Escape - Ruth Finckh - E-Book

Escape E-Book

Ruth Finckh

4,8

Beschreibung

Die MS Pavia, ein zum Passagierschiff umgebauter Bananenfrachter, verlässt den Hamburger Hafen in Richtung Costa Rica. An Bord befinden sich unter anderem ein sinnenfreudiger Jesuitenpater, ein undurchsichtiger sudanesischer Journalist, ein Erster Offizier mit einem mysteriösen Auftrag, ein verzweifelter Blinder Passagier und eine junge Mutter, die für ihr Kind ein großes Wagnis eingeht. Wenig verbindet diese Menschen zunächst, außer der Flucht aus einem alten und der Hoffnung auf ein neues Leben. Doch bald häufen sich dramatische Ereignisse und die Reisenden lernen einander notgedrungen näher kennen. Der Roman entstand als experimentelles Gemeinschaftsprojekt von zehn Autoren aus der Schreibwerkstatt der Universität des Dritten Lebensalters (UdL) Göttingen.

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Der Roman entstand im Rahmen der von Ruth Finckh geleiteten Schreibwerkstatt des Dritten Lebensalters an der Universität Göttingen (UDL) aus einem literarischen Experiment, das seinen Ausgangspunkt bei einzelnen Figuren und dem nautischen Setting hatte.

Die Verfasser, ihre Figuren und Funktionen

Ruth Finckh: Tina Sommer, Gesamtredaktion

Gerhard Diehl: Redaktion

Eva Jänecke-Lauke: Elvira Pekus

Manfred Kirchner: Conrad Dreyer, technische Unterstützung

Lore I. Lehmann: Anna García und Karima

Helga Margenburg: Markus Mittelstädt

Gerd Pfeifer: Scott Williams und Peter

Brigitte Rosetz: Björn Bäumer

Hansi Sondermann: Rupert Vesper S.J.

Wilfried Seitz: Schiffsbesatzung, nautische Gesamtkoordination, Muhammad al Chatim

Für Anregungen und Kommentare danken wir Albrecht Thiel, Karen

von zur Mühlen, Jörg Winkler, Doris Matthäus, Frank Nestel, Sven

Tolksdorff und Christian Schmidt Perez.

Inhalt

Dieter Möllerhoff, Köln, 9. September 2014

Mathias Degenhardt, Hamburg, 15. Oktober 2014

Klaas Freese, Warnemünde, 16.Oktober 2014

Klaas Freese, Hamburg, 17. Oktober 2014

Horst Lohfeld, Flensburg und Hamburg, 20. Oktober 2014

Georg Schefft (Schorse), 5. November 2014

Mathias Degenhardt, Hamburg, 29. Januar 2015

Elvira Pekus, 30. Januar 2015

Cornelius Knolle (alias Conrad Dreyer), 12. Februar 2015

Anna Belloumi (alias García) und Karima, 13. Februar

Cornelius Knolle (alias Conrad Dreyer), 13.-15. Februar

Anna und Karima, 16. Februar

Björn Bäumer, 16. Februar

Tina Sommer, 16. Februar

Rupert Vesper, 16. Februar

Conrad Dreyer, 16. Februar

Scott Williams und Peter, 16. Februar

Markus Mittelstädt, 16. Februar

Kapitän Klaas Freese, 16. Februar

Conrad, Anna und Karima, 16. Februar

Muhammad al Chatim, 16. Februar

Conrad Dreyer und Scott Williams, 16. Februar

Björn Bäumer, 16. Februar

Tina Sommer und Schorse, 16. Februar

Rupert Vesper und Elvira, 16. Februar

Elvira und Tina

Rupert Vesper, 16. Februar abends

Anna und Karima, 16. Februar

Tina Sommer, 16. Februar spätabends

Conrad Dreyer, 16. Februar

Björn Bäumer, 16. und 17. Februar

Tina, 17. Februar frühmorgens

Markus, 17. Februar

Rupert Vesper, 17. Februar morgens

Muhammad, 17. Februar

Conrad Dreyer, 17. Februar vormittags

Rupert Vesper, 17. Februar morgens

Elvira, 17. Februar vormittags

Conrad, 17. Februar nachmittags

Tina, 17. Februar abends

Anna und Karima, 17. Februar abends

Elvira, 17. Februar abends

Rupert Vesper, 17. Februar abends

Conrad Dreyer, 17. Februar abends

Anna und Karima, 18. Februar morgens

Björn, Anna und Karima, 18. Februar

Elvira, Muhammad und Tina, 18.Februar morgens

Tina, 18. Februar nachmittags

Elvira, 18. Februar nachmittags

Rupert Vesper, 18. Februar nachmittags

Anna und Karima, 18. Februar abends

Scott und Peter, 18. Februar abends

Rupert Vesper, 18. Februar abends

Conrad, 18. Februar abends

Markus, 18. Februar abends

Björn, 19. Februar morgens

Anna und Karima, 19. Februar vormittags

Anna und Karima, 19. Februar nachmittags

Heinz Petersen und Oliver, Nacht vom 19. auf den 20. Febr

Markus, Nacht vom 19. auf den 20. Februar

Rupert Vesper, 19. Februar nachts

Jens Albrecht und Kapitän Freese, 20. Februar morgens

Rupert Vesper, 20. Februar morgens

Siegfried Hottenrott und Jens Albrecht, 20. Februar morgens

Rupert Vesper, 20. Februar abends

Anna und Karima, 20. Februar

Kapitän Freese, Muhammad und Elvira, 20. Februar abends

Jens Albrecht, 20. Februar abends und 21. Februar morgens

Elvira, 21. Februar morgens

Rupert Vesper, 21. Februar morgens

Tina und Elvira, 21. Februar morgens

Anna, Karima und Oliver Hecht, 21. morgens bis nachmittags

Schorse, 21. Februar mittags

Elvira, Tina und Muhammad, 21. Februar nachmittags

Rupert Vesper, 21. Februar spätnachmittags und abends

Conrad, 21. Februar

Elvira und Tina, 21. Februar spätnachmittags

Schorse, 21. Februar spätnachmittags

Conrad Dreyer, 21. Februar abends

Siegfried Hottenrott, 21. Februar abends

Scott, 21. Februar abends

Rupert Vesper, 21. Februar nachts

Markus, 22. Februar vormittags

Siegfried Hottenrott, 22. Februar

Muhammad, 22. Februar

Conrad, Hottenrott und Muhammad, 22. Februar mittags

Markus, 22. Februar nachmittags

Anna und Karima, 22. Februar nachmittags

Björn, 22. Februar nachmittags

Anna, Karima und Olli, 22. Februar abends

Björn, Anna und Rupert, 22. Februar abends

Muhammad, 22. Februar abends

Heinz Petersen, 22. Februar abends

Rupert Vesper, 22. Februar abends

Hottenrott, 22. Februar abends

Conrad, 22. Februar abends

Lohfeld, 22.Februar abends

Markus, 22. Februar nachts

Anna und Karima, 23. Februar vormittags

Conrad, 23. Februar morgens

Anna, Björn und Olli, 23. Februar

Klaas Freese, 23. Februar später Vormittag

Rupert Vesper und Peter, 23. Februar nachmittags

Peter, Karima, Tina, Conrad, Scott, Markus, 23. Feb. nachm

Anna und Olli, 23. Februar abends

Markus, 23. Februar abends

Siegfried Hottenrott, 23. Februar abends

Scott Williams, 23. Februar abends

Muhammad und Horst Lohfeld, 23. Februar abends

Muhammad, Hottenrott, Freese, 24. Februar vormittags

Anna und Karima, 24. Februar

Markus, 24. Februar vormittags

Conrad, Scott, Peter, Tina, Elvira und Rupert, 24. Feb.mittags

Anna und Karima, 24. und 25. Februar

Muhammad, 24. Februar nachmittags

Rupert Vesper und Björn, 24. Februar nachmittags

Muhammad, 24. Februar abends

Markus, 24. Februar abends

Kapitän Freese, Muhammad und Lohfeld, 24. Februar abends

Elvira und Markus, 24. Februar abends

Muhammad, 25. Februar morgens

Rupert Vesper, 25. Februar morgens

Siegfried Hottenrott, 25. Februar morgens

Conrad, 25. Februar morgens

Elvira, 25. Februar morgens

Conrad und Horst Lohfeld, 25. Februar nachmittags

Muhammad und Abdul Wahabi, 26. Februar frühmorgens

Tina, Elvira, Markus, Conrad, Scott, Peter, Björn, 26. Feb

Markus und Conrad, 26. Februar nachmittags

Tina und Elvira, 26. Februar nachmittags

Conrad und Markus, 26. Februar abends

Tina, 26. Februar abends

Markus, 26. Februar nachts

Markus und Elvira, 27. Februar morgens

Muhammad und Abdul Wahabi, 27. Februar morgens

Die muslimischen Decksleute, 27. Februar morgens

Rupert Vesper, 27. Februar morgens

Muhammad und Björn bei den Konyas, 27. Februar abends

Conrad, 27. Februar später am Abend

Klaus Schiewer, Sven Kurth, Mathias Degenhardt, 28. Feb

Kapitän Freese und Oliver Hecht, 28. Februar vormittags

Lohfeld, Freese, Muhammad, 28. Februar mittags

Hottenrott, 1. März

Tina, 1. März abends

Conrad, 1. März nachts

Tina, 1. März nachts

Rupert Vesper, 1. März nachts

Rupert Vesper, 2. März morgens

Rupert Vesper, 3. März morgens

Tina, 3. März morgens

Rupert Vesper, 3. März morgens

Elvira, 3. März

Markus und Conrad, 3. März

Rupert Vesper, 3. März, Spätnachmittag und Abend

Rupert Vesper, 4. März

Tina, 15. April

EIN JAHR SPÄTER

Muhammad, Februar 2016

Anna und Karima, März 2016

Rupert Vesper, Mai 2016

Dieter Möllerhoff, Köln, 9. September 2014

„… und deshalb brauchen wir das echte Leben!“ Die dicke Faust des Programmchefs Dieter Möllerhoff donnerte so heftig auf den Tisch, dass jüngere Mitarbeiter zusammenfuhren. „Nicht dieses lauwarme Gehampel. Echte Gefühle, echte Krisen, echte Gefahr. Neubeginn! Risiko!“ Schweigen breitete sich in der Runde aus.

„Aber wie sollen wir denn … wir können doch nicht…“, stammelte schließlich ein erschrockener Assistent, doch er wurde abrupt zum Schweigen gebracht. „Wir hatten schon letztes Jahr ein Konzept dafür, das schaust du dir gefälligst noch mal an. Ein Probelauf zum Erheben von Daten und zur Vorbereitung eines attraktiven Haupt-Szenarios. Gemischte Gruppe mit projektbezogener Motivation. Maximale Streuung von Alter, Herkunft, Geschlecht. Gezielte Auswahl, aber nur durch geschicktes Marketing. Keine Einführung, keine Information. Alles authentisch. Auswertung durch eine eingebettete Kontaktperson. Denkt euch was aus oder ruft bei dieser Hamburger Agency an. Projektname Escape. Bericht am Montag!“ Möllerhoff schloss die Sitzung.

Wenig später saß der Assistent seufzend vor einem überfüllten Bildschirm. Ein professionell gestalteter Schriftzug leuchtete auf: Adventure Investment Agency Hamburg.

Mathias Degenhardt, Hamburg, 15. Oktober 2014

Der Pförtner konnte die Uhr danach stellen. Pünktlich 9 Uhr 30 schob sich an diesem Mittwoch die große Eingangsglastür auf. Seit zwei Monaten hatte er ihn um diese Zeit hereinkommen sehen. Auf sein „Guten Morgen, Herr Direktor!“ durfte er bestenfalls ein kurzes Nicken erwarten. Mathias Degenhardt ging zielstrebig zu dem runden, dunkel verglasten Aufzug in der Mitte der großen Halle. Dovenfleet war eine gute Adresse in Hamburg, die Preise für Büroflächen waren hier schwindelerregend. Neben dem Drucksensor für die vierte Etage das Schild:

Adventure Investment Agency

Medien Concept Management

Er war allein im Lift. Von oben hörte er leise Klänge. „Meditationsmusik“, sinnierte er, „Na ja, wer’s braucht.“ An der Seite des großen Spiegels in einem Halter eine frische Orchidee. „Die Location ist perfekt, die beste Wahl,“ ging es ihm durch den Kopf. „Repräsentativ, logistisch ideal.“ Die Erwartungen an ihn waren groß. Gestern hatte er beim Wochen-Meeting von seinem CEO ein ausgezeichnetes Feedback erhalten. Schon zu Beginn der Sitzung hatte er den Erfolgsschub gespürt: Sie hatten die Sitzordnung verändert. Jetzt saß er neben Meyerdierks, dem CEO. Er habe „exzellente Arbeit geleistet“, hatte er zu hören bekommen. Der Vertrag mit dem Kölner Sender sei ein Meilenstein in der Unternehmensgeschichte. Das Medienbusiness werde als zweites Standbein bald die Finanzgeschäfte überholen. Was zähle, seien Zuschaltquoten. Die anderen Direktoren konnten ihren Neid kaum verbergen.

Zwei Tage zuvor war Mathias bereits vom CEO zum Überseeklub ins Hotel Atlantik mitgenommen worden. Im Roten Zimmer hatte das entscheidende Gespräch mit dem Wirtschaftssenator stattgefunden. Geschickt hatte er das Projekt umrissen. Details, die unnötige, vielleicht sogar unangenehme Fragen hätten aufkommen lassen, hatte er souverän überspielt. Ja, er hatte sogar dem Senator und dem CEO die Vision vermittelt, dass Hamburg wieder Medienhauptstadt werden könnte, wenn man nur die Zeichen der Zeit verstünde. Damit hatte er, Mathias Degenhardt, Direktor der Abteilung Medien Concept Management, freie Hand bekommen. Das geheime Projekt Escape konnte seinen Lauf nehmen. So wie Christoph Columbus mit seiner Santa Maria einen neuen Kontinent entdeckt und damit die Welt verändert hatte, würde er mit seiner MS Pavia ein Experiment wagen, das Millionen Menschen in ihrem Innersten bewegen würde. „Die materielle Zukunft liegt im Immateriellen, Geld wird mit Gefühlen, vor allem mit Ängsten und der Sehnsucht nach Anerkennung, verdient. Jetzt gehts an die praktische Arbeit!“ Mit diesen Gedanken betrat er sein Büro.

Zur bisher ungelösten Frage der Finanzierung hatte er bereits eine geniale Idee entwickelt, die mit der Ladung des Schiffes zu tun hatte. Man konnte sich da individuell auf ganz besondere, äußerst zahlungskräftige Kunden einstellen …

Bei der Suche nach einem geeigneten Kapitän war es erst ein vager Einfall gewesen, der ihm durch den Kopf gegangen war, nein, eigentlich war es hirnrissig nach so langer Zeit. Aber immer sicherer wurde er sich seiner Intuition. Er würde Klaas Freese, seinem alten Kumpel aus der Wustrower DDR-Seefahrts-Schulzeit in Warnemünde, das Schiff anvertrauen. Noch heute würde er den Vertrag skizzieren, Details mit dem Justiziar klären und Klaas morgen früh anrufen. Für das Projekt waren der Kapitän und der Erste Offizier, der leitende Nachrichtentechniker, zu wichtig, um die Anheuerung der Reederei zu überlassen. Um die restliche Mannschaft machte er sich keine Gedanken, das war Routine.

Klaas Freese, Warnemünde, 16.Oktober 2014

Seit sie vor fünfzehn Jahren gegangen war, lebte er allein in der kleinen Wohnung in der John-Brinckmann-Straße. Oft war er monatelang weg. Wenn er auf See an die Heimat dachte, dann war es Warnemünde, seine Stadt.

Erstaunt blickte Klaas Freese von der Ostsee-Zeitung auf, als das Telefon schrillte. Widerwillig schlurfte er zum Apparat. „Freese!“ brummte er knapp in den Hörer. Es kam selten vor, dass er angerufen wurde. „Klaas, alte Saubacke“ tönte es fröhlich aus der Muschel, „hier ist Mathes in Hamburg.“ Kurzes Zögern, man spürte die Unsicherheit. „Mathes… Mathes?“ kam es langsam von Freese. „Ja, Mathes … Mathias Degenhardt! Dein Zimmerkumpel auf der guten alten sozialistischen Seefahrtsschule!“ klang es dröhnend zurück. Jetzt brach das Eis! Als ob er den Hörer in den Mund stopfen wollte, brüllte Freese: „Mathes, du alte Sackratte, du lebst noch? Ich dachte, dich hätten die Gonokokken schon aufgefressen!“ „Das ist schon lange her“, kam es zurück. „Ich hab‘ gleich nach der Wende rübergemacht, tja und dann lief’s richtig gut. Tolle Frau kennengelernt, mit Kohle. Häuschen in Wandsbek, drei Kinder, Cayenne im Schuppen, und leite auf meine alten Tage noch ne Firma. Adventure Investment Agency, haste wahrscheinlich noch nie was davon gehört.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, kam Degenhardt zur Sache: „Ich hab ein Angebot für dich, alter Junge, ich brauch ’nen ‚Alten‘. Große Fahrt, schönes Schiff, wie wär’s?“ „Sag mal, spinnst du?“ fragte Freese misstrauisch nach. „Klaas, ich hab jetzt nicht viel Zeit, du bist der erste, dem ich das Angebot mache. Du musst dich jetzt nicht gleich entscheiden, aber wenn’s dich interessiert, besprechen wir‘s ausführlich bei einem Pils. Setz dich morgen 10 Uhr 25 in den IC 2373 nach Hamburg. Das Zugticket lass ich dir am Fahrgast-Info-Schalter hinterlegen. Nein, besser, geh in die DB-Lounge, da brauchste nicht zu warten, die wissen am Tresen dann Bescheid. Also, was is?“ Freese, offenbar übertölpelt: „Äh jaa…“ „Alles klar, alter Junge, ich hol dich dann morgen 12 Uhr 16 am Hauptbahnhof ab. Du siehst mich am Bahnsteigende. Erkennungszeichen: Hansa-Schal.“ Kaum war das ausgesprochen, hörte Freese nur noch ungeduldiges Piepen am anderen Ende. Aufgelegt!

Das letzte Mal war er vor vier Monaten eingestiegen. Die Recruiting Company in Limassol/Zypern hatte ihm einen Bulk-Carrier anvertraut. Mannschaft fast alle Filipinos. Holz von Leningrad nach Dubai. Leerfahrt nach Chennai. Von dort Zement nach Singapore. Dann Balikpapan/ Borneo, Meranti-Tropenholz nach Darwin/Australien. Beim Einklarieren gab‘s Ärger mit den Behörden, er war ausgerastet, dann hatten sie ihn ausgeflogen. Seither hatte er kein Angebot mehr bekommen. Er trank nicht übermäßig, aber beim Captain Morgan Gold Label war der Tumbler schon mal halbvoll, bevor er mit Coke auffüllte. „Mann, Klaas, noch gehörst du nicht zum alten Eisen!“, sagte er zu sich und kippte das halbe Glas Cuba libre hinunter.

Klaas Freese, Hamburg, 17. Oktober 2014

Pünktlich um 12 Uhr 16 lief der Intercity 2373 in Hamburg Hauptbahnhof ein. Schon von weitem sah Freese den blau-weißen Schal geschwenkt. „Armer Verein“, dachte er, „damals in der DDR … Oberliga … Europapokal-Teilnahme … und jetzt runter in die 3. Liga, is nix mehr mit Leuchtturm des Ostens“. Dann standen sie sich gegenüber. 25 Jahre hatten Spuren hinterlassen. „Sieht jetzt wirklich aus wie‘n Wessi“, ging es Freese durch den Kopf. Sie umarmten sich, Schulterklopfen, Degenhardt packte mit der Faust Freeses Kinnbart: „Grau biste geworden, Alter!“

Es dauerte nicht lange, bis zwei Pils vor ihnen standen. Die Kneipe hatte Mathes mit Bedacht ausgesucht. Washington II war die Stammkneipe von Heinz Petersen, dem Chief vom Museumsschiff. Ihn hatte Degenhardt bereits klug als Leitenden Ingenieur eingeplant und mit einem geschickten Schachzug für die erste Fahrt der generalüberholten MS Pavia gewonnen. Scheinbar beiläufig lenkte Mathes das Gespräch auf die alten Seefahrtzeiten. Als junge Spunde hatten sie sich eine Karriere bei der DDR-Handelsmarine versprochen, sie war ein Fenster nach „draußen“.

Sehr schnell hatte Degenhardt alle Informationen von seinem alten Kumpel Klaas, die er brauchte. Das Patent für die Große Fahrt war noch gültig. Klaas hatte alle notwendigen Papiere und Nachweise für die Schiffsführung, er war nicht gebunden und er schien gesund zu sein. Den leichten Wasserschleier in den Augen, die kaum merkliche blaurote Verfärbung von Wangen und Nase sah Degenhardt im Übrigen auch öfters in seinen Kreisen, wenn sie sich im Überseeklub im Atlantikhotel bei Whisky und Zigarren trafen. Klaas hingegen erfuhr nur: Festanstellung bei der Adventure Investment Agency als Kapitän. Erste Fahrt auf der MS Pavia nach Puerto Limón/Costa Rica, sozusagen die Probezeit. „Handsomes“ Kombischiff, ehemaliger Reefer, wie die Bananendampfer genannt wurden. Knapp 7000 Bruttoregistertonnen, werftüberholt, Stückgut und Passagiere. Das letzte Wort bei der Mannschaftsbesetzung sollte Freesehaben. Mit einer Ausnahme: Der Erste Offizier, der Nachrichteningenieur! Diese Position musste offenbar mit äußerstem Fingerspitzengefühl besetzt werden.

Kurz darauf ging mit einem kräftigen Schwung die Tür auf. Heinz Petersen trat ein, ein Hüne mit einem beeindruckenden Seemannsbart. Er war sichtlich überrascht, dass er den smarten Boss der Adventure Investment hier vorfand. Sofort stand Degenhardt auf. „Klaas, darf ich dir Herrn Petersen vorstellen, Dein Chief auf der MS Pavia!“ Schon wollte Klaas Freese protestieren, er hatte ja noch gar nicht unterschrieben. Auf merkwürdige Weise fühlte er sich aber in der Zeit zurückgesetzt. Unter Genossen wurde nicht verhandelt, man gehorchte oder befahl. Ja, er fühlte sich sogar gebauchpinselt und sah sich schon auf der Brücke in der schmucken, weißen Uniform.

Heinz Petersen kniff die Augen unter seinen grauen, buschigen Brauen zusammen. Auch wenn das strähnige Haar immer mehr einer Halbglatze Platz machen musste und sein zerfurchtes Gesicht auf etliche Jahrzehnte an der Theke des Washington II schließen ließ, er war drahtig wie ehemals, als er im Maschinenstand unten die Kommandos gab. Es genügte ihm ein kurzer Blick zu Freese und sein Bauch sagte ihm: „Der Alte ist o.k.“

„Klaas Freese, freut mich!“ kam es knapp von Klaas. Die Haltung, die Stimme, die Klarheit, ja, so hatte sich Heinz Petersen seinen künftigen „Alten“ vorgestellt. So waren die Kapitäne auch damals bei Sloman, Hamburg Süd und Laeisz, bevor die Russen und Balten kamen. Die HAPAG LLoyd hatte ihm ohnehin nie behagt, da hatte er nur arrogante Pinsel kennen gelernt.

„Na dann muss ich mal los!“, knarrte Mathias Degenhardt. Jovial klopfte er Heinz Petersen auf die Schulter: „Herr Petersen, erzählen Sie meinem old fellow von der MS Pavia und was wir vorhaben.“ Zu Freese gewandt: „Klaas, zischt erst mal gemütlich ein paar Pils. Heinz Petersen bringt Dich dann rüber zur Firma ins Dovenfleet. Die Verträge sind vorbereitet. Heute abend treffen wir uns im Hotel Atlantik.Dort ist für dich, Klaas, auch ein Zimmer reserviert… Tschüüs!“, dann war er schon halb draußen.

Horst Lohfeld, Flensburg und Hamburg, 20. Oktober 2014

Aus dem Fenster seiner Wohnung sah er die Flensburger Förde, dort segelte er, wann immer es ihm seine Zeit erlaubte, gerne auch rüber nach Sønderburg, Richtung Dänische Südsee.

Horst Lohfeld überlegte nur kurz, dann entschied er sich für eine legere Kombination anstatt des Anzuges. Anthrazitgraue Hose, dunkelblauer Zweireiher, hellblaues Hemd und marineblaue Krawatte, weiß schräg gestreift. Mit dem Mittagszug würde er pünktlich sein. Für 16 Uhr war er eingeladen, Dovenfleet war ihm ein Begriff. Für seine 41 Jahre hatten sich seine Geheimratsecken schon erstaunlich weit in dem welligen, blonden Haarschopf vorgearbeitet. Lohfeld war immer an der Sache interessiert, leibliche Genüsse waren nicht wichtig, man sah es ihm an. Seinen Jungentraum, eines Tages ein Kommando bei der Marine zu übernehmen, hatte er begraben. Seine Ausbildung an der Marineschule in Mürwik war aber erstklassig gewesen. Mit Europas besten Schiffssimulatoren hatten sie arbeiten können. Spezialausbildung in Elektronischer Kampfführung. Seinen Abschluss in Informationstechnik hatte er an der Helmut-Schmidt-Universität, der Hochschule der Bundeswehr, in Hamburg gemacht. Nach seinen dreizehn Pflichtjahren hatte er keine angemessene Chance gesehen; der Beförderungsstau hatte ihn mürbe gemacht. Dann seine Tätigkeit auf dem Forschungsschiff, es war eine wunderbare Aufgabe gewesen, viel Elektronik, aber immer nur Zeitverträge. Sein CV, seinen Werdegang, hatte er bei einer Personalagentur hinterlegt. Schließlich der Anruf: Adventure Investment Agency, Abteilung Concept Management, Hamburg Dovenfleet, Direktor Mathias Degenhardt.

Mathias Degenhardt wusste es sofort, er hatte den Instinkt: Lohfeld ist der richtige Mann. Ein Mann, der nicht viel fragt, der versteht, der Karriere machen will. Dass Lohfeld die herkömmliche Qualifikation als Erster besaß, daran bestand für Direktor Degenhardt nicht der geringste Zweifel. Entscheidend war für ihn: Er hatte einen exzellenten Informatiker, einen Nachrichtenfachmann, gefunden, dem er nach und nach seine Spezialaufgaben auftragen würde. Ein attraktiver Arbeitsvertrag war notwendig, um etwaige ethische Bedenken in den Hintergrund treten zu lassen. Geschickt lancierte Degenhardt die bedeutende Rolle der Agency im Wirtschaftsleben der Hansestadt, die Präsenz im Überseeklub und vor allem die guten Kontakte zum Senat. Raffiniert erreichte er, dass Lohfeld eine seriöse Bedeutsamkeit in dem Projekt sah und von der Wichtigkeit seiner eigenen Aufgabe an Bord der MS Pavia überzeugt war. Dann wurde Degenhardt konkret: „Im November geht die Pavia in die Werft. Anfang Januar erfolgt die elektronische Einrichtung. Da hätte ich Sie, Herr Lohfeld, gerne dabei, und Ende Januar müsste es mit der Probefahrt klappen. 1. Januar 2015 Vertragsbeginn. Alles klar?!“ Mit diesen Worten stand Degenhardt auf und überreichte Lohfeld eine schwarze, in Kunstleder gebundene Mappe. Eingestanzt las Lohfeld: MS Pavia. „Hier steht alles drin, schauen Sie es sich bitte an und morgen erwarte ich Ihren Anruf.“ Dann legte Degenhardt seinen Arm um die Schulter von Lohfeld und führte ihn zu dem ausladenden Panoramafenster. Glühend ging die Herbstsonne hinter der Hamburger Hafen-Skyline unter. Dann zeigte der Direktor nach Südwesten: „Schauen Sie, Lohfeld, da hinten die Elb-Philharmonie, oder Welle wie wir Hamburger sagen, da wird in Zukunft die Company residieren. Eine Option auf die Flächen haben wir uns schon gesichert. Die Preise verrate ich Ihnen lieber nicht! Am 16. Februar legen Sie ab, dann können Sie Hamburgs neues Wahrzeichen von der Brücke aus bewundern.“ Darauf streckte er ihm die Hand entgegen. Für Degenhardt war alles abgemacht.

Georg Schefft (Schorse), 5. November 2014

Schritte hallten spät nachts durch die leeren Gänge und näherten sich. Georg erkannte die Schritte. Zum x-ten Mal klapperten Schlüssel. Es klackte mehrfach im Schloss, kreischend öffnete sich die Zellentür und Klaus kam herein.

Klaus war einer der Gefängniswärter. Georg allerdings wusste nicht, dass Klaus mit eigenen Augen gesehen hatte, wie er mit ein paar finster dreinschauenden Gestalten vor drei Jahren in das Geschäft von Klaus‘ Vater gekommen war, um das geforderte Schutzgeld zu kassieren. Allen Beteiligten war bewusst, dass es nicht Georg allein war, der hinter dieser Pest der Schutzgeldzahlungen stand. Es war eine mafiamäßig organisierte Bande, die die Fäden für die ganze Region in den Händen hielt. Die Polizei arbeitete fieberhaft, aber erfolglos an dem Fall.

Klaus war klar, dass Georg nicht gegen die Mittäter und erst recht nicht gegen den Kopf der Bande aussagen würde. Das war zu gefährlich. Erst kürzlich war Knut – ein stadtbekannter Schläger, von dem man wusste, dass er ebenfalls zu der Gruppe gehörte, was aber niemals bewiesen werden konnte – tot aus dem Fluss gezogen worden. Einem Verräter würde es nicht besser gehen.

Die Justiz hatte nicht lange gezögert. Georg war der Prozess gemacht worden. Die Beweislage war eindeutig gewesen und er war, auch zur Genugtuung von Klaus, zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Zu lange, wie Georg als Einzelgänger im Gefängnis inzwischen feststellte. Er hatte eingesehen, dass er Mist gebaut hatte und hielt sich von den Mithäftlingen, so gut es ging, fern. Er wurde geschnitten und es wurde verdammt einsam um ihn. Er bereute zutiefst, was ihm im Moment aber nichts half. Der Gefängnisalltag zerrte an seinen Nerven und er sehnte den Tag seiner Entlassung herbei.

Dieser Umstand war Klaus nicht verborgen geblieben. Er erschlich sich widerwillig das Vertrauen von Georg und versuchte, ihn dazu zu bringen, auszusagen. Nicht nur Georg, sondern der Kopf der Bande sollte bestraft werden. Bisher war die Mühe allerdings vergebens gewesen.

Georg erhob sich von seinem harten Bett und schaute Klaus, der ihm ein Päckchen Juno reichte und wie immer nach Zigarettenqualm roch, erwartungsvoll an. Er musste etwas Besonderes mitzuteilen haben, sonst käme er nicht zu so ungewohnter Zeit.

„Bist ein bisschen allein, was?“, begann Klaus das Gespräch.

„Woher willst du das wissen?“

„Bin doch nicht blöd“, entgegnete Klaus mit ruhiger Stimme. „Du erinnerst dich, dass dich der Richter gedrängt hat, gegen deine Bosse auszusagen. Allerdings hast du vor lauter Schiss die Klappe gehalten, und die Quittung sitzt du jetzt ab.“

„Ist wohl nicht zu ändern.“

„Vielleicht doch!“

Georg horchte auf. „Wie meinst du das?“

„Haste schon mal was vom Zeugenschutzprogramm gehört?“

„Klär mich auf“, kam ungewohnt schnell die Antwort, während Georg sich eine Zigarette anzündete.

„Du hast Schiss, dass dich deine Kollegen von der Mafia umlegen, wenn du redest. Richtig?“

„Hättest du auch.“

„Es gibt ne Möglichkeit, davonzukommen.“

„Und dazu gibt es ein Programm?“

„Ein Zeugenschutzprogramm. Es verschafft dir ne neue Identität. Soll heißen, dass du einen neuen Namen mit allem Drum und Dran bekommst. Damit kannste anonym verschwinden. Du kämst auf der Stelle, na ja, nachdem alles organisiert ist, frei.“

„Und was muss ich dafür tun?“

„Du musst aussagen, damit die verdammte Mafia endlich hinter Gittern landet.“

„Und ich leiste dann Knut Gesellschaft?“

„Eben nicht. Dafür gibt‘s doch die falschen Papiere. Du haust ab und hast ne Chance auf ein neues Leben irgendwo im Ausland. Macht es endlich – Klick?“

Mathias Degenhardt, Hamburg, 29. Januar 2015

„What shall we do with a drunken sailor, what shall we do …“ schallte unten von der Pier der Shanty-Chor, bestehend aus betagten Herren mit rotem Streifen-T-Shirt und blauen Halstüchern. Oben an der Reling standen sie und winkten. Direktor Degenhardt hatte alle Register gezogen. Die MS Pavia, lange Jahre als Bananenfrachter im Dienst, dann als Museumsschiff ein Touristenmagnet. Jetzt, frisch aus der Werft, wartete sie auf die Probefahrt. Die Spezialisten von Werft und Reederei waren eingeladen. Für den Reederei-Inspektor, Marine Super Intendent Rüders, ein ganz besonderer Tag. Kapitän Klaas Freese und seine Offiziere, tadellos in Handelsmarine-Uniform, mit Mütze. Der Wirtschaftssenator. Der CEO der Dachfirma Adventure Investment Agency, Jan Peter Meyerdierks, rechts neben ihm Mathias Degenhardt, Direktor der Mediensparte der AIA. Dazu die anderen Direktoren der diversen Subunternehmen der Company. Ausgewählte Vertreter der regionalen Presse sowie der öffentlichen Regionalsender. Links neben Meyerdierks der Mann vom Kölner Sender, Dieter Möllerhoff, dick und rotgesichtig, aufgeregt schwitzend trotz der winterlichen Temperatur.

Das Schiff legte ab. Zwei Tage Skagerrak und zurück. Die Gäste versammelten sich im Salon, Ansprachen, technische Erläuterungen, Managementkonzepte, ausgefeilte PR-Arbeit. Mathias Degenhardt verstand etwas davon. Konkrete Fragen nach Frachtauslastung und Passagierbelegung ließ er mit einem lächelnden „Wir sind sehr, sehr zufrieden!“ abgleiten. Ja, es kam ihm vor allem auf die Passagiere an. Auf der Tourismusbörse, der ITB in Berlin, hatte er die Kontakte zu Spezialveranstaltern geknüpft. Er war erstaunt, auf welches Interesse er gestoßen war. Maßgeschneidert konnte er sich die Passagiere aussuchen. Urlauber zu befördern war nicht Aufgabe der MS Pavia, das hatte der Kölner Sender hinter verschlossenen Türen klargemacht.

Elvira Pekus, 30. Januar 2015

Elvira Pekus konnte gar nicht aufhören zu schniefen; da sie gerade kein Taschentuch fand, musste sie ein paarmal hochziehen. Sie sah sich im Flurspiegel kurz ihre roten, verquollenen Augen an, atmete tief aus und strich sich ihre eigenwillige Ponysträhne aus dem Gesicht. Die leicht fettigen Haare band sie noch schnell mit einem Haushaltsgummiband zusammen. Sie kramte in ihrer grauen Lederumhängetasche, die sie im Laufe ihrer 20-jährigen Berufsausübung fünf Tage die Woche, abzüglich der Urlaubstage und schnell abzählbaren Krankheitstage, durchgängig zuverlässig begleitet hatte. Sie würde noch ein paar Tempos, Geld und ihren Reisepass brauchen. Als sie nach einigem Suchen alles in ihrer Tasche verstaut hatte, warf sie einen erneuten prüfenden Blick in ihren Badezimmerspiegel und hielt es für angebracht, eine Minute einen kalten, nassen Waschlappen auf ihr noch immer verräterisch fleckiges Gesicht zu halten. Vielleicht würde es ja helfen.

Als sie sich schwerfällig bückte, um ihre Halbschuhe anzuziehen, spürte sie wieder, dass ihre ausgemusterte weiße Klinikhose an empfindlichen Stellen ihres Unterleibs klemmte – unangenehm – vielleicht sollte sie sich nun doch zur bequemeren Kleidergröße 46 bekennen. Aber jetzt hatte sie ganz gewiss keine Zeit zum Einkaufen.

Elvira wollte und musste nur noch weg, dem Unglaublichen, Unvorhergesehenen entfliehen!

Nie hätte sie für möglich gehalten, dass ihr Vorgesetzter, Dr. Heartlich, seines Zeichens Herzchirurg, mit dem sie all die Jahre Seite an Seite als Psychotherapeutin gearbeitet hatte, dass also dieser Chef diesem polnischen Flittchen, pardon, aber wie sollte man diese kurvenreiche blutjunge Krankenschwester denn sonst nennen, dass er also dieser berechnenden Person auf den Leim gegangen war. Es war ein Skandal und eine Schande, das würde er sicher bald selbst herausfinden, ein riesiger Irrtum.

Und nun waren alle aus der Abteilung zur Hochzeit eingeladen, einem rauschenden Fest in exklusivem Ambiente, wie sie der unpersönlichen, aber aufwändigen Karte entnehmen durfte. Wahrscheinlich „musste“ er heiraten, dachte Elvira gehässig, sonst hätte sich doch der von ihr so verehrte Dr. Heartlich nicht mit solch oberflächlichen „Qualitäten“ begnügt. Konnte man denn mit solchen aufreizenden Kurven tiefgründig und feinsinnig diskutieren? Mann konnte das wohl, das las man ja immer wieder

So, Mantel an, der mittlere Knopf spannte etwas, Schal um, Strickmütze auf, Ponysträhne versteckt, und los ging's schnurstracks zum kleinen Reisebüro um die Ecke.

Wann hatte sie jemals eine Fernreise gebucht, das war sehr lange her, aber früher hatte sie schon gern fremde Länder und Menschen erkundet. Aber das war schließlich früher und eben schon sehr lange her.

Die freundliche Dame im Reisebüro fragte Elvira Pekus nach ihren Wünschen, und als es aus Elvira herausschoss: „Ich will nur noch weg!“ blickte die Dame ehrlich besorgt drein und schob ihr wortlos einen Karton mit Kleenex-Tüchern über den Schreibtisch. Das kannte Elvira nur zu gut, nur war bisher sie diejenige gewesen, die Kleenex-Tücher mit besorgter Miene über den Tisch geschoben hatte.

Vorsichtig startete die Dame vom Reisebüro, Frau Scheller, eine behutsame neue Frage: „… und haben Sie schon eine Idee, wo es hingehen könnte?“ Oh ja, die hatte sie. Irgendwo in die Südsee, hin zu traumhaftem Wetter, Meer und Palmen und diesen herrlichen braunen fröhlichen Menschen, die immer sorglos, liebenswürdig und hilfsbereit sind.

Sie hatte gerade noch rechtzeitig, nämlich vorgestern Abend, im Fernsehen eine Doku gesehen über eine vom Schicksal schwer gebeutelte deutsche Aussteigerin, die in Tahiti – oder war es woanders? – eine neue Heimat gefunden hatte. Außerdem war ihr sehr bald ein wundervoller Lover begegnet – wahrscheinlich würde er sie bald heiraten – und sie konnte ein komplett neues und glückliches Leben beginnen. Und das wollte Elvira Pekus auch!

Frau Scheller presste kurz die wohl konturierten Lippen zusammen, beleckte sie flüchtig, atmete sichtbar tief ein und sagte dann mit aufmunterndem Blick: „Also Frau Pekus, das ist ja unglaublich, aber da habe ich gerade ein Angebot für Sie, das genau passen könnte. Es gibt noch einige wenige Tickets, sogar zum Sonderpreis, auf einem Bananendampfer, der MS Pavia nach Costa Rica. Es handelt sich um ein günstiges One Way Ticket, wie geschaffen für Menschen, die völlig neu beginnen möchten“ – „oder müssen“, fügte sie kaum hörbar hinzu. „Darf ich Ihnen die Unterlagen mal raussuchen?“ Frau Schellers schlanke Finger mit dem stylischen Nagellack flogen schon wie beseelte Wesen über die Tastatur. Sie sah aufgeregt und lächelnd auf den Bildschirm und schwenkte ihn zu Elvira. Bunte Tiere, Urwaldmotive, Vulkankrater, Grotten, Palmen, das Meer, prachtvolle Sonnenuntergänge …

Sie könnte hier in Hamburg an Bord gehen, Ablegen am Montag, dem 16. Februar 2015 um 17 Uhr. Sie bräuchte nur einige private Daten von Elvira, die würden dann in einem Dossier veröffentlicht, das für jeden Passagier in seiner Kabine ausgelegt werde, um einander besser kennenzulernen.

„Moment mal“, warf Elvira aufgeschreckt ein, „das verstehe ich aber nicht. Ich weiß auch gar nicht, ob ich andere Passagiere kennenlernen möchte, und ich will auch nicht, dass …“ – „Also, das würde ich an Ihrer Stelle nicht so eng sehen, das scheint eine Formalität zu sein, auf die der Reiseveranstalter zwar Wert legt, die ich persönlich aber nicht sehr bedeutsam finde“, flocht Frau Scheller ein. „Ich denke, Sie werden auf dieser besonderen Fahrt mit diesem früheren Frachtschiff einiges geboten kriegen, was normale Touristen nicht erleben, und das wäre in Ihrem besonderen Fall …“ – „Welchem besonderen Fall?“ fragte Elvira verstört. „Na, ich meine, nach all den Enttäuschungen, die Sie in der letzten Zeit erlebt haben, möchten Sie doch gern eintauchen in ein neues Leben, neue interessante Menschen treffen, Menschen mit Niveau und gutem Benehmen…“ – „Ja aber...“ „Ich sehe, Sie sind Psychotherapeutin, das ist ja wunderbar, dann werden Sie sich sicher sehr wohl fühlen; ach, was sage ich, Sie kennen sich doch aus mit unterschiedlichen Menschen. Also, ich würde da nicht lange zögern, diese Chance, bekommen Sie wahrscheinlich nie wieder. Wenn Sie zustimmen, schicke ich Ihre Unterlagen und Daten an die Adventure Investment Agency, und wenn die der Meinung sind, Sie würden gut zu den übrigen zwölf Mitreisenden passen, kann ich Sie buchen für unser günstiges One Way Ticket nach Costa Rica an Bord der MS Pavia. Ich habe hier auch noch ein paar sehr schöne Fotos vom Schiff. Die Kabinen sind sehr ansprechend und das Essen soll vorzüglich sein. Außerdem gibt es eine Bar und einigen Komfort“.

Zwar wurde Elvira etwas unruhig bei dem Gedanken, mit zwölf „interessanten Menschen“ abends an der Bar zu hängen, aber als es in ihrem Bauch ganz leicht und verschämt anfing zu kribbeln, warf sie ihr Befremden und ihre Skepsis über Bord. Dieses Kribbeln hatte sie früher häufig verspürt, bevor sie zu kleinen Abenteuern aufgebrochen war, und es hatte sich sogar zu einem brennenden Tumult ausgewachsen, wenn sie einer heimlichen oder tatsächlichen Liebe begegnet war. Noch völlig verdutzt von dem Wiedererkennen eines uralten, verloren geglaubten Gefühls, willigte Elvira ein und hoffte sogar, einen Platz auf dem Schiff zu bekommen.

Als sie am folgenden Montag den Zuschlag bekam, unterschrieb Elvira den Vertrag, ohne dem Text allzu genaue Beachtung geschenkt zu haben. Sie zahlte bar, verließ verwirrt, aber auch erleichtert das kleine Reisebüro und lenkte ihre Schritte ohne nachzudenken zu Karstadt, Abteilung Mode für die Reife Frau.

Cornelius Knolle (alias Conrad Dreyer), 12. Februar 2015

„He Luciano, was gibt’s? So spät noch dein Anruf?“

„Cornelius, da kocht was. Ich denke, du solltest ganz schnell verduften.“

„Bleib ganz relaxed, was soll denn da schon kochen?“

„Wenn ich das richtig mitbekommen habe von Frido, ist morgen bei dir in der Firma und in der Wohnung ne Hausdurchsuchung geplant!“

„Was? Warum das denn?“

„Die haben vorgestern wohl ne Fahrzeugkontrolle in Kiew gemacht und dabei einen deiner Fahrer verhört, wegen der Ladung des Lkw. Die hatten Bedenken wegen der Fahrzeugpapiere und haben festgestellt, dass es die Fahrzeugnummer zweimal gibt und dass der Lkw in Deutschland auch angemeldet ist, ebenso wie in Warschau.“

„Oh Schitt! Dann wird es wirklich eng. Danke erst mal für den Tipp. Kann ich dich diese Nacht noch mal anrufen, wenn ich einiges geklärt habe?“

„Wenn’s denn sein muss! Aber bitte nicht auf diesem Handy, du weißt schon, Vorratsdatenspeicherung! Werd ich wohl entsorgen.“

Cornelius Knolle, Mitte fünfzig, immer modisch gekleidet, mit Hang für teure Autos, war Geschäftsführer eines Spezialbetriebs für Schrott und Wertstoffrecycling. Mit der Öffnung des Ostblocks hatte er seinen Geschäftsbereich ständig ausgeweitet, eine Niederlassung in Warschau gegründet und einen recht großen Fuhrpark aufgebaut, mit Lkw-Fahrern aus dem Ostblock wegen der Niedriglöhne, versteht sich. Für die Ausweitung des Fuhrparks benötigte er Fremdkapital. Die Banken forderten aber Sicherheiten wie Fahrzeugbriefe und entsprechende Versicherungsnachweise. Da die Eigenkapitaldecke seines Unternehmens recht dünn war, musste man einen Zinsaufschlag auf das geliehene Kapital bezahlen. Da hatte Knolle eine Geschäftsidee: Mit Hilfe seines Freundes Luciano fälschte er die Fahrzeugpapiere der Neufahrzeuge, meldete sie in Deutschland als Firmenwagen an, verkaufte die neuen Lkws dann an ein Speditionsunternehmen in Warschau und steckte das Geld in die eigene Tasche. So hatte er in den letzten zwei Jahren circa dreißig Lkw mit Krediten der Bank gekauft und nach Polen verschoben. Es gab die Lkw „zweimal“. Irgendwann, Knolles Plan, wollte er die Kredite auf Firmenkosten tilgen und dann die Lkw in Deutschland abmelden. Dass die Polizei in Kiew seine Deals aufdecken würde, damit hatte Cornelius nicht gerechnet.

„Du Edeltraud, ich muss nochmal ins Büro und ein paar Unterlagen zusammensuchen. Luciano hat mich gerade angerufen. Ich muss diese Nacht noch nach Warschau, dort ist was mit unserer letzten Lieferung schiefgegangen. Wahrscheinlich muss ich ein bis zwei Tage in Warschau bleiben. Pack mir doch schnell mal meine Zahnbürste ein, du weißt schon…!“

Edeltraud Knolle hatte sich bereits seit ein paar Jahren damit abgefunden, dass Cornelius immer mal wieder plötzlich zu Geschäftsreisen aufbrach und fragte nicht mehr nach.

12.2.2015, 23:30 Uhr: Cornelius Knolle war in seinem Büro angekommen und wählte sofort Natascha an. Natascha hatte Cornelius auf seinen „Geschäftsreisen“ manchmal begleitet. „Natascha, komm doch schnell in mein Büro, wir müssen unbedingt reden.“ „Mitten in der Nacht? So dringend kann das nicht sein. Du kannst mir das doch jetzt auch am Telefon sagen.“ „Nein, das geht absolut nicht. Ich erklär dir‘s später.“

Natascha parkte um 23:40 Uhr auf dem Firmengelände auf dem Parkplatz der Geschäftsleitung ein. Cornelius erwartete sie schon am Eingang. Küsschen rechts, Küsschen links, dann schnell in das Büro von Cornelius.

„Natascha, meine Liebe, du musst jetzt für ein paar Wochen ohne mich auskommen. Frag nicht warum, je weniger du weißt, desto besser. Ich muss noch diese Nacht abhauen und brauche Bares. Hab' dir auf dein Konto zehntausend Euro überwiesen. Versuch doch mal, an den Geldautomaten hier in der Umgebung Bargeld zu bekommen. Alles was übrig bleibt von den zehntausend Euro gehört dir. Und dann, hier noch einen Kaufvertrag, brauchste nur unterschreiben. Ich überlasse dir meinen Mercedes Cabrio für zwanzigtausend Euro, hast Du mir ja schon ‚in bar‘ gegeben, Du weißt schon…“

„Aber Cornelius, warum denn das alles? Was wird denn aus uns?“ „Bitte frag nicht, fahr jetzt los und hol Geld. Wenn du dann zurück bist, wäre es schön, wenn du mich nach Göttingen zum Bahnhof fahren könntest.“ Natascha war ratlos, machte sich aber auf den Weg zu den Geldautomaten in der Umgebung.

Cornelius setzte sich an seinen Computer und ging rasch seine Bankkonten durch. „Fast alles abgeräumt, das ist gut. Schnell noch eine Überweisung an die RBC Royal Bank auf den Bahamas.“ Dann ein Dokumentencheck auf dem Computer. Eilig kopierte er zahlreiche Dateien auf seine externe Festplatte, dann die Entfernen-Taste gedrückt und schon waren die kopierten Dateien auf dem Computer gelöscht. Papierdokumente? Die waren aus den Schreibtischschubladen und dem Aktenschrank rasch aussortiert und genauso schnell im Schredder verschwunden.

„Jetzt noch Luciano anrufen! Oh Shit, wo ist denn nur mein Notfallhandy?“ Das Handy mit der Prepaidkarte hatte Cornelius bei der Durchsicht seiner Dokumente unter einem Stapel Papiere verlegt, fand es aber nach kurzer Zeit wieder und wählte Luciano unter seiner Geheimnummer an.

„Hallo Luciano, also ich hau hier gleich ab. Du musst mir helfen. Kann dein Copyshop außer Fahrzeugbriefen auch Ausweise? Weißt du, ich brauch dringend eine neue Identität! Und kannst du eine Route ausfindig machen, über die ich unerkannt aus Deutschland abhauen kann?“ „Klar Cornelius, das kostet aber. Am besten, du kommst zu mir nach Hamburg. Dann regeln wir das schon. Und denk dran, bring genug Knete mit! Kommst du allein?“ „Klar, bis ich meinem Dummerchen Trautchen das alles verklickert habe, sitz ich schon zwei Wochen im Knast. Und Natascha, na, die kann ich bei sowas sowieso nicht gebrauchen. Und bitte, bitte, vernichte alle Unterlagen, die auf eine Verbindung zwischen dir und mir hindeuten. Wir treffen uns dann morgen, äh… ist ja schon Freitag, also, wir treffen uns dann heute Abend zur gewohnten Zeit am gewohnten Ort! O.K.?“ „O.K.!“

In diesem Augenblick kam Natascha von ihrer Geldautomatentour zurück. „Fünftausenddreihundert, mehr ging nicht. Sonst hättest du mir deine Karte noch mitgeben müssen.“ „Blöd, aber ich denk, das wird vorerst reichen. Da hast du aber einen guten Schnitt gemacht. Tja, des einen Pech, des anderen Glück. Lass uns jetzt nach Göttingen zum Bahnhof fahren. Aber bitte nur bis zum Maschmühlenweg. Die müssen ja mit ihren Überwachungskameras nicht sehen, dass du und ich … du weißt schon.“

Natascha und Cornelius machten sich im Cabrio, das Natascha gerade vor einer Stunde „käuflich erworben“ hatte, auf den Weg nach Göttingen. Kurz vor Gieboldehausen bog Natascha plötzlich nach rechts in einen Waldweg ab. „Natascha, was soll das? Ich muss doch nach Göttingen!“ „Du glaubst doch nicht, du kannst so einfach von hier abhauen ohne dass ich mich bei dir bedankt habe. Wer weiß, wann ich dich wiedersehe. Es fahren so viele Züge noch ab Göttingen. ‚Des einen Pech, des anderen Glück‘, wie du immer sagst …“

Gegen fünf Uhr erreichte Cornelius endlich den Bahnhof in Göttingen, zu Fuß, vom Maschmühlenweg aus, löste am Automaten ein Ticket nach Hamburg und reiste mit dem nächsten Zug ab. In Hamburg angekommen, quartierte er sich in St. Georg in einem Hotel am Bahnhof ein, warf sich aufs Bett und schlief völlig übermüdet ein. Als er erwachte, war es bereits Nachmittag. „Mal sehen, was es Neues in der Welt gibt“, murmelte er vor sich hin und schaltete den Fernseher ein. „Oh Shit, was ist das denn, die haben doch tatsächlich meine Firma und mein Haus auf den Kopf gestellt! Und …, nein …, das gibt’s doch nicht. Zwanzigmillionen soll ich unterschlagen haben! Die spinnen doch, es waren höchstens achtzehn. Und dann auch noch das Bild von mir! Shit, Shit, Shit! Hoffentlich erkennt mich niemand. Hoffentlich hat die Kleine an der Rezeption nicht auch in die Glotze geschaut! Gut, dass mein Hut ein bisschen Schatten aufs Gesicht wirft.“

Anna Belloumi (alias García) und Karima, 13. Februar

„Mama, der Mann mit dem Hut ist auch hier in diesem Hotel. Er ist gerade weggegangen.“ „Wie, welcher … etwa der aus dem Zug letzte Nacht?“ „Ja, der mit dem komischen Hut. Jetzt hatte er ihn auch wieder fast auf der Nase sitzen. Warum guckst du so? Der tut uns doch nichts. Oder doch?“

„Nein, keiner tut uns was. Aber hat er dich gesehen?“ „Nein, glaub ich nicht. Er ging doch gerade raus, als ich die Zeitung geholt hab. Hier!“

Wieso war dieser merkwürdige Mann in dem großen Hamburg ausgerechnet im gleichen Hotel wie sie abgestiegen? Er hatte schon in Göttingen den gleichen Zug genommen wie sie und ihre kleine Tochter. Klar, das konnte ein Zufall sein. Oder hatte er sie schon in Göttingen beschattet und sie hatte nur nichts bemerkt?

Sie wünschte, Pablo wäre jetzt bei ihnen. Na gut, ging nun mal nicht. Sie würde die Sache auch ohne ihn durchziehen können. Hauptsache, der Hutmensch war kein Detektiv.

Sie hatte schon schwierigere Situationen erlebt. Blöd war im Moment eigentlich nur die Sache mit den Leuten von Adventure Investment. Pablo hatte alles im Voraus mit denen geklärt, aber jetzt plötzlich machten die hier Zicken. Sie wollten doch lieber kein Kind an Bord haben, das hatten sie ihm gestern Abend gemailt. Diese Arschlöcher. Sie musste doch unbedingt mit dem Kind so schnell wie möglich nach Costa Rica, und fliegen ging nun mal nicht, bei den vielen Kontrollen und so. Nach dem Mittagessen würde sie heute persönlich bei denen vorsprechen müssen. Ihr mädchenhafter Charme hatte ihr schon oft geholfen. Und gerade die Tatsache, dass sie so jung wirkte und doch schon ein Kind hatte und dass sie eine sanfte und heitere Mutter war, machte manche Männer ziemlich wehrlos. Mal sehen, ob sie etwas ausrichten konnte.

Beim Essen maulte Karima. Das Gemüse schmeckte ihr nicht so gut wie in Frankreich. Und sie wollte nun endlich wissen, wie das alles mit dem Papa abgesprochen war und wann sie ihn wiedersehen würde. Ach, und dann fiel ihr ein, dass Maurice aus ihrer Klasse in der übernächsten Woche Geburtstag hatte und dass sie eingeladen war und noch kein Geschenk hatte. Wo sollte sie das denn kaufen? In diesem Kotzarika oder wie das hieß, oder danach in Göttingen, oder erst bei der Rückkehr nach Strasbourg? Anna versprach ihrer Tochter, ihr alles ganz genau mit ihr zu besprechen, sobald sie endlich auf dem Schiff wären und Zeit und Ruhe dafür hätten.

Jetzt musste sie sich erst einmal fertig machen für den Besuch bei den Kotzbrocken, den mutmaßlichen, die diese Reise organisierten. Jeans und T-Shirt wie sonst immer – das ging offensichtlich gar nicht. Pablo hatte ihr beim letzten Skypen noch einmal deutlich gemacht, dass die Passagiere auf dem Schiff keine armen Leute sein würden. Und dass sie als seine zukünftige Frau es ja auch nicht nötig hätte, so nachlässig wie bisher umherzulaufen. Daher hatte sie also in Göttingen schon vor ihrer Blitzreise nach Frankreich ein paar Klamotten zum Aufbrezeln gekauft und war gerüstet. Das war schon schön, was sie nun im Spiegel sah, als sie sich fertig gemacht hatte! Solch ein gelegentliches Verkleiden hatte ihr schon immer gefallen, wie ein kleines Abenteuer. Es durfte nur nicht zur Gewohnheit werden, egal, wie viel Geld ihr zur Verfügung stehen würde. Pablo hatte ihr versprechen müssen, er würde nie versuchen, sie in einen goldenen Käfig zu sperren.

Für Karima hatte sie vorher auch Kleidung kaufen müssen, denn das Kind trug gestern ja nur die Schulsachen und konnte nichts weiter mitnehmen. Die meisten alten Kleidungsstücke, die damals in Göttingen zurückgeblieben waren, passten ihr jetzt natürlich nicht mehr.

Wegen des unangenehmen Schmuddelwetters fuhren sie im Taxi zu dem Bürohaus, in dem die Adventure Investment Agency ihren Sitz hatte. Anna hatte gestern am Telefon gemeinsam mit Pablo Argumente zusammengetragen und war nun entschlossen, sich durchzusetzen.

Jedoch: „Ah, Frau Belloumi, schön, dass Sie da sind. Jetzt können wir auch das kleine Missverständnis von gestern ausräumen.“ Anna bekam einen Kaffee angeboten, Karima einen Apfelsaft. „Wissen Sie, unsere Passagierliste war bereits ausgebucht, wir hätten Sie beide gar nicht mehr adäquat unterbringen können. Aber dann fügte es sich noch in der vergangenen Nacht, dass ein Passagier plötzlich absprang und seine Kabine frei wurde. Ich freue mich mit Ihnen, dass dieses Problem so leicht gelöst werden konnte! Ich soll Sie übrigens von Herrn Gutiérrez aus Puerto Limón grüßen, der anscheinend mit Ihrem künftigen Mann gut bekannt ist!“

Anna bedankte sich sanft und zurückhaltend. Von einem Gutiérrez hatte sie nie gehört, aber machte ja nichts, Pablo hatte ihn anscheinend sehr gut einsetzen können.

Sie sollte nun eine Etage tiefer in ein anderes Büro gehen und mit der Sekretärin alle Formalitäten regeln.

Diese Frau war nicht ganz so geschmeidig wie ihr Chef. „Belloumi heißen Sie? Es gab mal einen Fußballer, aber der war so was wie ein Araber. Sie sind doch wohl nicht auch… Also auf der Passagierliste macht sich das nicht so besonders gut, besonders jetzt mit den ganzen Islamisten, und dann noch der Vorname des Kindes. Karima! Besser, Sie halten sich ein wenig zurück auf dem Schiff.“ Anna sagte der Frau nicht, was sie von ihr hielt, machte alle nötigen Angaben, erhielt die Tickets und wandte sich zum Gehen. Da fiel der Sekretärin eine Lösung für den Umgang mit den anscheinend empfindsamen Passagieren ein: Annas algerischer Nachname sollte nur auf den offiziellen Listen für die Behörden erscheinen, auf dem Schiff jedoch sollte sie unter dem spanischen Namen ihres künftigen Mannes geführt werden. García also. Anna lächelte spöttisch und erklärte sich einverstanden. Noch auf der Treppe fiel ihr ein, dass diese Regelung überhaupt völlig in ihrem Interesse war!

Das Schiff sollte erst in drei Tagen ablegen. Sie hatte also noch Zeit, ein paar Dinge einzukaufen, zum Beispiel die „richtige“ Kinderzahnpasta für Karima, nämlich die, die nach Himbeere schmeckt. Aber andererseits bedeutete es auch, drei Tage lang sehr vorsichtig und möglichst unsichtbar zu sein. Und das auch noch ihrem Kind annehmbar zu machen, ohne zu viel zu verraten! Karima hätte die Wahrheit noch nicht ertragen und bestimmt große Schwierigkeiten gemacht.

Sie kauften sich Leckeres zu essen und zu trinken für den Abend, den sie im warmen Bett gemütlich vor dem Fernseher verbringen wollten. Karima war schon den ganzen Tag lang sehr unausgeglichen gewesen, teils nachdenklich, teils besonders anhänglich, teils gereizt. Jetzt kuschelte sie sich in den Arm ihrer Mutter. „Mama“, sagte sie nach einer Weile, „du bist so schmusig! Der Papa ist ja auch immer lieb, er nimmt mich auch in den Arm, aber du bist so schön weich. Ach Mama, ich hab dich so vermisst, ich habe zuerst ganz oft geweint.“ Anna versuchte, ihre eigenen Tränen zurückzuhalten. „Ich doch auch, mein Mäuschen, ich auch, du hast mir ja so schrecklich gefehlt.“

Karima flüsterte: „Mama, bist du verrückt? Papa sagt, du wärst schon immer etwas verrückt gewesen, aber als du mich dann nicht mehr haben wolltest, wärst du richtig verrückt geworden.“ „Kind, was sagst du denn da? Wie konnte er dir denn sagen, ich wollte dich nicht mehr haben? Du weißt doch bestimmt noch, wie er dich damals vom Kindergarten abgeholt hatte, und dann wart ihr einfach verschwunden. Ich habe das ganze Jahr nach dir gesucht, mit der Polizei und einem Rechtsanwalt und einem Detektiv und mit Anzeigen in der Zeitung. Und Pablo hat mir die ganze Zeit dabei geholfen. Der Detektiv hat euch dann Gott sei Dank gefunden, sogar deine Schule, wo ich dich dann abgeholt habe.“

Karima setzte sich plötzlich ruckartig im Bett auf. „Mama!“ rief sie mit zittriger Stimme. „Mama! Du hast – ich glaube – du hast gar nicht mit Papa geredet! Du hast mich gestern einfach von ihm weggenommen! Darum habe ich meine Sachen nicht mit. Er weiß überhaupt nichts davon.“ Ihre Stimme war immer lauter geworden. „Er sucht mich jetzt bestimmt. Mama!“ Sie schubste Anna von sich weg. „Wir machen jetzt gar keine kurze Reise mit dem Schiff, stimmt’s?“

Oh Gott, schon war es passiert, ihr Kind hatte verstanden! Sie wollte Karima in den Arm nehmen, wurde jedoch wieder zurückgestoßen. Sie weinten beide. Was für eine Verzweiflung!

Natürlich hatte Anna gewusst, dass Karima sehr an ihrem Vater hing und er an ihr. Sie hätte auch daran denken und nachfühlen können, dass das Kind nun zum zweiten Mal hintergangen und belogen und entwurzelt wurde. Bei den ganzen organisatorischen Problemen hatte sie das jedoch nicht so genau überlegen wollen, denn was wäre die Alternative gewesen? Für immer auf ihr Kind zu verzichten? Nein, dann wäre sie lieber gestorben.

„Kinder vergessen schnell“, hatte ihre eigene Oma immer gesagt, wenn sie, Anna, von anderen Menschen bemitleidet wurde, weil ihre Eltern sie als Kleinkind abgegeben hatten und dann für immer verschwunden waren. Anna wusste sehr wohl, dass das ein unsensibler und durchweg falscher Schnack ihrer Großmutter gewesen war. Sie erinnerte sich jedenfalls an Vieles in ihrer Kindheit, auch an die häufigen Schläge, die sie von den Großeltern erhalten hatte. Dieser Spruch konnte wahrlich kein Trost sein.

Nach einer Weile hatte Karima sich wieder in die Arme ihrer Mutter zurückgeschluchzt. Sie war so erschöpft von dieser großen Aufregung, dass sie Annas Vorschlag annahm, alle nun aufkommenden Fragen am nächsten Morgen zu besprechen und erst einmal zu schlafen.

Anna jedoch konnte lange nicht einschlafen. Wie sollte sie bloß mit dieser Situation umgehen? Seitdem Yacine das Kind kurz nach der Scheidung entführt hatte, fühlte sie sich, als sei sie in einer Falle gefangen. Was auch immer sie tat – es konnte zu keinem glücklichen oder wenigstens akzeptablen Ende führen. Anfangs war sie ganz durchgedreht gewesen, irgendwie tatsächlich „verrückt“. Sie war auf abenteuerlichen Wegen sogar nach Algerien gefahren, hatte – verkleidet und mit dunkel gefärbten Haaren – versucht, die Eltern Yacines ausfindig zu machen, um Karima von dort zu entführen. Dabei war das Kind in Frankreich, bei anderen Verwandten.

Als nach Annas Rückkehr nach Göttingen ihre Freunde davon erfuhren, wurde sie von einigen fürsorglich unter die Fittiche genommen. Ganz besonders von Pablo. Er lebte allein und äußerte seit Jahren immer wieder stolz, dass er mit der Physik und mit seiner Klarinette verheiratet war, und dass er allenfalls für italienischen Wein und gutes Essen fremdginge. Anna hatte sich häufig über ihn lustig gemacht, er war so egozentrisch, weltfremd, selbstgefällig – und unansehnlich. Sie fand ihn extrem unattraktiv! Ja, und nun war er derjenige, der sich mit Verve für sie und ihre Probleme einsetzte, mit Polizei, mit Konsulaten und Botschaften verhandelte, einen Detektiv engagierte und bezahlte. Er kochte gutes Essen für sie, sprach ihr Mut zu, überhäufte sie mit Geschenken und half mit Geld aus.

Er war immer für sie da. Was für ein Satz! Tröstlich, beschützend, das tat erst einmal gut. Aber ein Gefühl von Bedrückung hatte sie auch häufig dabei.

Pablo und Anna kamen sich näher, wie man so sagt, und als er ihr versprach, im Bemühen um Karima nicht nachzulassen und sie bei Erfolg zu adoptieren, willigte Anna in die Verlobung ein. Er stammte aus Costa Rica, aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie. Das versprach Sicherheit, die sie bis dahin nie angestrebt hatte, die ihr jetzt aber als einzige Lösung für ihre vielen Probleme erschien.

Nun galt es, die letzten Hürden zu nehmen. Yacine hatte bestimmt inzwischen Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Karima zu finden. Ein alter Bananendampfer war hoffentlich das Letzte, was ihm oder einem Detektiv einfallen würde.

Das war das Eine. Die deutlich weniger berechenbare andere Hürde war der seelische Zustand ihres Kindes. Als Anna aufwachte, saß Karima bereits aufrecht und schaute ernst auf ein Amulett in Form einer Hand, das sie gestern schon am Hals getragen hatte („Das hab ich von Papas Mama gekriegt“). Sofort wurde Anna von ihrem Kind streng befragt, wie jetzt alles weitergehen sollte. Sie hatte sich in der Nacht eine lavierende Antwort zurechtgelegt: Ja, die Entführung war nicht schön, genau so wenig wie die durch Yacine vor einem Jahr, aber sie habe nun mal keine andere Möglichkeit gesehen. Jedoch sollte Karima auf keinen Fall für immer von ihrem Papa getrennt werden, es würde später Möglichkeiten geben, dass sie mit beiden Elternteilen Kontakt haben könnte. Wirklich! Jetzt aber müsse sie bitte alle Anweisungen zur Geheimhaltung befolgen, auch auf dem Schiff, denn sonst könnte es sein, dass das Jugendamt sie beiden Eltern fortnähme. War das schon wieder eine Lüge, fragte sich Anna. Auf jeden Fall war es eine grausame Taktik.

Karima war zutiefst erschrocken. Nach einer Weile fragte sie mit kleiner Stimme, ob Anna dann in „Kotzarika“ diesen doofen Pablo heiraten wolle und ob der dann ihr Vater sein solle. Sie erhielt eine vorerst aufrichtige Antwort: Nicht so bald und vor allem auch nur, wenn Karima dann einverstanden wäre. Versprochen!

Nach diesen emotionalen Erschütterungen hatten beide das Bedürfnis, sich um Alltägliches und Organisatorisches zu kümmern. Essen, trinken, einkaufen. Sie begannen sogar, Pläne zu schmieden für die Überfahrt. Die Worte Bananendampfer und Karibik hatten bei Anna sowieso bereits romantische Vorstellungen ausgelöst, allerdings schwebten ihr dann meistens – gegen besseres Wissen - historische Segelschiffe vor Augen. Ihre frühere Abenteuerlust (Piraten!) regte sich zaghaft.

Cornelius Knolle (alias Conrad Dreyer), 13.-15. Februar

Am Abend, bei Einbruch der Dunkelheit, machte sich Cornelius auf den Weg zu dem mit Luciano vereinbarten Treffpunkt, seinen Hut wieder einmal tief ins Gesicht gezogen. Doch da war niemand. Er wartete schon zwanzig Minuten, da trat ein alter Mann mit einem Pudel an der Leine an ihn heran, und fragte: „Sind Sie Cornelius?“ „Wie kommen Sie darauf? Warum wollen Sie das wissen?“ „Nun, ja, ich hab eine Zeitlang den Platz beobachtet. Und da niemand sonst hier wartet, müssen Sie Cornelius sein. Schönen Gruß von meinem Großsohn Luciano, der kann nicht kommen, den hat die Polizei geholt, wird schon seit sechs Stunden verhört, ich glaub auch wegen der Geschäfte mit Ihnen. Da müssen wir erst mal warten, wie es weitergeht und ob sein Anwalt ihn raushauen kann. Dann tschüss, wir sehen uns morgen hier wieder, oder Luciano.“ Schnell hatte die Dunkelheit den alten Mann und seinen Pudel verschluckt und Cornelius ratlos zurückgelassen.

Am nächsten Abend war Cornelius wieder zur gleichen Zeit am vereinbarten Treffpunkt und nach einer Weile kam auch wieder der alte Mann mit seinem Pudel, in Begleitung eines etwa vierzehn Jahre alten Jungen. „Das ist Felice, der Sohn meiner Tochter Maria. Er bringt Sie zu dem Mann, der Ihnen helfen wird. Oh, Mamma mia, hoffentlich geht das alles gut! Wir haben uns nie gesehen! Tschüss, Cornelius.“

Felice und Cornelius schlichen durch ein paar finstere Gassen in St. Georg, immer mit Blick nach allen Seiten, ob ihnen jemand folgte. Schließlich klopfte Felice an eine Kellertür. Ein schwacher Lichtschein fiel auf die Treppe, als die Tür von innen geöffnet wurde und eine krächzende Stimme flüsterte „Los, rein mit euch. Ist euch auch niemand gefolgt?“ Schnell wurde die Tür von innen verschlossen.

„Sie brauchen also einen neuen Pass?“, krächzte ein drahtiges altes, gut gepflegtes Männchen mit Schnauzbart und musterte Cornelius mit einem schnellen Augenaufschlag. „Also, das ist nicht so ganz einfach, allein das Foto … Na ja, interessiert Sie sicher nicht. Zweitausend jetzt und zweitausend, wenn der Pass fertig ist! Wie möchte der gnädige Herr denn zukünftig heißen?“ „Tja, hab ich noch nicht drüber nachgedacht. Conrad für Cornelius wäre nicht schlecht. Dreyer … ja, Dreyer hört sich gut an. O.k. Das Geschäft ist perfekt. Hier haben Sie die Anzahlung!“ Cornelius ergänzte noch „seine“ Daten, dann ein Foto, und war kurze Zeit später wieder auf dem Weg zu seinem Hotel. Die wollten vorhin unbedingt seine Anmeldung haben. Nun gut, „Conrad Dreyer“ sollte funktionieren.

Am nächsten Abend ging Conrnelius erneut zum Treffpunkt und hatte diesmal Glück: Luciano war da und hatte gute Nachrichten. In zwei Tagen gehe ein umgebauter Bananenfrachter ab Hamburg nach Costa Rica – One-way-Ticket, so Luciano. „Der Pott fährt fast leer zurück, nur ein wenig Stückgutfracht. Und das interessiert den Zoll und Polizei zurzeit nicht“, so Luciano. „Komm morgen wieder her, mit deinem Pass. Dann bekommst du das Ticket von mir. Den Ticketpreis und meine Dienste habe ich über deine Filiale in Warschau abgewickelt.“

Einen Tag später, nachdem sich Cornelius seinen neuen Pass geholt hatte, traf er sich miz Luciano wie verabredet. „Hi, Cornelius oder soll ich Conrad sagen? Hier, deine Papiere … hat soweit alles geklappt. Allerdings waren die Plätze eigentlich alle weg. Eine Kröte musste ich deshalb schlucken. ‚Des einen Pech, des anderen Glück‘, wie du immer sagst. Erklären kann ich dir das jetzt nicht.“ Luciano schaute sich nervös nach allen Seiten um. War ihm auch niemand gefolgt? „Melde dich, wenn du an Bord bist, beim Ersten Offizier, Horst Lohfeld. Da erfährst du mehr. Bitte, bitte nicht vergessen! Sonst flieg ich auf und du wohl auch. Und nun hau ab, nicht dass uns noch jemand zusammen sieht!“

Schnell hatte die Nacht Luciano verschluckt und Conrad ratlos zurückgelassen.

Anna und Karima, 16. Februar

Endlich, am Abreisetag, warteten Anna und Karima mit ihrem Gepäck in der Hotelhalle auf ihr Taxi. „Da ist wieder der Mann mit dem Hut. Aber jetzt hat er keinen auf“, flüsterte Karima. Sie hatten ihn in den vergangenen Tagen nicht mehr gesehen. Auch er bestieg jetzt ein Taxi. Wieder ein Zufall? Anna versuchte, nicht beunruhigt zu sein, gab jedoch für alle Fälle ihrem Fahrer die Anweisung, einen kleinen Umweg zu machen.

Doch als sie bei dem Schiff ankamen, stieg dieser gleiche Mann gerade aus seinem Taxi! Also nun wirklich kein Zufall! Aber was wollte er von ihr, was würde denn jetzt passieren? Mit gepresster Stimme bat sie den Chauffeur, noch einen Moment im Wagen sitzen bleiben zu dürfen. Jetzt hatte sie zum ersten Mal in diesen Tagen richtig große Angst. In der Nähe stand noch ein weiteres wartendes Taxi. War das für sie gut oder erst recht bedrohlich? Vielleicht doch nicht bedrohlich, denn im Wagen saß neben einem Mann ein Kind, ein Junge.

Der rätselhafte Mann wandte sich jetzt dem Schiff zu, ging die Gangway hinauf und wurde dort begrüßt. Ach, er war auch ein Passagier! Auf die Idee war sie ja nun gar nicht gekommen! Dann war alles gut, es sah jedenfalls so aus.

Anna und Karima gingen hinter dem bis jetzt von ihnen so genannten „Hutmenschen“ die Gangway hoch und wurden oben von einem freundlichen Mann in Uniform begrüßt. Vielleicht der Kapitän? Er nahm das Ticket entgegen und erklärte ihnen den Weg zu ihrer Kabine.

„Das ist ja ein schönes großes Zimmer!“ rief Karima, „Das hab ich gar nicht gedacht, dass auf einem Schiff so große Zimmer sind. Das ist ja größer als in unserem Hotel!“Und Anna hatte nicht gedacht, dass eine Kabine auf einem alten Schiff zwei richtige Fenster haben könnte, nicht nur kleine Bullaugen. In den Wandschränken gab es viel praktischen Stauraum, sogar mehr, als sie benötigten. Alles vielleicht etwas unmodern, aber wohnlich und anheimelnd.

Björn Bäumer, 16. Februar

Um Atem ringend stürzte er die Treppe hinauf, wirbelte Staubwolken und Spinnfäden von Augen und Mund, das Holz krächzte … gut, dass die Haustür einen Spaltbreit offen war, das Haus sah so verlassen aus … in der zweiten Etage taumelte er durch die muffigen Räume … hier, wie verabredet, eine klapprige Liege, er warf sich auf die schmutzige Wolldecke, die der letzte Benutzer ordentlich zusammengelegt hatte.

Sobald er lag, fiel er vor Erschöpfung in eine tiefgraue Bewusstlosigkeit: Regen, nichts als Regen, Staubregen, tropfte, rann, rauschte … plötzlich erwachte er … seine Kleidung war trocken, aber er zitterte … schloss wieder die Augen, und schon waren die Bilder wieder da … Malah, seine Freundin, die er so vermisste, warum war sie nicht mehr bei ihm? Die beiden Männer … kräftige Beine in Lederstiefeln … die engen Pullover formten die muskulösen Arme nach … entschlossene, dunkle Gesichter … glühende Augen.