Die Wohnung - Marco Martinez - E-Book

Die Wohnung E-Book

Marco Martinez

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Beschreibung

Die Wohnung ist Davids und Christinas Refugium und einzig verbliebene Konstante, in einer durch die Sonne verursachten, neuen Realität. Allein und verloren, in ihrem selbst geschaffenen Gefängnis, belagert von Toten, gibt ihnen nur ihre Liebe zueinander den nötigen Halt, einen Alltag aus Hoffnungslosigkeit und Angst zu bestehen. Bis sie zu guter Letzt, am Ende aller Kräfte, Nahrungsmittel und Belastbarkeit, einen waghalsigen Plan in die Tat umsetzen.

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AUCH WENN ES HEIßT,LIEBE IST DIE STÄRKSTE MACHT AUF ERDEN ...HOFFNUNGSLOSIGKEIT, ANGST, TRAUERUND VERLORENE LEBENSLUST NEHMEN EBENSO STARK,WENN NICHT SOGAR STÄRKER EINFLUSS.

MARCO MARTINEZ

DIE

WOHNUNG

HORROR ROMAN

© 2017 Marco Martinez

Umschlag, Illustration: © Marco Martinez, © Melinda Nagy, © ijeab, © Steve Collender, © Oleksandr Rybitskyi, © Aleksandrs Tihonovs, © zarg404

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-7439-6452-5

e-Book

978-3-7439-6453-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

PROLOG

ALLTAG

ROTER RIESE

NEUE REALITÄT

MUTTERLIEBE

NACHBARN

DIE MISSION

DER ÜBERFALL

ALLEIN

FLUCHT

PROLOG

Zuhause, Refugium, Zufluchtsort, Basis, Sicherheit. Die Wohnung war seit dem Zeitpunkt des Einzuges ihr ganzer Stolz, zumal es alles war, was sie noch hatten. Zugleich Martyrium, sowie Verlies. Verloren, allein. Belagert von lechzenden Totenwärtern, die ohne Unterlass auf die Eingangstür einhämmerten. Dennoch gelang es ihnen nicht, sie zu bersten.

Nach einer auslaugenden Hitzewelle brach urplötzlich der Winter herein. Wäre die Glasfront heil geblieben und die Heizung nicht ausgefallen, ließe es sich womöglich noch über Tage aushalten. Es reute sie jedes Mal, wenn sie Teile ihrer teuren Möbelstücke verbrennen mussten, um nicht in der Eiseskälte zu erfrieren. In der Mitte des Wohnzimmers knisterte brennendes Holz in einer einfachen, provisorischen Feuerstelle. Ein gekipptes Fenster reichte als Dunstabzug.

Wie zwei Buddha-Figuren saßen sie sich im Schneidersitz, in einem nahezu leeren Raum gegenüber. Dick eingepackt in Winterkleidung. Eingehüllt in Decken. Für Augenblicke, da sie der Schwermütigkeit zu müde waren, beflügelten sie ihre Gedanken an Orte ihrer Vergangenheit zu reisen, die lebhaft und farbenfroh waren. Zu Zeiten, die unauslöschlich ihren Glanz behielten. Anders als es die Welt geworden war, über die sich ein düsterer, grauer Totenschleier säumte.

Angst vor dem Bevorstehenden, welchem Ende sie auch entgegentreten, brachte sie zum Resignieren. Beide dachten an all das, was sie seither verloren hatten und wie es dazu kommen konnte. Wie stünde es wohl um sie, hätten sie sich seinerzeit gegen die Wohnung entschieden, die sie sich eigentlich kaum leisten konnten? Er trug immer noch den Ring in einer kleinen, schwarzen Schatulle mit sich herum, den er heimlich gekauft hatte und hielt daran fest, ihr bei einer passenden Gelegenheit während den Feiertagen, einen Heiratsantrag zu machen. Doch seitdem die Sonne sich wandelte und alles, was sie kannten, auf den Kopf stellte, gab es keinen geeigneten Moment, um die schönste aller Fragen zu stellen. Sie bewahrte immer noch ihr Geheimnis und sah ihn verstohlen an, als müsste er etwas, wie von einem geraubten Schatz, ahnen.

Sie holte sich aus der Küche einen Topf, schöpfte ein wenig Schnee vom Balkon um ihn zu Trinkwasser zu schmelzen und blieb vor dem eingetrockneten Blutfleck auf dem Boden stehen und begann zu weinen. Er umarmte sie, hielt sie ganz fest und suchte nach tröstenden Worten. Bevor er sie aussprechen konnte, wollte sie von ihm eine einfache Frage beantwortet haben. »Werden wir sterben?«

ALLTAG

Davids und Christinas Zuhause war eine 75m² große, relativ modern eingerichtete Wohnung mit drei Räumen. Würfelparkettboden aus Buchenholz und weiß gestrichene Wände. Das Wohnzimmer ist rechteckig, wie die anderen zwei Zimmer, im Verhältnis ist es jedoch größer. Verziert mit gerahmten Familienbildern und ein paar Acrylgemälden.

Möbliert mit einer schwarz lasierten Wohnwand und hochglanz-weiß lackierten Schubladen, auf der ein Fernseher stand. Eine Eckcouch mit grauem Strukturstoffbezug auf weißem Kunstleder und einem Couchtisch, ein grauer Faserteppich darunter. Ein 10m² großer Balkon, von dessen Ausblick sich noch eine unbebaute Sicht bot.

Jedenfalls bis das 100m² große Feld mit Apfelbäumen davor, auch zugebaut wird. Mit Blick nach rechts ein Bauernhof, der schon seit Generationen im Familienbetrieb bewirtschaftet wurde. Zur linken mehrere Häuser und Wohnsiedlungen. Geradeaus auf der anderen Seite des Feldes, ein mit Maschendraht umzäunter Kindergarten, der fast wie ein Gefängnis wirkte.

Durch die Fenster der anderen Zimmer sah man direkt auf die längsseits angelegten Besucherparkplätze und die Nebenstraße, die zur Wohnanlage führte. Einige Kilometer weiter, erhob sich ein Berg wie ein gigantischer Buckelwal, nachdem er blies. Die Lungen erneut mit Luft gefüllt, taucht er in seine Wurzeln, in ein grünes Meer aus Weißtannen hinab. Auf halber Höhe des Buckels steht eine alte Burg aus mittelalterlicher Zeit. Nun ist es ein Restaurant mit faszinierendem Ambiente, doch noch immer eine undurchdringliche Festung, aus dick erbauten Mauern und Gewölben. Die ganze Wohnung hatte im Grundriss die Form eines großen L.

Der untere Teil des L bildete das Wohnzimmer. An dessen oberen Ende war die Küche zu finden. Räumlich waren sie nicht voneinander getrennt. Man könnte sagen, dass die Mitte des L, ausgestattet mit einem Küchentisch aus Buche und sechs mit beigefarbenem Kunstleder bezogenen Stühlen, der Essbereich war. Man ging aus dem Wohnzimmer nach rechts, dann geradeaus und schon war man in der Küche. Blieb man im Essbereich stehen, sah man zu seiner linken die Türen zu den zwei anderen Zimmern und die des Badezimmers.

Zur rechten eine Glasfront. Fast die ganze Seite des Bereichs war verglast. Das erste Zimmer von der Küche aus gesehen, war das Schlafzimmer. Mit einem Doppelbett aus massivem, schwarzem Stahlrahmen, hochwertigen Matratzen, sowie Lattenrost. Der riesige Kleiderschrank davor, ließ einem dazwischen kaum noch Platz. Das zweite Zimmer, war als Büro eingerichtet. Ein Schreibtisch, ein Bürostuhl und ein kleines Sofa mit Bettfunktion. Nach dem Wohnzimmerbereich gab es auf der linken Seite noch eine Tür.

Ein Vorraum trennte die eigentliche Wohnung von der Eingangstür. Es war eine kleine Garderobe. Die Wohnung war im ersten Stock einer Anlage mit zwölf Wohnungen, drei in jeder Etage und identisch im Grundriss. Darunter die Tiefgarage und der Keller. In die Tiefgarage kam man nur durch ein massives Rolltor, welches sich automatisch mit Fernbedienung öffnete und schloss. Aus der Tiefgarage führte sonst nur eine Tür in den Keller.

Der Gang zog sich über die Länge und Breite der Wohnanlage. Zwölf Kellerräume. Jeder Mieter durfte eines der Abteile für sich beanspruchen. Die Türen der Tiefgarage und des Kellers, lagen sich gegenüber und konnten nur mit einem Schlüssel geöffnet werden. Pneumatische Schließer sorgten dafür, dass sie nie offen standen.

Dann ging es über die steinerne Stiege mit blauem Geländer, dessen Lack zum Teil schon abgeblättert war, zu den Wohnungen hinauf. Durch einen offenen schmalen Zugang kam man direkt zu den Erdgeschosswohnungen. Ab der Hauptstraße, etwa hundert Meter bis zur Wohnanlage. Es waren Mietwohnungen. Und auch nicht unbedingt billig. Die meistens ruhige Nachbarschaft, ein Stück weiter, die Nebenstraße runter, eine Schule auf der anderen Seite, die nicht weit entfernten Einkaufsmärkte, die Post, Apotheke und auch der nächste ortsansässige Arzt war nicht weit weg. Die nächste Polizei und Feuerwehrstation war ebenso in der Nähe. Vielleicht trieben all diese nützlichen Punkte die Mietpreise in die Höhe.

Da das Leben generell im Laufe der Zeit nicht unbedingt billiger wird, muss man die Tatsache akzeptieren, dass es seinen Preis hat, ein ordentliches Dach über dem Kopf zu haben, besonders in einer guten Umgebung, ohne nennenswerte Kriminalität. Ein Ort, in dem nur selten was passierte. So könnte man die Stadt bezeichnen. Vielleicht mal ein gestohlenes Fahrrad oder häusliche Gewalt. Mal eine Rauferei zwischen Pubertierenden. Solche Sachen eben. Es gab keine Morde, keine Drogenkriege, oder Banküberfälle im großen Hollywood-Stil. Eine beschauliche Kleinstadt, die mit vielen belassenen Grünflächen, welche den Kindern ein abenteuerliches Aufwachsen ermöglichte und Erwachsene nicht vor dem grauen Alltag zur Flucht in entfernte Länder zwang.

Die Menschen waren friedlich und höflich zueinander. Sie bestritten ihren Lebensunterhalt und unterhielten sich über das Wetter der letzten Tage. Eigentlich sehr gewöhnlich mochte man denken. Und doch trug jeder sein Päckchen. Denn nichtsdestotrotz verbirgt jeder hinter der Fassade, dass nichts sein Wässerchen trüben kann, die einfache Wahrheit, das Individualität seinen Preis hat. Wie die Mietwohnungen der Anlage in der Nebenstraße, stieg auch dieser Preis mit der Zeit.

So schrieb jeder Mensch seine Geschichte und erzählte sie aus eigener Perspektive. Auch wenn man noch so sehr glaubte, jemanden zu kennen, ganz egal wie lange es auch sein mag, die ganze Geschichte jedoch, wird sich nie vollständig im Kern offenbaren, die sich hinter ihm birgt. Wie viele Ereignisse mögen diesen Menschen in der Vergangenheit geformt, geprägt und geleitet haben bis zu jenem Tag, an dem man ihm begegnet? Welche Geheimnisse mag er haben? Ist es ein guter oder schlechter Mensch?

Vielleicht kann man gar nicht gut sein, ohne jemals etwas Schlechtes getan zu haben. Wie sonst könnte man lernen, was es bedeutet, gut zu sein, wenn nicht auf diese Weise? Wenn jemand Unrecht handelt, sich seinerseits aber im Recht glaubt, ist man deswegen böse? Oder handeln wir einfach intuitiv nach unserem Ermessen und sind beides?

Gutes und Böses manifestiert sich in jedem von uns. Zu glauben, man sei das eine oder andere, ist bestimmt nicht die ganze Wahrheit. Die Frage müsste lauten: Wann obliegt eine Eigenschaft der anderen? Oder welche der Eigenschaften nutzten wir in prägnanten Momenten oder Situationen, um zu wachsen und um Entscheidungen zu treffen? Ebenso die Bürger der Stadt. Würde man ihr ganzes Leben zu Papier bringen, man könnte vermutlich eine Straße rund um den Äquator aus den Seiten pflastern.

David und Christina sind seit drei Jahren ein Paar. Er ist 32 Jahre alt und lebt seit seiner Geburt in der Stadt. Sein Aussehen war durchschnittlich. Groß, blonde kurze Haare. Nur seine grünen Augen verrieten Züge seines Charakters. So konnten sie sich jederzeit gut zu den Eigenschaften formen, die ihm seine Mitmenschen aberkannten und Ausdruck verleihen. Christina ist 27 Jahre alt und zog nach einem halben Beziehungsjahr aus einer anderen Stadt zu David. Sie ist ebenfalls groß, schlank und sehr hübsch.

Mit brünetten langen Haaren, deren Geschmeidigkeit nur von ihren braunen Augen übertroffen wurde. Anders als es bei David war, schimmerten ihre Charakterzüge nicht durch ihren stets fragenden Blick, sondern teilten sich hauptsächlich durch ihre Körpersprache und die Art ihres Verhaltens mit. Ihr starker Charakter hielt sich nie in Waage mit mehreren Eigenschaften. Es oblag immer eine Stimmung allem anderen.

Sie arbeitete als Ordinationshelferin in einer Arztpraxis. Er arbeitete in einer Produktionsfirma an einer Maschine. Beide verdienten nicht überdurchschnittlich viel, aber auch nicht zu wenig für das, was sie täglich leisten mussten. Es waren für beide immer lange, schleppende, anstrengende Tage bis zum kommenden Wochenende.

Sie gingen nur selten aus. Ab und zu einmal ins Kino oder in ihr Lieblingsrestaurant, in dem sie ihr erstes Date hatten. Sie wollten sich nicht jedes Wochenende, so wie es manche ihrer Freunde taten, einfach sinnlos betrinken, um damit die vergangene Woche auszulöschen. Genauso gut konnten sie auf Discolärm verzichten. Eingepfercht und umzingelt zu sein von Dutzenden, löste in beiden kein wohliges Gefühl aus. Manche bezeichneten David und Christina als langweilig.

Meistens aber, waren die zwei einfach nur erschöpft von der anstrengenden Arbeitswoche. Bevor sie in ihr neues Heim zogen, lebten sie in einer kleineren Zweizimmerwohnung, etwa drei Kilometer von ihrem jetzigen Refugium entfernt. Der Platz war von Anfang an sehr begrenzt in ihrem kleinen Reich, weil jeder Kasten und der Kleiderschrank vollgestopft bis obenhin war.

Kaum öffnete man eine Schranktür, kam einem schon der halbe Inhalt entgegen. Als sie beschlossen, zusammenzuziehen, unterschätzten sie die Fülle ihrer beider Haushalte. Nachdem der Umzug in die kleine Wohnung geschafft war, waren beide, trotz der aus allen Nähten platzenden Stauräume, überglücklich endlich zusammen leben zu können, samt Christinas Haustier. Natürlich gab es dann und wann auch mal Schwierigkeiten und Streitereien wie in jeder Beziehung, doch ihre Liebe zueinander war von Beginn an zu groß, als dass sie sich von einem banalen Streit hätten entzweien lassen. David liebte sie bedingungslos und es gab nichts auf der Welt, das seine Gefühle zu ihr ändern könnte. Christina dagegen fiel es schwer und hatte Probleme damit, ihre Gefühle so zu zeigen wie David.

Das machte ihm früher oft zu schaffen, weil sein geringes Selbstwertgefühl ihn daran hinderte zu verstehen, was eine hübsche, gebildete Frau wie Christina an ihm fand. Doch wusste er, dass auch sie ihn über alles liebte und es nichts auf der Welt gäbe, was ihre Gefühle für ihn ändern könnte.

Für immer zusammen zu sein. Das war es, was sie beide wollten. Und daran hielten sie fest. Im Grunde gab es nur sie beide. Christina hatte zwar eine Schwester und eine Nichte, sah sie aber nur selten. Melanie, Christinas ältere Schwester, war, nicht unbedingt angetan von David. Deshalb gab es oft Streit zwischen den Dreien. Christina konnte nicht verstehen, warum ihre eigene Schwester etwas gegen den Mann hatte, den sie liebte.

David verstand es ebenso wenig. Schließlich säte er nie Zwietracht. Es gibt eben Menschen, die sich ohne besonderen Grund einfach nicht leiden können. Melanie und David akzeptierten es so. Christina glaubte aber an eine Versöhnung. Melanie kam mit der kleinen Maja, die gerade ihren vierten Geburtstag feierte, nur selten zu Besuch. Vielleicht zwei, dreimal im Jahr zu besonderen Anlässen, wie zu Weihnachten oder zu Ostern. Etwa einmal im Monat wenn es sich einrichten ließ, fuhr Christina zu ihrer Schwester. Oft ohne David. Das war ihm ganz recht so, obwohl er die Kleine sehr gern mochte. Maja fragte dann Christina, »wo ist Onkel David? Ist Onkel David nicht mitgekommen? Mag er mich nicht mehr?«

Dann wurde Christina wieder bewusst, wie sehr sie darunter litt, dass David und Melanie sich nicht mochten. Sonst hatte Christina keine Familie mehr. Davids Mutter Doris, die in der gleichen Stadt lebte, dort auch geboren war, wohnte nicht weiter weg als die vermeintlich neue Wohnung. Mit ihren 65 Jahren war sie nicht mehr die jüngste, aber bestimmt auch noch kein altes Eisen. Sie erhielt nur eine kleine Rente. Das störte sie aber nicht weiter und konnte gut alleine für sich sorgen.

Doris gab ihrem Sohn den Tipp während eines Telefonats, nach Erkundigung des Wohlbefindens, einen Blick in die Zeitung zu werfen. »Die dritte Anzeige von oben David. Lies die mal. Ihr sucht doch nach einer größeren Wohnung nicht wahr? Die wäre genau das Richtige für euch. Da steht Dreizimmerwohnung. Dann habt ihr auch mal genug Platz für ein Enkelkind. Haha! Ruf an und gib mir danach Bescheid, ob sie noch zu haben ist.«

»Ja, ja«, erwiderte er. Christinas Verhältnis zu Davids Mutter war eigentlich in Ordnung. Doris aber, überspannte oft den Bogen, was Christinas Zuneigung nicht gerade förderte. Komischerweise überkam sie das Gefühl, als würde sich Doris in ihr gemeinsames Leben einmischen wollen.

Da die Info über die Dreizimmerwohnung sie beide mitbekommen sollten, stellte David das Gespräch auf Lautsprecher. Ohne zu ahnen, dass seine Mutter wieder mal ins Fettnäpfchen trat. »Was sollte das mit dem Enkelkind? Wie wäre das, wenn sie das uns überlässt? Und du sagst nichts außer Ja, ja«, schnauzte ihn Christina an. David wie einem kleinen Jungen vorzuschreiben, wie er mit seiner Freundin leben soll, hätte er ohnehin nicht akzeptiert. Doris meinte es nur gut. Es war nicht ihre Absicht, sich in die Beziehung ihres Sohnes einzumischen. Trotzdem tat sie es, bewusst oder unbewusst. David wollte mit Doris noch darüber sprechen, ihr aber ohnehin verzeihen.

Sie ist schließlich meine Mutter, so dachte er. Wie üblich sagte er wieder einmal nichts, dachte sie. Zurückblickend betrachtet wünschten sich beide oft, sich nur mit diesen vergleichsweise kleinen, alltäglichen Problemen auseinandersetzen zu müssen. Es wären ihre geringsten Sorgen gewesen. David und Christina meldeten sich auf die Anzeige und sollten auf einen Besichtigungstermin vorbeikommen. Auch wenn es bedeutete, dass sie sich einschränken müssten, weil die Miete einen großen Teil ihres Einkommens schlucken würde.

Dennoch wollten sie die Wohnung nehmen, vorausgesetzt, dass sie eine Zusage bekommen. Es war in der Stadt nicht üblich, an ein kinderloses Paar eine Dreizimmerwohnung zu vermieten. Also nahmen sie den Termin gerne wahr, verhielten sich bei der Inspizierung aber eher zurückhaltend. Es gibt bestimmt ein Haken, dachten sie. Ihnen gefiel die ruhige Umgebung und Aussicht, gleichzeitig überlegten sie immerzu, an welchen Ecken und Enden sie sparen und Kompromisse eingehen mussten.

Der Vermieter fand beide sofort sympathisch. Auch wenn sie kinderlos waren, sollte einem Mietvertrag nichts im Wege stehen. Die Wohnung eine Etage höher direkt über ihnen, wurde schließlich auch nur von einem Mann alleine bewohnt. Seine Frau verließ ihn mit dem gemeinsamen Kind, nach seinem Gefängnisaufenthalt vor einigen Jahren.

Mehrere Anzeigen wegen Körperverletzung brachten ihn für drei Monate in Haft. Der Mietvertrag und das Wohnrecht, sicherten ihm die Wohnung, solange er pünktlich seine Miete bezahlt. Warum sollte er auch die Wohnung abstoßen, die der Mann seit Jahren sein Zuhause nannte? Abgesehen von der Miete, die zu seinem damaligen Einzug vor fünfzehn Jahren, nicht annähernd so hoch war und sich nur gering im Laufe der Zeit, an die Inflation anpasste. Sonst gab es keine Bewerber auf die recht teure Wohnung.

David zog mit einem lachenden und einem weinenden Auge aus der kleinen Wohnung aus. Trotz des Platzmangels liebte er diese vier Wände. Christina hingegen war froh endlich raus zukommen, bevor ihr endgültig das Dach auf den Kopf fällt und konnte das neue gemeinsame Leben mit David, kaum erwarten. Mit dem letzten Karton, vollgepackt mit Erinnerungen, schlossen sie dieses Kapitel ab.

Der Umzug wurde rasch bewältigt, die Wohnung dekoriert und die neu gekauften Möbel zurechtgerückt. Es dauerte nicht lange, bis sie die Zimmer komplett eingerichtet hatten und der Kühlschrank voll war. Sie waren begeistert vom Platz, den sie geboten bekamen. »Endlich haben wir mal genug Stauraum für unseren Krempel«, sagte Christina. David nickte ihr zu und antwortete gewohnt einsilbig. Sie umarmten sich, küssten sich innig und weihten darauf ihr Heim auf der Couch ein. Das Handy klingelte und unterbrach ihre Vereinigung.

Doris meldete sich, noch dazu, stieg sie prompt ins nächste Fettnäpfchen. Sie fragte David, ob sie schon dabei wären, für Nachwuchs zu sorgen, jetzt da sie einen weiteren Raum zur Verfügung haben. Hätte er bloß nicht abgenommen. Da die Stimmung ohnehin kaputt war, entschlossen sie sich, den Rest ihrer Habe einräumen. Das erworbene Service mit originellem Blümchen Dekor, alles im selben Design, nichts buntes oder Zusammengewürfeltes aus zwei verschiedenen Haushalten mehr, wie zuvor. Dazu kauften sie einen ansehnlichen Messerblock.

Zuletzt befasste sich Christina mit den neuen Gardinen. Bei der beinah komplett verglasten Seite des Essbereichs, nahm sie gern Davids Hilfe an. Auf Stühlen stehend, bewaffnet mit einer blank polierten, massiven Aluminiumstange, fädelten sie eine riesige Gardine auf, die sie vor Schaulustigen abschirmen sollte. Der weiße Hauch zog sich über die gesamte Länge der Glasfront und ragte von der Decke bis zum Boden.

Beide lebten sich schnell ein. Ansonsten änderte sich nichts nach dem Umzug. Einige Monate waren vergangen, aber die Routine in ihrem Leben blieb und zehrte an ihnen. Eigentlich arbeiteten sie nur noch, um die Miete und ihre Rechnungen, gerade so bezahlen zu können. Etwas anderes außer diesem Luxus konnten sie sich nur mehr selten leisten. Umso mehr wussten sie es zu schätzen, wenn sie sich selbst etwas gönnten. Christinas Haustier, ein siebenjähriger Stubentiger, hieß Tom.

Sie liebte den Kater, verwöhnte ihn allerdings zu sehr. Als er eines Tages leicht verletzt nach Hause kam, brach es ihr fast das Herz. Aus Angst er könnte draußen angefahren werden, ließ sie Tom nicht mehr vor die Tür. Daran gewöhnte er sich nur schwer und rächte sich Nacht für Nacht mit nervender Katzenmusik. David und Christina fanden aber nicht nur wegen Tom’s bettelndem Miauen keine Nachtruhe. Schon seit Tagen bekamen sie keinen richtigen Schlaf mehr. Besonders David machte das Defizit zu schaffen.

Die ganze Nacht lang, wälzten sich beide im Bett hin und her und schliefen erst in den Morgenstunden ein. Dann, wenn einen das Gefühl überkommt, gar nicht geschlafen zu haben und man ohne Erinnerung an einen Traum, vom Wecker wach gerissen wird. Drückende Schwüle raubte ihnen zudem den bitter nötigen Schlaf.

Außerdem waren die letzten Nächte ungewöhnlich hell gewesen, so als würde der Vollmond von einem wolkenlosen Himmel herunter strahlen, nur war das fahle Licht intensiver als gewöhnlich. Morgens schafften es beide kaum aus dem Bett. Am liebsten wären sie einfach liegen geblieben und hätten den Tag an sich vorbeiziehen lassen.

Davids Arbeitstag begann etwas früher. Wenn er bei seiner Firma ankam, stand Christina auf und kümmerte sich zuerst um Tom. Sie brauchte nicht zu lange zur Praxis. Zu Fuß, nur knapp zehn Minuten.

So konnte sie sich noch genug Zeit nehmen, sich um ihn zu kümmern. Sie reinigte die Katzentoilette und stellte ihm frisches Futter hin, bevor sie sich auf den Weg machen musste. Bei der Arbeitsstelle angekommen, ging David erst mal sein übliches Morgenritual durch. Was hieß, dass er sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten besorgte und das Radio einschaltete.

Konnte er neben der Musik die Nachrichten hören, wusste er wenigstens, wie spät es war. Viel Erfreuliches war zwar nie zu hören, aber es gäbe wohl keine Nachrichten, wenn nicht gerade irgendwo auf der Welt etwas Schlimmes passiert war. Halbstündlich wurde der aktuelle Stand der Dinge übertragen.

Ein Politiker, der in einer Unterschlagungsaffäre steckte, Verkehrsunfälle, ein Skandal um einen Promi, ein Land im Bürgerkrieg, die Arbeitslosenstatistik und natürlich das Wetter. Eine anhaltende Hitzewelle erschwerte den Alltag.

Zudem grassierte seit Wochen eine starke Grippe, wie in vielen verschiedenen Teilen der Welt. Manche Länder hatten es mit einer regelrechten Epidemie zu tun. Die lokalen Radiosender machten Aufrufe, sich vorbeugend impfen zu lassen. Obwohl bereits sieben Leute, in Davids Firma erkrankt waren, dachte er sich nichts weiter dabei. Mal wieder eine Grippewelle eben. Kein Grund sich Sorgen zu machen.

David und sein Mitarbeiter Daniel, waren über die Jahre gute Freunde geworden. Ihr Spot traf die Krankgemeldeten. Nicht aus Böswilligkeit. Es war vielleicht Neid, oder es lag an der Mehrarbeit, die durch die Ausfälle an ihnen hängen blieb. Jedenfalls würde kaum einer der Arbeitskollegen einige Tage Kur ausschlagen. Mehr gab es nicht nachzugrübeln, solange sie die Grippe nicht selbst erwischte. Und schon war der Gedanke daran vertrieben. Für sie war es ein Tag wie jeder andere auch. Anstrengende, heiße, kräftezehrende lange Stunden.

Impfungen und Medikamente waren für David ohnehin nichts weiter als Chemie, die entwickelt von Pharmakonzernen dazu dient, Menschen in eine Art von Abhängigkeit zu treiben. Diese Verschwörung selbst sorgte seiner Meinung nach für Krankheiten, die sie dann nach Milliardenumsätzen, selber wieder heilen konnten. Aus diesem Grund ist Dr. Wolf in Davids Augen auch kein Gott in Weiß. So hieß der praktische Arzt, für den Christina arbeitete. Ein erfahrener Mediziner in den Fünfzigern, der große Stücke auf Christina hielt.

Sowohl als Angestellte, als auch wegen ihres guten Aussehens. Hauptsächlich aber, infolge ihrer Erscheinung. Christina wusste das. Solange Dr. Wolf aber nicht aufdringlich werden würde, ging es für sie in Ordnung. Außerdem gab es keinen anderen freien Job, der sonst in Frage käme. Für sie waren die letzten Arbeitstage ebenso unangenehm. Täglich strömten unzählige Patienten herein und brachten Dr. Wolfs Praxis zum Überquellen.

Gereizt, ungeduldig und erschöpft, schoben sie die Verantwortung auf Christina und ihren Chef ab. Die meisten Kranken schleppten sich wieder nach Hause, oder ins nächstgelegene Krankenhaus. Doch dort sah es nicht viel besser aus. Und am Ende ihrer Nerven und Belastbarkeit ließen sich David und Christina nach einem harten Tag, auf die Couch sinken und wünschten sich das Wochenende herbei.

ROTER RIESE

Die kommende Nacht war eine der längsten, die sie bisher erlebten. David und Christina konnten wieder mal wie so oft nicht einschlafen. Irgendwann weit nach Mitternacht, stand David dann auf und ließ sich im Wohnzimmer, todmüde auf die Couch fallen. Nachdem er im Dunkeln eine Zigarette anzündete, vom Feuerzeug geblendet wurde und die Einrichtung langsam ihre Konturen zurückbekam, fiel ihm auf, dass es wieder außergewöhnlich hell war, wie schon die Nächte davor.

Diesmal war es sogar noch etwas heller. David machte das Licht an, um die Uhr zu lesen. Es war 2.24 Uhr. Also noch eine ganze Weile hin, bis es dämmern würde. Die Leuchte blendete ihn mehr, als das Feuerzeug. Kopfschmerzen, pulsierend und brennend, quälten ihn. Er machte das Licht wieder aus. Seine Augen erholten sich.

Dann ging er raus auf den Balkon, um nachzusehen, ob Vollmond war. Doch der Mond war nicht zu sehen. Es muss Neumond sein, dachte er. Eine milde Brise traf ihn und gleichzeitig schüttelte es ihn vor Kälte, als wäre es eine Warnung. Tief sog er diese frische Luft ein. Langsam blies er sie wieder aus. Gerade als er zurück ins Bett gehen wollte, hörte er die Türklinke der Schlafzimmertür. Christina war ebenso munter, wie duselig.

Sie wälzte sich rum und rum und rum und konnte keine passende Position finden. Die Schwüle war unerträglich, zudem vermisste sie David im Bett und machte sich auf die Suche nach ihm. Schließlich fand sie ihn auf dem Balkon und leistete ihm Gesellschaft. Nicht zuletzt, um sich etwas Abkühlung zu verschaffen. Es gelang schneller, als ihr lieb war. Plötzlich war es eine kalte Welt, welche sie fror und David gleichermaßen warnte.

Sie teilten sich die letzten Züge des Glimmstängels und wunderten sich über den ungewöhnlichen Nachthimmel. Christina meinte dazu, »es ist bestimmt Vollmond, wir entdecken ihn nur von hier aus nicht.« Die seltsame Helligkeit, hielt nicht nur David und Christina wach.

Schweifte der Blick über das Feld, konnte man sehen und spüren, dass sie nicht alleine Wache hielten. In vielen Häusern und Wohnsiedlungen der Nachbarschaft, brannte Licht. Man sah es kilometerweit. So deutlich, wie man fühlt, wenn andere Menschen in der Nähe sind. Sie spürten sofort die Anwesenheit, der anderen Bewohner.

Sowie die des Nachbarn, der in der Wohnung über ihnen wohnte. Seine Präsenz bestätigte er mit dem metallenen Klicken eines Feuerzeugs, knisterndem Papier und ausatmen kalten, blauen Dunstes von der Zigarette, die er sich gerade angesteckt hatte. Sie rochen den Qualm, der von oberhalb runter kroch und verhielten sich leiser.

Sie sahen nach oben, um zu überprüfen, ob er sie bemerkte, vielleicht ihre Gegenwart genauso spürte. Doch alles was sie ein paar Minuten später zu sehen bekamen, war ein aufgerauchter glühender Stummel, den der Mann wegschnippte. So sehr sie auch versuchten, den versäumten Schlaf nachzuholen, es gelang ihnen nicht. Tagelang. Zudem war es noch immer schweißtreibend heiß. Zu heiß für Mitte Oktober. Die Hitzewelle machte den Menschen neben dem Schlafentzug, schwer zu schaffen.

Um die Mittagszeit stieg die Temperatur annähernd auf 38° Grad, nachmittags dann auf etwas mehr. In den Nachrichten wurde berichtet, dass der Ursprung der hellen Nächte und der drückenden Hitze, wohl bei der Sonne zu suchen sei. Dennoch kannte niemand die genaue Ursache. Weder für die unnatürliche Helligkeit, noch für die heißen Tage, deren Licht in gleicher Weise zunahm und ein Geheimnis mit sich trug.

Irgendwas veränderte sich. Tief im Inneren konnte man etwas fühlen, aber nicht aussprechen, was es wohl war.Die Grippewelle nahm ebenso kein Ende. So hatten sich die letzten Wochen nach dem Umzug als äußerst mühsam erwiesen. Kräftezehrende Tage. Jede Stunde fühlte sich an, wie ein halber Tag. Die Zeit wollte ihrer Aufgabe nicht richtig nachgehen und die Minuten vergingen so langsam, dass es schmerzte. Die Hälfte der Mitarbeiter in Davids Firma waren mittlerweile ausgefallen.

Sein Stolz ließ es nicht zu, selbst blauzumachen oder sich krank zu melden. Geschweige denn, die übrigen Kollegen im Stich zu lassen. Es gab ohnehin schon genug Krankmeldungen. »Die Arbeit erledigt sich schließlich nicht von selbst«, wurde ihm im Befehlston gesagt.

In der Praxis überforderten zunehmend mehr Erkrankte Dr. Wolf und Christina. »Bevor nicht wenigstens die meisten Patienten im Wartezimmer behandelt sind, können wir nicht schließen«, erklärte ihr der Doc. Manchmal wünschte sich Christina, selbst in dem keimverseuchten Zimmer zu sitzen, um anschließend nach Hause geschickt zu werden, jedoch brachte sie es nicht übers Herz, Dr. Wolf ihre Aufgaben obendrein aufzubürden.

Die Kranken, von denen sie einige persönlich kannte, sollten nicht auf sie verzichten müssen. Denn ihre mitfühlende Art war es, die die Patienten so schätzten. Nicht nur ihr Zuspruch, der die Menschen in ihrer Krankheit bestätigte, sondern auch ihre Fähigkeit zuzuhören. Sie tat dies nicht wie so viele andere, die Zuhören so interpretierten, abzuwarten bis man selbst an der Reihe war, mit Reden.

Christina konnte ihre volle Aufmerksamkeit schenken und wollte nie eine Gegenleistung für sich. Also versuchten sie beide, durchzuhalten. So schrecklich lang ein Arbeitstag auch sein konnte, zwangsläufig musste er enden. Doch es schlug auf ihre Gemüter, denn sie hatten mehr und mehr Überstunden zu leisten.

Übermüdet spürten sie ihre Muskeln. Täglich begleitet von hämmernden Kopfschmerzen, die nie an Wucht einbüßten. Die Lichtstrahlen des Tages bohrten sich in die Augen. In Kombination mit der starken Grippe, deren Wellen unaufhörlich brandeten, war man zwar definitiv krank, dennoch wurden es David und Christina nicht. Sie sorgten für Linderung, indem sie genug tranken und sich dazu gesund und vitaminreich ernährten. Gegen die Kopfschmerzen halfen kühle Umschläge und Schmerztabletten.

Davids Handy läutete. Auf dem Display war Mama zu lesen. Er nahm es widerwillig ab. Sie bat um einen Gefallen. Weil sie sich nicht besonders wohlfühlte, sollte David für sie ein paar Besorgungen machen. Vor allem fragte sie nach stillem Mineralwasser, weil sie bei der Hitze fast umkam vor Durst. Aus dem Hahn käme nur lautes Gepolter. Man hatte die Wasserleitung aufgrund eines Rohrbruchs zugedreht. Der Zeitpunkt dafür war großartig, angesichts der Hitze. Und wenn es nicht zu viel Umstände macht, noch etwas Brot, Käse und eine Schachtel Zigaretten. Sie habe seit Tagen keine mehr geraucht. Lustlos fuhr David mit dem Auto in das nächste Geschäft.

Dies war nur dreihundert Meter entfernt. Bis zur Wohnung von Doris waren es noch mal etwa zwei Kilometer. Vor dem Geschäft angekommen, kam ihm etwas seltsam vor. Es war ziemlich ruhig auf den Straßen. So gut wie kein Verkehr. Unterwegs bemerkte er nur drei andere Wagen. Auf den Gehwegen waren weit und breit keine Passanten zu sehen. Außer eine kleine Gruppe Jugendlicher, ein Stück die Hauptstraße rauf. David fragte sich, ob es an der Hitze liegt, dass niemand vor die Tür geht.

Und diese seltsame Stille? Wie die Ruhe vor dem Sturm. Trügerisch und alarmierend. Keine Wolke am Himmel zu sehen. Keine Brise. Nur bratende Hitze. Die Luft flackerte. Sie fühlte sich seltsam auf der Haut an, so als wollte sie sich ablagern.

Man bekam das Gefühl, ein Stück aus ihr raus beißen und kauen zu können, so dick und schwer kam sie einem vor. Auf dem Heimweg von der Arbeit kam ihm die Luft nicht so schwer vor. Im Laden war auch nicht viel los. Nur das nötigste Personal war anwesend. David und Christina kamen nur selten zum Einkaufen her. Das Geschäft war nicht sonderlich groß und die Auswahl war begrenzt. Gewissermaßen, ein Tante Emma Laden.

Doris gehörte vor ihrer Pensionierung zu den Beschäftigten. Sie war stolz darauf, bis zum Schluss die Einkäufe der Kunden, mit einer althergebrachten Registrierkasse zusammengerechnet zu haben. Mit diesen neumodischen Codeleser-Dingern wollte sie nichts zu tun haben. In Wahrheit hatte sie großen Respekt vor der Technik. Erst nachdem sie in Pension gegangen war, rüstete der Geschäftsführer mit neuen Geräten nach.

David trug die Artikel schnell zusammen und stand im Nu an der Kasse. »Heißer Tag heute nicht wahr?«, fragte er. David wollte die Kassiererin mit etwas Small-Talk aufbauen. Sie saß irgendwie geknickt und mit gesenktem Kopf da, als hätte sie gerade eine Zurechtweisung ihres Chefs einstecken müssen. David konnte sich nicht mehr an ihren Namen erinnern, obwohl Doris, die früher mit ihr zusammen arbeitete, öfter von ihr erzählt hatte.

Nach Davids Begrüßung hob sie ihr Haupt und enthüllte ihren Zustand. Ein kreidebleiches Gesicht, rote Augen mit dunklen Augenringen und gelb flüssiger Austritt aus der Nase. Kurz erschrocken von ihrem Anblick, baute David einem gut gemeinten Abstand zu ihr auf. Sich selbst konnte sie keinen einzigen Ton entlocken. Wie in Trance führte sie das Brot, den Käse und die Zigaretten über den Codeleser der Kasse. Der Piep Ton hallte durch das Geschäft. Das Mineralwasser in Sechserträgern, wurde ihr allerdings bei dem Versuch, es zu sich zu ziehen, zu schwer für ihren in Mitleidenschaft gezogenen Körper.

Wortlos wanderten ihre Augen mit leerem Blick über ihre Hände, zu dem Wasser und schließlich zu David. Er möge ihr doch bitte zur Hand gehen, sollte dies vermutlich heißen. David zögerte nicht und schob den Träger selbst über den Scanner. Als die Kassiererin die Summe nannte, die zu zahlen war, verstand David zuerst keine Silbe.

Andernfalls hätte er sofort gehört, dass sie einen absolut absurden Preis angab, welcher mit der Anzeige der Kasse nicht übereinstimmte. »324,50 … 324,50«, wiederholte sie. »Ich glaube, es wird Zeit, dass du nach Hause gehst und dich etwas ausruhst, meinst du nicht?«, schlug David vor. Der Geschäftsführer, der alles gerade aus der Nähe mitbeobachtete, kam angelaufen.

Dieser brachte David den Namen der Kassiererin, die noch nie in einem solchen Zustand von jemandem gesehen wurde, wieder ins Gedächtnis. »Anna? Ich ruf einen Krankenwagen. Komm, wir bringen dich nach hinten, damit du dich hinlegen kannst«, bestimmte er. Im Lager des Ladens gab es einen Pausenraum. Die beiden stützten sie die kurze Strecke und legten Anna auf die alte Couch die darin stand. Daneben stand ein Wasserspender. David füllte einen Becher und reichte ihn zu Ihr. Sie trank den Becher hastig aus und keine Sekunde später, erbrach sie wieder.

Anna stammelte trotz anhaltendem Erbrechen immer wieder die gleichen Worte. »Wasser … Bitte, Wasser.« David füllte einen Becher nach dem anderen. Doch jeder Schluck zwang Anna, wieder zu erbrechen. Der Geschäftsführer wählte inzwischen den Notruf. Es sollte etwa eine halbe bis dreiviertel Stunde dauern. Die Rettungswagen wären im Dauereinsatz, würden aber tun, was sie können.

David wollte warten, bis der Krankenwagen eintrifft. Seinen Einkauf ließ er an der Kasse zurück. Wer sollte die paar Sachen auch stehlen? Es waren ohnehin keine anderen Kunden im Laden. Eine gute halbe Stunde verging, ehe der Krankenwagen eintraf.

Nachdem Anna auf der Pritsche nach draußen und in den Rettungswagen gehievt worden war, wollte sich David auch wieder auf den Weg machen. Der Geschäftsführer bedankte sich bei ihm, dass er geblieben war, und half ihm die Einkäufe im Wagen zu verstauen, der allerdings in der Zwischenzeit so von der Sonne aufgeheizt wurde, als säße man sich in einen Backofen.

Bei Doris angekommen, setzten sich beide an den Tisch in der Küche, mit einem Glas lauwarmen Wasser welches er eingekauft hatte und dem Aschenbecher zwischen ihnen. Für sie gab es nichts Schöneres, als mit ihrem Sohn zu schwatzen und zusammen eine Zigarette zu rauchen während David ihr das Neueste vom Tage erzählte.

Doris fühlte sich nach wie vor nicht besonders wohl. Sie hustete und immer wieder durchfuhr sie eine Kälte, die sie kurzweilig in Schüttelfrost versetzte. David war darüber sehr besorgt, weil er wusste, dass auch sie krank werden würde, falls sie es nicht bereits war. Für Doris war das seltsame Wetter schuld.

Die Hitze, die um diese Jahreszeit eigentlich nicht mehr sein durfte und die hellen Nächte die auch sie, wie so viele andere, des Schlafes beraubte. »Nur einmal wieder richtig ausschlafen, dann wirds schon wieder«, sagte sie und wollte nicht wahrhaben, dass sie dabei war, etwas auszubrüten.

Davids Erlebnis im Laden war auch ein Thema bei ihrem Plausch. Doris zeigte sich geschockt. Den Geschäftsführer und Anna kannte sie seit Langem. Alle Beschäftigten.

Doris lernte Anna fünf Jahre zuvor, noch vor ihrer Pensionierung an. Sie kamen damals gut miteinander aus trotz des Altersunterschieds von vierzig Jahren, der die Generationen unter Umständen hätte aneinanderprallen lassen können. Doris nahm sich vor, Anna im Krankenhaus zu besuchen, nachdem David ihr erzählte, wie schlecht es ihr ging.

Doch Hitze und Müdigkeit hielten sie zurück. Es wäre ohnehin vergebliche Mühe für Doris gewesen. Sie konnten nicht wissen, dass Anna noch im Krankenwagen verstarb. Die schwere Erkrankung forderte unterwegs ihren Tribut. Nachdem alle Neuigkeiten ausgetauscht waren, machte sich David wieder auf den Heimweg. Noch immer waren so gut wie keine Leute auf der Straße auszumachen. Ein älterer Herr auf Spaziergang, eine Frau auf einem Fahrrad, die ihm entgegenfuhr. Kein Auto zu sehen. Weder vor, noch hinter ihm.

Die Sonne blendete David mit solch einem grellen Licht, wie er es nie zuvor erlebte. So hell war es noch nie gewesen und er realisierte, dass es noch intensiver wurde. Plötzlich gab es einen Lichtblitz, der wie aus dem Nichts kam. Er stieg voll auf die Bremse des Autos und kam am Straßenrand zum Stillstand. Wenigstens konnte er einigermaßen sicher sein, keinen Unfall zu verursachen.

Der Effekt dauerte zwar nur einen Moment, begann aber langsam, zog sich zum Höhepunkt und verblasste wieder. Schon einige Zeit, bevor der Sonnenblitz die bestrahlte Seite der Erde traf, veränderte sich etwas im Inneren des roten Riesen, der nun die EM-Spitze erreichte. Dies geschah allerdings sehr langsam. Der Abstand zwischen Sonne und Erde verringerte sich etwas, erhellte so die Nächte und heizte die Tage auf. Des Weiteren wurde die Erde in den vergangenen Wochen Ziel sich im Weltraum verändernder Sonnenstrahlung.

Der Sonnenblitz war nun Abschluss einer Ära und läutete ein neues Zeitalter ein. Die Eruptionen bargen besondere Nebenwirkungen. Ohne dass es jemand merkte, setzte die Sonne eine Einstrahlung frei, deren Auswirkungen global waren. Obgleich der rote Riese nach der gewaltigen Energieentladung begann sich zu normalisieren und sein Ungleichgewicht wieder dem natürlichen Gleichgewicht anpasste, war die Realität auf dem Blauen Planeten für immer verändert worden.

Wie eine fremde Dimension, die plötzlich in die unsere eindrang und das bekannte Leben beendet. Davids Augen waren noch geschlossen. Durch seine Lider konnte er die Umrisse nebenstehender Gebäude und dem Armaturenbrett seines Autos sehen. Als er seine Augen langsam öffnete, um sich umzusehen, taten sie weh. Nadelstiche und ein brennendes Gefühl beeinträchtigten sein Sehvermögen. Benommen stieg er aus dem Wagen und versuchte den Schmerz loszuwerden.

Dann bekam er doch noch einen Passanten zu sehen. Kaum zehn Meter von ihm entfernt. Er wankte auf David zu und fragte, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Ihm war die Vollbremsung nicht entgangen, obwohl er selbst für einen Moment seine Fähigkeit zu Sehen verlor.

David antwortete:»Ja. Was war das? Haben sie das mitbekommen?« Der Mann, selbst für einen Moment benommen, rieb sich die Augen, die ihn ebenso brannten. Sie stellten sich nebeneinander und begutachteten den Himmel. »Ich glaube, das hat wohl jeder mitbekommen. Keine Ahnung was das war. Vielleicht war es eine Bombe? Ganz weit weg? Aber hätten wir dann nicht eine Explosion hören müssen?«

»Denke schon. Ich habe jedenfalls nichts gehört. Ich fahr dann jetzt mal nach Hause und seh dort nach dem Rechten. Ich kann sie ja ein Stück mitnehmen, wenn sie wollen«, bot David an. Der Mann lehnte ab und ging wieder seines Wegs.

Mit halb geschlossenen Augen fuhr David langsam die Hauptstraße weiter. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und bemerkte einen leichten Sonnenbrand in seinem Gesicht. Tränen liefen ihm über die Wangen, wie gewöhnlich bei einer heftigen Migräne. In der Nebenstraße schienen sich seine Augen wieder zu bessern. Er parkte vor der Wohnanlage, stieg aus und erkundete erneut den Himmel. Das Phänomen schien sich nicht zu wiederholen.

Dennoch war es nach wie vor sehr grell. Er spitzte die Ohren. Vielleicht gab es ja noch etwas Außergewöhnliches wahrzunehmen. Nichts als Stille. Die ganze Nachbarschaft war wie ausgestorben. Seine Hand fuhr in die Hosentasche und griff nach dem Schlüsselbund, während er die Stiege nach oben ging. Abermals drehte er sich um, als wäre mit einem Verfolger zu rechnen. Vor der Wohnung hatte er den passenden Schlüssel herausgesucht und zum Schloss angesetzt.

David spürte immer noch einen leichten ziehenden Schmerz in den Augen. Eine Brise traf ihn. Wieder war sie warnend, wie schon in jener Nacht die er mit Christina schlaflos erlebte. Gänsehaut zog sich über seinen ganzen Körper auf, als berührte ihn eine Geisterhand. Aufgeschreckt öffnete er schnell die Tür, als reagierte er auf die Warnung und müsste sich in Sicherheit bringen.

Hinter sich schloss er sie wieder ab. Die Balkontür im Wohnzimmer war weit aufgerissen und die Fenster geöffnet, um einen kühlen Durchzug zu erzeugen. Tom lag faul neben Christina auf der Couch und ließ sich den Kopf kraulen. Sie saß mit aufgerissenem Mund vor dem Fernseher. Die Nachrichten liefen und beunruhigten Christina zusehends.

David setzte sich zu dem Kater, der die Nähe Christinas ganz für sich beanspruchte. »Hallo Schatz. So einen komischen Tag wie heute, hatte ich noch nie. Zuerst, als ich im Geschäft war. Ich ging an die Kasse, wollte gerade zahlen und ...«

»Scht. Ich will die Nachrichten sehen.« Christina drückte David einen schnellen Willkommens Kuss auf den Mund und drehte sich wieder zum Fernseher. Im unteren Teil des Bildes war ein Balken eingeblendet, in dem das Wort Sondermeldung zu lesen stand. David befürchtete, dass möglicherweise die Vermutung des Passanten, eine Bombe wäre Ursache für den Lichtblitz, tatsächlich wahr sein könnte und drehte die Lautstärke mit der Fernbedienung etwas auf.

»…sehen sie in einer Zusammenfassung mit den neuesten Meldungen, in den Haupt-Nachrichten um 20.00 Uhr. Die beunruhigende Entwicklung der Grippe nimmt weiter ihren Lauf. Nachdem die Grippewelle das Land nach wie vor nicht aufatmen lässt, häufen sich nun die Meldungen von Todesfällen.

Die Ärztekammern empfehlen weiterhin sich vorbeugend impfen zu lassen. Trotz einiger Engpässe, wie der Sprecher eines pharmazeutischen Konzerns heute einräumte, würde bereits in Zusammenarbeit mit anderen Pharma-Konzernen für genügend Nachschub und flächendeckender ärztlicher Versorgung gesorgt. Überfüllte Krankenhäuser und Arzt-Praxen werden durch errichtete Notversorgungsstellen entlastet. Sollten sie starke Symptome der hochansteckenden Grippe zeigen, sollten sie sich sofort in ärztliche Behandlung begeben oder eine der Notversorgungsstellen aufsuchen, deren Standorte wir in diesem Moment unten einblenden.

Experten sprechen mittlerweile von einer Pandemie. Die Welt-Gesundheits-Organisation gibt in einer Stellungnahme bekannt, dass ohne rasche Behandlung die Grippe durchaus zum Tode führen kann. Liebe Zuschauer, soeben erreicht uns eine Eilmeldung. Der von einer Sonneneruption ausgelöste Sonnenblitz, der vor ca. 15 Minuten gegen 19.00 Uhr die Erde traf, führte zu einem kurzen Erhellen des gesamten Himmels. Ob dieses Naturphänomen irgendwelche Auswirkungen auf die Erde hat, oder es einen Zusammenhang mit den ungewöhnlich hellen Nächten gibt, steht zurzeit noch nicht fest. Wir werden sie natürlich auf dem Laufenden halten und melden uns stündlich wieder, bis zur Zusammenfassung des Tages in den Nachrichten um 20.00 Uhr.«

David und Christina waren geschockt, aber gefasst. Und irgendwie wussten beide, was auf sie zukam. Christinas Schwester Melanie meldete sich, um zu fragen, ob sie die Nachrichten eben auch gesehen hatten.

Seit dem Geburtstag der kleinen Maja sahen sie sich nicht mehr oft. Das letzte Mal vor etwa fünf Wochen. Telefonate gab es regelmäßig, aber das war nicht dasselbe. Christina vermisste ihre Schwester und ihre kleine Nichte. Sie fand eben nicht die Zeit, zu ihnen zu fahren. Melanie wollte wegen David nur ungern ihre Schwester besuchen. Also überließ sie es Christina für ihre Treffen zu Sorgen. Die letzten Wochenenden brauchte sie für sich, um sich von den stressigen Tagen zu erholen.

Sie bekam dann ein schlechtes Gewissen und schämte sich für andere da sein zu müssen, ihre Schwester und Nichte aber zu vernachlässigen. Die ganze Woche über bei der Arbeit, half sie Dr. Wolf sich um die Patienten zu kümmern. Die meisten davon waren Fremde. Umso schlechter war es um ihr Gewissen gestellt. Während des Telefonats war im Hintergrund der Husten und das Nase hochziehen von Maja zu hören. Melanie selbst räusperte sich in Zehn Sekunden Intervallen. Sogar David konnte es durch das Handy hören.

Christina machte sich große Sorgen und wollte sich am nächsten Tag zu ihnen auf den Weg machen. Melanie spielte ihren erkälteten Zustand runter und nahm die ganze Sache nicht zu ernst. »Habt ihr auch gerade die Nachrichten gesehen? Das ist doch verrückt. Wie kann man denn an einer Grippe sterben? Und wie geht es dir? Du und David, ihr seid nicht krank oder?«

»Uns geht’s gut. Wir sind nicht krank. Aber sehr viele andere Menschen. Du solltest sehen, wie es in der Praxis zugeht. Wie auf einem Volksfest. Ich kann es auch noch gar nicht fassen, dass die Grippe tödlich sein soll. Ich meine sie ist schon sehr heftig, aber tödlich? Ich muss mich unbedingt mit dem Doc darüber unterhalten. Das darf einfach nicht wahr sein. Aber erzähl mal, wie geht es denn dir und Maja? Ich kann hören, wie sie sich die Rotznase hochzieht. Und du klingst auch nicht gerade gut.«

»Nein, nein. Uns geht’s gut. Ich war mit Maja beim Arzt. Er sagt, sie wäre nur leicht erkältet. Und um mich brauchst du dir keine Sorgen machen. Bin nur müde.

Die Kleine hält mich auf Trab und die Hitze macht mich fertig.«

»Du klingst aber nicht müde, sondern krank. Hast du dir Medikamente verschreiben lassen? Habt ihr euch eigentlich impfen lassen? Ich mach mir nämlich sehr wohl Sorgen um euch. Besonders um Maja.«

»Meine Güte jetzt mal dir nicht gleich wieder das Schlimmste aus. Ich werde nicht sterben und Maja auch nicht. Ich sagte doch, dass ich bei einem Arzt war. Wir haben uns auch impfen lassen. Vor Wochen schon. Mach doch nicht immer gleich aus jeder Mücke einen Elefanten. Auf meine Tochter kann ich ganz gut alleine aufpassen, auch ohne deine Hilfe.«

Während die Sorge um einander einem Streitgespräch wich, hörte David Christinas Telefonat weiterhin zu und machte sich so seine eigenen Gedanken. Er machte sich Sorgen um Doris. Christina war nicht krank, also galt ihr in diesem Moment seine Aufmerksamkeit.

Als er noch kurz zuvor bei ihr zu Hause war, sah er sofort, dass sie nicht ganz gesund war und irgendwie beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Deshalb verstand er Christina, deren Sorgen berechtigt waren. Irgendwie spürte sie, dass sie ihre Schwester verlieren würde und ihr dann nur noch David bleibt.

Und er teilte diesen Eindruck eines Gefühls, welches sie noch während sie sich auf ihre Familie konzentrierten überwältigte. Ein Moment der Klarheit, der wie aus dem Nichts kam, sowie der Sonnenblitz. Einbildung, vielleicht auch Wunschdenken oder einfach recht zu behalten. Es war nicht so, dass Christina wollte, dass Melanie stirbt. Doch plötzlich ein zweites Gesicht zu haben und ohne, dass einem das Gehirn einen Streich spielt zu wissen, dass man einen geliebten Menschen verlieren wird, füllt ein ohnehin rissiges Gefäß, wie ein immerkehrender Traum.

Brise um Brise sickert die Hoffnung als Sand der Zeit aus den Rissen des Selbst und man akzeptiert, keinen Einfluss auf das Schicksal nehmen zu können. Es lässt eine Seele krank werden, wie die Grippewelle. Wenn alle Menschen der Welt zusammen eine Seele wären, die Krankheit selbst Hoffnungslosigkeit, würde sie Stück für Stück absterben. Welle um Welle zerbersten Menschen an der Hoffnungslosigkeit. Diese Krankheit ließe sie sterben, wie die Grippe sie nun sterben ließ.

»Entschuldige, dass ich Angst um euch habe. Du hast die Nachrichten selbst gesehen und sagst mir, ich soll mir keine Sorgen machen? Du blöde Kuh. Wenn du dich David gegenüber nicht so kindisch verhalten würdest, könntest du dich ja auch mal zu uns bemühen. Du weißt ganz genau, dass ich viel zu tun hab. Also tu bitte nicht so, als lasse ich dich im Stich! Wenn man an der Grippe stirbt, solltest du dir mehr als nur Sorgen machen. Maja ist krank und du bist es wahrscheinlich auch schon.«

»Ist ja gut. Tut mir leid. Ich hab es nicht so gemeint. Du hast ja recht. Können wir uns am Wochenende sehen? Vielleicht am Sonntag? Ich muss dich trotzdem bitten, dass ihr zu uns kommt. Mein Auto ist in der Werkstatt.«

»Ja, wir kommen.«