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Beschreibung

Ethische Orientierung in Grundbegriffen: kompakt, klar, kompetent

Anhand von Kernbegriffen moralischer und ethischer Kommunikation stellen die führenden theologischen Ethiker des deutschsprachigen Raumes die zentralen Themen der Ethik in evangelischer Perspektive dar. So ist ein kleines, lexikalisches Handbuch entstanden, das als Einführung für Studierende ebenso dienen kann wie als kompaktes Kompendium für alle, die in ethischen Fragestellungen Entscheidungen zu treffen haben.

Die Themen im Einzelnen: Autonomie - Dilemma - Ethik - Freiheit - Gabe - Gebot - Gerechtigkeit - Gewissen - Glaube (einschl. Bibel) - Gut/Güter - Handeln - Kompromiss - Kultur - Leben - Liebe - Macht - Mensch - Menschenwürde - Moral - Naturrecht - Person - Pflicht - Pluralismus - Scham - Schuld - Solidarität - Toleranz - Tugend - Verantwortung - Versöhnung, Vergebung, Verzeihen - Werte und Normen.

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Seitenzahl: 262

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Reiner Anselm und Ulrich H. J. Körtner (Hg.)

EVANGELISCHE

ETHIK

KOMPAKT

Basiswissen in Grundbegriffen

Gütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2015 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Gütersloher Verlagshaus, Verlagsgruppe Random House GmbH, weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-16553-6

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort

Autonomie Elisabeth Gräb-Schmidt

Bibel, Glaube Reiner Anselm

Dilemma Hans-Richard Reuter

Ethik, Moral Ulrich H.J. Körtner

Freiheit Wolfgang Huber

Gabe Peter Dabrock

Gebot Traugott Jähnichen

Gerechtigkeit Traugott Jähnichen

Gewissen Hans-Richard Reuter

Güter – Güterlehre Reiner Anselm

Handeln Johannes Fischer

Kompromiss Traugott Jähnichen

Kultur Reiner Anselm

Leben Reiner Anselm

Liebe Johannes Fischer

Macht Ulrich H.J. Körtner

Mensch Ulrich H.J. Körtner

Menschenwürde Wolfgang Huber

Naturrecht Christofer Frey

Person Peter Dabrock

Pflicht Sándor Fazakas

Pluralismus Hartmut Kreß

Scham Elisabeth Gräb-Schmidt

Schuld Hartmut Kreß

Solidarität Traugott Jähnichen

Toleranz Hartmut Kreß

Tugend Hans-Richard Reuter

Verantwortung Hans-Richard Reuter

Versöhnung, Vergebung, Verzeihen Sándor Fazakas

Werte und Normen Peter Dabrock

Autorinnen und Autoren

Abkürzungen

Vorwort

Wer nach ethischer Orientierung sucht, sieht sich einer Vielfalt ethischer Traditionen und Schulen gegenüber. Neben den unterschiedlichen Richtungen philosophischer Ethik gibt es die verschiedenen Traditionen einer religiös geprägten Ethik im Christentum und in den übrigen Religionen. Im ethischen Diskurs einer pluralistischen Gesellschaft sind all diese Traditionen und Zugangsweisen präsent. Oftmals fehlt es aber an kompakten Grundinformationen, die für das kompetente Gespräch über ethische Positionen und ihre Voraussetzungen unerlässlich sind.

Dieses Buch bietet Basiswissen evangelischer Ethik. Es möchte über Grundbegriffe das besondere Profil evangelischer Ethik für ein breiteres Publikum besser erkennbar machen. Gleichzeitig dient die getroffene Auswahl dazu, sich über leitende Begriffe einer evangelischen Ethik zu verständigen.

Von seinen Anfängen an profilierte der Protestantismus das Wort als maßgebliche Vermittlungsinstanz und zog dessen Kraft, unterschiedliche Positionen zu integrieren, den Bemühungen vor, Einheit über Institutionen oder Autoritäten herzustellen. Dementsprechend gewinnt die evangelische Ethik ihre Einheit durch eine Verständigung über gemeinsame Begriffe, nicht über ihre institutionellen Bezüge oder eine gemeinsame Position. Solche gemeinsamen Begriffe sind nun aber nicht Bestandteil der Alltagssprache, sondern sie stellen selbst kommunikative Verdichtungen dar, in denen sich Erfahrungen und deren Deutungen bündeln und die sodann eine prägende Wirkung haben für die Wahrnehmung und Interpretation ethischer Problemlagen. Die Beschäftigung mit den leitenden Begriffen der Ethik geht mit dem Bewusstsein einher, dass die in ihnen abgebildete Wirklichkeit immer nur einen Teil der ethischen Lebensführung in den Blick nehmen kann. So verstanden, erfordert die Arbeit an den ethischen Leitbegriffen mehr als eine sprachanalytische Zugangsweise, wie sie in der philosophischen Ethik derzeit weit verbreitet ist. Denn über diesen Aspekt hinaus gilt es, eben die Wechselbeziehungen zwischen der erfahrenen Geschichte, den Überzeugungen des Glaubens und den beide strukturierenden Begriffen darzustellen und darin zugleich dem Charakter der evangelischen Ethik als einer hermeneutischen Disziplin gerecht zu werden.

Unser Buch geht auf eine Artikelserie des Herausgeberkreises der Zeitschrift für Evangelische Ethik zurück, die von 2010 bis 2015 unter dem Titel »Das ethische Stichwort« erschienen ist. In der nun vorliegenden Buchausgabe ist eine Reihe weiterer Grundbegriffe hinzugekommen. Wir danken den beteiligten Kollegen sowie Frau Mag. Elizabeth Morgan, die als Redakteurin der Zeitschrift zuletzt die Serie betreut und uns bei der Fertigstellung der Buchausgabe tatkräftig unterstützt hat. Herzlich danken möchten wir auch Herrn Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus, der das Projekt von Beginn an gefördert und begleitet hat.

München und Wien, im Mai 2015

Reiner Anselm und Ulrich H.J. Körtner

Autonomie

Elisabeth Gräb-Schmidt

Autonomie meint wörtlich die Geltung eines autos nómos, das heißt Selbstgesetzgebung im Sinne des sich selbst das Gesetz geben, nach dem sich zu richten ist. Damit ist mit der Autonomie ein anderer, bestimmter Begriff für Freiheit ins Spiel gebracht. Er versteht sich nicht einfach als Unabhängigkeit vom Nomos, von Gesetzen und Ordnungen, sondern nur von denen einer Heteronomie eines héteros nómos. Dabei hat der Begriff Autonomie durchaus einen Wandel durchlaufen. Seine antike Bestimmung bei den Griechen bezog sich weniger auf das Subjekt und auf das individuelle Selbstbestimmungsrecht, sondern es bedeutet als autos nómos im Sinne der politischen Selbstgesetzgebung die Freiheit und Unabhängigkeit der Staaten von fremder Beherrschung. So ist der Ursprung der Autonomie in der griechischen Antike mit der politischen Selbstbestimmung der Stadtstaaten verbunden, die um Eigengesetzgebung usw. ringen und diese autonomía als Bezeichnung ihrer inneren und äußeren politischen Freiheit an Stelle von Fremdherrschaft verstehen. Dabei hängen Variationen der Autonomie von der jeweiligen Situation ab. Diese Erinnerung ist für die gegenwärtigen Debatten deshalb von Gewicht, weil sie sofort deutlich macht, dass der im Nomos festgehaltene Rechts- und Gesetzesgedanke, das je Individuelle transzendiert, indem es dieses selbst einbindet in einen geregelten politischen oder sozialen Ordnungszusammenhang.

Wenn von Autonomie im Vollsinne des Wortes ausgegangen wird, ist daher nicht nur an Autonomie im Sinne subjektiver Selbstbestimmung, sondern an Autonomie im Sinne einer an Vernunft und Recht orientierten Freiheit zu denken. Dass man sich bei ihrer Definition auf Kant bezieht, hat dennoch durchaus sein Recht, weil in dessen Begriff von Autonomie genau dieser das Individuum transzendierende Charakter festgehalten ist. »Denn Freiheit und eigene Gesetzgebung sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe« (Immanuel Kant). Es geht bei der Selbstbestimmung im Sinne der Autonomie nicht um eine Wahl nach eigenem Gutdünken, sondern um eine Wahl der Lebensführung, die sich an den Maßstäben einer vorgegebenen Einsicht in das Gesetz der Vernunft orientiert, wie Kant es als Achtung vor dem Sittengesetz durch den Kategorischen Imperativ mitteilen lässt. Autonomie ist bei Kant durchaus der antiken Vorstellung von Selbstgesetzgebung verpflichtet, nun allerdings internalisiert im neuzeitlichen Subjekt präsent, das sich in Emanzipation und Mündigkeit verpflichtet weiß. Eine Willkürbestimmung kann daher durch die Autonomie nie zum Ausdruck gebracht werden. Auch Autonomie im Sinne der Selbstbestimmung bedeutet insofern keineswegs, eigenen Wünschen und willkürlichen Entscheidungen zu folgen, auch nicht wenn diese das eigene Leben oder gar das eigene Sterben betreffen. Gerade mit solchem Wunsch geht Kant in seiner »Metaphysik der Sitten« hart ins Gericht, ist doch die Selbsttötung als contradictio in adiecto aus dem Sittengesetz geradezu ausgeschlossen. Wenn der Mensch, »um einem beschwerlichen Zustand zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich einer Person bloß als eines Mittels zur Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zum Ende des Lebens«. Kant geht also gerade nicht – wie oft vermutet – von einer Autonomie als individueller, subjektiver Selbstbestimmung aus, vielmehr beginnt nach ihm die Autonomie im Sinne der Selbstbestimmung gerade dort, wo die Autonomie sich als objektive Selbstgesetzgebung der Vernunft vernünftiger Wesen versteht. Erst durch solche Selbstbestimmung kann das Sollen auf alle vernünftigen Wesen ausstrahlen und damit objektiv Gültigkeit erlangen. Es bezeichnet in dieser Form des Sollens den kategorischen Imperativ, der gerade nicht individuelle und mithin beliebige Vorstellungen, sondern das Faktum der Vernunft repräsentieren soll.

Dieser Zusammenhang objektiver und subjektiver Bezüge des Verständnisses von Autonomie, wie es sich im neuzeitlichen Verständnis von Subjektivität und Selbstbestimmung bündelt, muss im Blick bleiben, wenn von Autonomie als Recht der Selbstbestimmung in ethischen Zusammenhängen Gebrauch gemacht wird. Die freie Selbstbestimmung der Person ist nicht diejenige, die voraussetzungslos eine Alternativenwahl beanspruchen kann, sondern die ihr Hineingesetztsein in Zusammenhänge natürlicher und sozialer Art auf der einen und rechtliche, ethische und religiöse Bestimmungen des Menschseins auf der anderen Seite begreift. Freiheit in ethischem Sinne meint nicht individuelle Willkürfreiheit, sondern Freiheit meint Handlungs- und Gestaltungsfreiheit, die ihrer Autonomie gerade dann Rechnung trägt, wenn sie sich selbst einbindet in gute und gerechte, in rechtliche und ethische Überlegungen, die der Menschheit im Menschen gerecht werden können. Erst eine Orientierung am Menschen als dem die Menschheit repräsentierenden Gattungswesen verbürgt die Reife selbstbestimmter Entscheidung. Und erst eine solche Entscheidung kann überhaupt als freie Wahl begriffen werden, die dadurch frei ist, dass sie sich an einer solchermaßen gerechten und guten Ordnung zu orientieren im Stand ist.

Dass Autonomie insofern auch in der Moderne wie in der Antike die rechtliche Dimension mit sich führt, ist daher offenkundig. Übersehen werden kann dies nur durch ein Missverständnis von Selbstbestimmung als individueller Freiheit und Autonomie als individueller Willkürherrschaft. Beide sind abzulehnen. Vielmehr muss für ein Verständnis von Autonomie, das in die Koordinaten von Selbst und Welt, Selbst und Gesellschaft, Selbst und Gott relational eingebunden bleibt, eine grundlegende Spannung berücksichtigt werden, die im Bezug von Autonomie und Fürsorge, respektive von freier Entscheidung und Entscheidungsassistenz, ihre Entsprechung finden kann. Dabei müssen für die Autonomie nicht nur die Vernunftbezüge, sondern alle Dimensionen des Menschseins berücksichtigt werden, also neben seiner Vernunftfähigkeit, seine Subjekthaftigkeit, inklusive seiner Leiblichkeit, seiner Sozialität und auch seiner Zeitlichkeit bzw. seiner Endlichkeit. Nur ausgespannt in diese Bedingungen des Menschseins werden wir dessen gewahr werden können, womit die Autonomie es zu tun hat und worin sie angemessen zum Ausdruck kommen kann. Die neuzeitliche Reflexionssubjektivität unterzieht zwar die Gesetzmäßigkeit der Kontrolle vernünftiger Selbstbestimmung, wird Selbstbestimmung aber ihrerseits nicht in solipsistischer Manier an das Individuum binden, sondern systematisch eingebunden in Mit- und Umwelt, in den Rahmen von Sozialität und Geschichte, Leiblichkeit und Endlichkeit verstehen wollen und müssen. Dass »kein Mensch« »eine Insel« ist (John Donne), hat nicht zuletzt Konsequenzen eben gerade auch für das Verständnis von Selbstbestimmung und menschlicher Freiheit. Diese erkennt sich angesichts der vorgegebenen Eingebundenheit in jene Bezüge als angemessen gerade in der Unterwerfung unter ein Gesetz, das der Wirklichkeit des Lebens entspricht und in dessen Befolgung sich dann allein auch die Freiheit und Selbstbestimmung des Subjekts ausdrücken können.

Aufgrund dieser Relationalität ist daher ein Verständnis von Autonomie abzulehnen, das Selbstbestimmung einseitig nur als freie vernünftige Tat anerkennen möchte und sie denen aberkennt, die diese vernünftige Leistung nicht mehr oder noch nicht erbringen können. An den Rändern des Lebens oder bei Menschen mit Behinderung würde dies dazu führen, diesen die Autonomie und mit ihr schließlich auch das Personsein abzusprechen. Gegen eine solche Bindung des Personseins an Rationalität ist festzuhalten: Menschsein erschöpft sich nicht in kognitiven Fähigkeiten. In Berücksichtigung seiner Leiblichkeit ist das Personsein als relational zu erfassen. Selbstbestimmung und Freiheit sind daher selbst eingebunden in jene relationalen Zusammenhänge, die auch die Freiheit und Selbstbestimmung je unterschiedlich bestimmt sein lassen. Mit solcher Relationalität der Person und einer relationalen Selbstbestimmung kann damit Personsein überhaupt als relationales bestimmt werden. Autonomie – gerade als Selbstbestimmung – orientiert sich dann am anderen. Entsprechend dem antiken Begriff von Autonomie als Ausdruck eines autos nómos, vereinigt nun das Subjekt in sich genau jene Spannung zwischen objektiver Geltung des Gesetzes und subjektiver Bestimmung. In dieser Spannung dokumentiert sich die Unhintergehbarkeit relationaler Bezogenheit von Autonomie, die sich im Verhältnis von Personalität und Freiheit manifestiert. Um phänomenologisch die Parameter des Personseins angemessen zu erfassen, ist deren Selbstbestimmung daher selbst als relational zu begreifen. Autonomie des Subjekts entspräche mithin der relationalen Selbstbestimmung der Person und hat damit selbst Teil an deren Relationalität.

Von Autonomie ist in der Gegenwart besonders im Rahmen der medizinischen Ethik, insbesondere der Frage der Patientenautonomie die Rede. Autonomie ist auch dort in ihrer neuzeitlichen Bedeutung im Sinne der Selbstbestimmung aufgefasst, die im Zuge der Aufklärung als Befreiung des Subjekts aus fremder Bevormundung begriffen wird. So ist in der Medizin im Zusammenhang der Fragen von Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungsassistenz die Rolle der Selbstbestimmung gegenüber einem bevormundenden Paternalismus des Arztes zu klären. Wird Autonomie selbst relational verstanden, verbietet sich eine strikte Trennung von Autonomie und Fürsorge oder einer als fürsorglich verstandenen Bevormundung. Eine relationale Selbstbestimmung lässt vielmehr den Aspekt einer nicht nur kontingenten, sondern permanenten Angewiesenheit der Menschen aufeinander hervortreten, der sich dem genannten Verständnis relationalen Personseins verpflichtet weiß. Ein Paternalismus im Sinne der Bevormundung hat dort keinen Ort, wohl aber die ärztliche Fürsorge, die sich etwa im Sinne eines informed consent an die Selbstbestimmungsfähigkeit der Person richtet, aber auch dort einspringt, wo Hilfe für Handlungs- und Denkvollzüge bereitgestellt wird, die der Patient selbst nicht mehr erbringen kann.

Der Gedanke der Relationalität lässt gerade solche Hilfe zu, ohne diese mit der Entmündigung der Person in Verbindung zu bringen. Das Verständnis von Autonomie wird erweitert zugunsten einer Reziprozität, die nicht auf gleicher Verteilung von Aktivität und Passivität aus ist, sondern Selbstbestimmung gleichermaßen an eigenkonstituierte und assistierte Urteilsfindung bindet. Das widerspricht keineswegs dem Begriff, denn auch kognitiv hoch eigenständige Menschen bedürfen etwa auf medizinischem Gebiet, wenn es um Entscheidungen der Behandlung geht, der Information. Der genannte informed consent zielt gerade nicht auf Menschen, die nicht verstehen können, sondern die verstehensfähig sind. Dies kann aber graduell auf der Skala der Aktivitäts- und Passivitätsmuster verschoben werden und so ein Abbild der graduellen Ausführungsbestimmungen von Autonomie liefern. Diese geht daher – als relational und relativ gefasst – nicht vollständig verloren, sondern kommt in der Selbstzwecklichkeit des Menschen zu ihrer Bestimmung, egal wie groß der Eigenanteil an der Entscheidung dabei ausfällt. Im Zuge einer solchen relational verstandenen Autonomie treten Anspruch und Zuspruch selbst in Kommunikation zwecks Freiheit und Würde des Menschen als Person. Zurückgewiesen werden müsste daher in der Medizin ein falsch verstandener Paternalismus, der den Menschen nicht in diesen relationalen Bezügen begreift und in diesen dessen Personsein anerkennt. Ein solcher Paternalismus würde den Menschen wiederum objektivieren, ihn zum Mittel eines Heilungswillens degradieren. Er würde damit die Selbsteinschätzung der Person in Bezug auf ihre Bestimmung missachten, die ihr auf dem Boden vorgegebener Bedingungen ihrer Leiblichkeit – nämlich Zeitlichkeit, Endlichkeit und Sozialität – einsichtig oder erlebbar ist.

Die Überlegungen zu einer relationalen Autonomie im Zusammenhang der Fragen der Entscheidungsassistenz von Ärzten und/oder gegebenenfalls Eltern böte damit keinen Spezialfall von Autonomie, sondern ließe exemplarisch deutlich werden, was das Personsein in seinem innersten Kern ausmacht. Indem Autonomie als polare Spannung von Selbstbestimmung und Angewiesenheit verstanden wird, ließe dies nämlich das reziproke aufeinander gewiesen Sein von Subjekt und Welt, Subjekt und Mitsubjekt und deren Interaktion und Kommunikation in seiner Ursprünglichkeit hervortreten. Die Ausdrucksformen dieser Autonomie variieren daher je nach intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten nicht qualitativ, sondern nur quantitativ. Graduell sind sie Abstufungen zwischen alleiniger oder assistierter Entscheidung, immer aber sind es Eckpunkte der Selbstbestimmung insofern, als das Subjekt sich selbst in der Beziehung zu sich und zugleich in Beziehung zum Mitmenschen und zur Welt und mithin zur Menschheit als Gattung sieht und auch von anderen so gesehen werden soll. Damit macht dieses Verständnis von Autonomie ernst mit dem Verständnis der Selbstgesetzlichkeit bei Kant. Diese meint eben gerade nicht individuelle Selbststimmung, sondern einen Schutzraum gegen Verzwecklichung. Autonomie ist dort der Schutzraum, der seine eigene Unverfügbarkeit gegenüber Dritten geltend macht. Und er gebietet den Respekt der anderen vor diesem Schutzraum.

Damit ist dieses Konzept von Autonomie auch mit einem bestimmten moralischen Anspruch verbunden, der sich von demjenigen, wie er in der einfachen Wahl von Optionen als Ausdruck der Selbstbestimmung verstanden wird, diametral unterscheidet. Anstelle von alternativer Wahlfreiheit verfolgt dieses Konzept die Linie der Gewissensüberzeugung, die als Pflicht das Wohl des anderen zum allgemeinen Gesetze erhebt und gerade darin auch die eigene Selbstbestimmung gewahrt sieht. Es geht dieser darum, sich selbst als in dieser Spannung gehalten zu begreifen im Sinne der Selbsterhaltung und Gestaltung als Wachsen der Menschheit im Menschen. Dieser moralische Anspruch ist von vorneherein auf Sozialität angelegt, versteht Selbstbestimmung nicht als Verwirklichung eigener Interessen, sondern möchte der Verwirklichung derjenigen Bestimmung des Menschen exemplarisch Ausdruck verleihen, die im Einbeziehen des anderen, der Gesellschaft und der Institutionen des Rechts besteht.

Literaturhinweise

Kwame Anthony Appiah, The Ethics of Identity, Princeton 2005

Gernot Böhme, Der Mündige Mensch. Denkmodelle der Philosophie, Geschichte, Medizin und Rechtswissenschaft, Darmstadt 2009

Harry G. Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung, Berlin 2001

Thomas Fuchs, Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Kusterdingen 2008

Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999

Catriona Mackenzie/Natalie Stoljar (Hg.), Relational Autonomy. Feminist Perspectives on Autonomy, Agency, and the Social Self, New York, NY 2000

Rosemarie Pohlmann, Autonomie, in: HWP Bd. 1, Darmstadt 1971, 702–719

Bibel, Glaube

Reiner Anselm

Die Bibel und der Glaube bilden für die Reformatoren den Maßstab und die Motivation des christlichen Handelns. Dabei kommt der Heiligen Schrift insofern eine herausgehobene Bedeutung zu, als sie die Grundlage, die Quelle und die Norm des Glaubens darstellt. Die herausgehobene Funktion der Bibel für die Grundlegung des Glaubens und des Handelns kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die materiale Ausgestaltung der evangelischen Ethik weniger an der Schrift als an der zeitgenössischen Sozialphilosophie orientierte. Die Maßstäbe für das dem Nächsten gegenüber gebotene Handeln aus dem Geist des Glaubens, die aus der Liebe entspringende Zuwendung, entstammen eher der zeitgenössischen, ständisch orientierten Soziallehre als der Schrift. Nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem radikalen Flügel der Reformation verweisen besonders die Wittenberger Theologen darauf, dass sich das Schriftzeugnis nicht unmittelbar in Regeln für das innerweltliche Handeln umsetzen lasse, sondern seine Brechung stets an dem ordnenden Willen Gottes finden müsse. Dieser Wille Gottes zeigte sich vor allem in den überpersönlichen Strukturen in Kirche, Familie und Staat, die von den jeweiligen Amtsträgern repräsentiert werden. Während dabei Christen sich aus eigenem Antrieb in diese Strukturen einfügen, bedarf es für diejenigen, die nicht im Glauben stehen, der autorisierten Gewaltausübung. Da auch eine christliche Gemeinschaft immer aus Glaubenden und Nicht-Glaubenden zusammengesetzt ist, können die biblischen Weisungen zur Feindesliebe, Gewaltlosigkeit und zum Ende des Gesetzes nur für den Einzelnen gelten, der sich als im Glauben stehend erfährt. Es ist jedoch nicht möglich, sie generell zum Maßstab des Zusammenlebens werden zu lassen.

Obwohl also bei den Reformatoren schnell ein restaurativer Grundzug das emanzipative Potenzial des biblischen Zeugnisses und einer auf dem Glauben gegründeten Ethik ablöst, bleibt doch der mit dem Rekurs auf die Schrift verbundene kritische Impuls, im Hören auf das dort niedergelegte Wort Gottes zu einer eigenen Stellungnahme zu gelangen, im Protestantismus stets lebendig – wenn auch nicht zuvörderst im landeskirchlich organisierten Protestantismus. In der mit der besonderen Stellung der Schrift und der Unvertretbarkeit des Glaubens als einer individuellen Gottesbeziehung verbundenen grundsätzlichen Aufforderung, sich in auch in den Fragen der Lebensführung nicht einfach auf die Sichtweise anderer zu verlassen, sondern sich ein eigenes Urteil zu bilden, liegt ein unverzichtbarer Bestandteil evangelischer Ethik. Der Rückgriff auf die Schrift in Fragen der Ethik ist darum immer auch gleichbedeutend mit dem Bewusstsein, die eigene Entscheidung nicht an andere zu delegieren. Evangelische Ethik ist maßgeblich geprägt von dem Respekt vor der freien, unter Berücksichtigung der besonderen Herausforderungen der jeweiligen Situation verantwortlich getroffenen Entscheidung jedes einzelnen Christen. Das entspricht der Hochschätzung des an Gottes Wort gebundenen Gewissens im reformatorischen Christentum. Aus diesem Grund kann es in den evangelischen Kirchen auch kein Lehramt geben, weder in Fragen des Glaubens, noch in denen der Ethik. Darum stellen Verlautbarungen der kirchenleitenden Organe zu ethischen Problemstellungen stets nur Empfehlungen dar. Sie sind keinesfalls verbindliche Lehre. Solche kirchlichen Äußerungen bilden Ratschläge, die auf den Dialog zielen und dabei das Entscheidungsrecht des Einzelnen respektieren.

Ungeachtet dieses eher fundamentalethischen Rückgriffs auf die Schrift war es dennoch die Intention der Reformatoren, auch materiale Handlungsorientierungen aus der Schrift zu begründen. Gerade Luther war davon überzeugt, dass der Schrift in den maßgeblichen Fragen des Glaubens und der Lebensorientierung eine Klarheit eigne, die sich aus ihr selbst heraus bestimmen lasse. In der Folgezeit zeigte sich jedoch: Je mehr Gewissheit von der Schrift erwartet wurde, desto intensiver mussten sich die Auslegungswissenschaften darum bemühen, die Klarheit der Schrift und ihre Bedeutung für die Lösung einzelner Konfliktfälle erst herauszustellen. Dieses Verfahren führte allerdings nicht zum gewünschten Ergebnis, denn in demselben Maß, in dem die Theologie versuchte, die Schrift als Urkunde der Offenbarung und als überzeitliche und damit auch in der Gegenwart gültige Orientierungsnorm zu etablieren, lösten sich Klarheit und vor allem der überzeitliche Gehalt des Alten und des Neuen Testaments auf. Angetreten, die Autorität der Schrift zu stärken, zeigte sich bald, dass diese Autorität in den Händen der Theologen zerrann. Denn die ethischen Normen der Schrift – darunter nicht zuletzt die Goldene Regel – erwiesen sich alsbald als Übernahmen aus der paganen antiken Ethik und konnten damit nur als der Wille Gottes aufrechterhalten werden, wenn man bereit war, die Sonderstellung der Schrift als dem einzigen Quellgrund der Offenbarung preiszugeben. Die historisch-kritische Erforschung der Schrift förderte nach und nach zutage, dass die biblischen Schriften zeitbedingte literarische Produkte sind, geschrieben von einzelnen Verfassern oder Verfassergruppen, die eine ganz spezifische Situation vor Augen haben und für diese Orientierung bieten möchten – eine Orientierung, die jedoch als zeitbedingte eben gerade nicht ohne Weiteres auf die Gegenwart zu übertragen ist. In den biblischen Schriften werden soziale, politische und kulturelle Verhältnisse vorausgesetzt, die sich erheblich von unserer Situation unterscheiden. Darüber hinaus liefert die Schrift auch keine Kriterien dafür, wie mit widersprüchlichen Aussagen zu einzelnen Themen umzugehen ist – etwa in der Frage des Suizids.

Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass die Bedeutung der Schrift für die Begründung konkreter Handlungsorientierung in der Neuzeit stark zurücktrat. Natur, Vernunft und Geschichte lauten dabei die großen Alternativen, die als Grundlage für ethische Orientierung angeboten werden: Im frühneuzeitlichen Naturrecht verweist man auf die Natur des Menschen als Grundlage der Moral, ein Gedanke, der im 19. Jahrhundert erneut Konjunktur bekommt und, vielleicht am prominentesten bei Albert Schweitzer, durch eine Orientierung am Lebensbegriff auch auf die nicht-menschliche Natur ausgeweitet wird. Dabei zeigte allerdings die genauere Analyse des Naturbegriffs, dass der Versuch, Handlungsbegründung auf einer Vorstellung von Natur zu gründen, mit ähnlichen Schwierigkeiten rechnen muss wie der Rekurs auf die Schrift: Sowohl der Natur- als auch der Lebensbegriff sind vielfältig kulturell überformt und entfalten ihre Kraft nur im Rahmen dieser Überformung. Analoges lässt sich auch für die alternativen Begründungskonzepte auf der Basis von Vernunft und Geschichte festhalten.

Führt man sich diese parallelen Strukturen vor Augen, dann legt es sich nahe, die Bedeutung der Schrift für die Ethik anders zu bestimmen als über die Begründung moralischer Urteile. Zunächst ist dabei noch einmal zu der mit dem Rekurs auf die Bibel verbundenen Autoritätskritik zurückzukehren. Sie leitet nämlich dazu an, die Bestimmung ethischer Normen als etwas grundsätzlich vom Einzelnen zu Leistendes, Zeit- und Situationsgebundenes verstehen zu lernen und damit Abstand zu nehmen von einer gesetzlich-moralisierenden Ethik. Anders als bei einem fundamentalistischen Rückgriff auf die Schrift zur Begründung der Ethik liegt die Bedeutung eines solchen, an der historisch-kritischen Zugangsweise zur Bibel geschulten Denkens für die Ethik darin, der Versuchung entgegenzutreten, überzeitliche Wahrheiten zu formulieren und stattdessen zu einer Demut gegenüber der konkreten Situation zu finden.

Von der Sensibilität für die konkreten Situationen aus lässt sich nun aber auch noch grundsätzlicher die Bedeutung der Bibel für eine evangelische Ethik bestimmen. Die Aufgabe der Ethik ist nämlich nur unzureichend beschrieben, wenn sie darauf beschränkt wird, Gründe für moralische Urteile anzuführen. Jede ethische Reflexion beginnt vielmehr damit, dass eine Situation als ethische Situation wahrgenommen wird. Von welchem Standpunkt aus eine bestimmte Konfliktlage in den Blick genommen wird, wo etwa Bedrohungen für die Integrität einer Person gesehen werden, wie das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen thematisiert und vertreten wird oder welcher Gerechtigkeitskonzeption sich der Einzelne verpflichtet sieht, ist ganz entscheidend für den Aufbau einer individuellen Handlungsorientierung. Ethische Problemlagen ergeben sich nicht einfach, sie werden als solche wahrgenommen. Ebenso hängt ganz maßgeblich von den eigenen Grundüberzeugungen ab, welche Begründungen im Feld der Ethik der Einzelne als plausibel gelten lässt. Die Erzählungen des Alten und Neuen Testaments schärfen den Blick für eine bestimmte Wahrnehmung der Situation, die sich an den Bedürfnissen des jeweiligen Nächsten orientiert und dabei auf die Gleichheit aller Menschen vor Gott verweist. Hier handelt es sich aber nicht um eine Begründung im strikten Sinn, sondern um eine bestimmte, insbesondere narrativ vermittelte Sicht auf die Lebenswirklichkeit. Sie lässt uns bestimmte Bedürfnisse erkennen, die dann leitend werden für das eigene Verhalten.

Von dieser Grundlage aus ergibt sich sodann auch die Verbindung zum Glauben und seiner Bedeutung für die Ethik. Dabei wäre der Charakter des Glaubens gänzlich falsch verstanden, wenn dieser als ein Ersatz oder eine Konkurrenz zum Wissen aufgefasst würde. Glaube beschreibt ein umfassendes Ausgerichtet-Sein durch die Beziehung zu Gott, aus dem heraus sich eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit ergibt: Sie leitet dazu an, die Weltlichkeit der Welt in ihrer Unterschiedenheit zu Gott zu akzeptieren und darum Fragen der Lebensführung immer nur als vorläufige und damit auf Kompromiss angelegte Fragen zu verstehen. Sie sensibilisiert dafür, jedem Einzelnen, den sie als Mitgeschöpf versteht, Freiheit in der Gemeinschaft zu ermöglichen und lenkt die Aufmerksamkeit darauf, das eigene Tun an der Zukunftsfähigkeit des menschlichen Lebens auszurichten. Diese Wirklichkeitswahrnehmung ist geprägt von den biblischen Überlieferungen und bestimmt als eine Ausrichtung der eigenen Perspektive sodann auch das Handeln. Diese Ausrichtung resultiert aus dem Glauben, kann für sich aber ebenso wenig Exklusivität beanspruchen, wie sie nur für denjenigen nachvollziehbar ist, der im Glauben steht. Über die Orientierung hinaus leistet der Glaube aber noch ein Zweites: Er stellt die Lebensführung des Einzelnen nicht nur in einen bestimmten Deutehorizont, sondern vermittelt auch noch die Kraft und die Motivation dazu, sich dem Nächsten und seinen Bedürfnissen zuzuwenden, indem er den Einzelnen das Handeln am Nächsten als Teil der eigenen Glaubensüberzeugung verstehen lässt.