Europa. Ein Gesang - Rumiz Paolo - E-Book

Europa. Ein Gesang E-Book

Rumiz Paolo

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Beschreibung

Auf der Suche nach einem verlorenen Europa segeln vier moderne Argonauten über das Mittelmeer, der Hoffnung entgegen. Europa hat seine Ursprünge aus den Augen verloren. Um sie wiederzufinden, machen sich vier Gefährten mit einem alten Segelboot auf den Weg in Richtung Orient, dem Duft von Ginster und Senfblüten folgend. Doch bedrohlich lastet der Himmel über dem Mittelmeer, dem nassen Grab für Migranten. Im Hafen von Tyros flüchtet sich ein syrisches Mädchen an Bord, traumatisiert von Zwangsheirat, Krieg, Vergewaltigung. Ihr Name ist Evropa. Ihre Anwesenheit verbindet die Gegenwart mit der fernen Epoche der Mythen, als Zeus selbst in Gestalt eines Stiers die Königstochter über das offene Meer entführte. Paolo Rumiz' großes modernes Epos über einen Kontinent, der dabei ist, seine Menschlichkeit zu verlieren. Geschrieben im Rhythmus der Wellen, im Gleichklang mit dem Rauschen des Meeres. "Sturmwind brist auf und die Wellen wachsen, laut fangen die Segel an zu klagen, sich blähen im Wind, während das Bugspriet sich aufbäumt und wieder absinkt in seiner unnachahmlichen Trägheit im Spiel der Wellen."

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Seitenzahl: 317

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„In jener Nacht erzählte Boreas dem Meer die Epopöe der jungen Frau, und das Meer erzählte sie unserem Segler, der uns hinüberbrachte auf die andere Seite.“

Karte: Cesare Tarabocchia

Foto: © Alessandro Scillitani

Paolo Rumiz, geboren 1947, lebt in Triest und im slowenischen Karst. Segler, Wanderer, Autor eigenwilliger Bücher. Korrespondent aus Krisenregionen, schreibt er seit 1998 Reportagen von seinen Radtouren nach Istanbul, den Bus-, Anhalter- und Fußreisen zu den Rändern Europas oder in die Arktis. Er segelte entlang der alten Handelsrouten Venedigs und verbrachte drei Wochen auf einem einsamen Leuchtturm im Adriatischen Meer.

Bei Folio sind erschienen: Der Leuchtturm (2017), Die Seele des Flusses (2018), Via Appia (2019) und Der unendliche Faden (2020).

Maria E. Brunner, Südtiroler Herkunft, hat an italienischen und deutschen Universitäten gelehrt. Übersetzungen aus dem Italienischen, u. a. von Vincenzo Consolo und Maddalena Fingerle. Eigene literarische Publikationen bei Folio.

PAOLO RUMIZ

EUROPA.EIN GESANG

Aus dem Italienischen von Maria E. Brunner

Folio Verlag, Wien · Bozen

Inhalt

Figuren und Beinamen

PROLOG

Am Anfang war das Meer

An den Mond

BUCH DER BEGEGNUNG

1. Die Seekarten

2. Die Frau

3. Die Galionsfigur

4. Der Alkoven

5. Die Leuchttürme

BUCH DER FLUCHT

6. Die Furcht

7. Der Schakal

8. Der Überfall

9. Der Schatten

10. Die Gerte

BUCH DER SCHLAFLOSIGKEIT

11. Die Abwesenheit

12. Das Muhen

13. Venus

14. Der Liebesakt

BUCH DER SCHIFFBRÜCHIGEN

15. Des Meeres Kinder

16. Die nackte Jungfrau

17. Die Bouzouki

18. Das Geheimnis

19. Der Ring

20. In der Falle

BUCH DES WIEDERGEFUNDENEN NAMENS

21. Die Tortur

22. Die Schmähung

23. Das Traumbild

24. Die Leuchtkäfer

25. Der Pelikan

BUCH DER HERKUNFT

26. Der Mond

27. Der Wal

28. Das Blut

29. Der Abgrund

30. Im Auge der vier Winde

31. Der Vulkan

32. Die Passage

BUCH DES UNENDLICH WEITEN MEERES

33. Die Schildkröte

34. Die Schwalbe

35. Der Nostos

Nachwort: Europa ist weiblich

Unbedacht hab ich um Mitternacht

einen Schwarm Verse entfacht

hab sie fliegen lassen, hinaus in die Nacht

Figuren und Beinamen

EVROPA (später Europa), junge Frau aus Syrien auf der Flucht.

Sie trägt einen hehren Namen, Unsere liebe Frau vom Mittelmeer, Königin und Mutter, Krähenflügeln gleichen ihre Haare, Enigma; die Hartnäckige, die Unbeugsame; die mit den schlanken Fesseln, die mit den bleichen Armen.

DER MOND wacht über die junge Frau im Exil.

Selene, weiße Göttin, Fata Morgana, Freundin der Aoiden; mit bronzenen Brüsten.

ADIL, Evropas Vater.

König, Sohn der Wüste, Mann in Tuareg-Blau.

MOYA, Jacht aus dem Vereinigten Königreich, gälisch „Frau“.

Alte Dame, getakelt mit rotem Segel, Herrin der Winde, Tochter des Ozeans, echoreicher Alkoven der Stimmen, große Ohrmuschel, Einhornwal, Argonautenschiff; ihr abgerundetes Heck gleicht einem Stierleib.

PETROS, griechischer Steuermann.

Auriga, Admiral der Seelen, Aoide, geflügelter Denker, die Locken vom Meerschaum geformt, Kartograf, himmelsgleicher Jäger.

ULVI, Smutje und Schiffszimmermann, Türke mit deutscher Mutter.

Der mit den blauen Augen, Donnerer, Tscherkesse, Telamonier, der Gigant, der Gutmütige, der Kaukasier; Hephaistos gleich.

SAM, Seemann aus Frankreich mit jiddischer Mame.

Aschkenase, Verführer, Fassadenkletterer, Pfeilhecht, Eulenäugiger; der Heisere, der Hinkende, der Lahme.

DER ERZÄHLER, Sternkundler aus Dalmatien, dessen Name ungenannt bleibt.

Schreiber, kleine Lampe.

EVROPA, als geografischer Begriff.

Okzident, Estremadura, Finis Terrae, Hesperidengarten, uralter Kontinent.

Etymologie: vermutlich aus altgriechisch „euri ops“, weite Sicht oder breitgesichtig, weit aufgerissene Augen, Antlitz des Mondes. Im Akkadischen Mesopotamiens bedeutete „erebu“ Schatten, Ort, wo die Sonne untergeht. Davon stammt das Griechische „érebos“, Reich der Finsternis, Unterwelt.

PROLOG

Am Anfang war das Meer

Lebris war Kapitän der Surprise, die unter französischer Flagge segelte, und er sah in einer glasklaren Oktobernacht ein ziegelsteinrotes Segel, das in der weiten Bucht von Palermo das Meer in zwei Teile schnitt und stark krängend in nordöstlicher Richtung fuhr, dicht am Wind gebrasst.

Er justierte das Fernglas. Auf der Jacht war niemand zu sehen, stolz und träge glitt sie auf zinkfarbenen Wellen mit zwanzig Knoten bei Gregale dahin im Gegenlicht, schneeweiße Möwenflügel krönten den türkisblauen Himmel.

Wunderbar weiß war ihre Bugwelle, makelloser Bierschaum auf dem Schnurrbart eines pensionierten preußischen Grenadiers. Ein Segler vom Nordmeer war sie, aus Holz gezimmert vor einem Jahrhundert, wie die Trieren im Seegefecht von Salamis hatte sie auf dem Bug beidseitig ein Auge aufgemalt.

Gewaltig wirkte das Gaffelsegel dieser prächtigen Jacht, an ihrem Rumpf unter dem Bugspriet waren eigenartige Hörner angebracht.

An der Saling sah man eine zerfetzte Bluse, gesetzt in Piratenschwarz, achtern eine Flagge mit goldenem Sternenkranz auf blauem Grund.

Neugierig korrigierte der Franzose seinen Kurs und steuerte das Boot gegen die Wucht der Wellen, sodass er den Wind raumschots hatte und die Fata Morgana kreuzte. Fast wäre es zur Kollision gekommen, doch er schaffte es, einen kurzen Blick auf den Mann mit Hakennase zu werfen, er war in ein Plaid gepackt, seine Haare vom Salz verkrustet, er schien zu schlafen, dann glitt er zügig an ihm vorbei. Er segelte unerschrocken weiter in der Zeit, ohne sich ablenken zu lassen, es schien, als habe die Jacht die Führung übernommen.

„Weder Meridiane noch Breitengrade zählten noch, nur ein Abgrund“, sagte der Franzose, den anderen Booten zugewandt, „ein Verschwinden durch Hinabgleiten in untermeerische Grotten.“

Rasch verlor das Segel, das Kurs auf Neapel hielt, an Umfang, langsam verschwand es im Dunst am Horizont.

Seitdem wurde das Boot von vielen gesichtet, kurz nur, wie es im Wind lag: in der Nähe von Kreta oder Mallorca, im Ionischen Meer oder vor Marseille.

Das alte Boot hatte ein verschlanktes abgerundetes Heck, es hinterließ keine Gischt. Nur die gut sichtbare Schleimspur einer Schnecke, einen schlingernden Streifen mondfarbener Bläschen oder die Fährte eines Delfins, wenn es finster war.

Boote kreuzten ihren Kurs, riefen der Moya einen Gruß zu, und die Namen, auf die sie getauft waren, doch die alte Dame segelte wortlos weiter, den Routen rätselhafter Seekarten aus vergangenen Zeiten folgend.

Am Anfang war das Meer. Dann wurde das Segelboot erschaffen, um es zu durchfahren.

Moya, ihr Name war Moya. Von Stapel gegangen in Britanniens See, vor mehr als einem Jahrhundert.

Ein Heulen kam von den Orkney-Inseln her, als unser Auriga Petros von Weitem sah, wie sie im Nebel die grauen Wellen pflügte. Mit dem Kaufvertrag in der Tasche hat er ihr ein großes Augenpaar auf den Schnabel gemalt nach Art der Griechen, als Abwehr gegen den bösen Blick und die Ungeheuer, die lauern am Meeresgrund.

Wohlig warm war diese Wiege und einladend dazu, eine Bronzetafel war am äußersten Ende des Baums angebracht, darauf stand ihr Name, eine Mutter war sie, die Schutz bot, sie half Petros den Kurs auszuloten auf dem Meer des Lebens, sie war sein Tor zur Welt der Mythen.

Alle Manöver an Bord wurden von Hand ausgeführt, ohne Winsch, spartanisch waren die Kojen, da war keine Reling, kein Kühlschrank, nur eine Kombüse. Kein gewöhnlicher Segler war das, er hatte das Dreifache an Fall- und Schotleinen.

An Bord verdunstete die Zeit, schwerelos, sie löste sich auf und verflüchtigte sich dorthin, wo seit Jahrhunderten alles geschrieben steht, wo die vierte Dimension beginnt.

Nie war die Moya in einem Hafen aufgetaucht. Ihr Steuermann ankerte in abgelegenen Buchten, weitab von Zollbeamten, Bürokraten und dem ganzen Papierkram. Es war allen ein Rätsel, wo er seinen Proviant fasste: Man hat ihn auf dem offenen Meer fischen gesehen oder Kräuter sammeln an Küsten ferner Inseln bei Nacht.

Er war Einhandsegler. Damit das Boot nicht luvgierig wurde, befestigte er die Pinne mit einer ihm eigenen Technik an einem Sielbord-Schäkel, wenn er schlief.

Der Mann wurde schnell zur Legende, dieser Ruhelose mit dem grimmigen Blick.

Angeblich wurde die gehörnte Jacht das letzte Mal auf Knidos gesichtet, an einer morschen Mole, wo von Schwalbengeschrei geplagt die verlassene Stadt auf einem Felsen thront und Venus seit Jahrhunderten die Vermählung ausrichtet zwischen Asien und Europa.

Dort habe er ohne Frau Milonga oder Tango getanzt, und mit unglaublicher Leichtigkeit die Schritte gesetzt, sagen die Leute, die Arme um sich selbst geschlungen.

Diesen Mann kannte ich gut.

Ich habe mit ihm die Meere durchfahren, bis er allein sein wollte. Mitten in der Nacht löste er die Taue in Kefalonia, daran erinnere ich mich noch lebhaft. Mir kamen die Tränen, er lächelte, der Wind schrieb Worte in sein Haar.

Petros, Admiral der Seelen, ein jedes deiner Werke war ein Lobgesang! Als du überglücklich das Steuer übernommen hast, glitten die Trieren der Pelasger und Liburner an dir vorüber, sie sangen wohlklingende Lieder für dich.

Boreas hat tiefe Schneisen gezogen durch mein Herz, damals, das einzige Mal in meinem Leben.

An den Mond

Und nun segne diesen Gesang

Mond des Orients, Mond aus Pappmaché

Lockvogel in die Abseiten dunkler Hafengassen.

Erhelle die Passage bis Finis Terrae

dem Vorgebirge über dem Ozean

wo das Firmament sich versenkt

hilf mir, mich an die Stürme zu erinnern

an die Nächte im Brautkleid, das funkelt

an die rauchenden Vulkane

an die Klippen und Felseninseln

an die Schneefelder auf dem Parnass

und an meine Zykladen

aus kosmischer Materie erstandene Inseln

Herden von Färsen auf Wanderschaft

unter dem Blick des Stiers, der galoppiert.

Dies ist eine Geschichte aus Gold und Saphiren

duftend nach Frauen und nach Jasmin

Abenteuer, von denen ich erzählen will

vergessen will ich Trauer und Wehmut

auslöschen die Sterne Griechenlands

die stete Sucht nach so viel Schönheit

die nach Jahren noch mich aufwühlt.

Pavet haec litusque ablata relictum

Respicit et dextra cornum tenet, altera dorso

Imposita est; tremulae sinuantur flamine vestes.

Ovid, Metamorphosen, 2. Buch, XIX. Kap.

„Sie zagt; und zurück zum verlassenen Ufer

Schauet sie. Rechts ein Horn in der Hand, und

die Linke dem Rücken

Aufgelehnt; und es flattern, gewölbt vom Winde,

die Kleider.“

Johann Heinrich Voß: Metamorphosen

(Verwandlungen), 1798

BUCH DER BEGEGNUNG

1.

Die Seekarten

Die Nacht war eine Kanaille. Eine jener Nächte ohne einen Hauch von Wind, die mit ihrer Grabesruhe den Schlaf vertreiben, nicht einmal ein Plätschern war da, wenn du dich dabei ertappst, dass du das unaufhörliche Mahlgeräusch der Rankenfüßer unter dem Kielraum hörst. Petros der Grieche hockte im Verschlag, wo der Kartenschrank war, dort schrieb er Seite um Seite voll.

Er hatte die Petroleumlampe angemacht. Ihr Schein fiel etwas verloren auf das weiße Blatt des Logbuchs, es lag aufgeschlagen vor ihm in dieser frostigen Nacht. Er notierte: „Leuchtturm von Gazipaşa geortet Schlag drei Uhr nachts. Mit dem Schleppnetz einen Langflossenthun gefangen, ein Kilogramm schwer. Route zwei vier null mit Kurs auf Alanya. Zuerst Libeccio mit gewaltigen Böen. Dann Flaute.“

Unter der Laterne sah man seinen riesigen Schattenriss. Sonne, Salz und Wind hatten sein Gesicht zu einer Ikone gemacht, schwarz und faltig. Boreas und Scirocco hatten ihn durch und durch glatt geschliffen, er war schon im Zustand der Erleuchtung. Sein Haar war ein Gestrüpp und die Augen groß, fast wie in Hypnose erstarrt. Gedankenverloren trommelte er mit den Fingern in regelmäßigen Rhythmen auf den Tisch aus Ebenholz; es roch nach Mastixstrauch, weil er Mastix aus Chios kaute, denselben Geruch hatte ich in der Nase als Kind in der Stadt der Winde, wo ich zur Welt kam.

Dieser harzige Duft hat meine Liebe zum Segeln entflammt. Auf dem Meer habe ich gelernt, die Sterne zu bestimmen und ein Logbuch zu führen voll mit planetarischen Perspektiven.

Ein Metronom gab es im Weltall, ein kaum vernehmbares Ticken der Sterne, nachts trat es in meinem Quartheft Sturmwinde los, Verse, gefiederte Worte.

Zu viert waren wir, alle aus einem Grenzland, vier Conquistadores des Unnützen.

Wir waren ein verschworener Haufen – we few, we happy few, we band of brothers – und ziemlich gute Freunde, die dicht am Wind segelten.

Zwei Tage lang hatten wir stürmischen Wind, wir lagen erschöpft in den Kojen und atmeten schwer.

Gruppenbild. Neben dem Kapitän steht Sam, der Franzose, seit einem üblen Unfall hinkt er stark; neben ihm ein Gigant, Ulvi, der Türke, und der hier zu euch spricht.

Ich war der Älteste dieser seltsamen ans Boot geketteten Mannschaft, ich war der Einzige mit schlohweißem Haar und Bart.

Grübeleien suchten uns heim in der Nacht, wer genau hinhörte, konnte unsere Seufzer hören.

Synchron zum Rollen und Stampfen des Boots hatte unser Türke und Paterfamilias sein väterlich-beruhigendes Schnarchen justiert, einen Takt, der einem Trommeln glich, es mischte sich mit dem heiseren Geflüster des Franzosen, webte so einen perfekten Kontrapunkt zu den Seufzern der Bootsbeplankung.

Unordnung herrschte überall: ein Tontopf mit Basilikum, eine Wassermelone, Flaschen, Schlafsäcke, Bootsfender, Konservendosen, Pullover, Handtücher.

Ein Gecko verzehrte in aller Stille Stechmücken und orakelte Offenbarungen in Richtung Bullauge.

Mitte März waren wir mittendrin in den gewaltigen Stürmen der Tagundnachtgleiche. War es windstill, lastete ein finsterer Himmel feindselig über dem Mittelmeer, angsteinflößend und unheimlich. Die Nacht entblößte dunkle Welten, tektonische Verschiebungen, Auftrieb, und der Pelagus brachte eine seiner Nänien zur Aufführung, voller Geheul, Klagen, Anrufungen.

Das Azurblau Griechenlands dehnte sich über unseren Köpfen ein paar Tage lang, dann verblasste es. Die Prognosen verlautbarten das Unvermeidliche: Zwischen Island und den Azoren begann die Atmosphäre zu bersten und der Ozean nahm die Befestigungen des Westens unter Beschuss und zermahlte sie zu Schutt.

Die Sonne hatte den Verstand verloren, spielte verrückt:

Noch nie hätten sie so etwas erlebt, sagten die Leute, dass die Regentropfen zischten, es war wie beim Butterschmelzen, Sonnenuntergänge sah man feuerrot zu Mittag, amaranthfarbene und veilchenblaue Wolken, geformt wie Kolben, Turbane oder Cremeschnitten übereinandergelegt.

War ich der Herr der Himmelskarten und dort auf geheimen Routen unterwegs zwischen Steinbock, Widder und Zwillingen, dann war der Grieche Hüter der Breiten- und Längengrade zu Wasser und zu Lande.

Auf dem Tisch fixierte er die Landkarten wie Fischernetze mit einem alten Bleilot.

Unter dem gelben Licht der Lampe entdeckte man auf dem Pergament verstreut uralte Flecken von Brandy und Kaffee, so tauchten neue Archipele auf und legten sich auf die schon dagewesenen. Anderswo-Orte der Fantasie, alle noch unberührt und zu entdecken. Mit seiner Adlernase überflog der Grieche die Ägäis direkt auf den Wassern und mit einer Bleistiftmine zog er Krallenspuren vom Libanon zum Golf von Syrte.

Buchten, Kurven, Vulvae, Busen.

Seit Urzeiten erzeugt die Abstinenz bei Bootsbesatzungen Kartografien der Fleischeslust. Der Grieche liebte es, Landkarten zu liebkosen wie eine Frau, mit demselben Fieber in den Fingern.

Die Atlanten des al-Ma’mūn hatten es ihm angetan, und das geheimnisvolle „Isolario“, eine illustrierte Anleitung für Segler, ihre rätselhafte Topografie voller Sinnlichkeit und Magie, erregte ihn.

Das Wort „Planet“ stieß ihn ab. Die Erde war – bei Gott – nicht wie Mars, versunken in versteinerter Stille. Die Erde war eine Mutter. Das stand außer Diskussion.

Die kurvigen Formen der Küsten in den Lotsenbüchern konnten verführen wie eine Bauchtänzerin. Er wusste, dass die Geografen der arabischen Welt den Kosmos lasen wie den Körper einer Frau, den Schoß als einen Garten der Köstlichkeiten und die Gebirge von den Alpen bis hin zu den Gipfeln des Karakorum als funkelnden Gürtel, mit dem Himalaja als Spange für den Schleier, der das Paradies verhüllt, den Lohn für die Helden, die reinen Herzens sind.

Nicht einen Gott, nein, eine Göttin suchten wir, Nachkommen sollte sie tapfer gebären.

Zu groß war unsere Abscheu vor bärtigen Stammvätern, vor Fahnenappellen, Vaterländern und Helden.

Im Orient wollten wir auf die Suche gehen, dort, wo der Sonnenwagen am Horizont langsam aufsteigt mit zwei Ochsen im Joch.

„Asien“, das war der Psalmen-Sermon bei Prozessionen, das Murmeln der Torah-Rezitatoren, das Knistern der Weihrauchbrenner, Vergils Verse erzählten von der Gründung Roms, seinem jahrtausendealten Mythos, und genau das nährte die Sehnsucht nach der verlorenen Gerstenmutter, der Göttin der Garben und der Früchte der Äcker.

Keiner von uns hatte geahnt, dass unserer Fahrt ausgerechnet auf dem Weg Richtung Orient eine unerwartete Kursänderung bevorstand, die uns in die Gegenrichtung führen sollte.

2.

Die Frau

Es war Ende März. Der aufgehende Mond reckte seinen Buckel nach Levante, zum schneebedeckten Libanongebirge hin, überall war Senfblütenduft, und satt vom Segeln gingen wir zu Tisch im schönen Tyros mit seinen mächtigen Festungsmauern.

Unsere Köpfe überragte ein weißer Grat, ein riesengroßer Walrücken. Auf einer Seite sah man von dort aus das violette Meer, Segelboote unter steifem Wind, und auf der anderen ockergelbe Steinhalden unter der glühenden Sonne des Ostens.

Der Himmel hatte herrlich aufgeklart nach vielen Stürmen. Phönizien war eine steil abfallende Loggia über dem sich neigenden Tag, es stellte seine fünfzig Jahrhunderte Geschichte aus mit einer Nonchalance, die einem den Atem raubte.

Dass Tausende von Meilen westwärts nichts existierte, was älter war als ihr großartiges Land, wussten dort sogar die Fischer.

Ein Teller Falafel oder Hummus barg ein ganzes Jahrtausend in sich. Doch nach Jahrzehnten Bürgerkrieg hatten die Menschen nur Lust auf Gegenwart.

Eingehüllt in ein Tauwerk von Lichterketten, strahlte die Pergola über dem kleinen Hafen die Aura eines Sehnsuchtsorts am Ende der Welt aus.

Der Reiz des Verbotenen machte bitterer noch das Aroma des Raki, aus einer Karaffe mit Eisperlen schenkte ihn der Kellner ein, den Kalifaten und denen, die keinen Tropfen anrührten, zum Trotz.

Wir fragten uns schon lange, warum sich unsere unwirtliche Estremadura, geplagt von den Wellen des Atlantiks, „Kontinent mit langer Geschichte“ hatte nennen dürfen, „vor Menschengedenken entstanden“.

Zugegeben, wir hatten eine lange Geschichte, wir waren alt, aber nur weil man überall Alte sah, bestens verankert im System, das an der Macht war.

Bloß kolonialistische Angeberei steckte in diesem Gerede. Uns allen war bewusst, dass die mit Vegetation bedeckten gebirgigen Ausläufer des Okzidents den Endpunkt Asiens bildeten, genau genommen waren sie der Endpunkt von allem. Sie waren ebenjener Abgrund, wo die andere Seite anfängt. Sogar der Name war uns entfallen.

Da hörte man auf den Kieseln der Ottomanen- und Kreuzzüglerfestung zwischen dem fernen Grollen der Brandung, dem Blubbern der Wasserpfeifen und dem Gekrächze der Fernsehnachrichten vom Olivenhain her das Knirschen von Sandalen und den Klang einer Schelle, sie gab die Tempi vor.

Petros grinste, wir verstanden nicht, was er flüsterte, dann kippte er übermütig die Eiswürfel aus seinem Glas auf den Tisch, sog laut die Luft ein, um zu schnuppern, unser Seewolf, ohne Zweifel, da war salzige Luft, da war der Duft einer Frau, Petros drehte das alte Komboloi zwischen Mittelfinger und Daumen, wieder grinste er, stieß dann einen kurzen Schrei aus wie ein Raubvogel, wenn er zum Gleitflug ansetzt über der Küste.

Das Mädchen kam die Steinstufen herab, es war schattig dort, es hielt auf ein Feld mit weißen Asphodelien zu, am Knöchel des rechten Fußes baumelte eine kleine Schelle, um das rabenschwarze Haar, das palisanderholzfarben schimmerte, hatte sie ein dunkles Tuch gebunden.

Achtern die prächtige britische Flagge gesetzt, das ziegelsteinrote Segel gestrichen, lag unser Boot im Hafen und wartete auf das Mädchen.

Die Hafenwanzen verdrückten sich: Ganz vorsichtig, wie Flüchtlinge sich bewegen, bahnte sich die Tochter des Fruchtbaren Halbmonds ihren Weg durch eine Gruppe phönizischer Fischer und schritt kerzengerade auf uns zu wie Röhricht am Flussufer, das sich nicht beugt.

Unterm knöchellangen schwarzen Gewand – ziemlich verschlissen um die Knie – bemerkte ich ihre klassischen griechischen Füße, sie waren auffallend schmal, zwischen Ferse und kleiner Zehe spannte sich ein sanfter Bogen, die Seele einer jeden Brücke im Orient.

Sie hatte große Augen, einen selbstsicheren Blick, in dem sich viel verbarg, er war unergründlicher als die Nacht, der Mund war süßer als Lokum aus Smyrna.

Dass das Mädchen von Adel war, verrieten die scharf geschnittene Nase und das lange Haar, eine Strähne teilte ihr Gesicht in zwei Hälften.

Als wir näher kamen, sah sie uns an mit einem Blick, der von weit her kam, nicht messbar mit menschlichem Maß.

Die Sonne ging unter, ihr vergehendes Licht fiel auf eines dieser verletzlichen, leidgeprüften Gesichter, die man so nur im Mittleren Osten sieht.

Ihrem Blick konnte man Wüsten ablesen, dahinter verborgen neue Wüsten, Karawanen, Sandstürme, mit ewigem Eis und Schnee bedeckte Kordilleren und die jahrhundertealten Routen der Gewürzstraßen.

Die Frau roch nach immergrünem Helichrysum italicum und nach tausend Schrecken, wir waren verwundert, wie beherrscht sie auftrat und wie sie ihre Ängste bezwang.

Wir stellten uns auf im Kreis um sie herum. Ihren Namen wollten wir wissen und was sie vorhatte so ganz allein.

Sie schwieg. Bärtigen Männern wollte sie keine Auskunft geben. Mit einem Finger zeigte sie bloß in die Ferne.

Diese Geste war keine Bitte.

Es war eine Order.

Petros zuckte zusammen. Dick aufgetragene Wimperntusche, wie man es bei Flittchen sieht, verheerte ihr zartes, nobles Gesicht. Ihre Mandelaugen fixierten uns mit einer Härte, die uns verunsicherte.

Sie hatte kein Geld und keine Papiere. Nur einen grünen Smaragdring am linken Zeigefinger, und ein Stück Papier, in arabesken Buchstaben stand darauf das Wort „Evropa“. Keiner verstand, ob das ihr Ziel war oder ihr Name. Das Wort, ein Klumpen aus drei Silben, war uns unbekannt, und doch weckte er etwas in uns, das wiederaufzutauchen verlangte aus dem unendlich weiten Himmel, dem Zodiakus.

„Nennt sie doch so“, riet uns das Meer. Und mahnte uns zu gehorchen.

Was kümmerte uns, woher diese Frau kam. Das war Nebensache, Kleinkram für die Einwohnermeldeämter.

Kam sie aus einem Bordell in Sidon? Aus den Flüchtlingslagern von Bekaa? Eine Frau auf der Flucht? Eine Waise? Das alles interessierte uns nicht.

Wir spürten insgeheim, Evropa war ohne ihren Namen ein Nichts. Die drei Silben waren ihre Selbstermächtigung, sie machten sie zur Göttin, wiederauferstanden aus Leid und Schmerz.

Rein war sie. Ohne Makel. Wir nahmen sie mit an Bord, ohne Vorbehalte, ohne zu zögern, die Tochter eines Königs, eine Sans-Papiers.

Man erzählt sich, dass sie in dem Augenblick, als sie ihre Sandalen auszog und barfuß über die Gangway ins Boot stieg, mit ihren Fesseln einen Gott verführte, und es war nicht irgendein Gott.

Aber keiner hatte gemerkt, wie dieser Gott sich schon bereitgemacht hatte, die ahnungslose Frucht zu pflücken, die schöne Fremde.

Genau in diesem Moment fixierte Sam den Ausdruck in den Augen der Frau, ihm reichte ein Augenblick, er erkannte darin Flüchtlingsströme, ganze Völkerschaften und traurige Soldatengesänge aus heiseren Kehlen.

Sam mahnte den Kapitän zur Vorsicht. „Pass auf“, sagte er, „diese Augen flößen einem Angst ein, da regiert das Schicksal. Das ganze dumme Zeug der Griechen, deiner Vorfahren, es wird uns allen Unheil bringen.“

Der Türke fuhr ihm ins Wort. „Evropa“, sagte er, „hat einen herrlichen Klang, das Wort wird uns Glück bringen“, und löste die Taue vom Liegeplatz.

Die Moya entfernte sich langsam von der Mole, ihr Motor lief im niedrigsten Drehzahlbereich.

Die magerste aller Mondsicheln kroch hinter dem Berg hervor, sie badete im Nebel. Es hagelte Meteoritenschwärme, sie rieselten vom Berg Hermon auf das taubedeckte Bekaa-Tal und das Meer von Sidon herab.

3.

Die Galionsfigur

Rot flatterte unser Schmetterling, das Gaffelsegel, als wir es setzten, den Bug in den Wind gedreht, in einem Arpeggio aus Windstößen vom Festland her, der Himmel rotierte, bis das Segel voll stand. Wir nahmen Fahrt auf.

Die Petroleumlampe knarzte und flackerte am Gewindering, und über den Rahen und der Saling glitzerten die Sterne wie Edelsteine und zeichneten hell funkelnde Sternbilder.

Mesopotamien, Zehntausende Meilen Wüste, alles hatten wir hinter uns gelassen, die See war stürmisch, Heimweh, herauf- und herunterdekliniert, segelte in vielen Abarten mit uns mit, der Bootsrumpf schlug hart und deutlich hörbar auf die Wellen, das war Moyas Rhythmus, ihre Auf- und Abwärtsbewegung, ein ums andere Mal.

Die Tochter Asiens reiste mit auf dem Boot, im Firmament pflichtete Venus allem bei.

Plötzlich sahen wir gleichauf mit uns ein Motorboot, darin fünf Polizisten mit Maschinenpistolen am Schulterriemen. Sie befahlen Halt, um unser Boot zu perlustrieren. Überall wühlten sie herum, doch was uns überraschte, war, niemand sah zur Galionsfigur ganz vorne am Bugspriet, wo sie sich am Ausläufer festgeklammert hatte. Niemand verstand, dass die Galionsfigur, sie wirkte wie aus Holz, unsere Evropa war.

Nachdem das Polizeiboot wieder abgedreht hatte und endlich von der Finsternis verschluckt worden war, stieß das Mädchen einen herzzerreißenden Schrei aus, vom Rohrblatt in ihrem Hals vervielfältigt, zog er Kratzspuren über die Partitur der Stille.

Wie ein flacher Kiesel bei gespannter Schleuder flog ihr lang gezogener modulierter Schrei von jenseits der Strände des Libanon und seinen schneebedeckten Gebirgen bis nach Syrien und zum Euphrat.

Zurück lasse ich und hinter mir für immer meine Mutter, ohne Wiederkehr.

Das schien der Schrei zu bedeuten. Wir stellten uns ein Haus vor, dort in Tyros in den Steilhang gebaut.

Sie aber hatte Asien gemeint, diese drei Silben, die Frau brachte es nicht fertig, sie auszusprechen, ihre syrische Heimat jenseits des Gebirges.

Petros hatte verstanden, aber auch uns war der Grund ihres verzweifelten Rufs klar geworden.

Hinter den mächtigen schneebedeckten Bergen regierte Schnitter Tod, er vernichtete alles Leben. Das war der Grund gewesen für Evropa.

Weit weg wollte sie fliehen, bis ans Ende der Welt. Hinter sich wollte sie lassen den glühend heißen Wüstenwind, der aus Kadavern Mumien machte.

Nie mehr wollte sie mitten auf der Straße Leichen liegen sehen, den streunenden Hunden zum Fraß und den Aasgeiern.

Wir schenkten ihr einen Schlafanzug für Männer, er war ihr viel zu groß und doch sah sie entzückend aus darin, dann wiesen wir ihr die einzige Kajüte an Bord auf dem Vorschiff zu. Petros zog um, ohne sich zu beklagen, und wortlos übernahm er das Steuer und ließ Tausende und Abertausende Meilen von Krieg und Wüsten hinter sich.

Mondlicht schien ihm auf die Schultern und den erdschwarzen thessalischen Rock aus grobem Wollstoff.

Dieser Lebenskünstler mit Wahlheimat England und heidnische Sohn Hellas’ war Witwer und hatte zwei erwachsene Kinder, beide waren auf dem Boot zur Welt gekommen, schon lange aber lebte er wie ein Vagabund. Heimisch fühlte er sich im bunten Völkergemisch, wo man nach Jahrhunderten das Kriegsbeil vergraben, ein Bündnis geschlossen und die blaue Flagge mit dem Sternenkranz gehisst hatte.

Zusammen mit dem Union Jack am Achterstag setzte der stolze Steuermann die blaue Flagge mit dem Sternenkranz auf der Saling oder dem Großtopp. Jeden Morgen befestigte er sie penibel mit Schmetterlingsknoten an einer Steertleine und am Abend, wenn Venus rief und dann im Meer versank, holte er sie wieder ein.

Sorgfältig faltete er die Flagge zu einem Dreieck und legte sie in den Spind neben seinem Nachtlager, das war sein immergleiches Ritual.

Mit dem Setzen und Einholen der Flaggen – der englischen, der griechischen, der türkischen und jener mit Europas Sternenkranz – bewies er eine jahrtausendealte Weisheit, genauso alt wie die Seefahrt.

Irrlichter flackerten aus dem Logbuch, so wild, dass ich in der Dunkelheit fürchtete, mich zu verbrennen.

Genau auf diesem Meer wüteten manchmal Windhosen – ich schwöre, ich, der Einzige, der nicht schlafen konnte, habe sie mit eigenen Augen gesehen –, dazu gewaltige Blitze, und ein Orkan nach dem anderen fegte über uns hinweg.

Unsere Mutter Erde, die Terra Madre, war in der Hand von Regenten ohne Hirn, unter dem Vorwand des Nationalstolzes führten sie die Leute ins Verderben.

Bruchlinien wurden aufgerissen, Turbulenzen an Finanzmärkten folgten Tweets eines Präsidenten, der sich in alles einmischte, Rohstoffquellen beutete man aus, immer wieder neue Nationalflaggen wurden dort gehisst, wo man vorher Bomben abgeworfen hatte.

Nationalstaaten brüteten Fieber aus, entschlossen, schändliche Mauern zu errichten als Abwehr gegen alle und alles.

Das weltweite Netz, ein riesiges Spinnennetz, verbreitete Angst und Schrecken.

Bloß das Meer blieb schläfrig, unberührt vom Trommeldonner und den Märschen endloser Armeen, die hinauszogen ins Nichts.

Der in die Jahre gekommene Kontinent lag in den letzten Zügen.

Er war durch alle Arten von Abscheu gegangen, die Gabe, sich daran zu erinnern, war ihm irgendwann abhandengekommen.

Vergessen der Schlamm, die Schützengräben, die Viehkarren für Menschen, die Krematorien, das Giftgas, die Bomben, vergessen die Massengräber und die Menschenmassen, die den Volkstribunen zujubelten. Sie brüteten Untergang aus und Verderben.

Erloschen waren die Augen der Menschen.

Und es gab welche, die wieder unheilbringende Runen ausgruben, die Feindbilder suchten und Sklaven, um sie auszubeuten wie in der Kolonialzeit.

Petros fragte sich, wo denn das Leuchten in den Augen geblieben war und die Begeisterung, als alle Mauern fielen.

Er liebte diese seine Welt und verstand nicht, warum Menschen aller Länder ihr so zusetzten.

Er kannte keine andere Region, so wunderschön gelegen zwischen Bergen, Ozeanen und Steppen, wo auf einem Raum die Birke mit dem Feigenbaum und der Agave wächst, wo es Kathedralen gibt und alpine Schutzhütten, Inselgruppen und mäandernde Flüsse, Synagogen, Leuchttürme und Minarette.

Eu-ro-pa. Die drei verschwundenen Silben.

Sechs Buchstaben, vergessen, verflüchtigt, in alle Winde verweht, ausgelöscht von Viren ohne Namen, ersetzt von Periphrasen ohne Sinn, zerstört von Nachrichtenströmen und Gezwitscher, vom Dauerlärm der Registrierkassen und in den Abgrund gestoßen vom Höllenkrach ewigen Gequassels.

Und doch leuchtete er hell, der Name mit seinen Feuerbuchstaben, ausgerechnet mitten im Zodiakus, auf dem Hals des Himmelsstiers, unter dem azurblauen Licht der funkelnden Plejaden.

Das Wort war dort, aber wir sahen es nicht.

Seit Wochen war ihm die Crew, allesamt Vagabunden, unterwegs auf einem Segler aus England, auf der Spur.

Wir segelten ohne vorgegebene Route und suchten nach dem Wort in jedem Hafen, bald schien es uns, als sei es verschwunden, verloren gegangen nach Jahrtausenden. Keiner von uns wollte sich damit abfinden.

An einem College in Cardiff an der breiten Mündung des Severn hat der Kapitän Griechisch und Latein unterrichtet, dort, wo im Nebeldunst die Gezeiten regieren, wollte er den Klang der Verse Homers zerstreuten walisischen Schülern näherbringen und den Gedanken, dass eine Welt ohne Epos keine Zukunft hat.

Diese neue Unternehmung war in seinen Augen keine Reise. Eher eine Mission mit ungewissem Ausgang, ein aussichtsloser Kampf gegen die Zeit. Die Jahrhunderte oder Jahrtausende, was bedeuteten sie denn für einen Menschen, der in den Sprachen des Altertums zu Hause war? Nichts.

Und so trieb Petros seine Moya an auf ihrer Reise durch die Zeit, er hatte sich das Mittelmeer ausgesucht, denn er wollte das Verlorene wiederfinden, diesen Zierrahmen mit den Hieroglyphen eines Lebens, den er verloren hatte irgendwo zwischen einer Insel und der nächsten.

Ein Gürtel aus Sternenkonstellationen schmückte die Planken des Seglers als Glücksbringer für eine sichere Reise, unermüdlich segelte die Moya auf der Passatwindroute.

Die Erdkugel atmete entlang der Längengrade durch ihren riesengroßen Brustkorb aus den Meerestiefen.

Achteraus, wo die Spur des Kielwassers sich auflöste, erschien ein Termitenhügel aus Licht, das Libanongebirge erteilte uns seinen Segen, schimmernd wie das leise murmelnde Meer.

Draußen Ohrfeigen. Es waren die Wellen. Im Boot ein Solfeggio von Seufzern, synchron dazu Dämmerschlaf, Stampfen, Schlingern, Rollen mitten durch Plankton, das Fruchtwasser glich.

Jahre schon kämpfte der Grieche mit seinen Mythen an gegen ein Weltgefüge ohne Sinn.

Es waren Erzählungen von Frauen, die sich mit Tierwesen paaren, von Färsen, um den Verstand gebracht durch eine Bremse, von Raub und Inzest, von menschenfressenden Minotauren, eingesperrt in labyrinthischen Höhlengängen, und von Urstieren, darüber halb nackte Gespielinnen tanzen.

Er war voll davon und hatte nichts anderes im Kopf, auch wenn er schlief, oder wenn er mit dem Wind seine Spiele trieb und den Kometenbahnen folgte.

Unter der dicht gefütterten Himmelsjurte befragte er die Seekarten und die Geister, wenn er mit dem Boot unterwegs war in einer stockfinsteren Parallelwelt, die voller Abgründe und Dämonen war.

Von uns durch einen schmalen Vorhang getrennt, kauerte die Frau mit dem hehren Namen im Bauch der Moya, eingewickelt in einen Schal aus schottischer Schafwolle.

Sie glühte. Ein Zündholz war sie, glimmend im unendlichen Herzen der Finsternis, bevölkert von Laistrygonen und Kyklopen.

Wie es Welpen tun, so winselte ihr Herz, sie führte Selbstgespräche, fantasierte, das Atmen fiel ihr schwer, sie würgte die Meerluft hinunter in hektischen Schlucken. Sie war aufgewühlt.

Sie hatte Angst vor dem Meer. Es war das Grab für Migranten, das hatte sie mitgekriegt. Aber an Land war es nicht besser. Navigare necesse, das wussten schon die alten Phönizier aus der Gegend von Kanaan.

Die in die Jahre gekommene Bootsbeplankung war eine sanfte Wiege für die Frau, sie war ihr dankbar dafür.

Und es geschah, dass in jener magischen Nacht der verwüstete Leib des Mittleren Orients plötzlich den beunruhigenden Geruch einer Frau verströmte.

Waagrechte Strebe am Mast,

schicksalhaft kreuzen sich die Wege,

Gottheit des Windes,

du Name mit Geschichte.

Petros spürte, er hatte diese Frau schon einmal gesehen, als Traumgestalt oder vielleicht als Ikone, im Halbdunkel auf einer Ikonostase. Wie ein Mauerbrecher drang sie ein in seine Welt, sie führte ihn zurück zu sich, in seine Mitte.

Zum Rhythmus eines Flamencos pulsierte das Blut Andalusiens in der Hauptschlagader an ihrem entblößten Hals, ihr Duft breitete sich von Stunde zu Stunde in der Kajüte aus, ein Rätsel war diese Frau und ein unheimlich tiefer Abgrund.

Die Erde galt es nicht zu erobern, sondern zu durchqueren.

Von ihr wussten wir nichts, aber es war uns einerlei. Wir wussten, das Boot war ein vollkommener Kokon, ein Stall zu Bethlehem, eine Futterkrippe.

Das Boot trug die Frau, barg sie in seinem Bauch, es war trächtig und wir erhielten von ihm den Auftrag, Schutzpatrone und Mutterersatz für diese junge Frau zu sein, ein absolutes Neuland für uns Männer.

Ihr Name war ein hell funkelnder Komet, wir waren die Heiligen Drei Könige, und er führte uns an auf unserer Prozession, in den Händen trugen wir unzählige Gaben aus dem Orient.

In jener Nacht schlossen wir einen Pakt: Wir, dieser kleine Haufen, wir Brüder im Geiste, wir mussten sie um jeden Preis beschützen vor dem Bösen.

Moya war damit einverstanden, in der Finsternis zog sie eine amaranthfarbene Spur. Unermüdlich glitt sie übers offene Meer, ohne Hürden und ohne Grenzzäune. Sie schaffte es aus eigener Kraft, das Gewicht der Kuppel der Nacht zu tragen.

War es Schicksal oder reine Unwissenheit, oder war sie nur todmüde gewesen. Die Frau hatte sich uns ohne Furcht anvertraut. Uns, die wir ihre Väter hätten sein können.

„Aber warum vertraut sie uns eigentlich?“, fragte Sam. „Ariadne wurde von Theseus verlassen, genauso wurde Medea von einem Kerl, diesem Jason, schändlich verraten, Jason foutu, bon fils de pute.“

Helena und Dido haben uns gelehrt, dass in ihren Gefilden die Welten stets dann aufeinanderprallen, wenn es um eine Frau geht, und ewig läuft es dann auf einen Kampf hinaus.

Ich spürte schon, dass die Rache des ihr so verhassten Herkunftslandes über uns kommen würde, ja, das sah ich auch diesmal wieder kommen.

Vor unzähligen Jahren, in dunkler Vorzeit, hatten ruchlose Kauffahrer und Händler aus dem Orient ausgerechnet in Argos eine Jungfrau geraubt als Opfergabe für einen Heiligen Stier.

Ihr Name war Io, ein schicksalhafter Name. Und wir fürchteten einen Racheakt und kommendes Unheil, dass Asien diese Flucht Evropas als Frauenraub auslegen würde, wie den Raubzug der Argonauten in uralten Zeiten.

Da kam mir Folgendes in den Sinn: „Auf uns wird die Schuld zurückfallen für eine Tat, die Asien für immer abtrennen wird vom Garten der Hesperiden.“

Noch im Finstern erwachten die Mägde, die beistanden dem Wind, und zerrten am Segel. Es war das Hochzeitslinnen eines Königs.

Wie wilde Hengste verfolgten uns die türkisblauen Wellenkämme, Gottheiten von Gischtschaum bedeckt, sie gerierten sich wie in der Brunftzeit und wanden sich rund um den Körper der Frau mit der bleichen Haut.

Boreas – Stuten hatte er schon seinen Samen geschenkt – fing an, salzige Perlen auszustreuen auf ihrem Hals, Poseidon streckte ganze zwei Mal die Hände aus nach ihrem Kleid, wollte es ihr herunterreißen, doch ein anderer, mächtigerer Gott verfügte, die Bootsbesatzung möge verlässlich Wache halten auf ihrem Posten.

Der Name duftete nach Mythos.

4.

Der Alkoven

Es kam entweder von den Zauberkräften ihres grünen Rings oder vom monotonen Rollen und Stampfen im Bauch des Seglers, Tatsache war, die kleine Frau auf der Flucht schlief zwei Nächte und einen Tag, ohne ein einziges Mal aufzuwachen.

Sahst du sie an, konntest du der Karte ihrer Körperlinien folgen, die dich einluden auf Bootstouren zu Inseln, die kein Seemann zuvor gesehen hat.

Die zwei Hälften des Gesichts waren verschieden wie die zwei Seiten einer Münze. Die rechte war viel weicher, strahlte mütterliche Wärme aus, was überraschte; die linke war hart wie der Blick eines Hypnotiseurs, durchschaute dich gnadenlos, gewieft und höhnisch.

Am linken Nasenflügel hatte sie ein Muttermal, im Ohr trug sie ein Piercing und eine Spange zähmte den krähenschwarzen Haarflügel. Auf der linken Seite war ich mir sicher, an der Schulter ein Symbol gesehen zu haben, gleich einer Wüstenrose.

Am Morgen stach der Säbel der Sonne in das mahagonigetäfelte Unterdeck des Seglers und weckte die Frau, alles begann im Licht zu funkeln, der Spind mit den Scotchflaschen, die Bibliothek, die Tomaten, der Knoblauch, die Gurken, der Tontopf mit dem Basilikum, die Lampe und die Ikone des guten alten Barba Nikolaos.

Am Mast befestigt hypnotisierte ein dreifarbiges Glasauge, himmelblau, schwarz und weiß, Evropa mit seinem Pendelschlag psalmodierend, als Abwehrzauber gegen Unglück und Sturmböen.

Diese Nussschale war Abrahams Zelt, es war die Welt vor dem Turmbau zu Babel, Tuareg-Lager, verloren in der Wüste des weiten Meers.

Man spürte, das Boot war rundum zufrieden.

Das Mädchen hörte jedes noch so geheime Knarzen. Es spürte, dass es von der wunderbaren und magischen Trägheit des Eineinhalbtonners mit Bugspriet aus Pechkiefer kam, der volle Kraft voraus mit dem Wind segeln konnte.

Das Mädchen berührte wie verzaubert The Book of English Verse auf einem Regal, es zog eine Schublade auf mit wertvollem Besteck, das eine Gravur aus Marseille trug, es roch an den Oliven, am Käse, am Kaffee, es streichelte die getrockneten Feigen, die aufgefädelt zu einer Gebetskette über dem Schrank hingen, es sog den Geruch einer Wassermelone ein, eingeklemmt zwischen Brotlaiben und Schlafsäcken.

Das Boot erschauerte, berührt von den Händen dieser stolzen Sans-Papiers von Adel. Es erkannte sie wieder und verstand, dass sie die Auserwählte war, die ihren Namen den Ländern diesseits der Säulen des Herkules als Krone gewähren würde, und so beschloss es, ihr seine Geschichte zu erzählen.

„Vom Stapel gelassen worden bin ich in der Crossfield-Werft bei Arnside im Jahre 1910. Es regierte Eduard VII. Und hier bin ich immer noch, überlebt habe ich zwei Weltkriege, ein Empire und seinen Untergang, Vandalismus, Ignoranz und Mittelmaß einer Epoche voller Hochnäsigkeit. 200.000 Meilen habe ich über Untiefen zurückgelegt, geliebt hat man mich ein ganzes Jahrhundert lang.“

Auf der Ahnentafel der Moya war es zur Vermählung zweier Welten gekommen. Die Messingtafel am Mast listete die Bootseigner auf, lange vor Petros: Weddington, Webster, Pirota, Terrin.

Die Jacht wurde gesprächig: „Künstler, Fischer und schöne Frauen habe ich an Bord genommen, den Tanz von Alexis Sorbas am Strand möglich gemacht, der Route des Phyteas von Massalia bin ich gefolgt von den Hebriden bis nach Griechenland, ich bin um Fastnet Rock herum gesegelt, als orkanartige Stürme sich zusammenbrauten, ich habe Makrelen gefangen vor den irischen und walisischen Küsten, ich habe mit Boreas und Scirocco gerungen, denkwürdige Besäufnisse habe ich gesehen.

Deine Koje hat wilde Liebschaften erlebt, Dramen, Trennungen, Streit, Unwetter hat sie ausgehalten mitten auf dem Ozean, Überfallkommandos, die Battle of Britain hat sie überlebt und die Messerschmitt-Geschwader, das Wüten des Meltemi in der Ägäis und die vielen Winde Griechenlands, die dir die Haut abschälen, so salzhaltig sind sie.

Tochter der Wüste, nun bist du Königin an Bord.“