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Willkommen auf der Akademie der Schattenjäger in London! Hier lernen Schüler, wie man Dämonen bekämpft. Einen Pakt mit einem Dämon eingehen ist strengstens untersagt. Und sich in einen Dämon verlieben erst recht. London wird von Dämonen überrannt. Remedy und ihr Team stehen vor einer Entscheidung, die sie das Leben kosten könnte. Denn obwohl die Akademie ihnen strengstens untersagt hat, mitzukämpfen, können sie nicht tatenlos zusehen, wie der Everglow die Trennung zwischen Welt und Unterwelt auflöst. Doch Remedy braucht die Hilfe von Nathan. Wird er zu ihr halten, obwohl er ein Dämon ist? Lest jetzt das große Finale der Akademie der Schattenjäger!
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Seitenzahl: 356
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ever After
Die Akademie der Schattenjäger
Buch 3
Anna Heart
Titel: Ever After – Die Akademie der Schattenjäger Band 3
Autorin: Anna Heart
Cover: Ria Raven
Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2023
© 2023 Von Morgen Verlag
Alle Rechte vorbehalten.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Nachwort der Autorin
Buchverlosung
Leseempfehlung
Nathan stand vor der Tür zum Thronsaal. Eine Weile betrachtete er die Schnitzereien, während er versuchte, sein schnell schlagendes Herz zu beruhigen.
Die Hochfürstin hatte Neuigkeiten angekündigt. Nach dem Bruch des zweiten Balkens konnte er nur hoffen, dass es nicht Remy und die anderen Schattenjäger betraf.
Bevor er sich sammeln konnte, öffneten sich die Türen. Nun gab es kein Zurück mehr. Er musste wirken, wie er immer wirkte: unbeteiligt, zufrieden mit sich und der Welt, und natürlich voller Unterstützung für die Hochfürstin.
Aufgeregtes Gemurmel herrschte im Saal. Er ließ seinen Blick über die anwesenden Dämonen schweifen und fragte sich, was sie hier machten. Einst, bevor die Magie zu schwinden begonnen hatte, hatte jeder von ihnen eine Rolle gehabt. Sie hatten Heldentaten geleistet, Ländereien besessen oder den Fürsten unterstanden. Doch jetzt ... Ihre Ländereien waren verloren. Die Unterwelt, für die sie Heldentaten vollbracht hatten, existierte kaum mehr. Und wer einem der Fürsten unterstand, tat es nur noch dem Namen nach. Schon lange hatten sie keine Verwendung mehr für Vasallen.
Nur ein paar Blicke wandten sich ihm zu, als er durch die Menge in Richtung des Podests lief, auf dem sich sein angestammter Platz neben dem Thron befand.
Neben dem Thron. Nicht auf ihm, wie er manchmal als Kind angenommen hatte.
Ein Lächeln umspielte seine Lippen bei dem Gedanken, doch es erlosch sofort, als er die Hochfürstin auf dem Thron sitzen sah.
„Nathaniel, du bist spät dran“, meinte sie. Dabei lächelte sie nicht, also musste es ernst sein.
Nathan deutete eine Verbeugung an. „Entschuldigung. Ich wurde aufgehalten.“
Zu seinem Glück fragte sie nicht nach Details, denn er hätte es selbst nicht erklären können. Er hatte die vergangenen Stunden damit verbracht, in seinem Schlafzimmer auf- und abzulaufen. Keine Sekunde hatte ihn der Gedanke losgelassen, was mit Remy und den anderen passiert war – ob sie es geschafft hatten, zu entkommen. Noch mehr hatte ihn allerdings seine eigene Rolle beschäftigt, oder besser, die Rolle, die er nicht gespielt hatte. Er hätte ihnen helfen können, hätte sie bei ihrer Flucht unterstützen können, doch er hatte sich dagegen entschieden. Es half niemandem, wenn er nun im Kerker landete oder hingerichtet wurde. Zumindest redete er sich das ein.
„Wo warst du?“, riss die Hochfürstin ihn aus seinen Gedanken. „Ich hatte erwartet, dich beim großen Fest zu sehen.“
Das große Fest. Sein Magen drehte sich um, als er daran dachte, was dort passiert war. Der zweite Balken war gefallen, also hatten sie die Schattenjägerin hingerichtet. Er erinnerte sich an ihren Schrei, als sie ihren toten Kameraden gesehen hatte, und verspürte Mitleid mit ihr.
„Ich war verhindert.“
Die Hochfürstin warf ihm zum Glück nur einen unzufriedenen Blick zu, statt weiter nachzufragen.
Er ging langsam die wenigen Stufen zur kleinen Empore hinauf und ließ sich auf seinen Stuhl neben dem Thron fallen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Gabriel ebenfalls fehlte.
Als hätte sein Gedanke ihn gerufen, erschien der Fürst vor dem Thron. Er ging vor der Hochfürstin auf die Knie und verbeugte sich tief.
Nathan atmete erleichtert auf. Diese Darstellung von Respekt konnte nur bedeuten, dass Gabriel versagt hatte. Die Schattenjäger waren entkommen.
Auch die Hochfürstin zog die Augenbrauen zusammen, als sie Gabriels Haltung sah. Trotzdem fragte sie: „Nun?“
Er zögerte. „Ich habe versagt“, gab er schließlich zu.
Die dunklen Augen der Hochfürstin waren auf Gabriel gerichtet, trotzdem gab sich Nathan alle Mühe, seine Erleichterung nicht zu zeigen. Er zweifelte nicht daran, dass sie ihre anderen Fürsten aus den Augenwinkeln im Blick behielt.
Die Hochfürstin sagte nichts. Es war schlimmer, als wenn sie geschrien hätte. Die Stille breitete sich im Saal aus und eine Gänsehaut lief über Nathans Arme.
„Was ist passiert?“ Kurz schloss und öffnete sich ihre Hand, das einzige Zeichen dafür, dass sie verstimmt war.
„Sie sind durch ein Pentagramm entkommen, das direkt danach zerstört wurde.“
„Woher kam das Pentagramm?“, wollte die Hochfürstin wissen. „Hat etwa ein Dämon ihnen geholfen? Schattenjäger können keine Pentagramme erschaffen.“
Nathan versuchte, seine Anspannung nicht zu zeigen. Er zwang ein unbekümmertes Lächeln auf sein Gesicht, doch seine Gedanken und sein Herz rasten. Nur eine kam in Frage dafür, ein Pentagramm erschaffen zu haben.
Wieder zögerte Gabriel. Nathan presste die Lippen aufeinander, um nicht all die Fragen zu stellen, die ihm durch den Kopf gingen. Wohin waren die Schattenjäger entkommen? Waren sie verletzt?
„Eine der Schattenjägerinnen ... Remedy. Sie scheint ebenfalls dämonische Magie zu besitzen.“
Die Hochfürstin hob eine Augenbraue, dann lächelte sie zufrieden. „Das heißt, sie steht unter der Kontrolle eines Dämons?“
Zu Nathans Erleichterung schüttelte Gabriel den Kopf. „Nein. Der Dämon, dessen Blut sie getrunken hat, ist tot.“
Die Hochfürstin runzelte die Stirn. „Woher weißt du das? Und wer hat das Pentagramm zerstört?“
Gabriel richtete sich auf, duckte sich dann aber unter dem strengen Blick der Hochfürstin. „Ein Mann hat es mir gesagt. Ein Mensch. Der ehemalige Schattenjäger, der in den Bergen gewohnt hat. Offenbar ist er der Vater der Schattenjägerin, auch er hatte Dämonenblut getrunken.“ Dann straffte sich Gabriels Haltung. „Ich habe mich um ihn gekümmert.“
Etwas zog sich in Nathan zusammen. Der Mann war Remys Vater gewesen? Er hatte nicht viel über ihn gewusst, nur dass er ein in Ungnade gefallener Schattenjäger gewesen war. Und nun war er tot. Er konnte sich Remys Schmerz nur zu gut vorstellen. Kurz ging seine Erinnerung zurück an seinen eigenen Vater und das Versprechen, dass er ihm gegeben hatte: die Unterwelt unter allen Umständen zu beschützen. Nach dem Durchbruch des zweiten Balkens schien er weiter davon entfernt als je zuvor.
Langsam entspannte er seine Hand wieder, die sich unwillkürlich zur Faust geballt hatte.
Nun verlor die Hochfürstin doch ihre Fassung. „Du hast den einzigen Schattenjäger in unserem Besitz getötet?“
Gabriel wurde blass. „Ich ... ich dachte, es wäre in Eurem Interesse, ich ...“
„Du hast geglaubt, es wäre in meinem Interesse, sämtliches Wissen über die Schattenjäger zu verlieren, das wir noch in unserem Reich haben?“ Sie erhob sich. Obwohl sie kleiner als er und schlank war, zuckte Nathan zusammen. Etwas an ihr schüchterte ihn ein, und er konnte auf Gabriels Gesicht sehen, dass es dem anderen Dämon ähnlich ging.
Dem schienen nun die Entschuldigungen auszugehen. Amüsiert bemerkte Nathan, wie Gabriel hilfesuchend zu den anderen Fürsten sah, aber natürlich konnte er von ihnen keine Unterstützung erwarten. Sie waren nicht dumm genug, den Zorn der Hochfürstin auf sich zu ziehen.
Langsam setzte sich sie zurück auf ihren Thron. Einen Moment lang geschah nichts, und Nathan wusste, dass sie Gabriels Angst noch weiter auskosten wollte. Dann erlöste sie ihn. „Nun gut. Es lässt sich nicht ändern.“
Erleichtert atmete Gabriel auf.
„Und du hast Glück, dass ich gerade in einer guten Stimmung bin. Wir haben den zweiten Balken durchbrochen, und das gilt es zu feiern.“ Ein Weinglas erschien in ihrer Hand, und sie hob es zum Toast.
Erst einige Herzschläge später löste sich die Menge im Saal aus der Starre, in die sie während des Gesprächs zwischen Gabriel und der Hochfürstin verfallen war. Zaghafte Jubelrufe wurde laut, und hier und da klatschte jemand in die Hände.
Gabriel wagte es zögerlich, sich auf seinen Platz neben dem Thron zu setzen. Die Hochfürstin wandte sich ihm halb zu, wobei ihre Augen auf den Saal gerichtet blieben.
„Du hast Glück, dass wir bereits wissen, wie der dritte Balken gebrochen werden kann. Auch wenn wir noch lange bis dahin warten müssen.“
Alles in Nathan versteifte sich, aber er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Doch seine Gedanken rasten.
Er musste es verhindern. Auf keinen Fall durfte er zulassen, dass die Welt der Menschen mit der Unterwelt verschmolz und die Dämonen ungehindert über sie herfielen. Und dass die Dämonen wieder gejagt wurden, ohne einen Ort, den sie ihren eigenen nennen konnten.
Kurz schloss er die Augen. Dann öffnete er sie wieder, eine neue Entschlossenheit im Blick.
Nein, er würde alles daransetzen, diese Katastrophe zu verhindern.
„Was machen wir jetzt?“
Wir standen vor der Halle, hinter der sich die Akademie verbarg, und sahen einander an.
Jakub war zurückgeblieben, um seine nächsten Befehle zu empfangen, doch wir ... Wir waren von der Akademie verwiesen worden. Unsere Ausbildung war beendet.
Es fühlte sich noch immer unwirklich an.
„Wir gehen nach Hause. Zurück zu unseren Eltern.“ Summer hatte das Kinn vorgereckt. Kurz dachte ich, Tränen in ihren Augen zu sehen, aber dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle.
„Wir können doch nicht einfach ...“, begann ich, doch sie schüttelte vehement den Kopf. „Aufgeben? Ich befürchte, uns bleibt nichts anderes übrig.“
Die Bitterkeit in ihrer Stimme ließ mich zusammenzucken. „Aber ...“ Ich verstummte, als ich die resignierten Blicke der anderen sah.
Chris ging als Erster los. Wir anderen folgten ihm zu unserer Wohnung, oder besser gesagt: der Wohnung, die einst unsere gewesen war. Mir wurde bewusst, dass sie ein beträchtlicher Teil meiner Sachen noch im Landhaus befand, aber ich war zu erschöpft, um mich darum zu kümmern. Es handelte sich eh hauptsächlich um Bücher für den Unterricht. Bücher, die ich nun nicht mehr benötigen würde.
Diese Erkenntnis traf mich tiefer als alle Überlegungen zuvor. Was eben noch wie ein schlechter Traum gewirkt hatte, wurde zur Wirklichkeit.
Wie betäubt folgte ich den anderen die Treppe nach oben. Mein Blick ging unwillkürlich zu der Tür gegenüber von unserer Wohnung, doch ich wusste, dass sie leer war. Nathan war in der Unterwelt, und ich würde ihn nie wieder sehen.
„Vorsicht, Remedy, man sieht das Selbstmitleid auf deinem Gesicht“, meinte Neil mit einem müden Grinsen.
„Nun, im Gegensatz zu dir habe ich einfach vorgehabt, etwas Sinnvolles mit meinem Leben anzustellen“, schoss ich zurück.
„Computerspiele sind sinnvoll. Manche Leute verdienen sogar Geld damit.“
„Na, nichts, worum du dich kümmern musst.“ Ich hatte keine Lust, mich mit ihm zu streiten, und hörte ihm nicht mehr zu.
Unsere Wohnung lag so da, wie wir sie verlassen hatten: der umgestürzte Fernseher auf dem Boden. Aus der Küche drang ein furchtbarer Geruch nach Fäulnis, weil keiner von uns daran gedacht hatte, das Obst wegzuwerfen.
Ich hatte nicht die Energie, mich darum zu kümmern, und überließ es Chris.
Langsam stopfte ich meine verbliebene Kleidung in meinen Koffer. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie ich mich bei meiner Ankunft gefühlt hatte. Trotzdem musste ich kurz zu Summer schauen, die mit zusammengebissenen Zähnen ihren Schrank leerräumte. Für sie hatte noch mehr auf dem Spiel gestanden. Sie hatte noch mehr verloren. Doch wie ich sie kannte, wollte sie wohl kaum getröstet werden.
Schließlich trafen wir uns mit gepackten Koffern im Wohnzimmer. Chris hatte den zerstörten Fernseher an die Wand gelehnt. Fahles Licht fiel durch die Fenster herein und ließ unsere Situation noch unwirklicher erscheinen.
„Also dann“, sagte ich leise.
„Wir sollen wenigstens Nummern austauschen. Nur für den Fall, dass ...“ Chris verstummte.
Ich beendete seinen Satz. „Für den Fall, dass wir in Kontakt bleiben wollen.“
Mein Handy lag noch immer im Landsitz, und ich bat Neil darum, es mir zuzuschicken. Dann tippte ich meine Nummer in die Handys der anderen ein.
Wir fuhren gemeinsam zum Bahnhof. Jeder von uns musste in eine andere Richtung, und Neil verabschiedete sich als Erster. Er winkte uns nur kurz zu, dann verschwand er in der Menge der Reisenden. Summer nickte, bevor auch sie uns verließ.
Chris breitete seine Arme aus, und ich ließ mich nur zu gerne in seine feste Umarmung ziehen. „Es wird schon alles wieder“, flüsterte er neben meinem Ohr.
Ich war zu erschöpft, um zu widersprechen, also nickte ich nur.
Dann machte auch ich mich auf den Weg zu meinem Zug, ohne zurückzublicken.
Das Gesicht meiner Mutter war verweint, als sie mir die Tür öffnete. Ich musste furchtbar aussehen, denn seit unserer Rückkehr aus der Unterwelt hatte ich nicht mehr geduscht oder mich umgezogen. Trotzdem schnappte sie nach Luft und zog mich in ihre Arme. „Remedy! Oh, Remedy, du bist am Leben!“
„Immerhin etwas“, murmelte ich in ihr Haar, aber auch mir stiegen die Tränen in die Augen. Eine Zeitlang hielten wir uns nur fest. Erschöpfung, Müdigkeit und die Erkenntnis, dass ich nicht mehr wusste, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, brachen über mich herein. Ich weinte, bis ich nichts mehr spürte.
„Warum hast du nicht angerufen? Wann bist du zurückgekommen? Sie haben mir nicht sagen wollen, was passiert ist, aber die Zeitungen haben geschrieben ...“, redete meine Mutter auf mich ein. Immer wieder strich sie mir dabei über das Gesicht, als könnte sie nicht glauben, mich wirklich vor sich zu sehen. Ihre Hände waren kalt und dünner, als ich sie in Erinnerung hatte.
„Es ist viel passiert.“ Meine Augen waren kurz davor, zuzufallen. „Ich muss duschen, etwas essen und dann schlafen. Dann erzähle ich dir alles, in Ordnung?“
Sie runzelte besorgt die Stirn. „Darfst du das überhaupt? Die Schattenjäger ...“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich bin schon von der Akademie geflogen. Was sollte mir sonst noch passieren?“
Das erinnerte mich an meinen Vater, und neue Tränen stiegen mir in die Augen. Aber ich wollte meine Mutter jetzt nicht damit überrollen. Also zerrte ich nur meinen Koffer in den Flur, stolperte die Stufen zu meinem Zimmer und zum Bad nach oben und schloss mich ein.
Ich hatte vorgehabt, sofort unter die Dusche zu springen, doch meine Beine gaben unter mir nach. Langsam rutschte ich an der Tür nach unten, das Gesicht in den Händen vergraben. Es kamen keine Tränen mehr, aber ich hatte mich schon lange nicht mehr so einsam gefühlt.
Der Geruch nach Tiefkühlpizza zog durch die Luft, als ich das Bad verließ. Die Dusche hatte wenigstens dafür gesorgt, dass ich mich wieder etwas mehr wie ein Mensch fühlte, und ich wusste, die Pizza würde ihr Übriges tun.
Pizza. Neils Lieblingsessen, das er uns im Herrenhaus fast jeden Tag aufgezwungen hatte. Ich musste lächeln, doch dann durchfuhr mich ein Stich bei der Erinnerung. Diese Tage waren vorbei. Wie überhaupt alle Tage mit den anderen.
Ich ging die Stufen zur Küche hinunter und erinnerte mich daran, wie ich aufgebrochen war. Die Vorfreude, der feste Vorsatz, die Beste zu werden. Nun wurde ich nicht einmal irgendwas.
Bitter presste ich meinen Mund zusammen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen.
Meine Mutter wartete in der Küche. Sie hatte sich Mühe gegeben, den Tisch herzurichten, und in einer kleinen Vase stand sogar ein einzelnes Gänseblümchen, das sie im Gärtchen hinter der Veranda gepflückt haben musste. Ich lächelte bei dem Anblick.
„Geht es dir besser? Überhaupt, ich hatte noch keine Zeit, dich zu fragen: Bist du unverletzt? Ist alles in Ordnung?“
Ich nickte, dann schüttelte ich den Kopf. „Ich bin unverletzt. Aber nichts ist in Ordnung.“
„Oh, meine Kleine.“ Meine Mutter zog mich wieder in ihre Arme und schien mich nicht mehr loslassen zu wollen. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Immerhin war ich über einen Monat verschwunden gewesen, und natürlich hatten die Leute von der Akademie der Schattenjäger ihr nicht gesagt, was passiert war. Geheimnisse.
Ich schnaubte.
Meine Mutter schob mich von sich weg und sah mich fragend an. Ich schüttelte hastig den Kopf. „Nichts. Nur ... Erinnerungen.“
Sie strich mir beruhigend über den Kopf, eine Geste, die ich noch vor wenigen Monaten als kindisch empfunden hätte. Nun wirkte sie eher tröstend.
Meine Mutter holte die Pizza aus dem Backofen und schob sie mir auf den Teller. Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. „Ich habe nur eine, aber iss dich ruhig satt. Ich habe sowieso keinen Hunger.“
Ich meinte, ihren Magen grummeln zu hören.
Am Ende teilten wir uns die Pizza und machten es uns danach mit einem Glas Wein auf dem Sofa bequem.
„Zur Feier des Tages“, meinte meine Mutter mit einem Augenzwinkern.
„Ich habe schon mal Wein getrunken“, sagte ich, und als sie mich erstaunt ansah, fügte ich hinzu: „Im Thronsaal der Hochfürstin der Unterwelt.“
Meine Mutter rückte näher. „Ihr wart wirklich in der Unterwelt?“
Ich nickte. Der Wein machte mich schläfrig. Trotzdem begann ich, ihr alles zu erzählen: wie ich in London Nathan kennengelernt und er sich als Dämon erwiesen hatte. Die Schwierigkeiten, die ich am Anfang mit den anderen gehabt hatte. Wie wir herausgefunden hatten, was der andere Dämon plante, und wie der Everglow passiert war.
Allein das Wort „Everglow“ auszusprechen, schnürte mir die Kehle zu.
Meine Mutter legte den Kopf schief und sah mich mitleidig an. „Ich wünsche, ich hätte bei all dem bei dir sein können“, meinte sie und legte eine Hand auf meine.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Natürlich hätte ich mir auch gewünscht, sie bei mir zu haben. Doch immerhin hatte sie sich so keine Sorgen machen müssen, als wir zu fünft von einer Horde Dämonen verfolgt worden waren, nachdem es zum Everglow gekommen war. Ich ließ den Teil in meiner Erzählung aus und tat so, als wären die Schattenjäger dort gewesen, bevor die Dämonen in unsere Welt gelangt waren.
Irgendwann fielen mir die Augen zu, und meine Mutter strich mir über den Kopf. „Ruh dich erst mal aus. Du kannst mir den Rest morgen erzählen.“
Dann nahm sie mich noch einmal in den Arm. „Ich bin so froh, dass du zurück bist“, murmelte sie leise.
Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich es nicht war.
Am nächsten Morgen setzte ich meine Erzählung nach dem Frühstück fort. Meine Stimme brach, als ich erst von Juliens und dann von Cyrils Tod erzählte. Ich brachte es auch nicht über mich zu erwähnen, welche Rolle ich darin gespielt hatte, Camille zum Tode zu verdammen. Also behauptete ich, die Hochfürstin hätte sie ausgewählt.
Schließlich kam ich zum letzten Teil meiner Erzählung. Mein Herz schlug schneller, als ich schließlich die Worte herauspresste, die seit meiner Heimkehr in mir schlummerten: „Und dann ... war da dieser Mann in dem Häuschen, der uns helfen sollte.“
Meine Mutter sah mich erwartungsvoll an. In ihren Augen las ich deutlich, dass sie nicht erwartete, was nun kommen würde.
„Es war mein Vater“, würgte ich hervor.
Ihre Augen weiteten sich, dann schlug sie die Hände vor den Mund. „Dein ... dein Vater? In der Unterwelt? Aber ... wie?“ Ein Zittern ging durch ihren Körper, und Tränen traten ihr in die Augen. „Geht es ... geht es ihm gut? Aber ... was macht er denn in der Unterwelt? Und ... wie ... warum ...?“
Ich holte tief Luft. Das würde der schwerste Teil der Geschichte werden. Ich erzählte hastig, wie Gabriel aufgetaucht war. Dann von dem Kampf.
„Mein Vater ist tot“, sagte ich schließlich, als ich es nicht mehr hinauszögern konnte. „Er ist gestorben, um uns genug Zeit zur Flucht zu verschaffen.“
Während es alle möglichen Gefühle in mir auslöste, das Treffen mit meinem Vater noch einmal zu beschreiben, sah ich auf dem Gesicht meiner Mutter nur Trauer und Entsetzen. Sie schluchzte haltlos. „Es tut mir leid. Ich habe ... ich habe irgendwie nie die Hoffnung aufgegeben, dass er zu uns zurückkommt.“
„Er hätte es tun können.“ Meine Miene verfinsterte sich. „Aber er wollte nicht. Er konnte es weniger ertragen, von seiner Magie getrennt zu sein, als von seiner Frau und seiner Tochter.“
Sie fuhr sich über das Gesicht. „Das ... das glaube ich nicht. Sie müssen ihm verboten haben, zurückzukehren, nachdem er mir alles über die Schattenjäger verraten hat ...“
Ich kniff die Lippen zusammen. „Was ist damals überhaupt passiert? Er hat erwähnt, dass ich sehr krank war, aber ich erinnere mich nicht daran.“
Sie schüttelte den Kopf. „Du warst noch ganz klein, zweieinhalb Jahre. Immer wieder hattest du unerklärliche Fieberschübe, und du hast aufgehört zu essen. Wir wussten nicht, was es ist, und auch die Ärzte konnten nichts tun. Sie meinten, dass es vermutlich eine Autoimmunerkrankung oder eine Form von Anfällen war, aber es gab nichts, was sie dagegen machen konnten. Wir haben fast jede zweite Nacht im Krankenhaus verbracht, und es war so schrecklich zu sehen, wie du immer dünner und lebloser geworden bist.“
Sie holte tief Luft, als würde sie die Erinnerung in diese Zeit zurückwerfen. Dann strich sie sich über das Gesicht. „Paul ... dein Vater hatte mir erzählt, dass er Polizist ist, und ich hatte keinen Grund dazu, ihm nicht zu glauben. Es passte, die langen Schichten, die Notrufe, die ihn um zwei Uhr nachts aus dem Bett holten ... die Verletzungen, die er manchmal hatte.“
Wieder atmete sie gepresst ein. „Dann, eines Abends, ist er nach Hause gekommen. Er hatte etwas in der Hand, eine Phiole mit einer dunkelroten Flüssigkeit, und hat behauptet, es könnte dich heilen. Ich wollte natürlich wissen, was es war, und dann hat er es mir erzählt. Die ganze Geschichte.“
Sie lächelte schwach. „Ich habe ihm natürlich zuerst nicht geglaubt, ich dachte, er wäre vor Sorge einfach verrückt geworden. Doch dann hat er seine Magie beschworen, und was soll ich sagen ... es war schwer, ihm danach nicht mehr zu glauben. Also habe ich zugestimmt. Er hat dir die Flüssigkeit aus der Phiole eingeflößt, aber er hat mir nie gesagt, was es war. Dann hat er selbst davon getrunken, glaube ich. Aber ich war zu abgelenkt. Du hattest wieder einmal einen deiner Fieberschübe und hast dich unruhig hin und her gewälzt. Doch nachdem er dir die Flüssigkeit zu trinken gegeben hatte, wurdest du plötzlich ruhig. Für einen furchtbaren Augenblick habe ich geglaubt, du wärst gestorben. Aber dann habe ich gesehen, wie sich dein kleiner Brustkorb gehoben und gesenkt hat.“ Sie lächelte verträumt. „Das Fieber war verschwunden, und am nächsten Morgen hast du gegessen, als müsstest du alles aufholen, was du in den Wochen davor an Essen verpasst hast.“ Sie lächelte mich an. „Und das tust du bis heute.“
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, wurde dann aber sofort wieder ernst. „Und was ist danach passiert?“
Ihr Blick verdunkelte sich. „Zwei Tage später wurde er von den Schattenjägern abgeholt. Sie waren zu unserem Haus gekommen, als er nicht da war. Ich habe den Fehler gemacht, ihnen zu sagen, was ich wusste, aber ich dachte, sie wollten uns helfen.“ Ihre Hände strichen über ihre Oberarme. „Leider ... leider war das nicht der Fall.“ Sie seufzte und legte dann den Kopf in den Nacken, als könnte sie dadurch die Tränen davon abhalten, aus ihren Augenwinkeln zu laufen. „Ich dachte erst, er kommt wieder. Ich habe jeden Tag auf ihn gewartet, aber ... er ist nicht wiedergekommen. Bis eben wusste ich nicht einmal, was in der Phiole war, und was danach aus ihm geworden ist. Die ganze Zeit dachte ich, er sitzt in irgendeiner dunklen Zelle und wartet darauf, wieder freigelassen zu werden. Oder, später, dass er längst wieder draußen ist und uns einfach vergessen hat. Wenn ich gewusst hätte, dass er in die Unterwelt abgehauen ist, um seine Magie wieder benutzen zu können ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Dann hätte ich mir viel früher einen anderen Mann gesucht.“
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Es stimmte, in meiner frühen Kindheit war meine Mutter anderen Männern aus dem Weg gegangen. Erst als ich zehn war, hatte sie für eine kurze Zeit einen Freund gehabt. „Im Gegensatz zu deinem Vater sind alle anderen Männer langweilig“, hatte sie mir damals gesagt, und mein zehnjähriges Ich hatte einen verqueren Stolz bei dem Gedanken verspürt, dass mein Vater etwas Besonderes sein sollte.
Sie sah mich zögerlich an. „Was ich mich frage, ist ... Woher wusste dieser Gabriel, wo ihr seid? Du hast gemeint, niemand hat euch verfolgt.“
Ich biss die Zähne zusammen. „Das habe ich mich auch schon gefragt. Es gab nur einen, der gewusst hat, wohin wir unterwegs waren.“
„Nathan“, sprach sie es für mich aus. Natürlich hatte ich ihr erzählt, was zwischen Nathan und mir vorgefallen war, und sie hatte bei der Erzählung unseres Kusses gequietscht wie ein vierzehnjähriges Schulmädchen. Jetzt sah sie mich mitleidig an. „Meinst du, er hat euch verraten?“
Unwillig zuckte ich mit den Schultern. „Ich wüsste nicht, wieso er das getan haben sollte.“
„Vielleicht haben sie ihn gefoltert?“, warf meine Mutter wenig hilfreich ein.
Ich bedachte sie mit einem finsteren Blick. „Das glaube ich nicht.“ Vor allem, weil ich es nicht glauben wollte. Noch weniger wollte ich allerdings glauben, dass er uns aus freien Stücken verraten hatte.
Zu meinem Glück wechselte meine Mutter schnell das Thema. „Was ist also passiert, nachdem ihr wieder hier angekommen seid?“
In knappen Sätzen erzählte ich ihr von unserem Besuch an der Akademie. Erst dann fiel mir wieder ein, was ganz zum Schluss passiert war. „Ich weiß nicht, ob du es schon aus den Nachrichten gehört hast, aber ... der zweite Balken ist zerbrochen. Der Tokyo Tower ist eingestürzt, und dort ist ebenfalls ein Abgrund wie hier in London nach dem Ever... nach der Katastrophe.“
Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Ich ... nein, das habe ich noch gar nicht mitbekommen. Ich war so darin versunken zu hoffen, dass du wieder auftauchst ... Oh, mein Gott. Was tun wir jetzt? Wenn niemand sie aufhält, dann ...“
„Wir tun gar nichts“, gab ich etwas gereizt zurück. „Das dürfen wir jetzt den Schattenjägern überlassen.“
„Ach, Remedy, es tut mir so ...“
„Es braucht dir nicht leid zu tun. Es ist meine Schuld.“ Ich biss die Zähne zusammen. Irgendwie fühlte es sich gut an, das zuzugeben, aber ich wusste gleichzeitig, dass es mich nur tiefer ins Selbstmitleid führen würde. Auf der anderen Seite wollte ich das vielleicht auch. Ich wollte mich in meinem Bett verkriechen, in Selbstmitleid versinken und nie wieder einen Fuß nach draußen setzen.
„Uff.“
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, was mir einen bösen Blick von meinem Chef einbrachte. Überhaupt sammelte ich mehr böse Blicke von ihm als Trinkgeld von den Kunden.
Einen Monat, nachdem ich zurück nach Hause gekommen war, hatte meine Mutter genug davon gehabt, dass ich als Zombie durchs Haus schlurfte. Oft war ich erst nach Mittag aufgestanden, hatte stundenlang Serien geschaut oder lustlos durch ein Buch geblättert. Die Wahrheit war, dass ich nichts mit mir anzufangen wusste. Mein Leben lang hatte ich darauf gewartet, endlich an der Akademie meine Ausbildung beginnen zu können, und nun war dieses Ziel aus meinem Leben verschwunden. Also hatte meine Mutter mir eine Zeitung hingeknallt, in der sie mehrere Stellenangebote für Aushilfen oder Kellnerinnen umkreist hatte. „Du suchst dir jetzt einen Job, bevor ich dich zurück an die High School schicke.“
Die Drohung hatte gewirkt, und jetzt stand ich hier in einer hässlichen senfgelben Uniform mit weißem Spitzenschürzchen und brachte gelangweilt wirkenden älteren Paaren Kaffee und Kuchen.
Das Café war ebenso altbacken wie seine Kundschaft. Nichts schien richtig zusammenzupassen, was wohl an die hippen veganen Cafés in London erinnern sollte, doch hier in der Provinz wirkte es nur schlecht durchdacht. Noch dazu schien es sich bei Senfgelb um die Lieblingsfarbe meines Chefs zu handeln, denn er hatte tatsächlich die Wände in den Ton anstreichen lassen. Die Holzmöbel, mal hell, mal dunkel, mal lackiert, mal nicht, konnten dagegen farblich nicht ankommen.
„Ich bezahle dich nicht dafür, hinter der Theke herumzugammeln“, blaffte mich Jason, mein Chef, an. „Da draußen warten bestimmt drei Tische auf ihre Cappuccinos.“
Ich antwortete nicht, doch streckte ihm die Zunge raus, als er sich kurz umdrehte. Dann setzte ich mich mit der Kaffeemaschine auseinander, ein hoch technologisiertes Ding, das ständig irgendetwas wollte. Jetzt gerade waren die Kaffeebohnen leer, und ein blinkendes Lichtchen erinnerte mich daran, dass ich die Maschine auch noch entkalken musste.
Die kleine Glocke an der Tür ging und ich drehte mich den neuen Besuchern zu. „Ich bin gleich ...“
Die Worte blieben mir im Hals stecken, als ich sah, wer dort gerade hereinkam. Oh nein. Auch das noch.
Taylor grinste mich breit an, während sie zusammen mit Leony und Melanie hereingeschlendert kam. In den Wochen in London hatte ich ihre Existenz beinahe vergessen, nur um jetzt auf die brutalste Art und Weise daran erinnert zu werden.
Sie nahmen an einem der freien Tischen Platz und Taylor winkte mich mit einer manikürten Hand heran. „So sieht man sich wieder“, meinte sie mit einem breiten Grinsen. Auch die anderen beiden grinsten so breit, dass ich fast ihr nicht vorhandenes Gehirn durch ihre Zähne sehen konnte. „Na, bist du von deiner Eliteschule geflogen? Bestimmt haben sie gemerkt, dass du dich reingeschummelt hast.“
Ich zwang mich dazu, ruhig zu bleiben. „Was kann ich euch bringen?“, fragte ich mit eisiger Stimme. Ich meinte, Jasons Blick in meinem Rücken zu spüren, und ich brauchte diesen Job. Verdammt, ich brauchte irgendetwas, um nicht verrückt zu werden.
„Oh, drei Cappuccino, eine Latte Macchiato, einen Flat White, drei Stücke Kuchen – Red Velvet, Strawberry Cheesecake, Millionaire’s Shortcake – und zwei Gurkensandwiches“, ratterte Taylor so schnell herunter, dass ich kaum die Möglichkeit hatte, es mir aufzuschreiben. „Und wehe, du bringst etwas durcheinander.“
Wer bestellte bitte fünf Getränke für drei Leute? Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich zu einem Lächeln, bevor ich wieder hinter dem Tresen verschwand.
Mühsam balancierte ich die drei Kuchenstücke und die Getränke zurück zu ihrem Platz. Ich war stolz auf mich, nichts durcheinandergebracht zu haben, doch als ich gerade einen der Cappuccino vor Taylor absetzte, starrte sie mich wütend an. „Das haben wir nicht bestellt.“
Triumphierend zog ich meinen Notizblock aus meiner Schürze. „Doch, drei Cappuccino ...“
„Ist der Cappuccino mit Hafermilch?“, warf Melanie ein.
Ich verdrehte die Augen, doch zwang mich wieder zu einem Lächeln. „Nein, davon ...“
„Und was soll das hier sein?“ Leony bohrte die Gabel in ihren Strawberry Cheesecake. „Ich wollte doch einen Blueberry Muffin!“
Mit zusammengebissenen Zähnen starrte ich sie an. Ich wusste genau, wenn ich nun zurückging und ihre angebliche Bestellung zubereitete, würden sie das gleiche Spiel noch einmal abziehen.
Also tat ich das einzig Sinnvolle, das mir in den Kopf kam. „Ich war nicht auf einer Eliteschule“, meinte ich kühl. „Ich war auf der Akademie der Schattenjäger. Ich bin durch die Unterwelt gereist und habe Freunde verloren. Wenn ihr also glaubt, dass ihr euch über mich lustig machen könnt, dann erinnert euch an die Hühner in den Schließfächern. Dieses Mal werdet ihr die Hühner sein.“ Damit drehte ich mich auf dem Absatz um und stolzierte davon.
Hinter mir hörte ich, wie die drei nach Luft schnappten. „Du kannst uns doch nicht einfach bedrohen!“, hörte ich Taylors Stimme.
Ich fuhr herum und konnte mich gerade noch zurückhalten, keinen Feuerball nach ihr zu werfen. „Ich habe es euch gesagt: Entweder ihr bezahlt eure Bestellung, oder ihr müsst gehen. Wir servieren hier nichts kostenlos.“
Verwirrt sahen die drei mich an, aber meine Worte hatten den gewünschten Effekt. Jason kam hinter der Theke hervor und ging auf sie zu. Im Vorbeigehen zischte er mir zu: „Ich kümmere mich um die drei.“
Wenn Jason irgendetwas mehr hasste als die Wespen, die sich an den Kuchenstücken labten und die Kundschaft vertrieben, dann waren es Kunden, die nicht zahlten.
Zufrieden machte ich mich daran, einen weiteren Cappuccino zuzubereiten.
Nach der Arbeit traf ich mich mit Kyle. Meine Uniform hatte ich in meinen Rucksack gestopft, froh, endlich aus dem senfgelben Ungeheuer heraus zu sein.
Wir gingen schweigend zum Spielplatz in der Nähe meines Zuhauses und setzten uns auf die Schaukeln.
Ein warmer Wind wehte. Ich reckte den Kopf in die Brise.
„Wie war dein Geburtstag?“, fragte Kyle mich. Dann kramte er in seinem Rucksack. „Ich weiß, du wolltest mich gestern nicht sehen, aber hier.“ Er hielt mir ein schlecht verpacktes Geschenk hin, dem ich bereits ansah, dass es ein Buch war.
Ich lächelte schwach. Mein Geburtstag war furchtbar gewesen, auch wenn meine Mutter sich alle Mühe gegeben hatte. Ich hatte den Tag extra nicht freigenommen, weil ich mich sonst nur in meinem Zimmer verkrochen und die Decke über den Kopf gezogen hätte. Zu sehr erinnerte ich mich an die Vorfreude vor einem Jahr, an den Tag, an dem ich in unser kleinen Schattenjäger-WG angekommen war. Bevor alles zusammengebrochen war.
Langsam packte ich das Geschenk aus und musste mich zwingen, ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern. Es war ein Buch über Schattenjäger, irgendeiner der Romane, die seit dem Everglow wie Pilze aus dem Boden sprossen.
„Danke. Das ist ... nett“, meinte ich hilflos.
Kyle bemerkte den Ausdruck auf meinem Gesicht und murmelte: „Sorry. Ich hätte drüber nachdenken sollen. War wohl keine gute Idee.“ Er nahm mir das Buch aus der Hand. „Ich bring’s zurück.“
Ich hatte nicht die Kraft, dagegen anzukämpfen, und lächelte ihn müde an.
Von den anderen hatte nur Chris mir gestern in einer Sprachnachricht zum Geburtstag gratuliert. Er hatte ein schönes Ständchen gesungen und mir gesagt, wie froh er war, mich zu kennen – trotz allem. Dieses „trotz allem“ hatte mich nicht aufgeheitert.
Von Summer und Neil war erst heute eine Nachricht gekommen, wohl, weil Chris sie erinnert hatte. Sie hatten in unseren Gruppenchat geschrieben, der sich seit unserem Rauswurf von der Akademie mit Nichtigkeiten füllte. Chris postete oft Fotos von Sonnenaufgängen, auf die Summer meist nur knapp antwortete. Wenn ich es richtig verstanden hatten, gab sie nicht auf, sondern lernte weiter, was in den Büchern stand – „Zumindest das kann mir ja keiner verbieten“, hatte sie geschrieben.
Neil beschwerte sich nur darüber, wie langweilig es war. Seine Eltern hatten ihn in das Landhaus im Norden Englands verbannt, in das wir nach dem Everglow gebracht worden waren.
Irgendwann wurden die Nachrichten spärlicher und spärlicher. Natürlich dachte ich oft an die anderen, auch an Nathan, aber es reichte nicht aus, um ihnen meinerseits zu schreiben oder sogar einfach anzurufen.
„Schlechter Tag?“, wollte Kyle wissen, während wir langsam vor- und zurückschwangen.
Ich war ihm unendlich dankbar dafür, dass er mir mein langes Schweigen während meiner Zeit an der Akademie nicht übelgenommen hatte. Er schien einfach nur froh darüber zu sein, dass ich zurück war.
Ich erzählte ihm von Leony, Taylor und Melanie, und er schnaubte. „Super, dass du dich nicht hast kleinkriegen lassen.“
Ich zuckte mit den Schultern. Noch vor einem Jahr hätte mir der Sieg viel bedeutet, jetzt allerdings ...
Dunkle Regenwolken zogen auf, und erste Tropfen fielen zu Boden. Ich sprang von der Schaukel und verabschiedete mich von Kyle mit einer Umarmung.
„Bis morgen“, meinte er. Trübselig rang ich mir ein Lächeln ab. „Ja, bis morgen.“
Der Regen setzte vollends ein, als ich unsere Haustür erreichte.
Meine Mutter wartete bereits mit dem Abendessen auf mich. Seit ich zurück war, nahm sie sich viel mehr Zeit für mich.
„Die Leute im Büro kommen auch ohne mich zurecht“, sagte sie, als ich sie nach dem Essen darauf ansprach. Ich runzelte die Stirn. „Ich komme auch allein zurecht.“
Sie klopfte neben sich auf das Sofa, und ich setzte mich widerwillig. Dann strich sie mir durchs Haar. „Natürlich kommst du auch allein zurecht, das hast du an der Akademie bewiesen.“ Sie sah mich liebevoll an. „Aber ich möchte einfach Zeit mit dir verbringen. Ist das denn schlecht?“
Ich brummte eine Antwort, aber natürlich hatte sie recht. Auch ich wollte Zeit mit ihr verbringen, sie war einer der wenigen Menschen, die verstanden, wie es mir ging.
Ich kuschelte mich an sie und sie legte ihre Arme um mich. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass ich mich danach sehnte, bei den anderen und an der Akademie zu sein.
Die Tage zogen sich immer gleich dahin. Ich stand früh auf, frühstückte und ging ins Café, wo ich mal mehr, mal weniger freundliche Kunden bediente. Vor allem der Morgen war stressig, da die Berufspendler und Schüler der nahen High School ihren Kaffee kauften.
Dann wurde es ruhiger, bis die Mittagszeit anbrach, und danach trotteten die älteren Paare in Rente für ihren Nachmittagstee ins Café.
Nach meiner Schicht traf ich mich oft mit Kyle auf dem Spielplatz, wo wir über alles und nichts redeten. Auch wenn ihn sehr mochte, war es doch schwierig, denn er verstand nicht, was ich verloren hatte. Natürlich erzählte ich auch ihm von Nathan, und er ging davon aus, dass ich lediglich an Liebeskummer litt. Seine Lösung dafür war ganz einfach: „Du musst irgendjemanden daten, um Nathan zu vergessen. Es gibt doch genug Dating-Apps. Ich bin mir sicher, dass du einen netten Kerl findest.“
Ich schüttelte den Kopf. Schließlich sehnte ich mich nicht nur nach Nathan. Ich sehnte mich auch nach der Welt der Schattenjäger und Dämonen, die ich verloren hatte. Die Magie. Manchmal verstand ich meinen Vater, und es erschreckte mich.
Und ich vermisste die anderen. Neils dumme Witze. Chris‘ fürsorgliches Wesen. Und selbst Summer mit ihren schnippischen Kommentaren fehlte mir.
Es war wieder einmal ein Tag wie alle anderen. Da ich auch am Wochenende arbeitete, wusste ich manchmal kaum, ob Montag oder Mittwoch war. Jason hatte mir angeboten, dass ich zwei Tage in der Woche zum Ausgleich freinehmen konnte, doch ich wollte nicht. Jeder Moment, in dem ich nicht arbeitete, war ein Moment, in dem ich in Selbstmitleid und Zweifel versank.
Es nieselte, als ich nach Hause kam, und ich hatte natürlich meinen Schirm vergessen. Der feine Sprühregen ließ meine Haare in alle Richtungen abstehen. Außerdem war ich eine Pfütze getreten, sodass meine linke Socke komplett durchnässt war. Ich freute mich auf eine warme Dusche, als ich unsere Haustür aufschloss und „Bin wieder da!“ in den Flur rief.
Zu meiner Überraschung hörte ich Stimmen aus dem Wohnzimmer, die ich im ersten Moment nicht zuordnen konnte. Das eine war meine Mutter, doch die andere Stimme ...
Ich hielt die Luft an.
Dann platzte ich ins Wohnzimmer. Mit einem ausgestreckten Finger zeigte ich auf Nathan. „Was machst du hier?“ Dann wandte ich mich an meine Mutter. „Wieso hast du einen Dämon in unser Haus gelassen?“
Erschrocken sprang sie vom Sofa auf, wobei sie beinahe ihr Weinglas umwarf. „Ein Dämon? Aber ...“
Nathan verdrehte nur die Augen. „Das schon wieder?“ Dann stand er auf und ging langsam auf mich zu. „Freust du dich gar nicht, mich zu sehen?“
„Wir reden gleich“, zischte ich ihn an. „Mama, mach einen Spaziergang oder geh ins Schlafzimmer. Komm diesem Dämon auf keinen Fall zu nah!“
„Aber ... Mr. Shufflebottom meinte, er kennt dich aus der Akademie, und ...“
Ich sah Nathan ungläubig an. „Shufflebottom? Was ist das denn für ein Name?“
Er zuckte mit den Schultern. „Dämonen haben keine Nachnamen. Also dachte ich ...“
Meine Mutter machte vorsichtig einen Schritt nach vorne, wobei sie sich so weit wie möglich von Nathan entfernt hielt. „Remedy, wer ist das?“
„Nathan“, antwortete ich kurz.
Ihre Augen weiteten sich. Dann musterte sie Nathan ausgiebig. „Er sieht wirklich gut aus“, stellte sie fest. „Ich kann sehen, was du an ihm findest. Und charmant ist er auch noch.“
„Mama!“ Ich spürte, wie mir Hitze in die Wangen stieg.
Nathan deutete eine kurze Verbeugung an. „Stets zu Diensten, Mrs. Beckett.“
Ich schlug die Hände vor das Gesicht. „Könnt ihr bitte ... Mama, geh einfach. Ich muss in Ruhe mit Nathan reden.“
Sie hob eine Augenbraue. „So, so. Ihr müsst ‚reden‘.“
Nathan grinste, und meine Mutter grinste zurück. Dann jedoch tat sie mir den Gefallen und verabschiedete sich mit einem Zwinkern. „Viel Spaß, ihr beiden. Und es war mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mr. Shufflebottom.“
Wieder verbeugte sich Nathan leicht. „Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Mrs. Beckett.“
Mir platzte der Kragen. „Schluss jetzt!“ Ich wartete ab, bis meine Mutter verschwunden war, dann packte ich Nathan am Kragen.
Er hob eine Augenbraue. „Oh, so leidenschaftlich kenne ich dich gar nicht.“
Ich konnte nicht verhindern, dass mir das Blut in die Wangen schoss. „Das hat mit Leidenschaft gar nichts zu tun“, blaffte ich. „Du hast uns verraten! Gabriel hat uns gefunden und meinen Vater getötet!“
Alles Spielerische verschwand aus seiner Miene. Er packte mich an den Oberarmen. „Das tut mir leid. Ich ... ich habe davon erfahren, dass er dein Vater war, aber ... ich wusste es vorher nicht. Bitte, du musst mir glauben.“ Liebevoll sah Nathan mich an. „Geht es dir gut?“
Ich nickte, dann schüttelte ich den Kopf. Alles in mir brannte darauf, ihm zu erzählen, was passiert war, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Aber ich durfte, konnte es nicht. „Du hast uns verraten“, sagte ich nochmal, weil er diesem Teil meiner Worte keine Beachtung geschenkt hatte.
„Verraten? Remy, ich habe kein Wort ...“
„Woher wusste Gabriel dann, wo wir waren?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust, was den Nebeneffekt hatte, dass Nathan mich loslassen musste. Trotzdem spürte ich noch die Wärme, wo seine Hände mich berührt hatten.
Er runzelte die Stirn. „Habt ihr Magie benutzt?“
Jetzt war es an mir, verwirrt auszusehen. „Nein, erst ...“ Dann kam mir der Fluss wieder in den Sinn. Wir hatten einen Überweg erschaffen, und dann hatte Jakub Chris gerettet. Mit Magie. „Wir ... vielleicht. Das erklärt noch gar nichts.“ Ich reckte das Kinn vor.
Nathan stöhnte auf. „Tut es sehr wohl. Ich habe dir doch erklärt, dass aktive Zauber eine Spur hinterlassen, während es passive Zauber nicht tun. Gabriel musste einfach nur in der Anderwelt nach Spuren von Magie suchen und schon wusste er, wo ihr euch befindet.“
Ich kam mir mit einem Mal sehr dumm vor. Nur vage erinnerte ich mich daran, dass Nathan bei unseren Trainings so etwas erwähnt hatte, aber es reichte aus, um mich schuldig zu Boden blicken zu lassen. „Also...“
„Und du dachtest die ganze Zeit, ich hätte etwas damit zu tun?“ Ungläubig schüttelte Nathan den Kopf. „Ich würde dich niemals verraten.“ Wieder packte er mich an den Oberarmen und sah mir tief in die Augen. „Remy, ich würde niemals, niemals etwas tun, das dazu führen könnte, dass du verletzt wirst. Das musst du mir glauben.“
In diesem Moment hätte ich ihm alles geglaubt. Also schluckte ich nur und nickte dann, bemüht, nicht in seinen dunklen Augen zu versinken.
„Also“, meinte er etwas weicher. „Was ist passiert? Warum bist du hier und nicht in London?“
„Nun, wie du sicherlich weißt, ist der zweite Balken ebenfalls gefallen.“ Ich knirschte mit den Zähnen. „Und wir sind wegen unserer kleinen Reise in die Unterwelt von der Akademie geworfen worden.“ Das brachte mich auf eine andere Frage. „Wie hast du mich überhaupt gefunden?“
„Ich habe deine Adresse in der Akademie gefunden“, meinte er trocken.
„Aber ... die Akademie ist von starken Schutzzaubern umgeben.“ Ungläubig sah ich ihn an.
„Ja, das ist mir auch aufgefallen. Also, dass da Schutzzauber waren. Als besonders stark würde ich sie aber nicht bezeichnen.“ Er grinste breit. „Nun, das Wichtigste ist doch, dass ich dich gefunden habe.“
Ich nickte langsam. Die nächste Frage wollte ich nicht stellen. „Also, was willst du von mir? Warum hast du mich gesucht?“
Er sah beinahe verletzt aus. „Du hast mir gefehlt“, meinte er zärtlich, doch ich schüttelte nur den Kopf. „Du lässt dich monatelang nicht blicken, und jetzt tauchst du auf. Da steckt doch mehr dahinter, als dass du mich vermisst hast.“
„Stimmt“, gab er zu. „Aber vermisst habe ich dich trotzdem.“