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Beschreibung

»Ich gehe auf den Maidan. Wer kommt mit?«, schrieb der ukrainische Journalist Mustafa Najem im November 2013 auf Facebook. Aus einer lokalen Demonstration gegen die autokratische Entscheidung des Präsidenten Viktor Janukowytsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, wurde eine landesweite Protestbewegung: der Euromaidan. Mehr als hundert Menschen wurden getötet, als der friedliche Protest in Gewalt umkippte.

Ein halbes Jahr später ist in der Ukraine nichts mehr, wie es war. Nach dem Sturz des korrupten Regimes nutzt der russische Präsident Vladimir Putin die Fragilität der Übergangsregierung aus und lässt seine Armee ins Nachbarland einmarschieren. Während eine reife ukrainische Zivilgesellschaft die Bildung neuer staatlicher Strukturen bewacht, schwört der Kreml die Bürger auf einen nationalistischen imperialen Kurs ein.

»Euromaidan« steht für die Hoffnung auf Erneuerung der ukrainischen Gesellschaft. Für eine nachgeholte Revolution. Für den Alptraum eines neuen Ost-West-Konflikts. Wird es sie geben: eine freie, selbstbestimmte Ukraine an der Seite Russland und Europas? Schriftsteller, viele von ihnen Aktivisten, erzählen von den aufwühlendsten Tagen ihres Lebens. Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler versuchen sich an einer Anatomie des Augenblicks.

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»Ich gehe auf den Maidan. Wer kommt mit?«, schrieb der ukrainische Journalist Mustafa Najem im November 2013 auf Facebook. Aus einer lokalen Demonstration gegen die autokratische Entscheidung des Präsidenten Wiktor Janukowytsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, wurde eine landesweite Protestbewegung: der Euromaidan. Mehr als hundert Menschen wurden getötet, als der friedliche Protest in Gewalt umkippte.

 Ein halbes Jahr später ist in der Ukraine nichts mehr, wie es war. Nach dem Sturz des korrupten Regimes nutzt der russische Präsident Wladimir Putin die Fragilität der Übergangsregierung aus und lässt seine Armee ins Nachbarland einmarschieren. Während eine reife ukrainische Zivilgesellschaft die Bildung neuer staatlicher Strukturen bewacht, schwört der Kreml die Bürger auf einen nationalistischen imperialen Kurs ein.

»Euromaidan« steht für die Hoffnung auf Erneuerung der ukrainischen Gesellschaft. Für eine nachgeholte Revolution. Für den Alptraum eines neuen Ost-West-Konflikts. Wird es sie geben: eine freie, selbstbestimmte Ukraine an der Seite Russlands und Europas? Schriftsteller, viele von ihnen Aktivisten, erzählen von den aufwühlendsten Tagen ihres Lebens. Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler versuchen sich an einer Anatomie des Augenblicks.

EUROMAIDAN

Was in der Ukraine auf dem Spiel steht

Herausgegeben von Juri Andruchowytsch

Redaktion: Katharina Raabe

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.

Inhalt

Juri AndruchowytschSieben raue Februartage oder Die Rolle des Kontrabasses in der Revolution

Kateryna MishchenkoEin schwarzer Kreis

Katja PetrowskajaMein Kiew

Yevgenia BelorusetsNiederlage, Nacht und ewige Verwegenheit

Serhij ZhadanVier Monate Winter

Tanja MaljartschukMehr als einer

Jurko ProchaskoKleine Europäische Revolution

Timothy SnyderDie Ukraine hinter dem Schleier der Propaganda

Alissa GanijewaWir Nationalverräter

Mykola RjabtschukDreizehn schlimmere Orte auf der Welt

Anton ShekhovtsovDer Rechte Sektor. Zwischen Polittechnologie, Politik und Straßenkampf

Martin PollackAbducken und Kopfeinziehen. Über die Macht der Lügen

Wilfried JilgeWas treibt Russland?Zum Hintergrund der Ukraine-Krise

Andrzej StasiukEin Staat »unterwegs«

Juri AndruchowytschSieben raue Februartage oder Die Rolledes Kontrabasses in der Revolution

1. Vorgeschichte

Das Leben von Wanderschauspielern steckt selbst in friedlichen Zeiten voller Herausforderungen und Gefahren. Gar kein schlechter Satz für den Anfang, finde ich.

Es war Ende Oktober, als die ganze »Albert«-Künstlertruppe in meinem heimatlichen Franyk[1] zusammenkam. Vor nicht allzu langer Zeit, aber auch nicht unlängst, stieß ich auf die Geschichte eines Mannes, der Albert Wyrosemski hieß und 1641 in Lemberg öffentlich verbrannt wurde. Die Geschichte passte in einige wenige Sätze, also entschied ich mich, gerade so viel hinzuzufantasieren, dass eine Erzählung daraus würde. Die schrieb ich sofort auf.

Albert Wyrosemski wurde bei lebendigem Leibe verbrannt für die »schändlichste menschliche Tat in der gesamten Stadtgeschichte«: Er hatte sich dem Bösen verkauft. Als er im unterirdischen Karzer des Bernhardinerklosters saß, schrieb er mit seinem Blut an die Mauer (Papier hatte er keines zur Hand), dass er seine Seele der Hölle überantworte. Darum geht es in der Erzählung, aber nicht nur darum.

Ein paar Jahre später nahm sich eine kleine Gruppe sehr talentierter Menschen des »Albert« an: Olja, Uljana, Anatolij, Mark. Nein, das war kein Zufall. Olja hatte ihn als erste so gelesen, dass sie darin Platz spürte für Uljanas Stimme, Gestik und Mimik, für Anatolis Schwarzweißgrafiken und Marks Kontrabass.

Platz und Raum.

So reifte in uns – manchmal unter Qualen, manchmal erstaunlich leicht – die Theater-Literatur-Musik-Multimedia-Performance »Albert oder Die höchste Form der Hinrichtung«. Wir zeigten sie auf drei verschiedenen Festivals, in drei völlig unterschiedlichen Situationen.

Auf dem Festival »ArtPole« in Unish spielten wir in einer Julinacht, unter Sternen, und der Reisig knackte im echten, lebendigen Feuer wie Knochen, wenn sie splittern.

Auf dem Festival »Meridian Czernowitz« spielten wir im bis zum letzten Platz gefüllten Schiller-(heute Kobyljanska-) Theater – ein so prächtiger Bau, dass am Tag, während wir probten, ein Hochzeitspaar nach dem anderen zur Fotosession anschwebte.

Auf dem Festival »GogolFest« spielten wir in der Kiewer »Promzona«, im neuerdings Kinosaal genannten Gebäude, und durch das löchrige Dach nieselte der Regen und schwebte Herbstlaub, ganz zu schweigen vom Erscheinen zweier lebendiger Tauben, einer schwarzen und einer weißen.

Ende Oktober verbrachten wir einige Tage damit, an unserer Aufführung zu feilen und sie zu verändern, indem wir sie mit neuen Episoden und lyrischen Abschweifungen anreicherten. All das im Hinblick auf eine kommende Tournee. Wir vereinbarten, dass sie in der zweiten Februarhälfte stattfinden sollte. Vielleicht in sieben Städten, vielleicht in neun, im Westen, Osten, Süden und natürlich in der Hauptstadt.

Damals, Ende Oktober, konnte keiner von uns ahnen, dass in der Ukraine bald Massenproteste beginnen würden, vereinigt unter dem Namen »Euromaidan«. (Ehrlich gesagt hatte ich diese Massenproteste schon seit einigen Jahren ungeduldig herbeigesehnt, aber nicht früher als 2017 erwartet).

Noch weniger konnten wir vorhersehen, dass er, der Euromaidan, gerade in der zweiten Februarhälfte seinen blutigen Kulminationspunkt erreichen und dass es allein an die hundert ermordete Demonstranten geben würde. Was die Verletzten, Entführten, Gefolterten und Verprügelten angeht, so kennen wir ihre endgültige Zahl (und wird sie endgültig bleiben?) immer noch nicht.

2. Die Geschichte beginnt

Ich kam am 1. Dezember auf den Euromaidan, dem Tag einer der mächtigsten Demonstrationen überhaupt, ausgelöst durch das beispiellos (damals noch beispiellos) brutale Vorgehen gegen friedliche Aktivisten, überwiegend, aber nicht nur junge, in der Nacht auf den 30. November. Es war der Anfang des Krieges, den das Regime Janukowytsch gegen uns alle führte. Auf die bestialische und blutige Einschüchterung reagierten die Hauptstadt und das ganze Land mit einer Million Demonstranten. Und ich wollte unbedingt einer von ihnen sein.

Ich blieb praktisch den ganzen Dezember in Kiew. Nie werde ich vergessen, wie wir in der Nacht auf den 11. von überall her zum Maidan strömten, um ihn mit unserer Menge, unserer lebenden Menschenmasse, vor dem Sturm der Polizeisondereinheiten zu schützen. In jenen Tagen und Nächten trugen wir noch keine Helme oder andere Schutzausrüstung. Wir hatten nur unsere Körper. Wenn eine kritische Anzahl davon auf dem Maidan steht, dann können wir ihn retten. So verstanden wir unsere Aufgabe. In der Nacht auf den 11. stoppten wir genau so ihren Ansturm – in nur wenigen Stunden waren wir mehrere Zehntausend. Die Glocken des Michaelsklosters läuteten über ganz Kiew, als befänden wir uns irgendwo im 13. Jahrhundert, und riefen die Menschen zum Widerstand auf. Es hatte etwas Archaisches, etwas Mittelalterliches.

Ein paar Tage später, am 14. Dezember, traf sich die ganze »albertinische« Truppe vor der wiedererrichteten Barrikade auf der Instytutska-Straße. Olja wollte von jedem wissen, ob wir wegen der Umstände die Februar-Tournee nicht vielleicht absagen sollten. Bis dahin waren es noch zwei Monate, doch konnte kein Zweifel bestehen, dass die Lage sich nicht beruhigen und der Maidan aushalten würde. Außer vielleicht, wenn man ihn mit Flammenwerfern und Panzern räumte. Aber das wäre das Ende der Welt. Nicht nur das Ende unserer Projekte, Erzählungen, Gedichte, Lieder, Vernissagen und Visionen, sondern unser aller physisches Ende.

Einmütig beschlossen wir, uns einem solchen Szenario zu widersetzen und nichts abzusagen. Dort, vor der Barrikade auf der Instytutska-Straße, drehten wir ein Video, in dem jeder von der überraschenden Aktualität des »Albert« sprach, über Schwarz, Weiß und die Kräfte der Nacht, die sich im Morgengrauen zurückziehen. Um nachts erneut vorzurücken.

Dann kam zu Schwarz und Weiß die Farbe des Feuers. Es brannten Autoreifen auf der Hruschewskyj-Straße, Scheite in den Metallfässern neben den Zelten, Aktivisten-Autos, Parteizentralen der »Regionalen«[2], Läden und Büros.

In dieser Zeit legten wir unsere Tournee endgültig fest: Vom 18. bis 25. Februar – Franyk, Ternopil, Kiew, Saporishja, Odessa. Als nächstes sollte noch Kamjanez-Podilskyj folgen, aber man bat uns, ein anderes Mal zu kommen: Alle seien auf dem Maidan, dem lokalen und dem in Kiew.

Also nur fünf Städte. Dabei hatten wir ursprünglich neun geplant. Und dann Gegenpläne entwickelt – alles abzusagen. Also war fünf gar nicht schlecht. Die Gegenpläne waren gescheitert: Kunst und Revolution marschierten gemeinsam. Keine Revolution widerspricht der Kunst, wird sie doch durch deren Ideen und Emotionen befeuert. Und umgekehrt – keine Kunst widerspricht der Revolution, balanciert sie doch ständig an der Grenze zur Zukunft.

Erst heute habe ich gedacht, dass die Woche zwischen dem 18. und dem 25. Februar gar nicht nur sieben, sondern siebenhundert Tage hatte. Wir sagten keine einzige Vorstellung ab, auch, weil sie, die im Zentrum von Kiew auf unsere Freunde schossen, nicht nur auf sie schossen, sondern ihnen ins Herz, in die Augen, in die Genitalien zielten, weil sie genau das wollten – das Ende von Theateraufführungen, Leben, menschlicher Würde, Achtung, Kreativität, Widerstand. »Kaum zu glauben, dass wir in völliger Dunkelheit begannen – eine Stunde vor dem Sturm auf den Maidan«, schrieb mir Olja gestern.

Und nun einige Fragmente aus jenen Tagen.

3. Franyk

Am 18. Februar endete in Kiew ein seltsamer, vorgeschobener »Burgfrieden«, und die Auseinandersetzung auf Leben und Tod wurde wieder aufgenommen. Die Machtorgane nannten die Operation »Bumerang«. Sie lockten große Mengen von überwiegend friedlichen Demonstranten, Teilnehmer der sogenannten friedlichen Welle, die nicht einmal mit Holzschilden oder Helmen geschützt waren und in deren Reihen sich auch Frauen befanden, bis ans Parlament und bedrängten sie dann mit einer großen Zahl von Einsatzkräften aus verschiedenen Richtungen – aus der Hruschewskyj-, der Instytutska-Straße und den umliegenden Gassen. Schon nachmittags bewegten sie sich massiert in Richtung Maidan, fegten die Barrikaden hinweg und machten Schluss mit den Verwundeten. Und das nicht etwa schnell und schmerzlos: im Marijinski-Park neben dem Parlament haben Augenzeugen einen enthaupteten Torso gesehen. Um sechs Uhr abends befand sich der Maidan im Würgegriff eines eng geschlossenen Kreises. In den nächsten Stunden würde die Katastrophe eintreten – seine völlige Räumung.

Um sieben Uhr eröffneten wir die Vorstellung mit einer Schweigeminute.

Der Sturmangriff begann kurz nach acht. Wir rezitierten gerade die letzte Strophe von Antonytschs Gedicht »Die Posaunen des Jüngsten Tages«. Die letzte Strophe des letzten Tages. Im ganzen Saal waren wir die einzigen, die noch nicht wussten: Es hatte begonnen. Als der Akt kurz darauf zu Ende war, erhob sich das Publikum und applaudierte mit besonderem Nachdruck. Als wäre auch dies das letzte Mal. Da brannten schon die Ränder des Maidan. Es war die einzige Hoffnung seiner Verteidiger – dieser undurchdringliche Vorhang aus dem Rauch von brennenden Autoreifen, Holz und Lumpen und allem, was da war. Dieses Feuer war Verzweiflung.

»Andrij kann nicht reden«, sagte Uljana und steckte das Telefon weg. »Er hat nur eins gesagt: sie werden bis zum letzten Mann aushalten.« Andrij ist ihr naher Verwandter, und seit dem ersten Tag auf dem Maidan. Vater von drei Kindern. Auch Uljana hat drei. »Bald werde ich für sechs sorgen«, sagte sie.

In derselben Nacht sah ich auch, wie in meiner Stadt das Gebäude des SBU in Flammen aufging. Früher war es das Gebäude des KGB. Und noch früher, wenn ich mich nicht irre, das der Gestapo. Der Anblick war es wert, dass ich diese verzweifelte Nacht noch erlebte.

Wie durch ein Wunder überdauerte der Kiewer Maidan diese Nacht. Und der mir unbekannte Andrij überlebte sogar.

4. Ternopil

Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Bus nach Ternopil. Die Straßenbrücke über den Dnister in Nyshniw wurde von einem Kontrollposten der örtlichen Selbstverteidigung kontrolliert. In solchen Zeiten wird plötzlich klar, dass große Brücken über große Flüsse wirklich strategische Objekte sind. Die Nyshniwer Bauern, bewaffnet mit Knütteln und vielleicht auch Heugabeln, passten auf, dass aus dem Westen keine Einheiten der Miliz oder der Innentruppen Richtung Kiew gelangen konnten. Sie hätten sich vor die Räder geworfen, daran habe ich keinen Zweifel.

Dafür aber überholten uns immer neue Busse mit revolutionärem Volk und brausten Richtung Kiew. Wie schon so oft in den wenigen Monaten der Revolution hatten die Leute alles stehen und liegen gelassen und eilten nach Kiew, um den Maidan zu verteidigen. Manche blieben einige Wochen dort und kehrten zurück, andere lösten sie ab. Manche aber stießen gerade jetzt zum ersten Mal dazu. Manche sollten am nächsten Tag sterben – nachdem sie zum ersten und zum letzten Mal dort gewesen waren.

In Ternopil begannen wir unsere Probe, mussten sie aber unterbrechen. Die Bühnenarbeiter baten uns darum. Den Schewtschenko-Boulevard entlang, an dem das Theater lag, sollte eine Prozession mit gefangenen Berkut-Leuten führen[3]. Und alle wollten diesen Triumph des revolutionären Volkes über die verhasste Polizei sehen. So wurden die geteerten und gefederten Angreifer in belagerten mittelalterlichen Städten durch einen Korridor der Schande geführt. Ich weiß bis heute nicht, ob man diese Ternopiler Berkut-Leute wirklich gefangen genommen hatte, oder ob sie freiwillig zum Volk übergelaufen waren. Vielleicht gab es solche und solche. Entwaffnet und erniedrigt, wurden sie als Kolonne über den zentralen Boulevard der Stadt geführt. Ihre Schilde und Helme Trophäen. Ihr Bus mit revolutionären Losungen vollgeschrieben.

Nach der Vorstellung spendete man uns wieder stehend Beifall. An jenem Abend erschien die Kerze, die in der letzten Szene entzündet wurde, alles andere als banal.

Nach der Vorstellung stiegen wir in den Nachtzug nach Kiew und machten es uns im Liegewagen bequem. Aber wir fuhren nirgendwohin. Der Zug bewegte sich nicht vom Fleck – eine Stunde, zwei. Die Gerüchte bestätigten sich, dass die Eisenbahnverbindung zwischen dem Westen und Kiew blockiert war. Die Staatsmacht befürchtete, dass sich der Maidan pausenlos mit immer neuen Aufständischen füllen würde. Offiziell wurde die auf unbestimmte Zeit unterbrochene Eisenbahnverbindung mit »unterspülten Gleisen im Abschnitt Teteriw–Korosten« begründet.

So schliefen wir im stillgelegten Zug.

Um acht Uhr morgens bat uns der Schaffner auszusteigen: Man habe ihm gerade durchgegeben, dass Kiew nicht zu erreichen sei. Der Zug werde bis zum nächsten Abend in Ternopil stehen bleiben und von da nach Czernowitz zurückfahren. »Am liebsten würde ich diesen Banditen eigenhändig erwürgen«, sagte der Schaffner mit ausgeprägtem Czernowitzer Akzent. Allen war klar, wen er damit meinte.

Aber wir mussten trotzdem weiter. Gut, dass unser Kiewer Auftritt, für den die Karten schon seit ein paar Wochen ausverkauft waren, erst am nächsten Abend stattfinden sollte.

Vom Ternopiler Bahnhof verlegten wir uns mit allen Sachen und dem Kontrabass ins Art-Café »Kosa«, Ziege. An jenem Morgen war es eine ganz besondere Mischung aus revolutionärem Hauptquartier, Informationszentrum und Sammelpunkt für frisch Mobilisierte. Es bildeten sich Kleingruppen derer, die sich mit Autos und Bussen nach Kiew durchschlagen wollten. Dabei klebten alle vor dem großen Bildschirm mit der Internet-Übertragung vom Maidan.

Im Ukrainischen gibt es den Ausdruck »Fallen wie die Garben«. Wieder zeigt sich unsere uralte Bauernmentalität. »Fallen wie die Garben« ist dasselbe wie »hingemäht werden«. Uljana telefonierte wieder mit jemandem, vielleicht mit Andrij. Die Jungs um ihn herum »fielen wie die Garben«, sagte er. Die feindlichen Heckenschützen, von denen sie methodisch aus den oberen Etagen des Hotels »Ukraina« (oder des Gebäudes der Nationalbank?) beschossen wurden, führten zwei unterschiedliche Handschriften: Die einen trafen immer ins Herz, die anderen immer in die Halsschlagader. Die Zahl der Maidan-Verteidiger, die sofort tot waren oder tödlich verwundet, wuchs minütlich. Viele wurden erschossen, als sie versuchten, die Leiche eines Kameraden aus der Schusslinie zu ziehen. Um den Körper aufzunehmen, musste man den Schild zur Seite legen und die Deckung aufgeben – und das nutzten die Heckenschützen aus. Es existiert die These, dass sie für jeden Ermordeten eine große Summe Geldes bekamen. Pro Tag bis zu vierzigtausend Dollar. Das Regime verstreute sein über die Jahre geraubtes Blutgeld.

Der 20. Februar ist der Tag der höchsten Konzentration von Verbrechen des Regimes. Die Gefallenen werden später Himmlische Hundertschaft genannt.

Am schwersten hatte es Julija. Eine Volontärin aus Winnyzja – all die Monate auf dem Maidan, jeden Tag und jede Nacht, sie arbeitete im Sanitätsdienst. An jenem Tag ließ man sie die Telefonanrufe annehmen. Man brachte ihr die Mobiltelefone der Gefallenen, sie wuchsen direkt vor ihren Augen zu einer langen Reihe. Sie hatte die Aufgabe, Anrufe für diejenigen anzunehmen, die es nicht mehr gab. Julia betrachtete entsetzt die ganzen Nokias und Samsungs, während sie schwiegen. Dann begann eins nach dem anderen zu läuten. Am schrecklichsten war es zuzusehen, wie auf dem Display das Wort »MAMA« aufleuchtete.

5. Die Straße nach Kiew

Erst nach einigen Stunden fuhren wir los. Die guten Leute aus der »Kosa« hatten uns einen Kleinbus für sieben Passagiere gefunden. Gemeinsam mit unserem achten Genossen, dem Kontrabass, quetschten wir uns hinein.

Der Sohn des Fahrers war an jenem Morgen auf dem Maidan verwundet worden. »Ich bringe euch hin und nehme den Jungen mit nach Hause«, sagte der Mann. Aber woher denn! »Papa«, antwortete ihm sein Sohn am Telefon, »ich hab nichts Schlimmes: ein paar Splitter in der Hüfte, ein paar in der Schulter. Ich bleibe hier, nichts bringt mich fort. Nimm lieber ein paar von den anderen mit, die schwer verletzt sind.«

Wie könnte man mit solchen Menschen nicht siegen?

Auf der Landstraße von Shytomyr fiel uns eine lange Kolonne von Rettungswagen auf, die von Riwne nach Kiew fuhren, Dutzende Autos. In Kiew gibt es nicht genug, und von Riwne nach Kiew sind es vier Stunden Fahrt. Wer hat gesagt, dass es in diesem Land keine echten Ärzte mehr gibt?!

Alle Zufahrtstraßen nach Kiew waren wieder frei, die Polizeiposten geflohen. Dafür aber stießen wir mehrmals auf immer eindrucksvollere Straßensperren der Selbstverteidigung. Die Menschen hatten sich in wenigen Stunden selbst organisiert und entrissen ihr Land der Macht des Regimes.

Das Wort »wir« fühlt sich bei solchen Gelegenheiten ganz groß an – WIR.

6. Kiew

Nachdem wir (das kleine »wir«, unsere fahrende Truppe) am 21. Februar im Molodyj Teatr in Kiew geprobt hatten, gingen wir hinunter zum Chreschtschatyk. Topographisch war es der Chreschtschatyk, aber im weiteren Sinne eben jener Maidan, sein Territorium, eine Stadt in der Stadt. Zuletzt war ich eine Woche vorher da gewesen, zu Zeiten des »Burgfriedens«. Was für ein Unterschied. Nach den vergangenen schweren Tagen und Nächten war er entsetzlich schwarz geworden – die Gehwege und Wände, die Bäume und Gesichter. Es war, als hätte sich der schwarze Staub schon so tief in die Gesichtszüge, Falten und Schrammen gefressen, dass er nie mehr abzuwaschen war. Als wären die Bergleute des Donbass plötzlich direkt aus ihren Schächten auf den Maidan gekommen, ohne sich nach der Schicht zu waschen. Nur dass sie Tarnanzüge trugen und gar nicht bergmännische Helme.

Das Feuer. Es hatte alles angefressen, was es erreichen konnte. Feuer, Rauch, Asche, Wind und Schlacke. Feuer, das die letzten Brücken für einen Kompromiss verbrannt hatte.

Es gab fast keine Pflastersteine mehr unter unseren Füßen. Früher nannte man sie Waffe der Proletarier.

An uns vorbei wurden zwei offene Särge mit Gefallenen getragen. Unzählige Passanten blieben stehen, nahmen die Mützen ab und bekreuzigten sich. An jenem frühen Abend wurden dringend Särge gesucht – hundert himmlische Särge für die morgige, feierliche Bestattung.

Die Vorführung begannen wir wieder mit Stille. Und dann, am Ende, erhielten wir wieder brausenden Beifall. Anatoli sagte, dass er die Tränen nicht zurückhalten konnte. Julija kam, die erwähnte Volontärin des Sanitätsdienstes, mit ihr der Kiewer Wolodymyr, der wie sie die ganzen drei Monate auf dem Maidan verbracht und in den letzten Wochen vor allem Autoreifen hertransportiert hatte. »Mir scheint«, sagte er über das Stück, »worum es geht ist, wie teuer du deine Seele auch verkaufst, es ist immer zu billig.«

Ich dachte, dass er wohl recht hatte. Dass unser Stück davon handelte, dass man seine Seele nicht verkaufen durfte. Und konnte es selbst nicht fassen, dass ich, der Autor, das früher nicht kapiert hatte. Ich hatte einen Vermittler gebraucht. Oder einen Boten. Den unbekannten Wolodymyr, Herr der Reifen.

Zwischenspiel (»Albert«)

In der fünften Stunde der Darbietung – die meisten Zuschauer waren von der nachlassenden Dynamik der Handlung inzwischen mehr als gelangweilt – fraß das Feuer ihn endgültig und brannte langsam nieder. Spezielle Gerichtsdiener fegten die zu Asche gewordenen Reste in ein silbernes Schaugefäß (den sog. Fortuna-Cup), das dem Zeremonienmeister unter Waldhornblasen und Paukenschlagen feierlich übergeben wurde. Nicht ausgeschlossen, dass in dem Moment, als dieser gemäß Brauch und Gesetz Alberts Asche vom Rathausbalkon in alle vier Himmelsrichtungen zu verstreuen begann, der von der Mehrzahl der Chronisten beschriebene entsetzliche Wind sich erhob und der Himmel sich verdunkelte. Die verängstigten Leute ergriffen die Flucht wie Teilchen in einer Brown'schen Reaktion, es entstand eine panische Masse, die sich trotz des insgesamt korrekten operativen Vorgehens der Magistratsbüttel nicht auflösen wollte. Der Wind bog die Glockentürme, zerfetzte Banner und Fahnen und riss Köpfe ab. Jener, den Albert Wyrosemski vor seinem Tod gerufen hatte, war also doch gekommen.

7. Kiew (Fortsetzung)

Am 22. Februar starb ich fast vor Glück. Morgens rief Dmytro an und schlug eine Exkursion nach Meshyhirja[4] vor. Direkt vor Neujahr waren Dmytro und ich, ein Haufen Bekannter und mehrere Zehntausend Demonstranten schon einmal hingefahren, um überraschend eine zweite Front direkt vor den Toren des Kannibalen zu eröffnen. Damals versperrten uns die Innentruppen alle Straßen und Wege, und hinter ihnen weitere Einheiten in Schwarz – die letzte Verteidigungslinie, ausgemachte Mörder, Tontons-Macoutes.

Am 22. Februar waren sie alle weg. Auseinandergegangen, getürmt, geschmolzen, verschwunden, tot – als hätte es sie nie gegeben. Meshyhirja stand frei und ungeschützt – mit all seinen legendären Straußen, Kamelen, griechischen Ruinen, exotischen Pflanzen und Vögeln, den aus Museen geraubten Bildern, goldenen Brotlaiben und Kloschüsseln, all den Gütern, die man nicht wegkarren konnte (oder wollte?). Und ohne Janukowytsch.

Janukowytsch geflohen? Sieg der Revolution?!

Mit aller Macht versuchte ich, mein rasendes Herz zu beruhigen, dass jede Sekunde zerspringen wollte, und schluckte eine Megadosis Corvalolum. Es wäre ungerecht und auch nicht richtig gewesen, wenn es gerade an jenem Tag ausgesetzt hätte.

8. Saporishja

Erst im Nachtzug ging es mir wieder besser. Wir fuhren von Kiew nach Saporishja, eine große Stadt im industriellen Osten (und gleichzeitig Süden): Metallurgie, Chemie, Energiewirtschaft, kommunistische sowjetische Traditionen, Enttäuschung, Depression – alles, was die ausländischen Koryphäen so gerne heraufbeschwören, wenn sie von der hoffnungslosen Geteiltheit der Ukraine in einen »proeuropäischen Westen« und einen »prorussischen Osten« sprechen. Saporishja, das ist er angeblich, der »prorussische Osten« in Reinform.

Dabei gab es in Saporishja seit den ersten Tagen einen Euromaidan. Es war wichtig für mich, das zu wissen. In unzähligen Interviews für westliche Medien wiederholte ich, wo ich nur konnte: Es stimmt nicht, dass die Leute nur in Kiew und im Westen auf die Straße gehen – in Charkiw, in Donezk und Saporishja auch. Und sogar in Simferopol. Ja, sie sind nicht so viele dort, aber umso wertvoller ihre Courage.

In Saporishja wurden wir sehnlichst erwartet. Der Saal, in dem wir auftraten, war entsetzlich kalt, nicht geheizt (Stadt der Energiewirtschaft!), aber er reagierte mit besonderer schmerzhafter Empfänglichkeit und innerer Glut. Mark hatte sich also ganz unnötige Sorgen um die Gesundheit seines Kontrabasses gemacht. Nach der Schweigeminute rief jemand im Saal »Ruhm der Ukraine!«, und alle anderen antworteten. »Saporishja Ruhm!«, dachte ich.

An jenem Abend schenkten mir lokale Anarchisten ein Buch über Machno[5] und seine Bewegung mit der Widmung: »Unserem Bruder Juri von den Saporoher Machnowzy«. Da wollte ich noch stärker an die gemeinsame Zukunft aller freien Menschen eines freien Landes glauben.

In Wahrheit aber war es doch viel schlimmer. In der nächtlichen Stadt trieben bewaffnete Banden halbkrimineller Gauner, diese letzten Ausgeburten des Regimes, ihr Unwesen. Irgendjemand erteilte ihnen weiterhin Befehle und gab Geld. Vor den Fenstern unseres Theaters breitete sich große Dunkelheit aus, Schüsse, Hetzjagden, Eindringen in Wohungen und sehr unklare Aussichten. Heute, wenn ich diese Zeilen schreibe, sind sie noch unklarer.

Und als wir am nächsten Tag nach Odessa fuhren, merkte ich einmal mehr, wie ungepflegt, geplündert, verlassen und von niemandem beachtet das grenzenlose Territorium zu beiden Seiten der Strecke war. Es kam mir vor, als müsse man von der gesamten Oberfläche des Landes rücksichtslos eine Schicht bis zu einer Tiefe von eineinhalb oder zwei Metern abkratzen und erst dann, wenn der neu geschaffene leere Raum ordentlich geglättet wäre, mit der undankbaren Aufgabe beginnen, echte und richtige Fundamente zu errichten.

Unterwegs wurde es immer kälter und dunkler.

9. Odessa

Und in Odessa schneite es. Die dadurch niedergedrückte und leicht betäubte koloniale südliche Stadt leistete mit all ihren Büschen, Bäumen, Bögen und Balkons Widerstand. Der Schnee war vergänglich, Odessa aber schien ewig.

Zwei Stunden vor der Vorstellung waren wir fertig mit der letzten Probe und gingen spazieren. Irgendwo hier war das Meer. Auf dem Französischen Boulevard wandten wir uns nach rechts und liefen steile Stufen hinab zum Ufer. Bevor es ganz dunkel wurde, wollten wir sehen, wie es ins Meer schneite. Es wirkte tatsächlich schwarz. Wir gingen ganz nahe heran, bis zur Spitze eines der Wellenbrecher am Strand.

Ein Schritt weiter – und wie eine schwarze Welle hätte die Zukunft uns verschlungen.

23. März 2014

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr

[1] Die westukrainische Stadt Iwano-Frankiwsk (A. ‌d. ‌Ü.)

[2] Mitglieder der »Partei der Regionen«, die bis zum 22. Februar die Ukraine regierte.

[3] Kämpfer der Polizei-Spezialeinheit »Berkut«, die sich durch besondere Grausamkeit und Banditentum auszeichnete.

[4]

Kateryna MishchenkoEin schwarzer Kreis

Wenn ich die internationale Berichterstattung über die Ukraine lese, die Interviews mit Politikern, die journalistischen Analysen, die Augenzeugenberichte von Krimbewohnern und Soldaten, dann versuche ich mir vorzustellen, wie die Toten des Maidan auf diese Nachrichten reagiert hätten. Wie hätte Jurij Werbyzkyj, Geologe und Wanderer, Mitte Januar von Unbekannten in Zivil entführt und gefoltert, die Okkupation der Krim aufgenommen? Was hätte Bohdan Soltschanyk, Soziologiedozent an der Lwiwer Katholischen Universität, ein Freund meiner Freundin, Mitte Februar von Scharfschützen erschossen, zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens gesagt? Sicher wären viele von ihnen jetzt an neuen Brennpunkten der Ukraine aktiv. Wem würde der Kiewer Wolodymyr Melnytschuk jetzt helfen, den ein Scharfschütze erschoss, als er am 20. Februar Verletzte transportierte? Wie gern würde ich jetzt mit den Toten reden, gibt es doch nichts Realeres als die Verantwortung für ihren Tod und für die Sehnsüchte, die sie auf den Maidan gebracht hatten.

Der Maidan ist zugleich Agora und Grabstätte. Der Ort, an dem ein neues politisches Bewusstsein entsteht und der Ort der größten Tragödie seit der Unabhängigkeit der Ukraine. Mit dieser Zwiespältigkeit muss ich von nun an leben, und nicht nur ich. In diesem Wissen durchdenke ich die jüngste Vergangenheit und plane die Zukunft. Und dann ist der Maidan der einzige Ort, von dem aus man sprechen kann, wenn man sich selbst gegenüber ehrlich bleiben will.

Immer noch versuche ich, während ich die Straße entlanggehe, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie man über all das, was passiert ist und immer noch passiert, schreiben oder sprechen kann. Was für ein Text kann früher oder später den akuten Drang zu schreien ersetzen? Es fällt mir unglaublich schwer, mit den Lesern in einen Dialog zu treten. Ich würde ja so gern das Gesamtbild erfassen, das Wesentliche herausarbeiten, aber mein Blick kann sich nicht von den Gräbern lösen, die Gedanken bleiben dort hängen, wo sich die Gewaltspirale weiterdreht, auf der Krim, in Charkiw oder Donezk. Gleichzeitig verspüre ich schon länger das Bedürfnis, meine Erfahrungen zu teilen, indem ich mir die Interaktion der Menschen auf dem Maidan zu eigen mache. Fragmentarische Beobachtungen und kleine Begebenheiten zu teilen, die in ihrer Vielfalt die gewaltige Kraft des Protestes ausmachen.

Während der ersten Protesttage, die ich auf dem Maidan verbrachte, war ich verblüfft über das Ausmaß meiner Entfremdung von der sozialen Realität in der Ukraine. Eine ziemlich schmerzhafte Erfahrung, weil ich mein bisheriges Tun, das Übersetzen und die Herausgabe einer intellektuellen Zeitschrift, immer für sehr notwendig, aber für unterschätzt und zu wenig beachtet gehalten habe. Diese Erkenntnis bedeutete die Rückkehr aus meiner inneren Emigration und gab den Anstoß zu einer Neuinterpretation meiner Tätigkeit. Jahrelang galten in meinem Umfeld, unter linken Aktivisten, zeitgenössischen Künstlern und gesellschaftskritischen Publizisten, alle Realien mit dem Präfix »Euro« als Zeichen für Spießbürgerlichkeit, soziale Stagnation und illusorische Vorstellungen von Wohlstand. Als sich die Menschen in EU-Flaggen hüllten, sah es für mich zunächst nur so aus, als lüden sie sich eine neue ökonomische Bürde auf und als prophezeite das Eurosternbild auf ihren Rücken nichts als enttäuschte Erwartungen an ein imaginiertes Europa. Später wurde dieser Volksaufstand, den ich für mich per aspera ad astra nannte, zum grundlegenden Prinzip des Maidan. Wir hatten beschlossen, für eine andere Ukraine zu kämpfen, für die Ukraine, von der wir träumten. Der Euromaidan stellte alles auf den Kopf, er zog meine kulturellen und sozialen Konstrukte in Zweifel. Ich hatte nicht den Schimmer einer Ahnung gehabt, was für Menschen um mich herum lebten. Meine bisherigen Übersetzungsstrategien erwiesen sich als völlig untauglich, vermochten sie zwar ausländischen Narrativen einen ukrainischen Klang zu verleihen, sie aber nicht in unsere Gesellschaft einzuschreiben. Fest davon überzeugt, dass nur mein eigenes Umfeld die Avantgarde einer möglichen Revolution sein könnte, hatte ich mich offensichtlich in all den flattrigen westlichen Theorien, Wirtschaftsanalysen und meinen eigenen Vorstellungen von der ukrainischen Gesellschaft und der Ukraine an sich verirrt. Das Umherirren hatte ein Ende, als ich gemeinsam mit vielen anderen auf den Platz ging und meine Mitbürger kennenlernte.

Ein Mann erzählte von seiner kleinen Autoreparaturwerkstatt. Jeden Monat kamen Milizionäre vorbei und verlangten eine kostenlose Wartung ihrer Autos. Bis er sich eines Tages weigerte, weil er kein Geld hatte, um seine Angestellten zu bezahlen. Da schlugen ihn die Milizionäre zusammen. Der Mann packte seine Sachen und fuhr zum Maidan. Seine Schwester, eine Ärztin, kam aus Lwiw nach Kiew, um den Verwundeten zu helfen. Weil es zu gefährlich war, die Menschen ins Krankenhaus zu bringen, operierte sie in einer Kiewer Wohnung.