Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik -  - E-Book

Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik E-Book

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Beschreibung

Ethik als die Suche nach der Begründung des Guten und des Gerechten ist Teil jeder Kultur; umgekehrt weisen auch Ethiken je unterschiedliche Kulturen ihrer Praxis auf. Die in diesem Band gesammelten Beiträge nehmen unterschiedliche Blickwinkel ein, ohne dabei die Verbindung zu anderen Perspektiven aus dem Blick zu verlieren. So bietet das Buch einen breiten Überblick über das Spektrum moderner ethischer Diskurse, von Grundfragen der Ethik über die Aspekte Politik, Religion, Gender, Körper, Technik, digitale Medien, Sicherheit bis Literatur. Bei aller Pluralität verbindet die Beiträge das Bemühen um eine Auseinandersetzung über Fachgrenzen hinweg und innerhalb der Diskussionsräume einer Gesellschaft, die sich immer wieder über ethische Orientierungen verständigen muss.

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Seitenzahl: 777

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Thomas Potthast / Cordula Brand

Eine Festschrift für Regina Ammicht Quinn

Herausgegeben von Thomas Potthast, Cordula Brand, Jessica Heesen, Birgit Kröber und Uta Müller

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-7720-0017-1

Inhalt

VorwortEthik in den Kulturen – Kulturen in der Ethik: Für Regina Ammicht QuinnGrundfragenBrauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung?1. Moralische Erfahrungen2. Inszenierung moralischer Bildung?3. Moralische Übungen für eine gefestigte autonome Ethik?4. Moralische und religiöse BildungLiteraturEthik und WeltkontaktLiteraturWas bedeutet Ethik ‚in‘ den Wissenschaften? Möglichkeiten zur Auflösung einer räumlichen MetapherLiteraturDie Freiheit, etwas tun zu müssen – zum Zusammenhang von Selbstbestimmung und praktischer Normativität bei HegelEinleitungFreiheit als selbstbezügliche SelbstbestimmungSelbstbezügliche Selbstbestimmung als praktische NormativitätFreiheit, Motivation und VerpflichtungLiteraturSkepsis als PassionI.II. Als das Zweifeln noch geholfen hatIII. Codes und VariationenIV. Erfolge und MisserfolgeV. Skepsis als Populismus: vom Behagen an ResignationVI. Unfreiwillige SkepsisLiteraturSubalterne Urteilskraft und „Gerechtigkeit von unten“Gemeinheiten von untenGerechtigkeit als politische MachtReflektierendes UrteilsvermögenAusschluss subalternes UrteilsvermögenGerechtigkeit von untenLiteraturPolitikDas Ethische und das Politische – Konturen einer (un-)möglichen Konstellation1. Einleitung2. Der Stachel der Ethik3. Die Politik und/oder das Politische?4. Drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen5. Beispiel „Flüchtlingskrise“ aus ethisch-politischer Sicht – ein notwendiger Widerstreit6. FazitLiteraturGesinnung oder Verantwortung. Zu einer irreführenden Alternative in der MigrationsethikLiteraturRecht- und Weltlosigkeit auf dem Mittelmeer? Zur Aktualität von Hannah Arendts Analyse der StaatenlosigkeitHannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit: Die Recht- und Weltlosigkeit der StaatenlosenDie Rechtlosigkeit der StaatenlosenArendts Begriffe „Welt“ und „Weltlosigkeit“Die Weltlosigkeit der Staatenlosen‘Bootsflüchtlinge’ im Mittelmeer – die Arendtschen Staatenlosen des 21. JahrhundertsLiteraturDas „Mädchen aus dem Main“ – Spuren eines weggeworfenen LebensLiteraturIm Dialog – Begleitung der Organisationsentwicklung des Oberschulamts Tübingen durch Frau Prof. Dr. Regina Ammicht QuinnLiteraturWasserethik als KulturethikEinleitungWasserethikDie kulturethische Perspektive von Regina Ammicht QuinnWasserethik als KulturethikLiteraturÖkonomie der Information – Der Wandel der Welt und die Suche nach einer „sozialen Ökonomie“I. Die Ökonomie der Information und der Wandel der WeltDie „Digitale Revolution der Kommunikation“Die „Welt als Dorf“ und die Entstehung einer kollektiven IdentitätDas Verschmelzen von Raum und ZeitEin neues Verständnis von Mensch und MaschineII. Europa und die Suche nach einer „Sozialen Ökonomie“Was ist „sozial“ und was ist eine „soziale Ökonomie“?Europa und die Wirtschaft der ZukunftGlobalisierte Wirtschaft und globales EthosLiteraturReligionIn „neuen Gegenden“ – Theologie in Zeiten des KapitalismusI. In RuinenII. Der doppelte KontinuitätsbruchIII. Wo sind wir?IV. Fragen, die sich stellenLiteratur„Erwart dir viel!“ – Religion als Horizont der Ethik1. Die Gegenwartskultur als „post-säkulare“2. Glaubenstraditionen als éducation sentimentale3. SchlussfolgerungenLiteraturJenseits des Moralischen. Über Religion in ästhetischer FormEine kleine TypologieDie Grenzen der MoralÄsthetische BewohnbarkeitInkarnation reloadedEntrückungsszenarienMelancholische ApokalypseZwischenaufenthalt im Reich GottesTaub-stummes BetenLiteraturReligion und FreiheitLiteraturGenderMaterial Spirituality – Spiritual Materialism: Women and the Problem of MatterInto the ArkFeminism and the Materialization of the DivineDivine Matter: A Feminist Invention?LiteraturMarriage, Sex, and Ethics in Ursula K. Le Guin’s “Unchosen Love” and “Mountain Ways”References„Not Doing Gender“ – Über ein verwaistes Feld in der zivilen SicherheitsforschungLiteraturGrund zur Sorge – Genderfragen im Feld der Care-ArbeitI.II.III.IV.V.LiteraturKörperThe Role of Physical Experience for Ethical Decisions1. Summary2. Moral judgement and motivation3. The Challenges of Internalism4. Internalism and Cognitivist Theory5. The Role of DesiresReferencesSchmerzgrenzeLiteraturHito no seimei no hōga, oder: vom Respekt vor dem PotenzialSprout of human life – Ursprung und IdeeSprossen im Raum der MöglichkeitenPotenzial und SorgfaltLiteraturHirntodverständnis und Bereitschaft zur OrganspendeEinleitungMoralische RechteSubjektive Betrachtung des TodesGesellschaftliche Festlegung einer TodesdefinitionNachdenken über Organspende als moralische AufgabeErweiterte Zustimmungslösung als guter Kompromiss?Voraussetzungen eines Aufrufs zur OrganspendeUnabhängige Struktur der ergebnisoffenen Information und BeratungEthik in Aus- und Weiterbildung von Ärzt(inn)en und PflegekräftenLiteraturDie medizinische Re-Konstruktion von Körpern im Zusammenspiel mit der Technik der klinischen EndoskopieDie Zurichtung der KörperAusquartierungFolgen der AusquartierungVerschaltung und räumliche VerteilungAnforderungen an die PatientInnenkörperFazitLiteraturLeib und Körper im Scanner – Zur Sicherheit eine kurze Anthropologie, Phänomenologie und Ethik von Körperscannern1. Zur Einführung2. Leib und Körper in Anthropologie und PhänomenologieKörperscanner oder Leibscanner?LiteraturTechnikKönnen wir einem Roboter verzeihen?Einleitung1. Verzeihen2. Vergebung als Bedingung von Verantwortung3. Vergebung als Lackmus-Test der Mensch-Maschine Beziehung4. Großmut im Umgang mit Robotern5. Zusammenfassung und AusblickLiteraturSocial freezing – Eine neue Technologie und die Herausforderungen der ModerneGeringe ErfolgsquotenVerfügen und verfügt werden durch Technologie: die Ambivalenz der ModerneSocial freezing als Angebot des ArbeitgebersWie sich „nicht-technische“ Aspekte vermutlich nicht in die Technikentwicklung „integrieren“ lassen – Eine BildergeschichteVage, mit Ansprüchen überladene IntegrationsbegriffeBilder von interdisziplinärer IntegrationInterdisziplinäre Integration als buntes ZahnradgetriebeAuf der Suche nach weniger idealistischen Bildern interdisziplinärer WissensproduktionLiteraturDigitalesÜber die Kultur im Zeitalter ihrer digitalen ReproduzierbarkeitKultur digitalWas ist wertvolle Kultur?LiteraturSchaut in die Cloud – Ein Plädoyer für eine eingehendere ethisch/politische Beschäftigung mit der CloudWas ist die Cloud?Cloud verschleiertCloud ermöglichtCloud schränkt einSchlussLiteraturInformation Privacy: Ethics and AccountabilityIntroduction: The Emergence of Ethics in Information PrivacyMoving Closer to Ethics-Based Accountability PracticeWhat is ‘Accountability’?ReferencesSmart Lawyers for Smart FuturesIntroductionI The regulatory environmentII Technological instruments as part of the regulatory environmentIII The complexion of the regulatory environmentIV Understanding and dealing with pluralismV Facilitating good governanceVI Understanding why some regulatory interventions failVII Understanding the tensions and trade-offs implicit in generic regulatory purposesVIII ConclusionReferencesSicherheitTechnologie, Moral, Intervention: Sicherheitsethik als öffentliche IntellektualitätLiteraturWhen Samurai meet Judith Butler – Reflections on the Value of InsecurityReferencesZur normativen Dimension des Konzepts der ResilienzEinleitungDie ResilienzperspektiveResilienz als Thema des SicherheitsdiskursesNormative Fragen der ResilienzperspektiveCodaLiteraturEine Prise Nachhaltigkeit bitte! Strategien zur Vorsorge eines gesellschaftlichen Burn-Out durch das Streben nach vollkommener SicherheitBurn-Out Tendenzen im SicherheitsstrebenNachhaltige Entwicklung und Burn-Out PräventionEffizienz – Umgang mit den eigenen RessourcenResilienz – Wertschätzung der eigenen Fähigkeiten und Stärkung des MiteinandersSuffizienz – Umdenken und maßvolle ZieleDas Potenzial Nachhaltiger Entwicklung für den SicherheitsdiskursLiteraturDas Liebesschloss: Zwischen ewiger Liebe, Gefängnis und der Suche nach Sicherheit in KrisenzeitenRomantische Liebe und öffentliche IntimitätEigentumsverhältnisPopularisierung und Prekarisierung der romantischen LiebeLiteraturLiteraturWissenschaft und Ethik – Mit den Augen eines Affen gesehen. Ein BerichtEinleitungSpiegelungen (I)Der Mensch (in) der Natur. Eine Geschichte (I)Der Mensch (in) der Zivilisation. Eine Geschichte (II)Spiegelungen (II)LiteraturDie Indienbilder deutscher DenkerLiteraturZur Dialektik von Ethik und Liebe in der Lyrik eines am 10. Februar geborenen Menschen oder: Mutmaßungen über die Angst vor RegentropfenDas Datum des Geburtstags ...Autor_innenverzeichnisSchriftenverzeichnis (Auswahl) Regina Ammicht Quinn1. Monographien2. Herausgeberschaften3. Reihenherausgeberschaften4. Beiträge in Büchern und Zeitschriften

Vorwort

Ethik in den Kulturen – Kulturen in der Ethik: Für Regina Ammicht Quinn

Thomas Potthast und Vera Hemleben

Eine Festschrift drückt die Kultur akademischen Wertschätzens aus – zugleich scheint das Format inzwischen geradezu aus der Zeit gefallen. Doch nicht alles antiquiert Anmutende gehört notwendig zum zurecht an den Universitäten ausgetriebenen Muff von tausend Jahren. Mag die Ära des „Lehrstuhlinhabers“ (singulare masculinum tantum) inzwischen sogar laut Hochschulgesetz in Baden-Württemberg offiziell als beendet erklärt worden sein – eine ausgewiesene Forscherin und Universitätslehrerin mit einer Festschrift zu ehren, ist uns gerne Anlass genug. Und dass eine Festschrift als sogenannter Sammelband in den emsigen und machtförmigen Zählwerken von peer reviewed zumeist als nicht existent gilt, selbst wenn peers dabei gutachten, ist uns eher Ansporn als Hemmnis.

 

Regina Ammicht Quinn wurde am 10. Februar 1957 in Stuttgart geboren und ging dort zur Schule. In Tübingen studierte sie Katholische Theologie und Germanistik, absolvierte später Referendariat und Schuldienst, wohnte und arbeitete einige Zeit in Köln. Ihre Dissertation schrieb sie zur Ethik der Theodizeefrage, einem der fundamentalsten Themen nicht nur der Theologie; in säkularer Form sucht die politische Ethik nach Möglichkeiten und Ausdruck einer Ethik in der Politik in der Moderne, die von Zivilisationsbrüchen heimgesucht ist. Gerade solche notorisch schwierigen Themen haben Regina Ammicht Quinn stets um- und angetrieben. Dies gilt ebenso für die Habilitation zur Ethik der Geschlechter mit Blick auf Körper, Religion und Sexualität.1 Diese Schrift macht, neben vielen anderen wichtigen Aspekten, einen Vorschlag zum Thema Körper, der quer zur etablierten Sichtweise der Anthropologie(n) steht, und die den aktuellen Diskurs um Körperlichkeit und Verkörperung ausgesprochen herausfordert. Zumeist gilt: Menschen sind ein Leib und haben einen Körper, wie Helmuth Plessner es prägnant ausdrückte. Diese letztlich dualistische Trennung von Körper und Leib mit ihren metaphysischen, moralphilosophischen und geschlechterpolitischen Implikationen ist allerdings nicht ohne Kritik geblieben: Es sei auch möglich, ja nötig, so Regina Ammicht Quinn, die mit dem Leib assoziierten Aspekte innerhalb des Körperbegriffs zu verhandeln und nicht begrifflich abzuspalten.

Die Ethik einer sehr speziellen Wissenschaftskultur der Theologie im Zeichen des Staatskirchenvertrags musste Regina Ammicht Quinn dann anlässlich mehrerer Berufungsverfahren auf einen Lehrstuhl für Katholische Theologie/Sozialethik erleben. Berufungen scheiterten, allerdings keinesfalls an der fachlichen Qualität, was zwei erste Listenplätze beweisen, sondern an der Verweigerung der Zustimmung (nihil obstat) der Römischen Kurie in der Vertretung durch den jeweils zuständigen Bischof.

Nicht allein, doch auch aufgrund dieser unerfreulichen Entwicklungen verdanken wir geradezu als List der (Mikro)Geschichte, dass Regina Ammicht Quinn mit einem Umweg über das Baden-Württembergische Kultusministerium bzw. das Oberschulamt im Jahr 1999 ans Tübinger Ethikzentrum gelangte. Zunächst forschte sie im Bereich der Ethik (in) der schulischen Bildung, förderte den Ausbau der Verbindungen zwischen Schule und Hochschule ebenso wie die ethische Weiterbildung von Lehrer_innen. 2006 begann sie, den Arbeitsbereich Ethik und Kultur aufzubauen, der insbesondere mit dem Forschungsschwerpunkt Sicherheitsethik zu einer der tragenden Säulen des Ethikzentrums geworden ist. Die Verbindung von technikethischen mit kulturphilosophischen Aspekten hat sich als ausgesprochen produktiv erwiesen, um die Ethik in den Wissenschaften für den politisch und lebenspraktisch immer bedeutsamer werdenden Bereich „Sicherheit“ weiterzuentwickeln. Die Analyse von Diversität und kultureller ebenso wie körperbezogener Alterität – zuweilen geradezu Alientität – hat hier Maßstäbe der Reflexion auf und Entwicklung von Technik in der Gesellschaft gesetzt. Kultur- und Sozialwissenschaften im festen Kreis von Disziplinen und entsprechenden Kolleg_innen für die Tübinger Ethik in den Wissenschaften verankert zu haben, verdanken wir Regina Ammicht Quinns Impulsen und Projekten.

Von Februar 2010 bis Mai 2011 übernahm sie zudem – im wahrsten Wortsinne ehrenamtlich – das Amt der „Staatsrätin für interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie gesellschaftliche Werteentwicklung“ als parteiloses Mitglied der Landesregierung von Baden-Württemberg. In diesem politisch anspruchsvollen und durchaus heiklen Bereich hat sie neue Akzente mit Bezug auf die Ethik der Kulturen gesetzt und zugleich eine kritische ebenso wie wertschätzende Kultur der Ethik im politischen Raum vertreten.

Das Thema kultureller Vielfalt hat an der Universität Tübingen mit tatkräftiger Unterstützung von Regina Ammicht Quinn eine institutionelle Verankerung erfahren. 2013 wurde das „Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung“ gegründet, das sie seither in einer programmatisch zu verstehenden kollegialen ‚Doppelspitze‘ zusammen mit Ingrid Hotz-Davies leitet.

Parallel zu diesen Aufgaben erfolgte die Arbeit im Leitungsgremium des Ethikzentrums. Seit 2010 im Vorstand, wurde sie Ende 2014 Sprecherin des IZEW, wiederum gemeinsam, hier mit Thomas Potthast. Die Freude und die Herausforderungen, mit und in einem Team von über 50 klugen, engagierten und positiv eigen-sinnigen Menschen zu arbeiten, gelingt ihr in vorbildlicher Weise.

Als Theologin und Kulturwissenschaftlerin wirkte Regina Ammicht Quinn viele Jahre als Mitglied des Direktionsgremiums der Internationalen Theologischen Zeitschrift „Concilium“. Ihre ethische Expertise bringt sie neben ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit auch im forschungspolitischen Raum ein, so als Mitglied des Bildungsrates des Landes Baden-Württemberg (Legislaturperiode 2001–2006) und derzeit als Mitglied des Wissenschaftlichen Programmausschusses Sicherheitsforschung (Bundesforschungsministerium BMBF; Beratung der Bundesregierung in Fragen der Sicherheitsforschung) sowie in zivilgesellschaftlichen Bereichen wie dem Wissenschaftlichen Beirat des Vereins Intersexuelle Menschen e.V.. Das Tübinger Programm einer Ethik in den Wissenschaften, so lässt sich zusammenfassen, verdankt Regina Ammicht Quinn eine konsequente Öffnung in neue Themengebiete und transdisziplinäre Erweiterung im Wechselspiel von akademischer Forschung, Politik und Zivilgesellschaft.

 

Die vorliegende Festschrift umfasst einen bunten Strauß des Dankes an Regina Ammicht Quinn, der Beiträge aus dem reichhaltigen Spektrum ihrer Arbeitsfelder versammelt.2 Es liegt in der Natur – oder wohl eher: Kultur – der Dinge, dass Schubladen-Kategorisierungen oftmals nicht recht passen wollen. Bevor wir aber die Beiträge schlicht alphabetisch oder nach Geburtsdatum oder anderem Kontingenten aufreihen, haben wir nach Perspektiven geordnet, die alle eine bedeutsame Rolle in Regina Ammicht Quinns akademischem Wirken spielen. In der ersten Sektion werden „Grundfragen“ der Ethik und der Ethik in den Wissenschaften adressiert. Der Übergang zur nächsten Sektion „Politik“ ist selbstverständlich fließend, denn wo gäbe es Themen der Politik, die nicht auch Fragen der Ethik beträfen. Ähnlich sieht die Verbindung zur Sektion „Religion“ aus, die nicht abgegrenzt steht, sondern mitten zwischen der Politik und den Folgesektionen „Gender“ sowie „Körper“. „Technik“, „Digitales“ und „Sicherheit“ hängen nicht nur miteinander, sondern auch mit den davorstehenden Sektionen zusammen, und schließlich ist die „Literatur“ als Perspektive ein Zugang zu den großen Themen der Ethik, Politik, ja der Kulturen insgesamt. Die Beiträge sind mehr oder weniger sichtbar subjektiv ausgeführt, doch stets mit dem Anspruch intersubjektiver Verständigung über wichtige Themen. Stil, Umfang, Zugangsweise und im weiten Sinne politische Positionierung sind dabei vielfältig, gegebenenfalls auch widerständig und widersprüchlich. Eben genau so, wie sich das Feld der Ethik in den Kulturen und der Kulturen in der Ethik eröffnet.

Wir wünschen Regina Ammicht Quinn alles erdenklich Beste zum Geburtstag, ihr und allen Leser_innen viele Anregungen bei der Lektüre. Vor allem aber übermitteln wir der Jubilarin unseren herzlichsten Dank für unermüdliches Engagement und damit verbundenen grandiosem wissenschaftlichen Erfolg, für wissenschaftliche sowie politische Inspiration und – ganz zuletzt und ganz besonders – akademische und persönliche Freundschaft. Ad multos annos!

 

Thomas Potthast und Vera Hemleben

 

im Namen der Herausgeber_innen

und aller Mitglieder des Tübinger Ethikzentrums

Grundfragen

Brauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung?1

Dietmar Mieth

Vermutlich würden viele, die Ethik nicht professionell betreiben, spontan diese Frage mit „Ja“ beantworten. Es ist aber auch zu vermuten, dass professionelle Ethiker und Ethikerinnen einer Distinktion zwischen moralischer Bildung, die vorteilhaft sein könne, aber nicht zum ethischen Erkennen notwendig sei, bestehen. Denn es könne doch nicht um persönliche Vorbildlichkeit als Legitimation der richtigen Erkenntnisse und Urteile gehen. Sonst wäre ja der gute Ruf, die moralische Vorbildlichkeit, wichtiger als die Argumentation des Experten. Der Experte, die Expertin sollten zwar „periti“ sein, aber dies doch eher durch die wiederholte Aneignung schlüssiger Argumentationsketten. Wir messen ja auch einen Arzt nicht daran, welche Krankheiten er selbst mit den geeigneten Mitteln überstanden hat. Oder daran, ob er selber raucht, wenn er vom Rauchen abrät. Der Experte, die Expertin sind professionell aufgestellte „Wegweiser“, die von sich weg auf den Weg weisen.

Andererseits: Vielleicht ist die Frage nach moralischer Bildung des Ethik-Akteurs bzw. der -Akteurin ähnlich wie die Betrachtung des unterschiedlichen Könnens bzw. der Kreativität bei Künstlern und Kunsttheoretikern? Vielleicht unterscheidet sich das, was Kant „Urteilskraft“ nennt, von dem, was er „vernünftige Begründung“ nennt. Hannah Ahrendt hat sich darauf bezogen. Vielleicht ist ein Moralphilosoph wie Paul Ricoeur (1995) wegen dieses Unterschiedes anders aufgestellt als die Vertreter der rein begriffsanalytischen Methoden in der Philosophischen Ethik?2 Kann der eingangs anvisierte Unterschied zwischen einer engagierten, aber nicht-professionellen Orientierung in der Moral einerseits und dem bestrittenen Anspruch auf Vorbildlichkeit in der professionellen Ethik andererseits auf sich beruhen? Das wäre dann der Unterschied zwischen gelebter moralischer Orientierung, die sich gelegentlich als Empörung einmischt, und emotionsloser Rationalität im wissenschaftlichen Ethik-Diskurs.

Oder beunruhigt diese Unterscheidung nicht gerade dadurch, dass sie persönliche Moral und professionelle Ethik auseinanderhält? Um uns damit auseinanderzusetzen, müssen wir zunächst fragen, was moralische Bildung überhaupt ist und was wir von ihr erwarten können. „Bildung“ ist ein Begriff, der auf eine deutsche Insel zu führen scheint, weil er in umliegenden Sprachgewässern (englisch, französisch) nicht vorkommt, sondern dort unter „education“ fällt, ein Wort, dass die historischen Eigenheiten des Wortes „Bildung“ (religiöse, humanistische und klassische Eigenheiten) nicht so ohne Weiteres in sich aufnehmen kann. Schauen wir also zuerst (1) auf das, was „Bildung“ im Erbe trägt und was Bildung als die Herausbildung moralischer Erfahrenheit beinhaltet. Dann (2) sehen wir uns an, was als elementarer Aufbau moralischer Bildung betrachtet und bewusst inszeniert werden kann. Dann fragen wir uns (3), was bestimmte Übungen und Habitualisierungen für die professionelle Arbeit an der Ethik bringen könnten.

Das Wort „Bildung“ wurde von Meister Eckhart (1260–1328) für die deutsche Begriffssprache geprägt (siehe Mieth 2015: 55–82). Die Sprache der „Bildung“ war zunächst eine zutiefst religiöse Sprache. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis wir in einer säkularisierten Welt diesen Klang nicht mehr hören, wenn wir „Bildung“ sagen. Wenn wir im Zeitalter Goethes oder mit dem Universitätsreformer Wilhelm von Humboldt von „Bildung“ sprechen, dann haben wir das Ideal eines vielseitig geformten und mit breiter Kulturkompetenz ausgestatteten Menschen. Noch in meiner Studienzeit war es für Bildungshungrige selbstverständlich, dass man Lehrveranstaltungen nicht nur fachbezogen besuchte, sondern um sich ganz allgemein zu bilden. „Bildung“ erschien hier als anzustrebendes Persönlichkeitsmerkmal, für das man das schulische Reifezeugnis erhielt und darauf das akademische Examen aufbaute. „Akademisch“ erinnerte hier, zumal alle künftigen Lehrer ein philosophisches Examen brauchten, noch an die Akademie Platons. Von diesem Bildungsideal haben sich Schule und Hochschule heute entfernt. Das Wort „Bildung“ gibt es mit dieser Bedeutung und mit dieser Tradition weiterhin nur in der deutschen Sprache. „Education“ im Englischen und Französischen geben das mit „Bildung“ Gemeinte nicht wieder, sondern in diesem Wort tendiert alles zur Ausbildung von Fachlichkeit und zum Erwerb von Kompetenzen. Das Wort „Bildung“ hat zwar im Deutschen weiterhin einen Beiklang, der über „Ausbildung“ und „Erziehung“ hinaus zielt, aber die Realität, in der wirtschaftliche Sachzwänge und Job-Bedürfnisse Vorrang haben, macht aus der „Bildung“ immer mehr Erlernen von Wissen und Kompetenzen und führt den Gebrauch des Wortes „Bildung“ immer mehr an die theoretische und praktische Ausbildung heran. In diesem Sinne geschieht auch Bildung m Universitätsfach „Ethik“, auch wenn dessen Zuordnung zu den Fakultäten offen ist. (Das sehen Schmalspur-Philosophen allerdings nicht ein.) M.E. hat Bildung als Prozess vor allem mit der Herausbildung von Erfahrenheit zu tun.

1.Moralische Erfahrungen

Bildung ist, um es kurz zu pointieren, der Weg von der Erfahrung zur Erfahrenheit. Erfahrung darf man damit nicht im Sinne der Sammlung von Erlebnissen verstehen. Das englische „experience“ ist in diesem Sinne meist missdeutbar („make the experience“). Erfahrung in dem hier gemeinten Sinne kommt zustande, indem ein (erlebtes) Ereignis erst dadurch zur Erfahrung wird, dass man 1. es hervorhebt, indem man es erinnert, 2. es sich erzählt und ihm damit eine weiter erzählbare Form gibt, 3. die Erzählung für sich selbst und meist auch für andere wiederholt, 4. Reaktionen auf die Erzählung einfügt oder abwehrt, 5. dieser Erfahrung eine moralische Bedeutung gibt, 6. durch die Iterität des Erzählens – nach außen und/oder nur nach innen – und durch die Prägnanz der Bedeutung, die dabei gestärkt wird, rückwirkend die moralische Identität und Kompetenz stützt oder verändert.

Unsere ersten moralischen Erfahrungen sind familiär. Durch Erinnerung verstärkt, ergreifen sie uns erst voll, wenn wir sie nicht mehr unmittelbar in der Begegnung mit anderen Menschen machen können. Die Erinnerung verschärft eine Anwesenheit, die im Leben zu schwach und zu wenig aufdringlich war:

Nicht alle Menschen haben die gleichen Erlebnisse, die durch wiederholte Erinnerung, durch Selbsterzählung in der Aneignung mit Worten, die uns bedrängen, bei uns als bleibende Erfahrung ankommen. Das eigene Tun und das eigene Selbst getrennt zu sehen, sind wir gewohnt, ohne es so recht zu bemerken. Dadurch treten wir in Spannung zu unserem Tun, distanzieren uns, kehren zu uns zurück, uns bejahend und verneinend, uns bestätigend oder bereuend. Diese Erfahrung mit uns selbst ist eine moralische Erfahrung. Eine überlegte Selbstdistanz ermöglicht den Blick auf Gut und Böse, auf Richtig und Falsch, auf die grundlegenden moralischen Entscheidungen. Unser Ziel ist dabei, die Selbstachtung aufrechtzuerhalten, auch unter ungünstigen Bedingungen den Maximen, die wir für richtig halten, zu folgen.

Die moralische Erfahrung kann auch eine Gotteserfahrung sein. Gott ist der Ort unserer stärksten Bindung, die Abhängigkeit, ohne die wir nicht frei zu fühlen glauben, die Geborgenheit, die wir uns als Herkunft und Ziel wünschen. Die Gotteserfahrung steht dann im Zusammenhang mit der Erfahrung der moralischen. Verantwortung, die sich an der Unausweichlichkeit des anderen und/oder an der Selbstachtung orientiert Denn Gott ist eingebunden in die Frage, die der andere an uns in der Endlichkeit und Begrenztheit seines Lebens stellt. Die Frage „Wo ist Gott?“ wird beantwortet: im Antlitz des anderen, und zwar in dessen leiblich begrenzten, individuellen Antlitz, wo Barmherzigkeit gefordert ist und wo Gerechtigkeit geschuldet ist. Sie wird aber auch beantwortet durch die Erfahrung: „in unserem Herzen“, eine Antwort, für die religiös orientierte Autoren wie Meister Eckhart, Nikolaus Cusanus und Blaise Pascal unterschiedliche Zeugenschaft und spekulative Gedanken beigetragen haben.

Die Ethik als Erfahrenheit beruht, wie Hannah Ahrendt und Paul Ricoeur in Anlehnung an Kants dritter „Kritik“ zu zeigen versuchten, auf einer Schule der Urteilskraft, ebenso wie dieser Gewinn von Erfahrenheit aus Erfahrungen durch eine Schule der Vernunft und der Sensibilität erreicht wird. Ohne moralische Erfahrung tritt die Vernunft gleichsam auf der Stelle. Erfahrenheit bringt sie dorthin, wo sie ihre Kraft entfalten kann. Argumente ohne Erfahrung haben Gründe, aber keinen Grund und Boden. Erfahrung freilich ohne vernünftige Überlegung und ohne die Anstrengung plausibler Argumente wäre blind, aber Vernunft ohne moralische Erfahrung wäre leer.

Da moralische Erfahrungen praktisch sind, d.h. den Menschen existentiell und in all seinem Tun betreffen, kann man auch sagen, dass eine erfahrungsbezogene Ethik nicht rein theoretisch sein kann. Da sie mit der Lebenspraxis und mit vielen moralrelevanten Erfahrungen in dieser unlösbar verbunden ist, gilt für Ethik-Lehrer und Lehrerinnen der Satz: Wer nicht so lebt, wie er lehrt, wird bald so lehren, wie er lebt.

Das Programm „moralische Bildung“ ist dabei eine Bildung ohne Einbahnstraße. Bildung ist nicht eine abrufbare intellektuelle Demonstration, sondern ein dauerhaftes Reservoir mit fortbestehender Offenheit. Der Weg der Erfahrung zur Erfahrenheit als Weg der Bildung, von dem ich ausging, ist ein Weg der Habitualisierung. Moralische Bildung ist ein Phänomen der „Erfahrenheit“. Sie entsteht aus dem wiederholten Durchlaufen von Erkenntnisgewinn. Aber wodurch wird dieser Gewinn so erzielt, dass er mehr ist als ein abrufbarer kenntnisreicher Bewusstseinsinhalt? Moralische Identität bildet sich auf dem Rücken von Handlungen. Was der Mensch tut, wirkt auf ihn zurück und bildet ihn. Lernen ist auch ein Tun – aber in der hier gemeinten Bildung kommt es nicht auf das äußere Ergebnis, eine Benotung, eine Publikation, einen Gewinn von Ansehen, an, sondern auf die innere Veränderung der Person. Dazu gehört auch Lernen durch Lesen. Ich habe viel über narrative Ethik, auch über Literaturethik geschrieben. Dazu liegen einige Arbeiten vor, auch die glänzende Disseration von Regina Ammicht-Quinn, die Literatur-Interpretation mit der theologischen Theodizeefrage verbindet und m.E. immer noch das Beste ist, was man darüber lesen kann. Daraus ist fast eine kleine Schule entstanden. Man kann sich durch Hören von Erzählungen und durch Lesen von (qualitativer) Literatur verändern. Paul Ricoeur hat dafür den Dreischritt: „préfiguration – configuration – refiguration“ vorgeschlagen (Ricoeur 1966: 173–206). Freilich geht es nicht, worauf ich oft aufmerksam gemacht habe, um den unmittelbaren Gewinn von eindeutigen Bewertungen, von Normen oder von Tugenden, sondern um einen Gewinn moralischer Auseinandersetzung und Identitätsbildung durch „Modelle“, die strittig bleiben dürfen, und deren Fragen an uns selbst zur moralischen Nachdenklichkeit anhalten. Wir werden nämlich moralisch verunsichert – das ist der Sinn einer Bildung, die keine Ausbildung ist, sondern „Einbildung“ im alten Sinne von: Bildung in den Menschen. Leider ist das Wort „eingebildet“ tief von der Kanzel des Predigers Meister Eckhart heruntergefallen und im üblichen Sprachgebrauch zum negativ bewertenden Wort geworden.

Am Anfang dieses innerlichen Weges zur Herausbildung von moralischer Erfahrenheit steht nicht ein Suchen nach Rezepten. „Aufgefunden“ wird ein emphatischer, wenn auch ungesicherter Zustand, eine moralische „Befindlichkeit.“ Aus dieser Ursprungserfahrung geht ein neu verortetes Selbst hervor, das kontingent-leiblich bleibt, aber gerade darin den Wegweiser von sich weg findet. Daraus wiederum ergibt sich eine Lebensführung im Sinne eines Woraus statt eines Woraufhin und eines Worumwillen als (überholende, transzendierende) Kritik der von Zielen angezogenen nur vorausplanenden Vernunft, bei der die Ethik nur hinterherhinken kann. Ethik fragt dann nicht: Sollen wir das tun? Sie fragt nur noch: Wenn wir das nach den Plänen des sogenannten Fortschrittes tun, wie können wir für die Probleme, die daraus entstehen, abwägende Problemlösungen finden? Es gibt dann Ethik nur noch konsekutiv – eine präventive Ethik hat abgedankt.

Ich schlage vor, der teleologischen Ethik im Nachhinein, die ich als „nachhinkende“ Ethik verstehe, etwa im Sinn von Autoren wie Hans Jonas und Erich Fromm eine Ethik der Voraussicht aus Erfahrenheit an die Seite zu stellen. Warum das wichtig ist, ist leicht mit Beispielen zu erläutern: Nehmen wir dazu aus den letzten Jahrzehnten die Debatte um die Atom-Energie und die Patentierung. Voraussicht aus Erfahrenheit stärkt aber auch Themen wie gerechte „Wasser-Verteilung“, moralisch angenommene Migrationskultur oder religiös gestützte Gewalt.

2.Inszenierung moralischer Bildung?

Ebenso wie ich Bildung als den Weg von Erfahrung zu Erfahrenheit auf einem narrativen Wege beschrieben habe, gilt es, „Bildung“ mit Reflexion, hier im Sinne permanenter Nachdenklichkeit, zu verbinden. Wer reflektieren lernen will, nimmt an einer Inszenierung von Reflexion teil, die er unter vorfindlichen Inszenierungen auswählt und dann selbst übernimmt. In meiner Teilnahme an einer Inszenierung von moralischer Bildung bin ich an erster Stelle der Literatur begegnet. Es gab ja noch keine visuellen Unterhaltungsmedien – Lesen war die Inszenierung von Bildung. Man sucht auch lebende Vorbilder für diese Inszenierung.

Die Inszenierung moralischer Bildung konnte ich an großer Literatur später auch akademisch durchführen: am Beispiel von Thomas Manns Joseph-Romanen – eine Inszenierung gegen die nationalsozialistische Mythologie – und anhand des „Tristan“ des Gottfried von Straßburg – eine mit ambivalenten Zügen ausgestattete Inszenierung der Liebe gegen Zwangsinstitutionen. Inszenierung ist immer ästhetische Formgebung, die sich moralischer Eindeutigkeit entzieht, aber eben deshalb zur Reflexion aufruft statt zu indoktrinieren. Das „Theater als moralische Anstalt“, wie es Friedrich Schiller vorschwebte, ist ja auf seinem Höhepunkt, der klassisch mit dem „Wallenstein“ erreicht ist, eine Aufforderung zum Nachdenken und zum Gewinn einer eigenen moralischen Stellungnahme. Die schlichte Identifikation mit Figuren, die die Moral zu tragen haben, wird bewusst konterkariert. Moralische Nachdenklichkeit, Reflexion, soll entstehen. Der Züricher Germanist Peter von Matt hat dies in eindrücklichen Essays zur Literatur zum Thema gemacht.1

Aber die Frage bleibt: Ist eine an Erzählung gebildete Schulung moralischer Identität ausreichend? Kann sie nicht im Bereich des beliebigen moralischen Genusses verbleiben? Moral ist spannend als Lektüre. Sie hinterlässt keine Eindeutigkeit – das ist gut für die Reflexion, kann aber auch wie ein Theaterbesuch oder als sonntägliche Predigt folgenlos bleiben. Der kathartische Effekt gehört zur kulturellen Inszenierung eines Selbstgefühls im Bereich gehobener Stimmung. Man fühlt sich besser und erspart sich die Konsequenzen. Die ästhetischen Inszenierer haben dies längst erkannt, aber, wie schon Bertolt Brecht feststellte: das Entsorgungspotenzial der Rezipienten ist beinahe unendlich. Wie kann man mit der moralischen Bildung noch näher an die moralischen Identitäten heranrücken? Oder sollte man das besser lassen, weil es sonst auf moralische Indoktrination hinausläuft? Das wäre so eine Art Klosterschule der Moral, eine Kadettenanstalt, ein vorkonziliares Priesterseminar oder eine besondere Anhänglichkeit an ein moralisches Vorbild, das nicht strittig ist (der Dalai Lama, der die Moral über die Religion stellt?). Ist den Grenzen der Narrativität nicht zu entkommen, es sei denn um den Preis des Autonomie-Verlustes und der Indoktrination? Diese Frage zu stellen, heißt, nach praktischen Einübungen zu suchen, die autonome Selbständerungen ermöglichen.

3.Moralische Übungen für eine gefestigte autonome Ethik?1

Die Person des Ethikers oder der Ethikerin bedarf argumentativer Übung. Man muss nicht so weit gehen, wie die Rhetorik-Schule eines Cicero, in welcher die angewandten rhetorischen Mittel gegenüber dem Gehalt in eine Vorzugstellung zu geraten drohen. Aber eine ethische Scholastik im Sinne einer Kenntnis logischer Argumentationsfiguren und möglicher Fehlschlüsse ist zugleich eine moralische Übung, denn sie erzeugt argumentative Standfestigkeit. Diese Standfestigkeit ist jedoch noch mehr: der Mut, auch mit einer argumentativen Meinung allein stehen zu können, wenn ein Druck von Mehrheiten entsteht und isolierend wirkt. Mut verlangt auch eine emotionale Festigkeit, den Widerstand bei numerischer Unterlegenheit. Die Institution von Minderheitenvoten in Ethik-Kommissionen versucht dies zu stützen, nimmt aber nicht jedem einzelnen den Druck. Die Besetzungspraxis einer lobbyistischen Beschickung kann ohnehin dazu führen, dass Mut erforderlich wird: innerhalb wie außerhalb. Courage ist bei Unterlegenheit eher erforderlich, vor allem dann, wenn diese numerische Unterlegenheit als nicht veränderbar erscheint. Von dem evangelischen Theologen Reinhold Niebuhr stammt die in Gebetsform gefasste Haltung: Man solle mit Heiterkeit (oder mit Gelassenheit) ertragen, was nicht zu ändern sei, mit Mut das angehen, was geändert werden könne und die Gabe der Weisheit erbitten, zwischen beidem zu unterscheiden. Das erscheint als eine sehr realistische, aber auch als eine sehr kluge Maxime. Sie enthält jedoch mehr praktische als moralische Erfahrenheit. Denn sie tendiert zum praktischen Kompromiss. Der praktische Kompromiss ist jedoch, wie ich meine, nachgewiesen zu haben, nicht mit dem ethischen Kompromiss zu verwechseln (Mieth 1984: 113–146). Es kann aus moralischen Gründen ein praktischer Kompromiss gegen die eigene moralische Überzeugung und Argumentation akzeptiert werden. Aber dadurch darf die moralische Überzeugung und Argumentation weder aufgewogen noch aufgehoben werden. Sonst würde man nicht mehr an der moralischen Verbesserung von Kompromissen arbeiten. Man würde sich dauerhaft auf Anpassung einstellen. Man würde vergessen, wofür man einmal aus moralischen Gründen angetreten ist. Moralische Bildung ist nicht eine praktische Ausbildung in politischen Kompromissen. Diese Ebenen müssen unterschieden werden oder die moralische Klugheit, d.h. die Erkenntnis des Guten und Richtigen unter Einbeziehung der Umstände, wird zur Herrschaft des praktisch Erreichbaren. Dies mag man Politikern und Politikerinnen zugestehen oder es gar von ihnen erwarten – diese Erwartungshaltung sollte man aber der Ethik gegenüber nicht kultivieren.

Es gibt also Habitualisierungs-Vorschläge für Ethiker und Ethikerinnen, durch die es ermöglicht wird, auch in Stresssituationen zum dem zu stehen, was man moralisch für gut und richtig hält (Habermas 1976).2 Eine ethische Identität gewinnt man durch die Einheit von Theorie und Praxs. Moralischen Respekt zu trainieren heißt daher, den moralischen Richtigkeitsanspruch nicht aufzugeben, sondern mit Reverenz gegenüber einer anderen Meinung argumentativ zu begründen.

4.Moralische und religiöse Bildung

Ich fasse den bisherigen Gedankengang vorläufig zusammen: Vieles von dem, was ich hier als moralische Bildung beschrieben habe, ist rationales Training. Was nicht logisch ist, kann auch nicht ethisch sein, jedenfalls nicht Ethik im Sinne rationaler Legitimation. Insofern geht es dann im Vergleich zur bloßen Vermittlung von Wissen um ein Training im Sinne dieses Wissens. Es geht aber auch darum, moralisch so zu sein, wie man lehrt, d.h. um moralische Glaubwürdigkeit und um Authentizität. Diese Glaubwürdigkeit bildet sich gleichsam im Rücken wiederholter verantworteter Handlungen. Sie ist eine Habitualisierung, die nicht nur zur Erfahrenheit führt, sondern auch zu einer Spontaneität, die man manchmal „Bauchgefühl“ nennt, obwohl sie eine schnelle, kompakte und erlernte Reaktion aus habitualisierter Erfahrenheit darstellt. Aristoteles, auf den dieses Theorieelement zurückgeht, hat es für selbstverständlich gehalten, dass die Tugendübung zur ethischen Erkenntnisfähigkeit gehört (Christoffer 1989: 167–174).

Ich habe „moralische Bildung“ zunächst als den Weg von moralischen Erfahrungen zu moralischer Erfahrenheit beschrieben. Dieser Weg soll aus dem Unterbewussten in das Bewusstsein gehoben, d.h. nicht unabsichtlich hingenommen, sondern bewusst inszeniert werden. Darüber hinaus ist es möglich, das Verhältnis von praktischem Kompromiss und ethischer Überzeugung, das Verhältnis von Gesinnung und Verantwortung, von Zielen und Mitteln, zu trainieren. Zur moralischen Bildung gehört aber auch die nicht-moralische Bildung an den Sachen und Problem selbst. Dies dürfte in einem Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften selbstverständlich sein.

Nach dem Verhältnis von moralischer Bildung und religiöser Bildung ist abschließend zu fragen (Auer 2016, Bobbert/Mieth 2015). Die Einsicht der Religion in die Endlichkeit, Fehlerfähigkeit und Sündhaftigkeit des Menschen bedeutet eine Bewährungsprobe für alles Denken, das mit einer Selbsterschaffung des Menschen rechnet, wie dies in der modernen wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Welt seit dem 19. Jahrhundert immer wieder thematisiert wird. Moral hängt durchaus mit religiösen Einsichten zusammen. Eine theologische Ethik thematisiert diese Einsichten mit den Schwerpunkten Umgang mit Schuld, Rettung, Versöhnung. Freilich haben wir durch die vernünftige Aufklärung gelernt, dass Religionen nicht mit Autorität über die Moral verfügen können. Sie können Impulse und Motive geben, die das Nachdenken über Moral verstärken. Hier spielen Motive wie Liebe und Gerechtigkeit, Demut und Hoffnung eine große Rolle. Man darf sowohl die religiöse Erfahrung wie das vernünftige Denken befragen, welche Normen von solchen Motiven begünstigt werden. Beweggründe sind keine Beweisgründe – aber kann es ohne Beweggründe überhaupt das Interesse an Beweisgründen geben?

Ethiker und Ethikerinnen sind fehlerfähig und irrtumsfähig. Man muss moralische Bildung von moralischer Vollkommenheit unterscheiden. Moralische Bildung befördert bei aller Behauptung ethischer Streitkultur die Einsicht in Kontingenz: der eigenen Person, der Kontexte, der Diskurse und der Gesprächspartner. Der religiöse Humanismus, der mit moralischer Bildung angestrebt wird, enthält das Kontingenzbewusstsein, das dem ethischen Diskurs in der Philosophie so häufig zu fehlen scheint. Andererseits wird man die moralische Bildung von Ethikern und Ethikerinnen auch daran erkennen können, dass sie sich persönlich aus moralischen Gründen für ein moralisches Anliegen praktisch einsetzen. Dazu gibt es Möglichkeiten genug. Authentizität im ethischen Sinne beinhaltet eine selbstbestimmte Verträglichkeit von Theorie und Praxis, Lehre und Leben. Diese Übereinstimmung im Sinne der Glaubwürdigkeit kann das Argument nicht ersetzen, aber die Aufmerksamkeit für das Argument zu erhöhen.

Literatur

Abbt, Christin (2007). Der wortlose Suizid: Die literarische Gestaltung der Sprachverlassenheit als Herausforderung für die Ethik. München: Fink.

Ammicht Quinn, Regina (1992). Zwischen Lissabon und Auschwitz. Freiburg i. Ue./ Freiburg/Br.: Herder.

Auer, Alfons (2016). Autonome Moral und christlicher Glaube. Neuausgabe. Darmstadt: WBG.

Berendes, Jochen (2009). Ironie – Komik – Skepsis. Studien zum Werk Adalbert Stifters. Tübingen: Niemeyer.

Bobbert, Monika/Mieth, Dietmar (2015). Das Proprium der christlichen Ethik. Luzern: Exodus.

Christoffer, Uwe (1989). Erfahrung und Induktion: Zur Methodenlehre philosophischer und theologischer Ethik. Freiburg (CH)/Freiburg i. Br./Wien: Herder.

Dietrich, Julia (2007). Grundzüge einer Ethik der Ethik. In: Berendes, Jochen (Hrsg.) Autonomie durch Verantwortung: Impulse für die Ethik in den Wissenschaften. Paderborn: Mentis. 111–146.

Dietrich, Julia/Müller-Koch, Uta (Hrsg.) (2007). Ethik und Ästhetik der Gewalt. Paderborn: mentis.

Ego, Werner (1992). Abschied von der Moral: Eine Rekonstruktion der Ethik Robert Musils. Freiburg (CH)/Freiburg i. Br./Wien: Herder.

Fludernik, Monika/Falkenhayer, Nicole/Steiner, Julia (Hrsg.) (2015). Faktuales und fiktionales Erzählen. Würzburg: Ergon-Verlag, 219–240.

Habermas, Jürgen (1976). Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Haker, Hille (1999). Moralische Identität. Tübingen/Basel: Francke.

Mieth, Dietmar (1984). Christliche Überzeugung und gesellschaftlicher Kompromiß. In: von Weber, Helmut (Hrsg.) Der ethische Kompromiß. Freiburg (CH)/Freiburg i. Br., 113–146.

Mieth, Dietmar (2015). Bild und Bildung: Die Entstehung des Bildungsgedankens bei Meister Eckhart und seine Bedeutung im heutigen Kontext. In: Kropac, Ulrich/Pittrof, Thomas (Hrsg.) Bildung und Univers(al)ität. St. Ottilien, 55–82.

Ricoeur, Paul (1995). Le Juste. Paris: Esprit.

Ricoeur, Paul (1996). Das Selbst als ein Anderer. München: Fink. 173–206.

Ethik und Weltkontakt

Thilo Hagendorff

Eines von vielen Gedankenspielen aus der praktischen Philosophie ist jenes von Carruthers über Astrid die Astronautin. Es geht wie folgt:

Nehmen wir einmal an, Astrid sei eine sehr reiche Frau, die genug von ihrem Leben auf der Erde hat und sich daher eine Weltraumrakete kauft, damit sie dieses Leben für immer hinter sich lassen kann. Sie hebt auf einer Flugbahn ab, auf der sie schließlich unser Sonnensystem verlassen wird, und sie nimmt nicht einmal ein Funkgerät oder andere Kommunikationsmittel mit. Wir können daher sicher sein, dass sie nie wieder irgendeinen Kontakt zu einem anderen Menschen haben wird. Nehmen wir nun weiter an, dass Astrid eine Katze als Begleitung mitgenommen hat. Zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Reise beginnt sie nun damit, die Katze aus Langeweile als Dartscheibe oder etwas anderes zu benutzen, was der Katze unsägliche Schmerzen bereitet. Würden wir nicht denken, dass Astrids Tun völlig falsch ist? (Carruthers 2014: 234)

Carruthers nutzt die Ausführungen über die Astronautin Astrid, um seine ethische Theorie zu untermauern. Er beschäftigt sich mit der Frage nach dem moralischen Status von Individuen, mit dem Argument der menschlichen Grenzfälle, mit Fragen nach der Anwendung des Kontraktualismus auf bestimmte ethische Problemstellungen etc. Exemplifizierung finden seine Überlegungen schließlich an der argumentativen Auflösung der Frage, ob es moralisch falsch ist, wenn Astrid die Astronautin in ihrem Raumschiff eine Katze als Dartscheibe benutzt. Folgt man an dieser Stelle Heinrichs Systematik hinsichtlich der Klassifizierung von ethischen Fallbeispielen (Heinrichs 2008), dann handelt es sich hier um ein fiktives Handlungsszenario, welches in systematisch-argumentativer Hinsicht zur positiv-heuristischen Veranschaulichung ethischer Annahmen eingesetzt wird. Generell sind Fallbeispiele als methodische Ergänzung zur ethischen Theorie zu verstehen, nicht jedoch als Bestandteil der Theorie selbst. Andernfalls wäre Ethik bloße Kasuistik. Und dennoch geben gerade Fallbeispiele in der Regel zuverlässige Hinweise auf die grundsätzliche Ausrichtung ethischer Theoriemodelle.

Diese können sich, so die hier vertretene These, einerseits daran orientieren, Ethik gewissermaßen praxisnah in Kontakt mit „realen“ Verhältnissen zu bringen, oder sie können sich andererseits darin erschöpfen, Weltkontakt zu scheuen und im schwerkraftlosen Raum bloßer Gedankenakrobatik zu verbleiben. Ähnlich, wie beispielsweise Bourdieu sich von der Lehnstuhlsoziologie abgegrenzt hat und nahezu zeitlebens eine Soziologie in den Blick genommen hat, welche qua Empirie Weltkontakt sucht und damit dem „Elend der Welt“ (Bourdieu 2009) unmittelbar ausgesetzt ist, so kann die Ethik sich dazu entscheiden, aus der Leichtigkeit akademischer Argumentationsturniere herauszutreten und den diskursiven Kontakt zu den Verhältnissen zu suchen. Freilich soll an dieser Stelle mit dem Ausdruck des „Weltkontakts“ keine Anspielung auf korrespondenztheoretische Annahmen über eine anzustrebende Deckung von Diskursen und Wirklichkeit getätigt werden, dennoch geht es um eine gewisse Öffnung der ethischen Diskursführung für empirische Beobachtungen (Doris/Stich 2005), welche wiederum eine verstärkte „Nähe“ zwischen Ethik und sozialer Praxis begründen können. Diese Nähe oder Bezogenheit von Ethik auf lebensweltliche „Realitäten“ ist nicht nur, aber insbesondere in der praktischen Philosophie, in welcher es zum einen um die maximal akribische Exegese klassischer ethischer Theoriemodelle und zum anderen um das Auffinden des einen richtigen, letztgültigen Modells von Ethik geht, vielerorts abhandengekommen. Letzteres wird etwa von Höffe als „Fundamentalethik“ bezeichnet, welche kontrastiert wird mit einer angewandten Ethik, welche sich im Zuge der zunehmenden Differenzierung der sozialen Praxis auf bestimmte Gesellschaftsbereiche spezialisiert hat (Höffe 2013: 106).

Neben der angewandten Ethik entwickelt auch die Fundamentalethik ihre Argumente oftmals unter Hinzuziehung von Fallbeispielen. Prominentere Fallbeispiele oder Gedankenspiele als jenes mit Astrid der Astronautin sind etwa das Heinz-Dilemma, die Idee des Schleiers des Nichtwissens, das Trolley-Problem und andere. Gemeinsam ist all jenen Fallbeispielen und Gedankenspielen, dass sie insofern Praxisbezug missen, als dass die jeweils konstruierten Situationen sich empirisch so gut wie nie beobachten lassen. Daher ist auch ihre Reflexion mit den Mitteln der Ethik in gewissem Sinne müßig. Schließlich findet eine Implementation der moralischen Konditionen jener philosophischen Traktate, welche Fundamentalethik betreiben, in konkrete Handlungszusammenhänge quasi nicht statt. Pragmatisch geboten wäre daher, dass ethische Diskurse „wirklichen“ Problemlagen begegnen, sodass das Wissen, die Reflexionshilfen oder Orientierungsleistungen, welche die Ethik geben kann, in den jeweiligen Lebensbereichen, deren Praxisprobleme die Ethik reflektiert, Resonanz finden können. An dieser Stelle gilt es demnach, aus der Perspektive einer Metaethik dafür zu plädieren, dass Ethik erneut Weltkontakt gewinnt, dass sie sich davon verabschiedet, bloße Teilnehmerin an akademischen Argumentationsturnieren zu sein, und sie stattdessen qua Gespür für die Empirie die Nähe zu den Verhältnissen sucht und zu einer Instanz von lebensweltlicher Relevanz wird.

Fraglich ist, ob eine solche Ethik überhaupt darauf angewiesen ist, dass sie durch eine Fundamentalethik flankiert wird. Schließlich könnte man argumentieren, dass die Fundamentalethik eben auf möglichst grundlegende Weise festsetzt, welche Grundsätze die in Kontakt zu den Verhältnissen stehende, auf bestimmte Sparten der sozialen Praxis spezifizierte Ethik in Anschlag bringen kann. Doch es darf bezweifelt werden, dass es hier ein tiefergehendes Abhängigkeitsverhältnis gibt. Im Gegenteil ist es sogar so, dass konstatiert werden kann, dass die Identifizierung höchster, universell gültiger und allgemeiner Prinzipien in der Fundamentalethik – seien dies der kategorische Imperativ, moralische Rechte, Nützlichkeitsprinzipien etc. – mit dem Zweck der daraus erfolgenden Ableitung spezifischer, auf bestimmte Praktiken gemünzter Verhaltensregeln eher problematisch ist. Unabhängig davon, dass überhaupt unrealistisch ist, dass in der sozialen Praxis eingespielte Handlungsroutinen regelmäßig auf fundamentalethische Prinzipien hin reflektiert werden, so ist festzustellen, dass dies auch gar nicht per se wünschenswert wäre. Schließlich verlöre sich so die Sensibilität für die Situation, für den jeweiligen sozialen Kontext, für die jeweiligen Eigenheiten der moralisch agierenden Akteure. Die unveränderliche, situationsübergreifende Einhaltung beispielsweise rein utilitaristisch oder rein deontologisch orientierter Verhaltensprinzipien wäre in vielen Fällen, je nach Besonderheit der Situation, höchst unangemessen.

Dem folgend kann eine Fundamentalethik, welche mit abstrakten Gedankenspielen operiert, um schließlich für bestimmte Verhaltensprinzipien argumentieren zu können, mit einer Funktion von Ethik in Verbindung gebracht werden, welche mit Luke (1995) als „Zähmung“ (taming) umschrieben werden kann, während eine Ethik, welche Weltkontakt pflegt, mit der der „Zähmung“ entgegengesetzten, ebenfalls von Luke stammenden Idee der „Verwilderung“ (going feral) kontrastiert werden kann. „Zähmung“ meint die Restriktion von Handlungsmöglichkeiten, das Einhalten von Verhaltensprinzipien, den Einsatz von Ethik zur Lenkung des Handelns in einen bestimmten Korridor des moralisch Akzeptablen. „Verwilderung“ auf der anderen Seite spielt umgekehrt auf die Freisetzung von Handlungsmöglichkeiten an, auf die Erlangung von persönlicher Autonomie. Während „Zähmung“ einer Art paternalistisch motivierten, ethischen Gesetzgebung entspricht, zielt „Verwilderung“ auf die Reaktivierung von Autonomie und Mitgefühl als Quelle moralischer Rücksichtnahme. „Verwilderung“ diszipliniert moralische Akteure nicht zur Einhaltung von Verhaltensprinzipien, sondern sie emanzipiert von der Unfähigkeit, in Situationen, in denen moralisch relevante Entscheidungen getroffen werden müssen, autonom und mitfühlend handeln zu können.

Nun kann freilich eingewendet werden, dass auch eine angewandte Ethik, welche in einem durch empirisches Beobachteten geschulten Kontakt zu den sozialen Verhältnissen steht, „zähmend“ agieren kann, indem sie Vorschriften darüber aufstellt, welche Handlungen moralisch geboten respektive verboten sind. Doch eine derart agierende Ethik wirkt rasch befremdend, wenn nicht gar verschroben, schließlich wird es möglich, gerade durch ihre fachkundige Praxisnähe die mit ihr verbundenen Dekrete in direkten Abgleich mit ureigenen Interessen, Überzeugungen und Wunschsetzungen zu bringen. Derart wird plötzlich das immense Konfliktpotenzial deutlich, welches die angewandte Ethik mit sich bringt, indem sie das Bestehende mit dem ethisch Richtigen kontrastiert. Die Ethik wirkt derart „ungemütlich“, ja offensichtlich taktlos, als würde sie bar jeglicher interaktionell notwendiger Rücksichten agieren und als wisse sie nicht, dass es weitreichende, sozial verankerte „Ausschaltungswerte“ (Luhmann 2008: 186) für ethisches Reflektieren gäbe, welche sich stabilisierend auf eingespielte soziale Handlungszusammenhänge auswirken. Sobald Ethik nicht mehr mit abstrakten Verhaltensprinzipien operiert, deren situationsspezifische Konkretion im Endeffekt eine bloße Seltenheit ist, sondern sie die Lebens- oder Arbeitswelt moralischer Akteure direkt betrifft und unmittelbar in Beziehung gesetzt werden kann zur bestehenden sozialen Praxis, riskiert sie, in Konflikt zu geraten mit der Intention moralischer Akteure, die Gefahr der Restriktion der eigenen, subjektiv wahrgenommenen Handlungsfreiheit abwehren zu müssen. Doch eine derart „gefährliche“ Ethik hat wenige Erfolgsaussichten. Daher bietet es sich an, dass sie, anstatt auf „Zähmung“ auf „Verwilderung“ setzt – zumal, wie sich aus dem eben gesagten ergibt, kommunikationspsychologische Überlegungen darauf hindeuten, dass Ethik andernfalls als bloße Belastung in der Kommunikation wahrgenommen wird, welche rasch Reaktanz provoziert. Normative Geltungsansprüche, welche offensichtlich „zähmen“ wollen, verpuffen eher, als dass sie tatsächlich eingelöst werden.

„Zähmung“ funktioniert, solange es darum geht, moralisch zu fixieren, dass man eine Katze nicht als Dartscheibe benutzen darf, dass man eine Straßenbahn besser eine einzelne als fünf Personen überfahren lassen sollte, dass man hinter dem Schleier des Nichtwissens von der eigenen sozialen Position abstrahieren muss etc. – weil die „Zähmung“ nicht in Bezug zur eigenen Lebens- oder Arbeitswelt gesetzt werden kann. Alsbald sich dies jedoch ändert und Ethik, welche Weltkontakt sucht, plötzlich persönliche Relevanz erhält, setzen sich „Zähmungsversuche“ nicht nur dem Verdacht aus, paternalistisch zu sein, sondern sie sehen sich gleichzeitig einer extremen Ablehnungs- und Verteidigungsbereitschaft entgegengestellt. Anders sieht es aus im Falle der „Verwilderung“, mit welcher, wie oben angesprochen, eine angewandte Ethik, welche gezielt Weltkontakt pflegt, in Verbindung gesetzt werden kann. Hier geht es nicht mehr darum, Restriktionen gegenüber solchen Handlungszusammenhängen aussprechen zu können, welche als moralisch falsch erachtet werden. Vielmehr geht es um die Vermittlung von Wissen, um das Hinweisen auf blinde Flecken, um bloße Aufmerksamkeitsverschiebungen, mit dem Effekt, Handlungsfreiheit gerade nicht zu senken, sondern zu steigern. Es geht um die Ausweitung von Autonomie, um die persönliche Weiterentwicklung, um die Aneignung von Eigenverantwortlichkeit.

Während „Zähmung“ ethische Fremdbestimmung meint, strebt eine an „Verwilderung“ orientierte Ethik die Befähigung von moralischen Akteuren an, moralisch relevante Entscheidungen auf der Grundlage von umfassendem Wissen und Einfühlungsvermögen selbstverantwortlich zu treffen. Sie erkennt, geschult durch ihre Bereitschaft, als Beobachterin erster Ordnung soziale Praxis wahrzunehmen, dass diese durchsetzt ist von versteckten Glaubens-, Überzeugungs- und Wertsystemen, welche es nicht allein gilt, manifest zu machen, sondern überdies zu reflektieren. Ethik, so könnte man meinen, wäre daher gleichsam ein Geschäft sozialer Superbeobachter, welche, ähnlich Künstlern, „merken, was die meisten anderen Menschen nicht merken […]“ (Rorty 1989: 257–258). So schreibt auch Adorno:

An denen, die das unverdiente Glück hatten, in ihrer geistigen Zusammensetzung nicht durchaus den geltenden Normen sich anzupassen – ein Glück, das sie im Verhältnis zur Umwelt oft genug zu büßen haben –, ist es, mit moralischem Effort, stellvertretend gleichsam, auszusprechen, was die meisten, für welche sie es sagen, nicht zu sehen vermögen oder sich aus Realitätsgerechtigkeit zu sehen verbieten. (Adorno 1966: 49)

Doch eine Ethik des Weltkontakts und der „Verwilderung“, so sehr sie auch auf die Emphase Einzelner angewiesen sein mag, sollte stets nach der Ausweitung ihrer selbst streben. Das Projekt der ethischen „Verwilderung“ bedarf keiner kleinen Klasse an Superbeobachtern, welche Gesellschaft vermeintlich von außen wahrnehmen können. Zwar geht es tatsächlich um die Erlangung einer gewissen Distanz zu sozial eingespielten Handlungsroutinen und Deutungsmustern, allerdings darf diese Distanz nicht missverstanden werden als vollständige Aufkündigung der eigenen Gebundenheit an einen bestimmten sozialen Ort, an eine bestimmte soziale Formatierung. Eine Ethik, welche gezielt solche Reflexionen tätigt, welche explizit Relevanz für bestimmte soziale Praxisfelder aufweisen, ist sich dieser Abhängigkeiten bewusst – und strebt dennoch an, das Prinzip der „Verwilderung“ ebenfalls auf sich selbst anzuwenden. Schließlich kann sie dabei umso mehr jene Abhängigkeiten in den Blick nehmen, je mehr sie Weltkontakt sucht.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1966). Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre (2009). Das Elend der Welt. Stuttgart: UTB.

Carruthers, Peter (2014). Warum Tiere moralisch nicht zählen. In: Schmitz, Friederike (Hg.): Tierethik. Berlin: Suhrkamp, 219–242.

Doris, John M./Stich, Stephen P. (2005). As a Matter of Fact. Empirical Perspectives on Ethics. In: Jackson, Frank/Smith, Michael (Eds.): The Oxford Handbook of Contemporary Philosophy. New York: Oxford University Press, 114–154.

Heinrichs, Bert (2008). Zum Beispiel. Über den methodologischen Stellenwert von Fallbeispielen in der Angewandten Ethik. Ethik in der Medizin 20 (1): 40–52.

Höffe, Otfried (2013). Ethik. Eine Einführung. München: C.H. Beck.

Luhmann, Niklas (2008). Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt a.M: Suhrkamp.

Luke, Brian (1995). Taming ourselves or going feral? Toward a nonpatriarchal metaethic of animal liberation. In: Adams, Carol J./Donovan, Josephine (Eds.) Animals & Women. Feminist Theoretical Explorations. Durham: Duke University Press, 290–319.

Rorty, Richard (1989). Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Was bedeutet Ethik ‚in‘ den Wissenschaften? Möglichkeiten zur Auflösung einer räumlichen Metapher

Philipp Richter

Die „Ethik in den Wissenschaften“ ist seit mindestens 1985 Programm an der Universität Tübingen. In einem Gesprächskreis ging es von Anfang an darum, in interdisziplinärer Konstellation „ethische Fragen zu besprechen, die sich in und mit Bezug auf die Wissenschaften stellen“ (Potthast/Ammicht Quinn 2015: 9). 1990 wurde das „Zentrum für Ethik in den Wissenschaften“ gegründet, das im vergangenen Jahr sein 25jähriges Jubiläum feierte. Mit Gründung des Zentrums erfolgte zudem die Einrichtung der Lehrstühle „Ethik in den Biowissenschaften“ und „Ethik in der Medizin“ (ebd.). Darüber hinaus wurden von 1991–2001 im Rahmen des Graduiertenkollegs „Ethik in den Wissenschaften“ zahlreiche weitere Projekte im Feld der anwendungsbezogenen Ethik durchgeführt. Wichtige Impulse für Lehre und Forschung in der anwendungsbezogenen Ethik gehen von den Mitarbeitenden des Ethikzentrums aus, wie die zahlreichen Projekte und Publikationen zeigen; nicht zuletzt ist das die Entwicklung eines Ethisch-Philosophischen Grundlagenstudiums für die Universitäten in Baden-Württemberg (siehe Maring 2005). Das Programm einer „Ethik in den Wissenschaften“ hat sich also institutionell etabliert.

Doch warum enthält das Programm gerade diese womöglich etwas sperrige Formulierung? Weshalb lautet der Titel nicht vielmehr „Angewandte Ethik“ bzw. „Anwendungsbezogene Ethik“, „Wissenschaftsethik“, „Ethische Fragen der Einzelwissenschaften“ oder „Ethik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“? Nein – diese Vorschläge scheinen nicht zu treffen, was hier eigentlich gemeint ist. Vielmehr ist die Verwendung der Präposition „in“ entscheidend.1 Ihre metaphorische Verwendung hat sich im Topos „Ethik in den Wissenschaften“ verdichtet, der dabei verschiedene Bedeutungsdimensionen vereint. Um die Auflösungsmöglichkeiten der Metapher, also um eine Klärung des Programms und das Aufdecken seiner begrifflichen Spannungen soll es im Folgenden gehen. Damit will ich weitere Perspektiven für die methodologische Reflexion des ethischen Nachdenkens unter „Anwendungsbedingungen“ eröffnen. Denn bekanntlich sind die Bezeichnung, der Begriff, die Methode und Zielsetzung einer „Angewandten Ethik“ in der Diskussion heftig umstritten (Überblick in: Richter 2015; siehe Gehring 2015: 27–32; Hubig 2015: 193–205; Kaminsky 2005; Wolf 1994: 187f.), obwohl freilich in der Forschungspraxis unter diesem Titel methodisch überzeugende und erkenntnisreiche Projekte durchgeführt werden. Aber nicht jede Aktivität, die Anspruch macht, „Ethik“ zu sein, ist ohne weiteres als solche zu bezeichnen. Hier müssten methodische Standards gesichert und auch die Leistung und Grenzen des Faches „philosophische Ethik“ klarer benannt werden. Wie z.B. lässt sich das philosophisch fundierte Nachdenken über moralische Urteile und gelebte Normen und Werte, also das ethische Reflektieren im engeren Sinne, in der Praxis von anderen Formen des Nachdenkens unterscheiden? Das Titelwort „Ethik“ steht jenseits des selbstzweckhaft betriebenen akademischen Faches – also auch als Ethik „in“ den Wissenschaften – häufig unter dem Verdacht der unbegründeten Moralisierung und Bevormundung, der politischen Akzeptanzbeschaffung oder des „Etikettenschwindels“ zur Verschleierung eigentlich strategischer Interessen (siehe Dietrich 2007: 111f.; Gehring 2015: 37–39; Poscher 2013: 437f.).

Zur Klärung der Frage, was „Ethik in den Wissenschaften“ als eine Ethik unter „Anwendungsbedingungen“ ausmacht, ist es hilfreich, die Metaphorik des Topos genauer zu betrachten, um diese dann exemplarisch mit programmatischen Texten des Ethikzentrums, die hierzu konzeptuelle Überlegungen anstellen, in ein Verhältnis zu setzen. Das Ethikprogramm des IZEW wird vor allem mit Metaphern des Räumlichen gefasst (vgl. IZEW2010: 4f.; siehe Hasenclever 1992: 28; Mieth 2007: 39ff.; Engels 2005: 146):

Bei der Forschungsarbeit treten „in“ den Wissenschaften auf Werte und Normen bezogene Fragen auf, die rechtlich oder moralisch nicht eindeutig geregelt sind und daher mit den Mitteln der Ethik geklärt werden müssen. Diese Fragen sollen „in“ den betroffenen Disziplinen und nicht „neben“ diesen bearbeitet werden. Erforderlich sei demnach nicht eine Ethik, die „nach“ oder „zu den Wissenschaften“, sondern „in den Wissenschaften selbst“ stattfindet.

Außer den eher räumlichen Metaphern „in“, „neben“ und „zu“ kommt mit „nach“ auch eine zeitliche Metapher vor. Wie Werner Köster2 im Wörterbuch der philosophischen Metaphern ausführt, kann „Raum“ als „Meta-Metapher“ bezeichnet werden, die ein „ganzes Feld von topischen Begriffen […] strukturiert“ und somit grundsätzliche Unterscheidungs-Möglichkeiten für jeden Bereich des Denkbaren erlaubt. Hierzu gehören Begriffe wie z.B. innen oder außen, peripher oder zentral, höher oder tiefer sowie Ebene, Stufe, Schwelle und viele mehr (siehe Köster 2007: 278). Weiter zählt hierzu insbesondere die räumliche Metapher der „Grenze“, die mit Blick auf den wissenschaftlichen Erkenntnisvorgang mit dem Erfordernis der Gedankenklärung, der methodischen Sicherung und Wiederholbarkeit von Erkenntnis als „Definieren“, also als Einführen von begrifflichen Unterscheidungen, besonders relevant ist (siehe Zill 2007: 144f.). Nun könne, so wird oben in der Paraphrase ausgeführt, anwendungsbezogene Ethik einerseits „in den Wissenschaften selbst“, also im „begrenzten Bereich“ einer Wissenschaft, betrieben oder andererseits fälschlicherweise neben diesem Bereich, nach diesem oder zu diesem hin praktiziert werden. Freilich funktioniert hier „Bereich“ wiederum nur im übertragenen Sinne, da die Wissenschaften nicht an bestimmte Orte gebunden sind und auch nicht als materielle „Container“, die etwas enthielten, aufgefasst werden können. Intuitiv kann jedoch wohl jeder mit dieser „verräumlichten“ Redeweise etwas anfangen, so dass „Ethik in den Wissenschaften“ bereits als etablierter Topos gelten kann, der sich zur Argumentation, Plausibilisierung und Illustration eignet und dessen Metaphorik „eine besondere Kraft zu überzeugen zukommt“ (Brenneis 2014: 89f.). Ich folge hier Andreas Brenneis, der Metaphern über das Moment des unüblichen Sprachgebrauchs charakterisiert: „Metaphern resultieren daraus, dass sprachliche Mittel in ungefügter Weise miteinander verwendet werden, dass Worte aufeinander bezogen werden ohne dies von sich aus anzubieten […]. Mindestens zwei der Bestandteile eines Satzes erzeugen zusammen eine unerhörte Beziehung, die einen Leser und sein Verständnis irritieren, verunsichern, beeindrucken oder begeistern kann“ (siehe ebd.). Metaphern können, wenn ihre Verwendung – wie es vielleicht bei der Rede von „Ethik in den Wissenschaften“ der Fall ist – nicht mehr überrascht, zu Topoi werden (Brenneis 2014: 93), also zu Gemeinplätzen, die sich als Gesichtspunkte zur Findung von überzeugenden Argumentationen, Begründungen und Beweisen eignen (siehe Hubig 1990: 140f.). Die begriffliche Undeutlichkeit eines Topos, also ein stark metaphorisches Moment, kann hier relativ zum Ziel des Argumentierens vorteilhaft oder nachteilig sein. Auch lassen sich wohl nicht alle Metaphern oder als Topoi verwendete Metaphern, insbesondere die auf das Denken bezogenen, in eine direkte Redeweise überführen. Es ist jedoch sicherlich ertragreich, den im Topos verborgenen begrifflichen Konzepten nachzuspüren und diese explizit zu machen – nicht um den Topos unbrauchbar zu machen (weil womöglich zweifelhaft, unklar, manipulativ etc.), sondern um das entsprechende Forschungs- und Lehrprogramm besser zu verstehen.

Die räumliche Grenz-Metaphorik ist auch konstitutiv für das gängige Verständnis von Wissenschaft und den Wissenschaften. Zum einen gilt Wissenschaft im Allgemeinen als die Praxis zur Generierung von sicherem Wissen in Abgrenzung zum unverbindlichen Meinen und Vermuten oder einem unverstandenen Können (Kambartel 2004: 719f.; siehe Mildenberger 2007: 54f.). Zum anderen werden die Vorgehensweisen im Einzelnen, die Disziplinen, häufig über den jeweils behandelten Phänomen- und Problembereich sowie über die verwendeten Methoden (z.B. verstehen oder erklären) und die Begründungsart differenziert (z.B. apriorische oder empirische Argumente) (Kambartel 2004: 720). Freilich erweisen sich insbesondere durch verstärkte interdisziplinäre Kooperation in Forschungsprojekten die „wissenschaftlichen Fachgrenzen als durchlässig“, was jedoch nicht heißt, dass diese eigentlich nicht existieren oder sinnlos wären (siehe Brendel 2011: 2588). Allerdings setzt zumindest die Metaphorik einer „Ethik in den Wissenschaften“ derartige Fachgrenzen voraus: Es gibt viele Wissenschaften, die demnach durch bestimmte Merkmale voneinander unterscheidbar sein müssen. Zudem könne Ethik „in“ diesen oder „neben“ diesen voneinander abgegrenzten Wissenschaften betrieben werden. Weiter ist Ethik selbst eine durch Problembereich, Methode und Begründungsart von anderen Disziplinen abgrenzbare Wissenschaft. Werden die Wissenschaften nun in naiv räumlicher Metaphorik gefasst, dann drängt sich das Bild von Behältnissen wie z.B. Containern oder Aktenordnern auf (z.B. mit der Aufschrift „Biologie“), die einen Bestand wahrer Aussagen und geeigneter Methoden zur Erforschung des Problembereichs (hier: „das Lebendige“) enthalten – sonst aber nichts. Angesichts wissenschaftstheoretischer und -soziologischer Überlegungen scheint es heute jedoch sinnvoll, das statische „Containerbild“ zu überschreiten und die einzelnen Wissenschaften jeweils als dynamische Praxis zu begreifen, in der wissentlich und willentlich nach spezifischen Methoden gehandelt wird, um das Ziel einer Problemlösung und gesichertes Wissen zu erreichen (siehe z.B. Düwell 1996: 220f.; Mildenberger 2007: 52f.). Somit hätten wir bildlich nun zwar nicht mehr zwei statische Behältnisse, eines der normativen „Ethik“ und z.B. eines der möglichst wertneutralen „Biologie“ ohne Moral oder ethische Fragen, jedoch bleiben doch von einander deutlich unterschiedene Verfahrensweisen, die auch in verschiedener Weise mit den ihnen jeweils inhärenten gelebten Werten und Normen umgehen. Eine weniger metaethisch interessierte, sondern eher problemorientierte anwendungsbezogene Ethik könnte nun – laut IZEW-Topos – den Akteuren der biologischen Wissenschaftspraxis fälschlicherweise „ungefragte“ Moralaufklärung leisten (über implizite Werte, mögliche Folgen und Probleme der Forschungspraxis etc.) und diesen sodann Vorschriften über wünschenswertes Verhalten machen – so interpretiere ich die metaphorische Rede von einer (verfehlten) Ethik „zu“ den Wissenschaften. Dagegen bestünde eine (ebenfalls verfehlte) anwendungsbezogene Ethik „nach“ den Wissenschaften wohl darin, dass zu Forschungsverfahren und -Produkten einer der Wissenschaften nachträglich eine (womöglich abwegige) ethische Fachexpertise eingeholt wird – ohne über die erforderliche Sachkenntnis zu verfügen. Das laut Topos wünschenswerte Vorgehen bestünde dann vermutlich in kooperativen Forschungsprojekten im Sinne einer Technikfolgenabschätzung. Ein Blick in einige programmatische Texte des IZEW zeigt, dass die Präposition „in“ zumeist für Inter- oder Multidisziplinarität steht (siehe Engels 2005: 146; Mieth 2007: 39ff.), wobei das verfehlte „neben“ entsprechend einen Mangel an Sachkenntnis in den für die anwendungsbezogene Ethik zumeist erforderlichen „gemischten Urteilen“ ausdrückt (Düwell 2001: 172f.). Wenn Wissenschaften als „Praxis“ aufgefasst werden und nicht nur als Aussagensysteme und Methodensets, dann kommen in dieser Praxis wertbasierte Präferenz-Entscheidungen vor, die so oder auch anders ausfallen und auch außerwissenschaftliche Werte berücksichtigen können. Die Annahme einer „Wertfreiheit“ der Wissenschaft kann dann nur noch ein „innerwissenschaftliches, methodisches Prinzip“ sein (Mack 1989: 31f.). Es scheint mir plausibel, dass aus der Annahme, Wissenschaft sei die Praxis des Strebens nach gesichertem Wissen, auch eine auf diesen Zweck relativierte „allgemeine Wissenschaftsethik“ bzw. „Professionsethik“ folgt, die zur ständigen Reflexion des Handelns auffordert und sich an Werten wie z.B. methodische Sorgfalt, Wahrhaftigkeit oder Kollegialität orientiert (Engels 2004: 12). Wissenschaftler/innen sind insofern „vor allem für die Wahrheit des von ihnen produzierten Wissens verantwortlich“ (Mildenberger 2007: 59). Darüber hinaus scheint es sinnvoll, eine besondere Verantwortung bzw. Professionsethik der jeweils einzelnen Wissenschaften aufgrund der Besonderheit ihrer Gegenstände anzunehmen (z.B. Engels 2004: 14f.).

Das aber sind zunächst einmal begriffliche Thesen darüber, was Wissenschaft ist und eigentlich sein sollte, nämlich eine selbstbewusste Praxis, die nicht ohne ethische Reflexion denkbar ist, da jede Praxis mit wissentlich und willentlich ausgeführten Handlungen und Überlegungen zu tun hat. Mit dem Topos „Ethik in den Wissenschaften“ verbunden ist also zum einen eine Antwort auf die Frage, was Wissenschaft ist und sein soll (nämlich eine neben der disziplinären Wissensgenerierung und Problemlösung auch zu verantwortende und ethisch zu reflektierende Tätigkeit), zum anderen wird damit aber die tatsächliche Wissenschaftspraxis fokussiert, in der nicht notwendig, nicht vorbehaltlos und auch nicht ständig ethisch reflektiert wird. Für diese Praxis ist das gemeinsame ethische Reflektieren ja etwas Neues, das an der Universität Tübingen mindestens seit 1985 praktiziert wird. „Die Ethik in den Wissenschaften richtet sich zunächst auf Personen als Subjekte dieser Ethik. Insofern geht es um den Aufbau einer wissenschaftsethischen Mentalität“ (Mieth 1990: 328). Es ist nicht ganz klar, ob hier die Wissenschaftler/innen in ihrer Rolle oder allgemein als Personen gemeint sind, die sich unabhängig ihrer bestimmten disziplinären Sozialisation, methodischen Kenntnis etc. in allen Praxisbereichen frei bewegen. Geht es im Topos „Ethik in den Wissenschaften“ also um Personen, die beiläufig auch Wissenschaftler sind, oder geht es um diese als Vertreter/innen einer bestimmten Wissenschaft? Entweder liefern die Teilnehmer/innen am interdisziplinären Austausch als Vertreter einer Disziplin gesichertes Sach- und Methodenwissen (z.B. über biotechnologische Zusammenhänge) oder sie betätigen sich, z.B. unterstützt durch „philosophisch ethische Zusatzstudien“ (Mieth 2007: 39