

Mein Gott, warum benutzt nur jeder Facebook oder seine Website als Tagebuch?, ging ihr durch den Kopf. Sicher, es half, seine Gedanken aufzuschreiben. Diese Erfahrung hatte sie auch gemacht. Doch sie würde niemals so weit gehen, ihre innersten Gefühle für alle Welt zu veröffentlichen.

Sie wollte gerade eines der ständigen Werbe-Pop-Ups wegklicken, da hielt ihre Hand über der Maus inne.

Dein persönliches Online-Tagebuch! Erhalte deine Erinnerungen! Verarbeite deine Sorgen! Ganz privat und ohne namentliche Anmeldung!

»Was man nicht so alles findet.« Leicht verächtlich schüttelte Sophia den Kopf, in Anbetracht ihrer Sorgen, die nun wirklich größer waren als die lächerlichen Kinderstreitereien dieses Mädchens aus dem Blog. Trotzdem neugierig geworden klickte sie auf den Link.

Eine schön designte Website öffnete sich.

Alles und jeder um dich herum nervt dich? Du hast niemanden, mit dem du reden kannst? Alle erwarten zu viel von dir? Du weißt einfach nicht mehr weiter?

Schreibe dich jetzt frei von allen Sorgen und lass deine Welt einmal nach deinen eigenen Vorstellungen laufen.

Sophia blickte nun doch interessiert auf den Text. Konnte diese Site ihre Gedanken lesen? Sie suchte nach einer Zahlungsaufforderung, doch der Service war offenbar gratis. Achselzuckend schaute sie auf den Wecker, der 23.00 Uhr anzeigte. »Warum nicht?«, sagte sie zu sich selber und gab kurz entschlossen Benutzernamen und ein Passwort ein.

Vielen Dank für deine Anmeldungbei biografuturo!

@ Was ist heute passiert?

Dieser Satz erschien über einem Eingabefenster mit blinkendem Cursor.

In neu aufwallendem Frust schrieb Sophia alle Geschehnisse des Tages und besonders die des Abends auf.

Dass sie Johnny aber auch unbedingt hatte beeindrucken wollen! Wie blöd von ihr zu glauben, sie hätte eine Chance. Dafür hatte sie jetzt Timo am Hals! Der mit seinem Mitleid-Getue konnte ihr gestohlen bleiben. Und die Krönung des Ganzen war ja wohl Linda gewesen. Gott sei Dank hatte keiner Sophia weinen sehen. Auch Mama und Paps nicht. Das ersparte peinliche Nachfragen.

Was jetzt? Aufgeben? Weltuntergang? Sie musste unwillkürlich an den Film über den Vulkanausbruch in der Eifel denken, den sie letztes Jahr mit Julie im Kino gesehen hatte, und konnte dabei schon wieder leicht grinsen.

Vielleicht sollte ich auswandern, dachte sie trotzig.

Sie beendete den letzten Satz und fühlte sich irgendwie erleichtert. Das Datum auf Sophias Laptop ging einen Tag vor und zeigte bereits Donnerstag, den 20. April an. Weil sie zu müde war, alles zu kopieren und neu zu speichern, beließ sie es bei dem nicht korrekten Datum. Welchen Unterschied machte es schon? Seit sie den Laptop bekommen hatte, konnte sie mit dieser falschen Werkseinstellung leben …

@ Wie soll es weitergehen?

Die Frage leuchtete nun in grünen Buchstaben in einem zweiten Fenster, das sich geöffnet hatte, nachdem der erste Text abgeschickt worden war.

Sophia stutzte. Wie war das gemeint: Wie soll es weitergehen?

Dass sie sich die Zukunft in ihrer Fantasie ausmalen sollte?

Noch während sie dabei war zu überlegen, wie ihre missliche Situation wieder auszugleichen war, spürte sie, wie die Müdigkeit endgültig von ihr Besitz ergriff. Sie klappte den Laptop zu und kuschelte sich zurück in die Kissen. Nach wenigen Minuten war sie eingeschlafen.

Donnerstag, 20. April

Gedankenverloren schlenderte Sophia am Donnerstagnachmittag an der Kirche vorbei Richtung Ortsende und erreichte einen Bauernhof, der nicht mehr bewirtschaftet wurde. Hier wohnte Oma Rosie, die Mutter ihres Vaters.

Eigentlich hieß sie Helene. Doch mit ihrem richtigen Vornamen konnte sie sich nicht anfreunden. Sie fand, Rosie war eine nette Abkürzung ihres Nachnamens, der viel besser zu ihr passte. »Ich bin schließlich nicht die fromme Helene von Wilhelm Busch«, antwortete sie, wenn sie mit ihrem offiziellen Vornamen angesprochen wurde. Wenn Sophia sie damit aufzog, dass ›Rosie‹ auch nicht eben für eine coole Frau stand, die »einer gewissen Intellektualität« nicht abgeneigt war – wie ihre Großmutter sich gern ausdrückte – verteidigte sie sich: »Rosenhaag – den Namen liebe ich – und alles, was daran erinnert!«

Die Haustür stand offen und Sophia hörte von draußen die Küchenmaschine laufen, mit der Oma Getreide mahlte. Sie selbst war nicht zu sehen.

»Hallo?«, rief Sophia ins Treppenhaus, »Oma!«

Sie wurde aber nur von Kater Slipper begrüßt. Ihre Oma liebte den Kater wegen seiner Gewohnheit, sich wie ein runder Pantoffel um ihre kalten Füße zu legen, wenn sie sich mal wieder wegen ihres Rheumas kaum bewegen konnte. Slipper schnurrte Sophia um die Beine und maunzte seltsam erbärmlich. Sophia kraulte sein flauschiges Fell hinter den Ohren.

Ihre Großmutter war durch das Küchenfenster auf der Terrasse zu sehen, wo sie gerade eine Tai Ji-Übung abschloss.

Danach kam sie zur Hintertür herein und erklärte ohne Begrüßung: »Ich habe koreanisch gekocht und Slipper hat von der Sauce etwas aufgeschleckt. Ziemlich scharfes Zeug. Rumort jetzt in seinem Inneren herum.« Sie öffnete ihren Kühlschrank, den sie regelmäßig mit einem kräftigen Schlag auf den Thermostat dazu animieren musste, weiter zu kühlen. »Ein paar Brocken Weißbrot in Milch könnten vielleicht helfen. Dir vielleicht auch! Wie geht’s den Bronchien?«, wandte sie sich an ihre Enkelin.

Sophia erblasste. »Du weißt es schon? Steht es auch in der Zeitung?«, fragte sie mit sarkastischem Unterton.

»Meine liebe Fee, wir leben hier in einem Dorf. Da müsstest du doch wissen, dass die Buschtrommel schneller ist als das Licht! Ich soll dir von Johannes gute Besserung wünschen. Sieht übrigens gut aus, der Junge. Und dein Bier habe ich bezahlt, – zusammen mit ’nem bisschen Trinkgeld.«

Sophia schoss die Röte ins Gesicht. Sie hatte gestern ganz vergessen, ihr Getränk zu bezahlen. Aber … »Bier?«

»Keine Sorge, ich petze nicht!« Mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck stellte Oma die Küchenmaschine ab.