Esyia - Stephan Strauch - E-Book

Esyia E-Book

Stephan Strauch

4,6

Beschreibung

Suriku verlässt nachts heimlich sein Dorf. Er will in die Welt hinausziehen, um sich als Kämpfer zu beweisen. Sein größter Wunsch ist es, in die Kriegerstaffel aufgenommen zu werden. Doch dann trifft er Esyia. Das Mädchen ist etwa in seinem Alter, aber von einer ganz anderen Art. Als sie ihm erzählt, dass sie ihre Herkunft nicht kennt, entschließt er sich, ihr zu helfen. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Reise, bei der Unglaubliches zu Tage tritt und die für das Schicksal ganz Utvalins von zentraler Bedeutung sein wird.

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Seitenzahl: 417

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Über den Autor:

Nach dem Studium der Germanistik, Pädagogik und Soziologie arbeitete Stephan Strauch zunächst einige Jahre freiberuflich als Lehrer. Während dieser Zeit entdeckte er seine Liebe zu Online-Rollenspielen und der Fantasy. Als er dann keine Lust mehr hatte, Unterricht zu erteilen, wechselte er den Beruf. Jetzt fährt er hauptsächlich mit großen Fahrzeugen herum und schreibt in seiner freien Zeit die Geschichte der Welt von Utvalin.

Inhalt

Die Freundin des Riesen

Im Randgebiet

Die alte Dame

Die Reise beginnt

Wolli

Rodusk

Eure Hoheit

Oberst Agus

Der dunkle Priester

Die RD-37c

Gurd

Luftschlacht

Botanoide

Vormarsch

Die Gruppe wächst

Sybille

Die Wiederkehrer

Eine neue Verbündete

Ankunft

Der Berg

Schicksalsschlag

Hinein

Ein komischer Kauz

Der Kampfkommandant

Weg!

Die Rutsche

Alina Mondlicht

Die Dunkle Residenz

Der Eingriff

Das letzte Element

Rollenverteilung

Kortuls Einheit

Sechs Entschlossene

Die Gruppe im Kampf

Der kleine Gefährte

Das Ahnentor

Überraschung

Neuanfang

Erstes Buch

Die Freundin des Riesen

Suriku machte sich ganz klein und presste sich gegen einen Baum. Er roch die feuchte Erde, auf der er kniete, und die Pflanzen um sich herum. Die Rinde des Baumes, an den er seinen Kopf drückte, war kühl und hart. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er zitterte vor Anspannung. Bloß nicht bewegen, keinen Laut, dachte er. Wenn er dich jetzt bemerkt, bist du erledigt.

Seine Augen starrten auf das Wesen vor ihm. Es war Nacht, doch das Mondlicht erhellte die Lichtung und den riesigen Grom, der da hockte. Er schien mit irgendetwas beschäftigt zu sein. Suriku sah, dass er den Boden absuchte. Von Zeit zu Zeit ließ der Riese ein schreckliches Heulen und Grollen ertönen, das dem Jüngling durch Mark und Bein ging. Suriku wusste, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war. Jetzt oder nie …

Vor einigen Wochen hatte er sein Dorf verlassen. Niemandem hatte er von seinem Plan, in die Welt hinauszuziehen, erzählt. Es gab nichts im Dorf, womit er sich eng verbunden fühlte. Sein Vater war kurz nach seiner Geburt von einem Rag schwer verletzt worden. Trotz aller Bemühungen der Heiler war es nicht möglich gewesen, ihn zu retten. Der Biss eines Rags war fast immer tödlich. Seine Zähne sonderten eine giftige Substanz ab, die die Nervenzellen angriff. Nur ein Schamane mit starken Kräften konnte dem widerstehen. Surikus Vater war jedoch kein Schamane. Er war ein geachteter Jäger, der seine Pflichten dem Dorf und der Familie gegenüber immer gewissenhaft erfüllt hatte. Bis man ihn nach dem Biss ins Dorf gebracht hatte und bis der erste Heiler sich um ihn kümmern konnte, war das Gift schon so weit in seinen Körper vorgedrungen, dass er keine Chance mehr hatte. Er schlief ein und wachte nie mehr auf.

Suriku hatte keine Geschwister, nur seine Mutter lebte noch. Diese bekam er jedoch selten zu Gesicht, da sie ein Mitglied des Rates war. Ein Stamm, das sind normalerweise einige große Familien, wurde von einem Rat geführt. Dessen Größe richtete sich nach der Anzahl der Familien. Suriku gehörte zum Stamm der Ho’ki, einer großen Gemeinschaft mit einem Rat aus dreizehn Personen. Seine Mutter hatte deshalb immer wichtige Verpflichtungen und konnte sich kaum um ihn kümmern. Das war mittlerweile allerdings auch nicht mehr nötig, da er kurz davor stand, ein erwachsener Mann zu sein und gut allein zurecht kam.

Mitten in der Nacht hatte er sich aus dem Dorf geschlichen. Leise und vorsichtig, sodass ihn keiner bemerkte. Suriku wollte raus in die Welt. Er wollte sich allen Prüfungen stellen, die ihm das Schicksal auferlegte, alle Hindernisse überwinden und als mächtiger Krieger in sein Dorf zurückkehren. Ich komme als großer Kriegerheld zurück, dachte er. Dann werden sie staunen und mich verehren. Ich werde zum Führer der Reiterstaffel, vielleicht sogar zum Befehlshaber der gesamten Kriegerschaft. Der Ho’ki wusste, dass viele Gefahren auf ihn warteten. Normalerweise ging niemand allein aus dem Dorf. Das war viel zu gefährlich. Wenn gejagt oder gesammelt wurde, waren immer auch bewaffnete Wächter dabei. Die Wälder waren voll von Kreaturen und Monstern, die mit Leichtigkeit einen Mann zerfetzen konnten. Es war an der Tagesordnung, dass Dorfbewohner angegriffen und getötet wurden.

Suriku war zwar jung und ungebildet, aber er war nicht dumm. Natürlich war ihm klar, dass es nicht leicht werden würde. Er hatte sich aber in den Kopf gesetzt, seinem Dorf durch außergewöhnliche Heldentaten zu imponieren. Bis jetzt war er noch nicht für würdig befunden worden, das Mal des Kriegers zu tragen. Das lag allerdings nicht an seinen Fähigkeiten, sondern einfach daran, dass er noch zu jung war. Die Führer der Kampfgruppen entschieden in regelmäßigen Abständen, wer schon geeignet war und wer noch nicht. Suriku war noch nicht so weit. Sie haben mich dieses Jahr wieder nicht aufgenommen, ärgerte er sich, obwohl ich fast alle im Duell besiegt habe. Die alten Anführer wussten jedoch, dass es nicht allein auf körperliche Kraft und Schnelligkeit ankam. Zu einem richtigen Krieger gehörte auch Weisheit, Besonnenheit und Selbsterkenntnis. Eigenschaften, die er noch verbessern musste.

Suriku hatte sich vorgenommen, einen Grom zu töten. Die alten Schriften erzählten von nur drei Männern, die das bisher geschafft hatten. Ein Grom war ein Riese von bis zu vier Metern Größe, also etwa doppelt so groß wie ein Mensch. Er war wild und äußerst aggressiv. Nach dem, was die Alten erzählten, gab es nur eine Möglichkeit, einen Kampf für sich zu entscheiden. Man musste auf den Grom zulaufen, so nahe wie es ging, und dann mit aller Kraft einen Speer zu seinem Hals schleudern. Schaffte man es, seinen Hals zu durchbohren, war er erledigt. Ein anderes Körperteil anzugreifen hatte keinen Sinn, da dort die Muskeln und Knochen viel zu hart waren. Der Jüngling wusste das. Die meiste Zeit hatte er zwar nicht aufgepasst, wenn die Lehrer ihre Geschichten erzählten, die Kämpfe der Vorfahren interessierten ihn jedoch schon immer. Da war er immer hellwach und hörte genau zu.

Der Grom schlug mehrmals verärgert mit der Faust auf den Boden. Staubwolken wirbelten auf und die Erde um ihn herum bebte. Er schrie seine Wut hinaus mit einem grässlichen Schrei. Das Monster nahm einen dicken Ast und schleuderte ihn seitlich ins Gebüsch. Wieder und wieder hämmerte er auf den Boden. Suriku beobachtete das wahnsinnige Schauspiel und obwohl er Angst hatte, überlegte er sich, wie er am besten angreifen könnte. Jetzt auf die Lichtung zu springen wäre schlecht. Der Grom war so aggressiv, dass er nicht genug Zeit haben würde, seinen Speer zu werfen. Er musste den passenden Moment abwarten.

Plötzlich geschah jedoch etwas Unerwartetes. Der Riese sank in sich zusammen und fing an zu schluchzen. Ein tiefes, unheimliches Heulen erklang im nächtlichen Mondlicht und es kam dem Ho’ki vor, als wäre das Ende der Welt gekommen. Der Grom saß mitten auf der Lichtung und weinte. Es war meilenweit zu hören. Suriku konnte nicht genau erkennen, was da auf dem Boden bei dem Riesen vor sich ging, aber irgendetwas schien unter der Erde zu sein, was ihm wichtig war.

In der Ferne tauchte plötzlich eine Flugechse am Himmel auf. Mit großen, gleichmäßigen Flügelschlägen glitt sie durch die Nacht. Die ungewöhnlichen Geschehnisse auf der Lichtung bemerkte das Reptil offenbar nicht, denn es wurde nach und nach kleiner und verschwand schließlich wieder in der Dunkelheit.

Das Schluchzen des Groms wurde auf einmal leiser. Er beruhigte sich wieder. Etwas später erhob er sich und schritt langsam davon. Suriku beschloss, den Riesen ziehen zu lassen. Er hätte jetzt von hinten auf ihn zustürmen können, der Augenblick wäre günstig gewesen. Einen weinenden Grom anzugreifen erschien ihm allerdings unwürdig. Außerdem hatte er auf einmal Mitleid mit dem Riesen. Er wartete, bis nichts mehr zu hören und zu sehen war, setzte sich dann auf und lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum. Seinen Speer legte er neben sich. Suriku trug noch ein Schwert und einen Dolch, beides war an seinem Gürtel befestigt und musste beim Sitzen nicht abgenommen werden.

Die Angst und die Anspannung hatten Nerven gekostet. Der Ho’ki war völlig erschöpft. Nach kurzer Zeit fielen ihm die Augen zu und er versank in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Seine Umgebung um ihn herum war vergessen. Einige Stunden schlummerte er so friedlich vor sich hin, bis er plötzlich eine leise Stimme hörte:

»Huhu! Mensch!«

Verschlafen schaute der Ho’ki auf. Er drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam und traute seinen Augen nicht. Auf seiner Schulter saß eine winzige Kreatur, höchstens so groß wie ein Finger von ihm. Im ersten Moment wollte Suriku das kleine Etwas von seiner Schulter wegstoßen, er hatte schon die linke Hand gehoben, um den Kleinen runterzuschubsen, da hielt er plötzlich inne. Das kleine Wesen war ein Humanoid, genau wie er. Der Sturz nach unten könnte ihn verletzen. Suriku ließ die Hand wieder sinken und schaute sich den Kleinen näher an. Verblüfft stellte er fest, dass es kein Er war, sondern eine Sie. Ein Mädchen. Allerdings nur fingergroß. Sie musste ihn schon mehrmals gerufen haben, denn sie war verärgert darüber, dass er so träge reagierte.

»Endlich!«, beschwerte sie sich. »Ich musste extra auf deine Schulter hochklettern und dir ins Ohr schreien, du Schlafmütze!«

Unter fluchendem Gegrummel und Gemurmel begann sie wieder hinunterzuklettern. Suriku wollte die Kleine erst mit der Hand anheben und runtersetzen, ließ es dann allerdings, denn er wollte sie nicht noch weiter reizen.

Das Mädchen hatte einige Mühe wieder hinunterzugelangen. Sie hangelte sich zuerst an Surikus Kragen entlang, bis sie sich genau unter seinem Kinn befand. Unter ihr, senkrecht abfallend, war nun die Knopfleiste von Surikus Weste. Sie ließ beide Hände los und fiel ein Stück abwärts. Beim zweitobersten Knopf angekommen, griff sie zu und hing nun an diesem. Das wiederholte sie bei drei weiteren Knöpfen, bis sie sich in Höhe von Surikus Bauchnabel befand. Dieser beobachtete fasziniert, wie geschickt die Kleine an ihm herumkletterte. Sie schwang sich, noch immer am Knopf hängend, hin und her, um im rechten Moment loszulassen und zu Surikus rechter Jackentasche hinüberzufliegen. An dieser klammerte sie sich fest. Jetzt war sie in geringer Höhe über Surikus rechtem Oberschenkel. Sie ließ los und landete auf dessen Bein. Geschickt rollte sie sich ab, um den Aufprall abzufedern. Die Kleine setzte sich, leicht schnaufend aufgrund der Anstrengung, und schaute zu ihm hoch. Suriku seinerseits blickte zu ihr hinunter.

»Wer bist du denn?«, fragte er.

»Ich bin Esyia«, sagte das Mädchen. »Und wer bist du, Schlafmütze? Hast du dich verirrt?«

»Nenn’ mich nicht immer Schlafmütze«, erwiderte der Ho’ki verärgert. »Mein Name ist Suriku. Nein, ich habe mich nicht verirrt.«

Das stimmte nicht ganz, denn er wusste in Wahrheit nicht mehr so genau, wo er war.

»Menschen sieht man im Dunkelwald selten«, sagte die Kleine.

»Dunkelwald?«

»Unser Wald heißt so. Die Sonne geht hier niemals auf.«

»Ach so.«

Verwundert schaute Suriku sich um. Tatsächlich. Es war immer noch Nacht. Einen Sonnenaufgang schien es nicht zu geben. Das Licht des Mondes wurde allerdings von der freien Fläche der Lichtung reflektiert, sodass es hell genug war, um etwas sehen zu können. Der Ho’ki betrachtete das Mädchen genauer. Esyia musste etwa so alt sein wie er selbst. Sie war zierlich und hatte helle Haut, die schon leicht ins Blasse überging. Ihre langen Haare waren seltsam weiß mit silbernen Strähnen.

»Zu welcher Art gehörst du denn?«, fragte er.

Esyia senkte den Blick.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich bin eines Morgens aufgewacht und war da.«

»Einfach so?«, wollte Suriku wissen.

»Ja, einfach so«, erwiderte Esyia betrübt. »Ich kenne meine Familie nicht und auch nicht die Art, zu der ich gehöre. Ich muss sehr lange geschlafen haben. Vor zwei Jahren bin ich aufgewacht mit völlig zerrissener und zerfetzter Kleidung. Ich kann mich an nichts mehr erinnern.«

»Oh…«, machte Suriku mitfühlend.

Er schaute genauer zu ihr hinunter und entdeckte, dass sie Tränen in den Augen hatte.

»Woher weißt du denn noch deinen Namen?«, fragte er vorsichtig.

Esyia fasste sich an den Hals und holte ein kleines Medaillon hervor, das an einer Kette um ihren Hals hing. »Der Name steht hier drauf.«

Sie fing an, in einem winzigen Beutel herumzukramen, den sie auf dem Rücken getragen hatte. Sie hatte ihn abgenommen und neben sich auf den Boden, also Surikus Oberschenkel, gelegt. Vermutlich um auf andere Gedanken zu kommen, holte das Mädchen etwas heraus und biss hinein.

»Was ist das?«, wollte Suriku wissen, der merkte, dass es erst mal besser war, nicht weiter über Esyias Herkunft zu sprechen.

»Eine Honigecke«, erklärte sie, »Willst du auch was?«

»Nee«, sagte Suriku und musste lachen.

Dieses kleine Stück Honig war natürlich viel zu wenig für ihn. Außerdem wollte er dem Mädchen nichts wegessen. Surikus Lachen und die süße Honigecke schienen Esyia allerdings wieder etwas aufzumuntern. Sie schmunzelte und fragte:

»Was machst du hier?«

»Ich habe die Fußspuren eines Groms gesehen. Denen bin ich gefolgt und die haben mich direkt zu dieser Lichtung geführt.«

»Aha.«

»Ich bin auf der Suche nach ehrenhaften Kämpfen«, erklärte der Ho’ki. »Wenn ich einige sehr starke Gegner besiege, werde ich im Dorf in die Kriegerschaft aufgenommen.«

»Soso«, bemerkte Esyia skeptisch.

»Ein Grom würde mich sofort zum Helden machen, so ein Monster haben bisher erst drei Leute besiegt.«

Das Mädchen sprang auf. »Sag nicht, du wolltest Bobb töten!« »Wer ist Bobb?«

»Der Grom, der gestern hier war und geweint hat«, sagte Esyia.

»Wie der heißt, ist doch egal«, meinte Suriku keck. »Wenn ich ihn umhaue, nehmen die mich auf.«

Die Kleine spuckte verärgert den Rest ihrer Honigecke auf Surikus Bein.

»Ey!«, protestierte er.

»Niemand wird Bobb angreifen! Bobb ist im Dunkelwald sehr beliebt und außerdem ein Freund von mir! Er ist eh viel zu stark. Bis auf einen Meadon habe ich noch kein Wesen gesehen, dass sich getraut hätte, es mit Bobb aufzunehmen.«

Suriku war völlig überrascht. Damit hätte er jetzt nicht gerechnet. Esyia war mit so einem Monster befreundet. Unglaublich. Der Ho’ki versuchte das Mädchen wieder zu beruhigen:

»Ich habe doch nur gesagt, dass sie mich aufnehmen WÜRDEN, wenn ich ihn besiege. Ich lasse Bobb schon in Ruhe.«

»Das solltest du auch«, erwiderte die Kleine. »Die Einzigen, die mit Bobb Probleme haben, sind die Bäume.« Sie sah nach unten und suchte Surikus Hose nach der Honigecke ab. »Bobb kann seine Gefühle nicht gut kontrollieren. Wenn er wütend ist, und das ist oft, fängt er immer an zu randalieren.«

»Das habe ich gesehen«, sagte Suriku. Er erinnerte sich daran, wie der Riese den Ast weggeschleudert hatte. »Was wollte er eigentlich auf der Lichtung und warum hat er angefangen zu weinen?«

Esyia sprang von Surikus Bein hinunter und stand nun auf dem Boden vor ihm.

»Diese Lichtung ist eine Grabstätte«, sagte sie. »Bobb hat vor ein paar Monaten da seinen Gefährten begraben. Er hatte einen Wolf, der ihn immer begleitete. Bobb wurde damals von einem Meadon angegriffen. Ohne seinen Gefährten hätte er nicht überlebt. Der Wolf hat sich auf die Echse gestürzt, um Bobb zu helfen. Die hat ihn dann getötet. Bobb selbst war zwar verletzt, konnte aber entkommen.«

»Hmm…«, überlegte Suriku, »Bobb ist ein Riese, wieso vertreibt er keinen Meadon?«

»Weil ein Meadon noch zehn Mal größer ist als Bobb«, erläuterte Esyia und schüttelte wegen Surikus Unwissenheit den Kopf.

Oha, dachte der Ho’ki. Ein Grom ist ja schon ein furchterregendes Geschöpf. Wie muss dann erst diese Echse sein. Da wo er herkam, sah man höchstens mal kleinere Petaros vorbeifliegen. Bei dem Gedanken fiel ihm auf, dass es eigentlich Zeit war, weiterzuziehen. Er hatte sich lange genug aufgehalten. Suriku erhob sich und nahm seinen Speer. Sein Blick fiel hinunter auf die kleine Esyia. Irgendwie hatte er auf einmal das Gefühl, sie nicht allein lassen zu können.

»Wie groß bist du eigentlich?«, fragte er vorsichtig.

»Fast acht«, erwiderte sie und stemmte die Arme in die Hüften.

Suriku schmunzelte. »Acht was?«

»Hamsterpfoten«, erklärte Esyia. Dabei errötete sie leicht, denn sie schämte sich ein bisschen dafür, dass sie so klein war. Eine Hamsterpfote war in der Welt von Utvalin ungefähr ein Zentimeter.

Das Mädchen fing plötzlich an, ihren Rucksack zuzubinden. Offenbar wollte sie auch dieses Thema nicht weiter vertiefen.

»Wenn du raus willst aus dem Dunkelwald, musst du in diese Richtung gehen«, sagte sie und zeigte auf den Vollmond.

»Danke«, erwiderte Suriku.

Anstatt aber loszugehen, schaute er weiter hinunter auf das Mädchen und sie blickte fragend zu ihm auf. Sie erwartete, dass er sich jetzt aufmachte und sie verließ.

»Willst du nicht mitgehen?«, fragte Suriku plötzlich. »Wir könnten deine Art suchen. Ich wette, es gibt irgendwo noch welche wie dich.«

»Musst du nicht ehrenhafte Kämpfe machen?«, fragte Esyia überrascht, denn es war das erste Mal, dass ihr jemand helfen wollte, die Geheimnisse ihrer Herkunft zu lüften.

»Naja«, sagte Suriku, »da draußen gibt es viele Gefahren. Ich glaube, wir werden mehr Ärger mit Monstern haben, als uns lieb ist. Da werden schon genug Ehrentrophäen für mich rausspringen.«

Esyia mochte diese Einstellung eigentlich überhaupt nicht. Einfach rumrennen und irgendwas töten, was einem gar nichts getan hat, fand sie falsch. Der Gedanke aber, etwas über ihre Herkunft herauszubekommen, reizte sie sehr. Was wäre, wenn es irgendwo ein Dorf mit meinen Leuten gäbe?, dachte sie und war plötzlich ganz aufgeregt. Allerdings hatte sie den Dunkelwald noch kein einziges Mal verlassen, seit sie damals erwacht war. Hier kannte sie sich aus und war sicher. Außerdem hatte sie in den zwei Jahren auch einige Freunde gefunden, die ihr in der Not helfen würden.

Suriku bemerkte, dass Esyia Angst hatte. »Was hältst du davon, wenn wir Bobb mitnehmen?«, schlug er vor.

»Bobb?« Das Mädchen lachte. »Bobb ist ein Riese. Wenn der wütend wird, kann ihn keiner mehr halten. Das ist viel zu riskant.«

»Wir brauchen aber einen starken Schutz für dich«, sagte Suriku fachmännisch. »Ich als Mensch kann nicht dich und mich beschützen. Mit einem Riesen als Freund greift uns so schnell keiner an.«

Esyia überlegte. Bobb hatte ihr schon öfters geholfen. Aber er war aufbrausend und leicht erregbar. Die Bäume konnten ein Lied davon singen. Wenn sie aber tatsächlich etwas über ihre Vergangenheit herausbekommen wollte, war das vielleicht die einzige Chance. Sie war einfach zu klein und zu schwach, um sich selbst zu verteidigen. Auf den Grom konnte sie sich verlassen.

Die Kleine dachte noch eine Weile darüber nach, bis sie sich schließlich entschied, es zu wagen und mit dem Ho’ki mitzugehen. Die Vorstellung, andere wie sie zu treffen, war einfach zu verlockend.

So machten sich die beiden auf zu dem Riesen Bobb.

Im Randgebiet

Damit Esyia beim Gehen nicht zurückfiel, nahm Suriku die Kleine und setzte sie auf seinen Kopf. Er hatte die bei den Ho’kis übliche Krieger-Haartracht. In die langen, schwarzen Haare hatte er sich viele kleine Zöpfe hineingeflochten, die am Ende von dünnen Lederbändchen zusammengehalten wurden. Esyia lockerte zwei dieser Bänder, umwickelte ihre Beine damit und verschnürte sie mit den Zöpfchen. Zusätzlich nahm sie einen der Zöpfe in jede Hand.

»Wo wohnt Bobb?«, fragte Suriku während er mit ihr auf dem Kopf weiterging.

»Ich weiß es nicht genau«, sagte Esyia. »Er hat mir erzählt, dass seine Höhle Richtung Vollmond liegt.«

»Richtung Mond geht es doch aus dem Wald hinaus.«

»Ja«, erklärte das Mädchen. »Bobb wohnt nicht im Dunkelwald.«

Der Ho’ki bemerkte, dass die Kleine zitterte. Sie hatte Angst. Auch wenn er selbst nicht wusste, wie es war, einen furchteinflößenden Riesen bei sich zu haben, so war es doch wichtig, möglichst schnell zu Bobb zu kommen. Der würde die meisten Feinde schon allein wegen seines imposanten Aussehens abschrecken.

Nachdem die beiden etwa einen halben Tag lang durch den Wald gegangen waren und es bis dahin keine Zwischenfälle gegeben hatte, fiel Suriku plötzlich etwas auf: Es war sonderbar still. Außer seinen eigenen Schritten und dem ein oder anderen Kommentar von Esyia war fast nichts mehr zu hören. Es waren auch kaum noch Tiere und Pflanzen da. Das sonderbare Mondlicht des Dunkelwaldes sorgte eigentlich dafür, dass neben einigen Tierarten auch bestimmte Bäume und verschiedene Schattenpflanzen gediehen. Hier war jedoch alles kahl. Nur noch eine seltsam rostfarbene Erde war zu sehen. Die wenigen Bäume, die es noch gab, waren verformt und verschrumpelt. Ihre Blätter waren schwarz. Das muss der Randstreifen sein, dachte der Ho’ki. Offenbar waren sie im Begriff, den Wald zu verlassen. Auch das Mädchen hatte die Veränderungen bemerkt und sagte:

»Wir sind jetzt im Randbereich, Suriku. Hier müssen wir sehr vorsichtig sein.«

»Warum?«, fragte der Ho’ki.

»Viele, die das Grenzgebiet betreten haben, wurden nie mehr gesehen. Es heißt, hier würden Geister und Dämonen ihr Unwesen treiben.«

Instinktiv fasste Suriku an den Knauf seines Schwertes. Prüfend zog er es einige Zentimeter aus der Scheide und drückte es dann wieder zurück. Daraufhin sagte er:

»Bobb muss aber auch hier durch. Hat er denn keine Probleme damit?«

»Bobb spricht nicht viel«, erwiderte Esyia. »Ich glaube, er kommt nur zur Jagd in den Dunkelwald. Wie er den Randstreifen überwindet, weiß ich nicht.«

»Ich denke mal, wenn es hier Monster gibt, dann greifen sie ihn nicht an. Er wird ihnen zu mächtig sein.«

»Möglicherweise.«

Einige Augenblicke später – die beiden waren gerade erst einige Minuten im Randgebiet – hörten sie plötzlich ein Geräusch. Es kam von weit entfernt und war recht schwach. Die zwei blieben stehen und lauschten. Sie konnten nicht genau heraushören, um was es sich handelte, aber sie bemerkten, dass es lauter wurde. Irgendetwas kam auf sie zu. Nach und nach kam es näher, bis die beiden schließlich erkannten, was es war: ein Reiter.

Einige Meter vor ihnen lag der Stamm eines abgestorbenen Baumes. Suriku ging in die Hocke, bewegte sich hinüber und versteckte sich dahinter. Kurz darauf war der Fremde so nah an sie herangekommen, dass sie ihn genauer sehen konnten. Er war menschenähnlich und saß auf einem schwarzen Pferd. Ein langer Umhang umhüllte seinen Körper, der genauso schwarz war wie sein Rappe. Der Kopf war verborgen unter einer Kapuze. Das Gesicht konnte man nicht sehen. Aus den Ärmeln seiner schwarzen Robe heraus schauten weiße Finger, die die Zügel hielten. Ein Grauen überkam Suriku, als er erkannte, dass die Finger nur aus Skelettknochen bestanden. Ein Untoter, dachte er erschreckt.

Die Wiederkehrer, wie die Untoten auch genannt wurden, waren bei allen Lebenden gefürchtet. Sie galten als Gesandte des Todes. Es hieß, sie würden geschickt, um frische Seelen für das jenseitige Reich zu holen. Oft waren sie magiebegabt, was sie sehr mächtig und gefährlich machte. Warum sich dieser hier im Grenzbereich des Dunkelwaldes aufhielt, wusste der Ho’ki nicht, aber eines stand fest: Er war kein Freund.

Als der Untote etwa zwanzig Meter rechts von ihnen war, machte Suriku sich bereit, seinen Speer abzufeuern. Plötzlich bemerkte er jedoch, dass der Unhold sie nicht sah. Das schwarze Pferd galoppierte auf der anderen Seite des Baumstammes an ihnen vorbei und entfernte sich wieder. Nach und nach verschwand der Reiter wieder in der Dunkelheit, bis er schließlich nicht mehr zu sehen und zu hören war.

Erleichtert atmete der Ho’ki auf. »Er ist weg.«

Esyia, die sich tief in die Haare des Ho’ki geduckt hatte, meinte mit zittriger Stimme:

»Ein Wiederkehrer.«

»Ja«, sagte Suriku, »ich hab’s auch gesehen. Was will der hier?«

»Keine Ahnung, aber wenn uns so einer erwischt, ist es aus. Da wären mir sogar Geister und Dämonen noch lieber. Das sind böse Hexer.«

»Ich weiß«, erwiderte Suriku. »In unserem Dorf nennen wir sie Seelenernter. Lass uns so schnell wie möglich von hier verschwinden.«

Der Ho’ki stand auf. Er schaute noch einmal nach links und rechts und ging dann zügig vorwärts.

»Wann kommt die Grenze?«, fragte er.

»Immer weiter Richtung Vollmond. Es sind schon keine Bäume und Pflanzen mehr da, lange kann es nicht mehr dauern.«

Während sie weitergingen, sah das Mädchen immer wieder ängstlich zurück. Suriku ging davon aus, dass es bald soweit sein musste und beruhigte sich etwas. Plötzlich aber schrie Esyia laut auf:

»Da!«

Der Ho’ki wirbelte herum und das Blut gefror ihm in den Adern. Vor ihnen stand der Untote. Er hatte sie also doch bemerkt. Sein Pferd musste er zurückgelassen haben, denn er war allein. Der Wiederkehrer rührte sich nicht. Das Gesicht konnte man nach wie vor nicht erkennen und Suriku bezweifelte, dass er überhaupt eins hatte. Vor der Brust gefaltet hielt der Untote seine weißen Hände, ähnlich wie ein Mönch im Kloster. An ihnen hing eine Art Knochenkette herunter, die offenbar für bestimmte Zauber benutzt wurde. Alle Instinkte, die der Ho’ki besaß, sagten ihm, dass dieser Hexer ein tödlicher Feind war. Er wusste, dass er jetzt schnell handeln musste.

»Halt dich fest«, flüsterte er Esyia zu.

Suriku bewegte sich zunächst nicht und fixierte den oberen Körperbereich des Untoten. Die gefalteten Hände des Hexers waren seine Schwachstelle. Wenn er sie so in sich verschränkt zusammenhielt, konnte er die Arme nicht schnell genug einsetzen und ein Direktangriff zum Kopf war möglich. Als der Untote sich gerade bewegen wollte, reagierte der Ho’ki blitzschnell. Mit der rechten Hand zog er sein Schwert aus der Scheide, griff es zusätzlich mit der linken und schlug in einer schnellen Drehung um die eigene Achse zum Hals des Untoten. Seinen Speer ließ er einfach los, sodass er seitlich zu Boden fiel. Esyia hatte Mühe sich auf Surikus Kopf zu halten. Sie presste sich tief in seine Haare. Das zischende Geräusch während der Drehung, unterbrochen durch ein plötzliches Klatschen, signalisierten ihr aber, dass Suriku den Hexer getroffen haben musste. Als sie daraufhin aufschaute, wurde sie Zeuge eines schrecklichen Schauspiels: Der Kopf des Untoten war durch Surikus Schwerthieb abgetrennt worden und rollte über den Boden. Nach ein paar Sekunden stieß er an einen Stein und kam zum Stillstand. Aus der Kapuze heraus schaute nun der Schädel des Hexers. Er war von einer aschfahlen Haut bedeckt, aus der leblose, weiße Augen ohne Pupillen schauten. Direkt vor dem Ho’ki stand immer noch der Körper, allerdings ohne Kopf. Suriku wartete einen Moment, da er davon ausging, dass der Körper nun umkippen und zu Boden fallen würde. Das geschah aber nicht. Stattdessen hob der Untote langsam die Hände und führte sie weiter vor seinen Körper. Es sah so aus, als ob er einen unsichtbaren Ball halten würde.

»Er lebt noch!«, schrie Esyia.

Tatsächlich. Der Hexer war nicht besiegt. Langsam bewegte er seine knochigen Hände in einem leichten Rhythmus hin und her.

Nun geschah das Unfassbare. Der auf der Erde liegende Kopf des Untoten begann zu sprechen. Er formulierte unbekannte Wörter in einem sonderbaren Singsang, etwa wie ein Priester bei einer Messe. Suriku erkannte sofort, was da vor sich ging. Der Unhold begann einen Zauberspruch zu wirken. Es konnte sich nur noch um Augenblicke handeln, bis etwas Furchtbares mit den beiden passieren würde. Die Hände des Untoten fingen plötzlich an, bläulich zu leuchten und Suriku war klar, dass er reagieren musste. Er hielt sein Schwert, beidhändig gepackt, mit ausgestreckten Armen nach vorne, so dass es etwa auf den Bauchbereich des Hexers zeigte. Zwischen Klinge und Körper des Gegners war ein Abstand von ungefähr einem Meter. Plötzlich machte der Ho’ki einen Schritt nach vorne und zog die Klinge aus den Handgelenken heraus blitzschnell nach oben und wieder herunter. Die Aufwärtsbewegung des Schwertes trennte dem Untoten die rechte Hand ab, die Abwärtsbewegung die linke. Beide Hände fielen zu Boden und mit ihnen die sonderbare Knochenkette, die der Hexer in der Hand gehalten hatte. Der Gebetskranz wurde vom Schwung des Schwertes einige Meter nach links geschleudert, wo er liegen blieb und wie die Hände bläulich zu schimmern begann. Zu seinem Erschrecken musste Suriku aber feststellen, dass auch diese Attacke keine großen Auswirkungen auf den Unhold hatte. Die Zauberformeln wurden weiter gesprochen.

Das Singen des Kopfes hatte eine unheilvolle Wirkung, die Suriku und Esyia nicht bemerkten. Ein unsichtbarer Zauberkreis zog sich von außen langsam immer enger um die beiden und nahm sie in seiner Mitte gefangen. Wie auf einem starken Magneten wurden sie auf einmal darauf festgehalten. Der Hexer hatte sie nun im Griff und war in der Lage, schlimme Dinge mit ihnen anzustellen. Offenbar wollte er sie ersticken, denn die beiden fühlten plötzlich, dass sie nicht mehr atmen konnten. Suriku schnappte verzweifelt nach Luft und versuchte sich wegzubewegen, doch die Kraft des Gegners war zu stark.

Die knochigen Hände des Untoten fingen derweil an, sich zu bewegen und langsam auf dessen Körper zuzukriechen. Die Finger krabbelten wie Spinnenbeine über den Boden. An der Robe des Hexers angekommen, begannen sie, sich daran hochzuziehen. Sie schienen sich wieder mit den Armen vereinigen zu wollen. Auch der Kopf fing an sich zu bewegen. Er rollte langsam auf den Körper seines Herrn zu. Plötzlich machte die rechte Skeletthand jedoch Halt, so als ob sie sich etwas überlegt. Nach einigen Sekunden hangelte sie sich wieder abwärts und krabbelte zurück auf die Kette zu. Offenbar hatte der Hexer der Hand den Befehl gegeben, sie mitzunehmen. Das knöcherne Schmuckstück schien wichtig für ihn zu sein.

Einige Augenblicke später brach Suriku zusammen. Das Mädchen fiel von seinem Kopf herunter und landete auf der Erde. Auch sie war kurz davor gewesen, das Bewusstsein zu verlieren. Glücklicherweise befand sie sich jetzt außerhalb des magischen Felds, sodass sie wieder atmen und sich frei bewegen konnte. Sie schnappte nach Luft. Schnell kam sie wieder zu sich, allerdings lag sie nun genau vor dem Grenzer auf der Erde. Als die Hände des Untoten das kleine Wesen bemerkten, begannen sie sofort, auf es zuzukrabbeln. Die linke Hand hangelte sich wieder von der Robe herunter, während die rechte, die schon auf dem Weg zur Kette gewesen war, davon abließ und sich auch auf das Mädchen zubewegte. Esyia geriet in Panik. Sie rannte los und wollte den Händen auf der rechten Seite entkommen. Doch zu spät. Die linke Hand des Grenzers versperrte ihr den Weg. Sie hielt die knöchernen Finger gespreizt, so als ob sie etwas fangen wollte. Esyia drehte sich um und spurtete verzweifelt in die andere Richtung. Aber auch hier kam sie zu spät. Die andere Hand hinderte sie an der Flucht. Die Kleine wich zurück. Hinter ihr war der Zauberkreis, in den sie nicht erneut hineingeraten durfte. Plötzlich stolperte sie über etwas, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Es war der Knochenkranz, den die rechte Hand vergessen hatte. Esyia lag genau auf ihm. Zu ihrem Entsetzen bemerkte sie, dass die Kette des Untoten auch aus skelettartigen Fingern bestand, die plötzlich ebenfalls anfingen sich zu bewegen und sie greifen wollten. Angst und Ekel übermannten das Mädchen. Nun war es aus. Sie konnte nicht mehr entkommen.

Dann geschah jedoch etwas Eigenartiges. Vermutlich ausgelöst durch die Not, in der die Kleine sich befand, fing das Amulett, das sie um den Hals trug, an zu reagieren. Es wurde plötzlich warm und glühte in einem starken, rötlichen Licht. Als Esyia das bemerkte, zog sie es schnell hervor und ließ es außen vor ihrer Weste auf der Brust baumeln. Sofort erlosch das bläuliche Schimmern der Knochen. Auch die Bewegungen der Kettenfinger stoppten. Die Kleine drehte sich nach links und schaute nach der rechten Hand des Untoten. Zu ihrer Überraschung bewegte sie sich nicht weiter. Die linke Hand war ebenso regungslos. Esyia sah, dass anstelle der Hände nun sie mit ihrem Amulett leuchtete. Das rötliche Licht des Amuletts schien eine Art Gegenmagie zu der des Hexers zu sein.

Für eine endlos lange Minute geschah nun gar nichts. Das ängstliche Mädchen saß mit pochendem Herzen auf der grässlichen Knochenkette und der Hexer mitsamt seinen abgetrennten Gliedmaßen regte sich nicht.

Plötzlich aber zogen sich die Hände zurück. Sie krabbelten zum Rumpf des Untoten und hangelten sich an dessen Robe hoch. Die Hände drehten sich und vereinten sich wieder mit den Armen. Der Hexer nahm seinen Kopf vom Boden und setzte ihn sich auf. Mit weißen, toten Augen starrte er auf die Kleine. Das Abtrennen der Körperteile hatte ihm offenbar nichts ausgemacht. Dann bewegte er sich langsam rückwärts, drehte sich und ging schnell davon. Einige Augenblicke später hörte das Amulett auf zu glühen und mit ihm Esyia.

Die alte Dame

Im Hintergrund hörte das Mädchen, dass der Ho’ki wieder zu sich kam. Gott sei Dank, dachte sie. Sie drehte sich um und sah, wie er sich langsam aufrappelte und zu ihr hinüberschaute.

Als die Kraft des Amuletts die bläuliche Aura des Hexers unterdrückte, verlor auch der Zauberkreis seine Macht. Glücklicherweise war Suriku nur kurze Zeit ohne Sauerstoff gewesen, sodass er keinen ernsten Schaden genommen hatte. Er ging zu der Kleinen und kniete sich neben sie.

»Wo ist er hin?«

Esyia erzählte ihm, was sich ereignet hatte.

»Hmm…«, machte der Ho’ki. »Er hatte wohl Angst vor dem Amulett.«

Das Mädchen nahm die Halskette ab und betrachtete sie genauer. »Sieht ganz so aus. Ich habe mich schon oft gefragt, was diese seltsamen Zeichen und der Greif zu bedeuten haben. Vorne steht der Name drauf und auf der Rückseite ist der Kopf eines Adlers.«

»Vielleicht finden wir ja jemanden auf unserer Reise, der die Zeichen übersetzen kann«, sagte Suriku. »Möglicherweise kann das Medaillon noch mehr.«

Der Ho’ki konnte nicht wissen, wie Recht er mit dieser Vermutung hatte. Er hob das Mädchen wieder auf seinen Kopf und sie gingen weiter. Beide waren erschöpft und geschockt von der Begegnung mit dem Hexer. Trotzdem durften sie jetzt keine Zeit verlieren, der Randbereich war zu gefährlich.

Etwas später änderte sich die Umgebung erneut. Der Boden war nun vollständig schwarz. Die restlichen Bäume waren verschwunden und auch ansonsten wuchs nichts mehr. Nur der Mond schien noch. Er tauchte die Gegend in ein schwaches, gespenstisches Licht, das gerade noch so ausreichte, um etwas sehen zu können.

»Also ich kann nirgendwo ein Ende ausmachen«, sagte Suriku. »Wie weit geht das denn noch?«

Esyia überlegte einen Moment.

»Also ich glaube nicht, dass wir an ein Ende kommen, wenn wir einfach so weitergehen. Vor ein paar Monaten hat mir ein Kobold mal was von Portalen erzählt, die im Randbereich stehen sollen. Ich habe ihn nicht richtig verstanden, aber vielleicht sollten wir nach so einem Tor Ausschau halten.«

»Portale?«, sagte der Ho’ki skeptisch. »Das würde ja bedeuten, dass Bobb sich immer teleportiert, wenn er den Wald verlässt. Als Riese?«

Das Mädchen zuckte mit den Achseln. »Weiß nicht. Aber Bobb ist nicht dumm. Zutrauen würde ich es ihm.«

In der Tat. Es gab keine Möglichkeit, den Wald auf normalem Wege zu verlassen. Man konnte zwar ganz normal hineingehen, wie in jeden anderen Wald auch, aber hinaus kam man nicht mehr. Der Dunkelwald hatte eine Eigenschaft, die von erfahrenen Zauberern als »magische Raumspiegelung« bezeichnet wurde. Am Rand des Waldes kam man in einen Bereich, der bewirkte, dass man ohne es zu merken wieder genau dahin zurücklief, von wo man gekommen war. In den Tiefen eines solchen Raumes gab es keine Orientierung. Im Dunkelwald war zwar der Mond noch da, dieser stand nach einiger Zeit jedoch genau senkrecht über den Wesen und ging mit ihnen mit, sodass er keine Hilfe mehr darstellte. Nur durch die Benutzung eines Portals konnte man die Raumspiegelung überwinden. Diese Teleportations-Tore beförderten die Reisenden an einen bestimmten Ort in Utvalin. Das konnte überall sein. Allerdings brachte ein Portal einen immer an denselben Ort. Ein anderes Portal würde den Reisenden woandershin bringen. Oft, aber nicht immer, befand sich am Zielort kein entgegengesetztes Tor. In solch einem Fall konnte man dann auch nicht wieder zurück.

Die Menschen des Ho’ki-Stammes hatten sehr gute Augen und Suriku konnte auf ziemlich großer Entfernung noch Dinge erkennen, jedoch betrug die Sichtweite hier höchstens dreißig Meter. Den beiden blieb deshalb nichts anderes übrig, als so lange weiterzugehen, bis sie zufällig an ein Portal gelangten. Sie irrten dann auch noch eine halbe Ewigkeit in der Dunkelheit herum, bis der Ho’ki plötzlich nach links zeigte und sagte: »Da ist was.«

Sie gingen näher heran und sahen, dass es sich wirklich um eines dieser Tore handeln musste. Es konnte allerdings nicht natürlichen Ursprungs sein, soviel war sofort klar.

»Meine Güte«, sagte Suriku ehrfurchtsvoll. »Was ist denn das?« Erstaunt betrachtete er das riesige Konstrukt.

Das Portal war so groß, dass ein Wesen wie Bobb fünfmal übereinandergestapelt immer noch hindurchgepasst hätte. Die Konstruktion erinnerte in ihrer Form an einen aufgerichteten Kreis, der unten jedoch, wie bei einem umgestülpten U, offen war. Die Seiten mündeten am Boden in zwei nach außen gerichtete Fußsockel. Der Kreisbogen selbst war etwa einen Meter dick. Er bestand aus einem Material, dass die beiden nicht kannten. Überraschenderweise war der Rand an vielen Stellen von einer efeuartigen Pflanze überwuchert. Dieses seltsame Gewächs schien seine Nährstoffe aus dem Tor selbst zu erhalten. Der Boden war jedenfalls völlig unfruchtbar und auch das Licht war hier eigentlich zu schwach. Das Besondere an dem Portal war aber nicht der Rand. Innerhalb des Kreises befand sich ein dichter, gräulicher Nebelschleier, der den ganzen Zwischenraum ausfüllte. Er sah etwa so aus wie ein Strudel in Wolkenform. Der Nebelkreis drehte sich langsam um seinen Mittelpunkt entgegen des Uhrzeigersinns.

Die zwei gingen einmal um das Tor herum und stellten fest, dass es von beiden Seiten gleich aussah. In wie weit es einen Unterschied machte, von welcher Seite man hineinging, wussten sie nicht. Das Portal schien aber beidseitig begehbar zu sein. Suriku und Esyia entschlossen sich kurzerhand, in den Kreis einzutreten. Beiden war klar, dass sie im Randbereich nirgendwohin kommen würden. Außerdem wollten sie sich nicht noch länger hier aufhalten, denn mit Sicherheit würde schon bald der nächste Untote auftauchen, und vielleicht nicht allein. Der Ho’ki zögerte deshalb auch nicht lange und ging mit schnellen Schritten in das Tor hinein. Als er etwa mit der Hälfte seines Körpers im Nebel war, blitzte plötzlich ein helles Licht auf. Es ähnelte dem Blitzlicht einer Kamera, war aber wesentlich stärker. Die beiden konnten mit einem Mal nichts mehr sehen und fühlten sich so, als ob sie nach unten fallen würden. Dieser Zustand verschwand aber nach ein paar Sekunden wieder und sie befanden sich plötzlich in einer völlig neuen Umgebung.

»Wow«, sagte Esyia beeindruckt. Sie stellte fest, dass sie keine Verletzungen erlitten hatte und fragte Suriku, wie es ihm ergangen war. Auch der Ho’ki hatte die Portalreise unversehrt überstanden. Am Zielort war allerdings kein weiteres Tor. Zurück konnten sie somit nicht mehr.

Das Mädchen bemerkte auf einmal, dass ihre Halskette mit dem Anhänger heiß war. Sie leuchtete nicht, war aber erwärmt. Offenbar gab es für das Amulett während der Benutzung des Portals einen Grund, aktiv zu werden. Da die beiden sich jetzt jedoch erst einmal in der neuen Gegend zurechtfinden mussten, achtete sie nicht weiter darauf.

Die zwei schauten sich um. Im Gegensatz zum Dunkelwald war es hier heller Tag. Der Himmel strahlte in einem klaren Blau und weit und breit war kein Wölkchen zu sehen. Sie standen auf einer kleinen, runden Fläche mitten auf einer Wiese, die sich weit bis zum Horizont erstreckte. Unmittelbar vor ihnen befand sich ein kleiner Pfad. Er war mit Pflastersteinen ausgelegt und sollte Neuankömmlingen offenbar den Weg weisen. Die beiden beschlossen, ihn entlangzugehen.

Nachdem sie einige Zeit gelaufen waren, tauchte in der Ferne plötzlich ein kleines Haus auf. Es stand einsam und verlassen in der Gegend. Aus einem Schornstein auf dem Dach stieg sanft Rauch in die Höhe und alles schien ruhig und friedlich zu sein. Als die beiden näher herankamen, bemerkten sie, dass der gepflasterte Weg genau zur Tür des Häuschens führte. Den zweien war zwar nicht ganz wohl bei der Sache, aber sie wollten trotzdem herausfinden, wer dort wohnt und ob er ihnen vielleicht sagen konnte, wo der Riese war. Suriku trat deshalb mit Esyia auf dem Kopf vor den Eingang und klopfte an die Tür.

»Herein«, sagte von drinnen eine Stimme.

Der Ho’ki öffnete die Tür und die beiden betraten den Raum. Das ganze Häuschen bestand nur aus einem Zimmer. In dessen Mitte saß eine alte Dame an einem Tisch. Sie hatte vor sich eine Tasse Tee mit einer Kanne und einer Schale Kekse. Die Frau musste schon uralt sein, denn ihre Haare waren weiß und die Haut stark verrunzelt. Leicht vornübergebeugt saß sie auf ihrem Stuhl und hatte die Hände gefaltet auf den Tisch gelegt.

»Setzt euch«, sagte sie.

Suriku sah sich erst misstrauisch um. Dann nahm er Platz und setzte Esyia von seinem Kopf herunter vor sich auf den Tisch. Die beiden saßen der Frau gegenüber.

»Ich habe euch erwartet«, erklärte die alte Dame.

»So?«, wunderte sich Esyia. »Wir sind aber rein zufällig hier. Wir suchen einen Riesen namens Bobb, kennt Ihr den vielleicht?«

Die Alte guckte Esyia an und schmunzelte wohlwollend. »Zu mir kommt niemand zufällig, mein Kind. Die Vorsehung hat euch zu mir geführt. Es gibt einen wichtigen Grund, warum ihr die Chronistin besucht.«

»Die Chronistin?«, fragte Suriku.

»Ich bin die Zeugin der Zeit«, sagte die alte Frau. »Ich merke mir alle Ereignisse in Utvalin.«

»Wie soll das denn gehen?«, fragte der Ho’ki erneut. »Ihr müsstet ja überall gleichzeitig sein.«

»Alle wichtigen Geschehnisse sehe ich in meinem Tee«, antwortete die Alte mit völlig ernster Mine. »Ich weiß zum Beispiel, dass sich ein Schutz-Amulett der Valira vor Kurzem aktiviert hat und es im Besitz eines sehr kleinen Geschöpfes ist.« Ihre Augen ruhten auf dem Mädchen.

Esyia und Suriku schauten sich an. Beide waren verwundert, dass die Alte von dem Anhänger wusste. Sie beschlossen, der Frau erst einmal zu glauben und die Kleine fragte:

»Aus welchem wichtigen Grund sind wir denn hier und wer sind die Valira?«

Die Chronistin nippte an ihrem Tee. »Am besten fange ich ganz von vorne an. Ihr scheint ja vollkommen ahnungslos zu sein. Nehmt euch eine Tasse von der Anrichte, ich gieße euch etwas von meinem Tee ein.« Sie zeigte auf einen kleinen Tisch am hinteren Ende der Stube.

Suriku stand auf und ging hinüber. Er stellte überrascht fest, dass auch eine winzige Tasse für Esyia dabei war. Sie hat uns tatsächlich erwartet, dachte er. Er nahm eine Tasse für sich und die kleine für das Mädchen. Als er sich umdrehte, um zurück zu seinem Platz zu gehen, bemerkte er eine weiße Katze, die auf einem Stuhl schlief und behaglich vor sich hin schnurrte. Der Ho’ki setzte sich wieder, worauf die Alte, nachdem sie ihnen eingeschenkt hatte, mit ihrer Geschichte begann:

»Also«, sagte sie, »als die Kräfte der Schöpfung die Welt hervorbrachten, schufen sie am Abend eines jeden Schöpfungstages zwei magisch begabte Wesen. Jeweils ein männliches und ein weibliches. Die Erschaffung der Welt dauerte neun Tage, weshalb es am Ende achtzehn Wesen waren. Die Kräfte nannten die Welt Utvalin und die achtzehn Wesen Valira. Die Valira waren das erste Volk. Sie hatten die Aufgabe, die Welt mit ihren magischen Fähigkeiten zu beschützen und sie als Herrscher zu regieren.«

Die Alte hob die Schale mit den Keksen hoch und stellte sie weiter in die Mitte des Tischs. »Esst was von dem Gebäck.«

Suriku nahm sich einen Schokoladenkeks und teilte ihn in zwei Hälften. Dabei fielen einige Schokokrümel herunter, die er Esyia gab.

»Danke«, sagten die beiden höflich. Ihnen war mittlerweile klar, dass es sich bei der runzeligen Frau um eine wichtige Persönlichkeit handeln musste. Woher sollte sie sonst all diese Sachen wissen.

Die alte Dame erzählte weiter:

»Immer wenn etwas erschaffen wird, taucht aber auch ein Gegenteil davon auf. Wo Helligkeit ist, ist auch Dunkelheit, wo es Hitze gibt, gibt es auch Kälte, wo das Gute ist, ist auch das Böse. Genauso war es auch bei der Erschaffung von Utvalin. Es formierten sich Kräfte, die nur eines im Sinn hatten: Zerstörung, Unterdrückung und Leid. Die Valira konnten die Seite des Bösen allerdings immer wirksam bekämpfen und in Schach halten. Sie kämpften auch nicht allein, denn praktisch alle lebenden Wesen waren auf ihrer Seite. Die Mächte der Zerstörung entsprangen vor allem dem Reich des Todes. Untote Wiederkehrer und ihre Mutationen.«

Bei den letzten Worten verzog die Chronistin leicht die Mundwinkel. Man sah ihr an, dass sie diese Kreaturen verabscheute.

»Das Volk der Valira vermehrte sich im Laufe der Zeit, so wie es alle Völker tun, aber da sie immer an vorderster Front gegen die Untoten kämpfen mussten, blieben sie nur wenige. Die ständigen Verluste waren hoch. Vor drei Jahren ereignete sich dann aber etwas, was ganz Utvalin verändern sollte. Durch eine massive Bündelung schwarzer Magie wurde ein besonders mächtiges Wesen erschaffen, das den Kampf gegen die Seite der Schöpfung anführen sollte: Schattenpriester Satar.

Satar ist ein Untoter mit bisher nie dagewesenen Fähigkeiten. Er ist nicht nur ein extrem starker Frostmagier, er besitzt auch die Fähigkeiten von schwarzen Priestern, Hexenmeistern und Nekromanten. Jede Schule der dunklen Magie ist ihm bekannt. Zusätzlich dazu ist er auch ein hervorragender Stratege. Seine Schlauheit, mit der er die Heere der schwarzen Seite anführt, ist unübertroffen. In den ersten Monaten seiner Führung siegte er in einer Schlacht nach der anderen. Niemand konnte ihn aufhalten. Die Valira mit ihren Verbündeten waren geschockt. Sie mussten auf einmal feststellen, dass sie nicht stark genug waren, diesen mächtigen Priester zu bezwingen. Sie erkannten schnell, dass sie nur eine Möglichkeit hatten, Utvalin vor dem Untergang zu bewahren: Sie mussten ihrerseits alle magischen Energien bündeln und sie auf eine bestimmte Person übertragen. In einem heiligen und langwierigen Ritual gelang es den Valira dann auch, einem Wesen alle vorhandenen weiß-magischen Fähigkeiten zu vermitteln. Es handelte sich um eine junge, weibliche Valira, die aufgrund ihrer besonderen Begabung und ihres Mutes dafür ausgewählt wurde.

Ihr Name ist Esyia.

Die Reise beginnt

Was?«, rief Esyia aus.

Sie sprang auf und rannte hinüber zu der Alten. Dabei wachte die Katze, die bis dahin friedlich vor sich hin geschlummert hatte, auf und sah, wie das Mädchen über den Tisch lief. Die Kleine weckte den Jagdinstinkt des Stubentigers, der in ihr ein Beutetier sah, welches es einzufangen galt. Die Katze sprang hinunter von ihrem Stuhl und dann mit einem kräftigen Satz auf den Tisch. Sie wollte sich das Mädchen gerade greifen, als plötzlich etwas aufblitzte. Suriku hatte die Lage sofort erfasst und sein Schwert gezogen. Er hielt es hoch in die Luft in der festen Absicht, Esyia zu schützen und die Katze notfalls in kleine Teile zu zerhäckseln, falls sie zupacken sollte. Der Stahl der Klinge reflektierte das Licht der Kerzen, die in einem Holzkranz an der Decke hingen. Vor Schreck wollte die Katze nun kehrt machen, verlor aber auf der glatten Tischoberfläche den Halt und geriet ins Rutschen. Verzweifelt versuchte sie sich irgendwo festzukrallen, um nicht hinunterzufallen. Dabei erwischte sie mit der rechten Pfote die Schale mit den Schokokeksen und riss sie mit sich vom Tisch auf den Boden.

»Wolli!«, rief die Alte wütend. »Was machst du denn? Jetzt schau dir mal die Sauerei an!«

Das Gebäck lag überall verstreut auf dem Boden.

»Ab in dein Körbchen!«

Die Katze rannte zu ihrem Stuhl zurück und verkroch sich darunter. Sie guckte die Frau schuldbewusst an, konnte aber nicht umhin, immer wieder zu Esyia hinüberzuschauen.

»Keine Sorge«, sagte die Alte zu den beiden, »Wolli will nur spielen, der tut nichts.«

Suriku steckte seine Waffe weg und atmete erleichtert auf. »Ich musste das Schwert ziehen. Anders hätte ich die Katze nicht erreichen können.«

Auch Esyia war ein Schreck in die Glieder gefahren. Sie setzte sich wieder, diesmal auf der Seite der Alten und meinte:

»Um ein Haar hätten sie ihre Katze verloren.« Sie schaute zu Suriku, dem das Ganze peinlich war. Bevor er jedoch noch etwas sagen konnte, erklärte die Chronistin:

»Nein, nein, schon gut. Er hat eine sehr bedeutsame Mission zu erfüllen. Es ist seine Aufgabe, dich zu beschützten, solange du deine Kräfte noch nicht wiedererlangt hast.«

»Also ich bin wirklich die auserwählte Valira?«, wollte Esyia noch einmal genau wissen. Sie konnte nicht glauben, was ihr die Alte da erzählt hatte.

»Ja das bist du«, erwiderte diese. »Ich war allerdings mit meiner Geschichte noch nicht fertig (sie warf Wolli einen vorwurfsvollen Blick zu). Das Amulett um deinen Hals ist ein lebendiges Artefakt, welches im Ritual deiner Einweihung geschaffen wurde. Es hat bestimmte Fähigkeiten, die in erster Linie deinem Schutz dienen. Die Welt, in der ihr euch im Augenblick befindet, ist eine Zwischenwelt. Hierhin können nur Wesen gelangen, die den Segen der Schöpfer haben. Meine Aufgabe ist es, den Kräften des Lebens zu helfen. Das Portal, durch das ihr geschritten seid, führt normalerweise nicht zu mir. Dein Amulett hat den Zielort manipuliert. Es handelt sich dabei um einen geheimen Mechanismus, den die schwarze Seite nicht kennt.«

Suriku krabbelte derweil unter dem Tisch herum, um die Kekse einzusammeln. Als er wieder hoch kam, fragte er die Chronistin:

»Warum sind die Valira denn so klein? Wäre es nicht besser, wenn sie groß und stark wären?« Er schaute mitfühlend auf Esyia hinunter.

Die Alte lachte. »Stärke hat nur dann etwas mit Körpergröße zu tun, wenn die Wesen magisch unbegabt sind. Die Macht der Valira beruht auf Zauberkraft. Als Ursprungsvolk sind sie im Besitz aller weißen Magietalente. Zu ihren Fähigkeiten gehört zum Beispiel auch der Schamanismus, eine Zauberrichtung, die den Untoten nicht zur Verfügung steht.«

»Aha«, sagte der Ho’ki und nickte. Die Macht der Magie hatte er ja schon bei dem Hexer im Randbereich kennen gelernt. Ohne die Hilfe von Esyias Amulett wären sie jetzt nicht mehr am Leben.

Wolli hielt es mittlerweile nicht mehr unter dem Stuhl. Er wollte unbedingt die Kleine näher betrachten und setzte sich neben den Tisch auf seine Hinterpfoten. Die Chronistin schaute runter zu ihm und dann zu Esyia. »Der gibt jetzt solange keine Ruhe, bis er dich beschnuppert hat. Am besten setzt dein Freund dich mal hinunter zu ihm. Wolli ist ganz lieb.«

Das Mädchen hatte keine Angst vor der Katze, eigentlich vor gar keinen Tieren. Sie ließ sich von Suriku zu Wolli auf den Boden setzen. Das Tier streckte vorsichtig seinen Kopf vor und roch an Esyia. Die Katze sah kurz hoch zu der Alten, so als würde sie um Erlaubnis bitten, und leckte dem Mädchen dann mit der Zunge quer übers Gesicht.

»Bäh…«, machte Esyia und lachte.

Wolli empfand das als Einladung weiterzumachen. Er rieb seinen Kopf an dem Mädchen und schnurrte. Dabei drückte er die Kleine immer ein bisschen weiter zurück. Als er das bemerkte, legte er sich flach auf den Boden, rollte sich auf den Rücken und wollte gekrault werden. Esyia streichelte Wolli daraufhin über den Bauch, was dieser offenbar genoss. Er griff sich die Kleine mit beiden Vorderpfoten und zog sie von der einen Seite über sich hinüber auf die andere. Das Mädchen kicherte. Um die Katze zu necken, sprang sie auf und rannte weg. Wolli setzte ihr sofort nach und brachte sie durch einen sanften Hieb zu Fall. Er packte Esyia vorsichtig mit den Fangzähnen am Rücken und wollte sie zu seinem Körbchen bringen, so wie Katzen es mit ihren Jungtieren machen. Die Alte wollte das aber nicht erlauben und befahl Wolli aufzuhören: