Esther - Marco Martinez - E-Book

Esther E-Book

Marco Martinez

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Beschreibung

Nach dem Ende der Zivilisation ist die Welt grau und erbarmungslos geworden. Ein Mann, wie karges Land, begibt sich auf die Suche nach seiner verschwundenen Frau, die sturmgepeitschtes Meer widerspiegelt. Alles, was zuvor für ihn Bestand hatte, ist verloren. Einzig ein Versprechen, das er mit seinem Leben verknüpfte, lässt das in ihm lodernde Feuer nicht erlöschen. Er durchstreift tristes Ödland und behauptet sich gegen wilde Menschen, die Jagd auf ihresgleichen machen.

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INHALT

NEUE WELT

LILLY

MIA

HUNGER

HANNA

DIE HÜTTE

DIE SIEDLUNG

DIE FRAU, DIE MEER WAR

NEUE WELT

Abenddämmerung. Die Sonne ging in westlicher Richtung unter und berührte karges, totes Land. Sie tauchte es in sanfte, orangefarbene Töne und belebte es für einige Augenblicke. Er kauerte vor einem Lagerfeuer und verglich die Farben mit den emportänzelnden Flammen.

Der Feuerball, nichts weiter als ein Punkt am Horizont, wie eine kleine glühende Metallscheibe, verschwand langsam hinter den Bergen. Die Konturen der Buckel schmolzen im dimmenden Licht und verwischten die Grenzen zur Nacht.

Er glaubte, nie wieder einen Sonnenuntergang wie diesen erleben zu dürfen, doch es war das erste Mal, dass er es aufmerksam beobachtete.

Dunkle Wolken verdüsterten den weiten Himmel. Es begann zu regnen. Die Tropfen kullerten wie Tränen über sein eingefallenes Gesicht. Bald war er nass bis auf die Haut und fror. Er hielt die Hände wie zum Gebet zusammen und blies lauwarmen Atem hinein. Er wippte vor und zurück, während er sich umarmte, sich die Brust rieb, um die Kälte zu vertreiben.

Seine Finger glitten über vorstehende Rippen. In den letzten paar Monaten hatte er gut und gern 12 Kilo abgenommen und war nur noch ein Schatten seiner Selbst.

Mittlerweile war die abgetragene, gammlige Hose, in die er zuvor gerade so reinpasste, zwei Nummern zu groß und sie lotterte an ihm. »Bloß noch eine bedauernswerte, von Kopf bis Fuß verdreckte, abgemagerte Gestalt«, sinnierte er.

Über dem Feuer hing eine mit Wasser gefüllte Konservendose, in der vorher so etwas wie Suppe war. Noah kostete, ohne die Miene zu verziehen, so heikel er früher mal gewesen war. Das Wasser übernahm den Geschmack des Rests Brühe darin. Mit etwas Fantasie schmeckte es fast wie ein herber Tee. Seine blassblauen Lippen gewannen wieder an Rosigkeit.

Das eklige Gesöff erwärmte ihn mit jedem Schluck. Er schnitt sich am messerscharfen Dosenrand. Blut tröpfelte hinein und gab dem heißen Getränk eine persönliche, salzigere Note. Zumindest füllte es etwas den Magen, doch noch immer plagte ihn Hunger, wie an jedem Tag.

Es waren die einfachen, alltäglichen Dinge, die Noah am meisten vermisste. Der Geschmack von Brot oder ein richtiges Bett. Seinen Lieblingssong hören ... Er wusste, er würde niemals wieder Musik erfahren dürfen, die Sehnsüchte in ihm weckte. Um Liebe, Kummer, Stolz und allen Übermut.

Fantasie, die sich in Erlebnisse aus früheren Zeiten verflocht und ihn zu fernen Ländern trug, fernab von all der Verzweiflung.

»Würde ich als Musik eingehen, nachdem ich gestorben bin, welche Melodie bin ich dann wohl? Ein paar Takte voller Trauer, an die man sich wenigstens eine Weile nach meinem Tod erinnert hätte, wenn alles beim Alten geblieben wäre.«

Im Morgengrauen riss es Noah halb erfroren aus einem schrecklichen Albtraum. Eigentlich nahm er sich vor zu Wachen, doch restlose Erschöpfung entriss ihm das Bewusstsein. Er schlief ohnehin nur spärlich und schlecht.

Noah griff in die Seitentasche seiner abgenutzten schwarzen Lederjacke und zog hektisch eine Pistole heraus. Die letzte Bastion. Lediglich eine aufgesparte Kugel im Lauf. Er wusste nicht mal, ob die alte Waffe überhaupt noch funktionierte.

Trotzdem erhob er die Pistole und zielte. Er glaubte, den Umriss eines Dämons entdeckt zu haben, der gekommen war, um ihn zu holen. Jede Nacht kehrte er in Gestalt eines Kindes wieder. Verfolgte ihn. Jagte ihn. Zuweilen redete er sich ein, es wäre klüger, ihm nachzugeben.

Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und hoffte, so den fürchterlichen Traum auszulöschen. Die Pistole wurde schwerer und er ließ sie runtersacken. Sein Herz klopfte noch immer bis zum Hals. Der hämmernde Puls schnürte ihm die Kehle ab und raubte ihm beinahe die Möglichkeit, wieder einzuatmen.

Dann sog er die eisige Morgenluft hastig ein. Sie zwang ihn, zu husten. Statt die Waffe zurück in die Jackentasche zu stecken, balancierte er das Stück kalten Stahl auf seinen gestreckten, zittrigen Handflächen und murmelte, »wieder derselbe Traum.«

Das Pochen rauschte durch die Brust in den Schädel. Das Hämmern war unerträglich und eine unermessliche Hoffnungslosigkeit erfüllte ihn.

In seinem Innersten bohrte ein Schmerz, als hätte ihn ein Speer durchlagen. Er starrte mit fiebrig glasigen Augen in die Landschaft. Selbst ihr Grün wirkte dagegen schwach. Allein. Einsam. Wie der letzte Mensch auf Erden.

Es gab niemanden, der ihm widersprechen konnte, dass es keinen Sinn mehr hatte, weiter zu kämpfen. Dass es in Ordnung wäre, hier und jetzt aufzugeben. Die Lösung läge hier in seinen Händen. Vielleicht war es nun an der Zeit.

Dennoch machte er sich mit jedem Tag, den wahren Grund seiner Existenz bewusst. Der einzige Antrieb, weshalb er noch immer lebte. Nicht aufgab. Sich ein Herz und aufs Neue Mut fasste.

Unermüdlich begab er sich weiter auf die Suche nach seiner verschwundenen Frau. In der sterbenden Welt, die ebenso brutal, wie erbarmungslos geworden war, einer Ära der Angst, Gewalt und Tod, hatte nichts mehr Bedeutung für ihn, als sie wiederzufinden.

Lichtblitze schossen ihm durchs Hirn. Plötzlich sah Noah ihr Gesicht vor sich. Wie auf einem alten, eingerissenen schwarz-weiß Foto. Sinnbildlich dafür, dass die Erinnerung an sie langsam verblasste. Er versuchte, jegliche gemeinsamen Erlebnisse im Gedächtnis zu bewahren, und vergrub sie tief in sich. Wie ein kostbarer Schatz aus Gold, Silber und Diamanten.

Sowie gute, schlechte und manchmal auch Zeiten, die Schönheit erfüllte. Doch war es nur eine Illusion, die er festhielt. Eine Luftblase, die im Inneren ihre gemeinsame Vergangenheit widerspiegelte. In einer Welt, die nicht mehr existierte.

Am Tage ihrer ersten Begegnung erkannte Noah sofort, dass sie außergewöhnlich war. Sie leuchtete, und er spürte eine sie umhüllende Aura. Wenn man sie erfühlte, war sogar die Farbe zu bestimmen. Meeresblau.

Unergründlich. Zugleich geheimnisvoll. Flackernd wie Wogen berstender Wellen, verziert mit weißer Gischt. Sie war nicht respekteinflößender als der Ozean, deren unentdeckte Welten sich in der Größe ihrer Gefühle widerspiegelte.

Esther beschenkte ihn mit einem zurückhaltenden Lächeln. Gleich einem glitzernden, aufgehenden Stern. Noah versteinerte und blieb regungslos. Kühl.

Er verharrte drei Sekunden, vor der Frau, die auch Meer war. Ebenso wie er verspürte sie eine ungewöhnliche Anziehungskraft. Umhüllte ihn doch selbst eine besondere, von Stärke angereicherte Energie, die sehr einschüchterte. Sie brandete an seinen steilen Klippen, gen eines grünen, hügeligen Landes. Bewachsen von Wiesen und Wäldern.

Quellen bahnten sich ihren Weg von gewaltigen Bergketten hinunter ins Tal, wie Adern die den Kern, gleich einem Herz, immerzu mit frischem Wasser speisten.

Im Geiste stand Noah bereits bis zur Hüfte im Ozean ihres Bewusstseins. Der Sog des Wellenschlags mochte ihn sofort mitreißen auf die offene See, um ihn in der Stille zu ertränken. Ihn aufzunehmen, in die Tiefe aller Emotionen. Die Zeit war stehen geblieben, gleichwohl bestand sie in ihrer Unendlichkeit.

Ab diesem Tag blieben sie unzertrennlich. Miteinander verwurzelt wuchsen sie an ihrer Liebe. Ohne einander waren sie nichts weiter als die gebrochene Hälfte eines Ganzen, wie die einer seltenen, unbezahlbaren Golddublone. Nie zuvor gab es eine Frau, die mehr eins mit ihm war.

Er steckte die Schusswaffe ein und schlüpfte in seine Stiefel. Das Schuhwerk hatte längst bessere Zeiten gesehen. Die durchgelaufenen, löchrigen Sohlen lösten sich vom Leder. Er richtete seine schräg sitzende Wollmütze und kroch aus einem provisorisch errichteten Zelt.

Es bestand aus nicht mehr als sich kreuzenden, dicken Ästen und einer übergeworfenen Plane. Ein zerrissener Schlafsack, direkt auf der kalten, nassen Erde. Blickgeschützt durch einen alten, verwitterten Baum. Um sich ein stilles Örtchen zu suchen, ging er ein Stück abseits des Feldes auf dem er kampierte und überprüfte die Gegend.

Nebel war aufgezogen und verschleierte die Sicht. Er barg unwirkliche Figuren in sich. Verschwommen, trügerisch. Fast so, als umzingelten ihn Schattenwesen, die ihren Kreis enger schlossen. Für Augenblicke fühlte er sich in den immer wiederkehrenden Traum versetzt. Der hart gefrorene Boden unter ihm knirschte leicht.

Raureif bildete sich in den frühen Morgenstunden. Es veränderte die Wiese aus abgestorbenem bräunlichem Gras, in ein malerisches Bild.

Tau, der von den feinen Fädchen aus Eis aufgefangen wurde, reflektierte das zunehmende Sonnenlicht wie winzige Spieglein, klar und magisch. Als läge ein samtenes Spinnennetz auf den Halmen.

Noah legte den Kopf zurück. Er beobachtete zarte Kristalle, die begannen herabzufallen, aber sofort schmolzen, sobald sie den Boden berührten. Mit rümpfender Nase blinzelte er zum trüben Himmel und streckte die Zunge raus, um die Flocken auf ihr zergehen zu lassen. Das prachtvolle Weiß wich einem schmutzigen Grau. Wie Asche, die vom Himmel fiel.

Es musste Weihnachten gewesen sein oder Neujahr. Er war sich nicht sicher. Die Tage verschwammen ineinander und waren weder beschaulich, noch gab es den Moment für gute Vorsätze.

Manchmal wünschte sich Noah, er könnte die Zeit zurückdrehen. »Mit dem heutigen Wissen neu anfangen um alle meine Fehler, die ich beging, auszumerzen. Doch wäre ich nicht mehr derselbe Mann, der ich heute bin«, brütete er leise vor sich hin.

Noah grübelte oft über solche Dinge nach und fragte sich, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, hätte er in prägnanten Situationen, eine andere Entscheidung getroffen. Es spielte keine Rolle. Alles, was er kannte, verschwände ohnehin.

Der Winter war schon beinahe vorüber und es schneite bisher kaum, wie auch im Jahr davor. Erst in den letzten Tagen begann es vermehrt zu rieseln und es wurde bitterkalt. Besonders bei Nacht verspürte er tausende winzige Nadelstiche an den Extremitäten.

Sämtliche Wärme entwich aus seinem Körper, sowie er Empfindungen und Emotionen verbannte. Selbst die Gefühlskälte vereiste ihn und er vermutete, nie mehr wieder Mitgefühl zu verspüren. Die Wunde, die sie hinterließ, war zu tief und klaffte.

Ein gebrochenes Herz zusammenzuflicken, käme ihm ohnehin wie blanker Verrat vor. Ihm die Trauer um seinen Verlust zu nehmen hieße, so glaubte er, dass sie nie existiert hatte.

Noah stopfte seine wenigen Habseligkeiten in den Rucksack und warf ihn über die Schultern. Ohne bewusstes Ziel setzte er den Weg fort und folgte der einzigen Spur, die er hatte. Ein Versprechen. »Ganz gleich, wo immer du sein wirst, ich werde dich finden«, beteuerte er und verknüpfte den Schwur mit seinem Leben.

Die starren Beine froren ihm bis zu den Zehenspitzen. Obendrein Finger wie Eiszapfen. Er überquerte das Feld, wie im Alter eines Großvaters, trotz seiner Jugend. In die tauben Glieder kehrte mit jedem Schritt allmählich das Leben zurück. Er kam wieder zur Straße, der er bereits tagelang folgte.

LILLY

Umstehende Häuser und Wohnsiedlungen lagen brach. Zumeist bis auf die Grundmauern zerstört. Lediglich Ruinen aus einem vergangenen Zeitalter. Jede davon mit Erinnerungen angereichert, aus ganzen Leben und Tod. Traurige Schicksale, die Noah nachempfand und teilte.

Wenn er sich Zutritt zu einem verbarrikadierten Heim verschaffte, um nach Lebensmitteln oder Kleidungsstücken zu suchen, war es, als spreche eine zurückgebliebene Imagination der verstorbenen Besitzer durch die Wände zu ihm. Flüsternd, gerade so laut wie ein durchziehender Windhauch. Mehr fühlte man die Worte, als dass man sie hörte. »Falle ... Gefängnis ... Flieh ...«

Er gelangte zu einer Autobahnbrücke. Die gewohnten Geräusche vorbeischnellender Autos gab es schon lange nicht mehr. Nur geplünderte, kreuz und quer stehende Wrackkolonnen. Mitte der Brücke hielt er an.

Angestrengt musterte er die Umgebung. Niemand durfte sehen, wohin ihn sein Weg führte. Jedoch traf er bereits wochenlang auf keine Menschenseele mehr. Und noch länger schien es her zu sein, dass er welche von Ihnen sah. Allerdings war er sich ohne jeden Zweifel sicher, dass sie irgendwo da draußen waren.

Er bewahrte die in ihm gärende Angst und lehrte sich, sie zu nutzen. An ihr zu wachsen. Um vorbereitet zu sein. Aufmerksam auf alle potenziellen Gefahren, die hinter der nächsten Ecke lauern könnten.

Auf der anderen Seite der Brücke kam es ihm vor, als hätte er eine Grenze zu einer neuen Welt überschritten. Sie erschien ihm fremd und doch blieb sie auf seltsame Weise gleich.