Everness - Nicky Häußinger - E-Book

Everness E-Book

Nicky Häußinger

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Beschreibung

Zwischen Liebe und Verderben auf dem Schlachtfeld der Intrige. Als zwei Welten aufeinander treffen entscheidet sich ihr Schicksal. Darrell hatte einst alles, was man sich nur wünschen könnte. Er war ein starker, unsterblicher und von allen geliebter Kriegerengel. Doch dann wurde er dazu verdammt auf Erden zu weilen. Genau wie jeder Engel verabscheute er die menschliche Rasse. Doch ausgerechnet einer dieser niederen Menschen war der einzige Lichtblick in seinem endlosen Leben. Kate. Die unstillbaren Flammen der Sehnsucht und des Verlangens scheinen ihn zu ersticken. Aber einen Menschen zu lieben ist in seiner Welt eine hart bestrafte Sünde. Außerdem wird ihm schnell klar, dass sein Herz nicht nur ihr alleine gehört. Wenn Liebe wichtiger als dein eigenes Leben ist und du bereit wärst für sie durch die Hölle zu gehen...

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Seitenzahl: 434

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ich widme dieses Buch

meiner Mum,

die mich immer unterstützt

und in jeder Lebenslage

für mich da ist.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Seit Jahrhunderten leckten bereits die brennenden Flammen der Qual an seiner Haut und verbrannten sein Innerstes, bis die Liebe in seinem Herzen zu einem Häuflein Asche zerfallen würde. Er hatte nichts als Leid erfahren. Erlitt die größte aller Pein. Doch dann hatte er sie gefunden. Kate. Sie erfüllte seine gesamte Existenz. Nur wenn er ihr strahlendes Lächeln, neben dem selbst die Sonne erblasst wäre, sah, ergab alles einen Sinn. Einen Sinn warum er all diese schweren Zeiten auf sich genommen hatte. Warum er sich dafür entschieden hatte, weiter zu kämpfen. Ein ewiger nie endender Kampf. Denn er konnte seinen Peinigern niemals entkommen. Nicht in seinem endlos weilenden Leben. Aber es war so falsch sich nach Kate zu sehnen. Obwohl sein Gewissen ihn die ganze Zeit anschrie, dass er das falsche Tat, konnte er sich nicht beherrschen. Er wusste, dass er eine Sünde nach der anderen beging und doch konnte ihn nichts und niemand aufhalten zu sündigen. Genau dazu hatten sie ihn gemacht. Zu einem Schatten seiner eigenen Vergangenheit. Ohne dass er den Gedanken verdrängen konnte, stellte er sich die Frage, die ihn auf ewig verfolgen würde. Was würde er ohne sie sein?

Doch er lenkte sich schnell wieder ab, indem er seine gesamte Aufmerksamkeit auf das zierliche Wesen zu seiner Rechten richtete. Friedlich lag sie in ihrem Bett. Es war ein samt weiches Himmelbett, was bis zu ihrer weißen Decke reichte.

Die hellblauen Samtvorhänge an dem weißen ineinander geschlungen Bettgestell, fiel seidig zu Boden. Auf ihren ebenfalls hellblauen Bettlaken und ihrer Bettdecke, die sie dich um ihren Körper geschlungen hatte, sah sie einfach himmlisch aus. Wie ein Engel. Sein kleiner Engel. Langsam streckte er seine langen, gebräunten Finger nach ihr aus und wollte über ihre Wange streichen. Wollte diese zarte, reine Haut berühren.

Durch ihr welliges, dunkles, braunes Haar streichen, was geschmeidig auf ihre Decke viel. Er wollte die schlafende Schönheit in seine Arme nehmen und sie vor allem beschützen, was ihr Leid zufügen könnte. Er wollt für sie da sein. Der Einzige für sie sein.

Erschrocken riss er die Hand zurück und schüttelte ruckartig mit dem Kopf.

Um so näher er ihr war, um so mehr sehnte er sich nach ihr. Sie war ihm so nah und doch so unerreichbar. So ungreifbar. So fern.

Seine Finger kribbelten und am liebsten hätte er jegliche Selbstachtung und seinen Verstand einfach ausgeschaltet, nur um ihr ein einziges Mal nah zu sein. Aber es war eine Sünde.

Eine Sünde, die er niemals begehen durfte.

Seine Hände ballten sich zu Fäusten und sein gesamter Körper versteifte sich. Warum konnte er es nicht einfach sein lassen?

Konnte sie nicht einfach in Frieden lassen?

Vielleicht weil er genau wusste, dass sie sein Frieden war.

Ohne diesen Frieden würde er zerbrechen. Aber wenn er so weiter machte, würde irgendwann sie zerbrechen. Es war nur eine Frage der Zeit. Er war eine tickende Zeitbombe, die jederzeit in die Luft gehen könnte. Aber er durfte nicht zulassen, dass er die Kontrolle verlor. Niemals.

Statt sie zu berühren, gab er sich damit zu Frieden, sie einfach nur zu betrachten. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig und flach. Sie sah so bezaubernd aus, wenn sie schlief. Von was sie jetzt wohl gerade träumte?

Erneut überrannte ihn das Gefühl, sie berühren zu wollen. Er wollt ihr seine Lippen auf ihre glatte Stirn drücken und einen Kuss darauf hauchen. Doch alleine bei diesem Gedanken rieselte ein warmer Schauer durch seinen Körper und sein Blick wanderte automatisch zu ihren Lippen. Sie waren voll und das dunkle Rot, glänzte im schwachen Licht des Mondes.

Nur mühsam konnte er den Drang, seine Lippen auf ihre zu legen, unterdrücken. Sie war die pure Schönheit mit dem Vorhang vor ihren Augen in Form ihrer dichten, langen Wimpern, die sich über ihr Lied schwungvoll schwangen.

Darüber ragten ihre perfekt geschwungenen, dunklen Augenbrauen. Sie hatte markante Wangenknochen, die ihre Schatten warfen, doch ihre kleine Stupsnase, verlieh ihr etwas niedliches. Ihr Haar war seidig und ergoss sich wie ein Wasserfall über ihre Decke. Ihre dürren Finger waren fest in den Saum ihres Kopfkissen gekrallt, auf dem ihr Kopf selig ruhte. Es war, als würde sie nach Halt suchen. Als würde sie sich ebenfalls nach etwas sehen, was sie nicht erreichen konnte. Es sah aus, als würde sie sich an den letzten Strohhalm ihrer Hoffnung klammern. Auf einmal stieg unerklärliche Wut in ihm auf. Diese wundervolle Geschöpf Gottes sollte glücklich sein. Sie sollte kein Leid erfahren. Das Einzige, was sie verdiente, war der pure Frieden und das Glück. Er wollte ihr dieses Gefühl geben. Wollte dieser Fels in der Brandung sein.

Darrell wollte für sie da sein und er wollt ihr diesen Halt geben.

Der Drang seine Arme um sie zu schlingen, wuchs und würde ihn noch um den Verstand bringen. Seine zu Fäusten geballten Hände begannen zu zittern und seine Fingernägel gruben sich in das Fleisch seiner Handfläche. Da spürte er etwas warmes, nasses seine Finger entlang rinnen. Obwohl sich ein beißender Schmerz in ihm ausbreitete, konnte er seine Hand nicht lockern. Wie gebannt und parallelisiert starrte er auf ihre kleine Gestalt.

Das gleichmäßige Tropfen drang nach einer Weile an sein Ohr und sein Blick wanderte von ihr zu Boden. Die dickflüssige Flüssigkeit hinterließ eine nasse, dunkle Spur auf seiner Hand und tropfte dann zäh in eine kleine, rote Pfütze, die sich unter seiner Faust gebildet hatte.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er blutete. Das Blut sammelte sich zu einer kleinen Blutlache, als er endlich seine Finger löste.

Geschockt starrte er auf die Ansammlung seines Blutes. War es tatsächlich sein Blut? Hatte er das gerade wirklich getan?

Es fühlte sich so surreal an, als sei nicht er derjenige, der verletzt wurde. Es war, als sei er lediglich ein unschuldiger Zuschauer, der nichts damit zu tun hatte. Natürlich war es nicht so, weshalb er sich sofort von ihr abwandte. Er wusste, dass er zu weit ging. Niemals durfte er die Grenzen überschreiten.

Niemals. Ein klägliches, hoffnungsloses, aber kaum hörbares Wimmern entfuhr seiner Kehle. Niemals würde er heraus finden, ob ihr Haar und ihre Haut tatsächlich so weich waren, wie er glaubte. Oder ob das Gefühl seiner Lippen auf die ihren, tatsächlich so berauschend wäre, wie er dachte.

Doch er wusste genau, dass es ein Teufelskreislauf war. Wenn er einer seiner Sehnsüchte nachgab, so würde er eine Sünde begehen. Er würde immer wieder nach mehr lechzen. Bis es zu spät war.

Gerade weil er dies wusste, sollte er Abstand zu dieser Droge nehmen. Die Droge, die er schon jetzt, ohne dass er sie gekostet hatte, begehrte. Mehr als alles andere auf Erden. Mehr als die zukünftigen Jahrhunderte seines Lebens. Mehr als dass er sich an die Regeln hallten könnte.

Erzürnt über seine eigenen Gedankengänge verließ er ihre Wohnung. Er verließ Kate. Diejenige, die er immer bei sich haben wollte. Ganz nah.

Mit jedem Schritt, den er machte, fühlten sich seine Füße schwerer an. Als seien sie Blei. Als würde die Schwerkraft der Erde so schwer auf ihn lasten, dass sie ihn nicht mehr los lassen wollte. Aber das war lächerlich. Es war so abwegig, dass ihm ein freudloses Lachen entfuhr.

Er war keiner dieser erdgebundenen Menschen. Er war nicht so wie sie. Wie Kate.

Er sollte aufhören, an sie zudenken, doch es viel ihm so schwer, wie das Atmen, um so weiter er sich von ihr entfernte.

Es fühlte sich an, als würde sich sein Körper von innen auflösen. Als würde an seinen Innereien gezogen und gezerrt werden. Das Ziehen wurde immer schmerzhafter, sodass er seinen Kiefer anspannte und die Zähne aufeinander biss. Jede einzelne Zelle seines Körpers schrie ihn an, dass er umkehren solle. Dennoch schlurfte er sich weiter den Weg entlang. Der Weg, der ihn immer weiter von ihr weg brachte. Sein Innerstes zerbarst und zerfiel zu Asche. Ohne sie war er nichts als eine leere Hülle. Ein heftiger Wind tat sich auf und peitschte ihm ins Gesicht. Er zerwühlte ihm sein Haar und warf die blonden, goldschimmernden Haarsträhnen wild umher. Der letzte Hauch seines Friedens verflog und wurde wie Staub in alle Himmelsrichtungen verstreut.

Er war wieder alleine.

Doch er wusste, dass es das nicht ganz traf. Obwohl er wusste, dass sie ihn die ganze Zeit im Augen hatten und jeder seiner Schritte verfolgten, fühlte er sich verlassen.

Wie ein mutterloses Kind irrte er auf den tristen Straßen umher.

Ein Haus glich dem anderen. Graue Betonwand an Wand.

Warum musste sein kleiner Engel nur an so einem niederen Ort leben? Die roten Ziegel auf den Dächern der Häuser, sahen von oben aus wie eine schlichte, eintönige Ebene.

Während er lief und sein schwarzes T-Shirt sich im Wind auf und ab wog, bemerkte er nur am Rande seines Verstandes, dass das schwache Licht der Straßenlaternen erlosch. Sein Blick richtete sich entgegen den Horizont. Genau dort waren sie.

Diejenigen, die ihn von ihr trennten. Diejenigen, die ihn schon sein Leben lang peinigten.

Er war ihnen entkommen. Dachte er. Doch in Wahrheit konnte er ihnen niemals entrinnen. Er konnte weiter flüchten, wegrennen und sich vor ihnen verstecken, doch in Wahrheit konnte er es eben nicht.

Denn sie wussten alles. Sie wussten schon seinen nächsten Schritt, bevor er ihn auch nur plante. Bevor er auch nur einen einzigen Gedanken dran hegen konnte. Sie waren die Allwissenden. Sie waren die drei gefiederten Dämonen seiner Vergangenheit. Auch jetzt noch und für alle Zeit seines verdammten Lebens.

Ein Leben dazu verdammt, auf der Erde unter all diesen Sterblichen zu wandeln. Sie waren niederträchtige und schwache Wesen.

Dennoch war genau eines dieser Wesen sein gesamter Lebensinhalt. Auch wenn dies eine Sünde war.

Wenn er ihr einfach nur nah sein konnte. Natürlich ohne, dass sie von ihm wusste. Niemals.

Auch wenn er dafür eine erneute Sünde begehen würde. Für sie würde er so lange sündigen, bis er in der Hölle schmoren würde.

Ein markerschütternder Schrei drang aus seiner Kehle und erfüllte die dämmerigen Straßen. Seine Stimme schien von allen Wänden wieder zu hallen. Sein Brüllen erzürnte ihn jedoch nur noch mehr. Das durfte nicht geschehen. Er durfte nicht in der Hölle enden. Wo nicht nur er sondern auch Kate im Höllenfeuer zu Grunde gerichtet werden würde.

Denn das war sein Fluch. Der Fluch seiner Dämonen.

Für den Rest seines Lebens und es war ein sehr langes Leben, wenn man bedachte, dass es Ewigkeiten weilte.

Verzerrt von seiner Sehnsucht nach ihr.

Beschmutzt mit seiner Schande, die sich in seinen schwarz verfärbten Schwingen widerspiegelte. Einst waren sie so rein und klar wie glitzernde Schneesterne. Doch heute waren sie so finster wie die dunkelste Nacht. Genau wie seine Seele, als er eine unverzeihliche Sünde begangen hatte.

Aber er bereute es keines Wegs. Wenn es eine Sünde war, so würde er bis in die Unendlichkeit sündigen. Nie wieder würde er damit aufhören. Was sollten ihm sie ihm schon anhaben?

Das dachte er damals. Er war jung und naiv. Doch jetzt wusste er es besser.

Das was ihm blühte, was ihr blühte, war nicht einmal die süßest aller Sünden wert.

Also würde er sich seinem Schicksal fügen. Auch wenn dies die Hölle auf Erden war. Alles war besser als die wahrhaftige Hölle.

Denn er war ein Sündiger.

Ein gefallener Engel.

Fluchend setzte Darrell mühsam seinen Weg fort. Rastlos und Ziellos. Er hatte keinen Ort, den er ein Zuhause nennen konnte. Auch wenn er diesen Ort in Verbindung mit Kate brachte. Seine wundervolle Kate. Sobald er bei ihr war, fühlte er sich geborgen. Doch ein wahrhaftiges Zuhause hatte er nicht.

Einst hatte er in einer prachtvollen Burg mit seinem Vater – wenn man ihn so nennen konnte - gehaust. Damals hatte er ein Zuhause.

Einen sicheren Schlafplatz, ohne zu fürchten, dass die Dämonen aus der Dunkelheit krochen, um ihm seine Flügel vom Leib zureisen. Denn dies taten sie schrecklich gerne. Sie labten sich an Schmerz, Verzweiflung und Angst.

Nicht, dass er selbst jemals Angst empfunden hatte. Zumindest fast nicht. Früher einmal hatte er noch nicht einmal Verzweiflung oder Schmerz gekannt.

Doch diese Zeit lag weit zurück. Als er noch ein geborgener junger Engel war. Ein Engel mit reinen, weißen Flügeln und den naiven und sorglosen Gedanken eines Kindes.

Kind war ein seltsamer Begriff, wenn man ihn mit einem Engel in Verbindung brachte. Ein Engelskind, schlüpfte wie ein Vogel aus einem Ei. Allerdings waren Engelskinder alles andere als Menschenkinder. Sie kamen schon komplett ausgewachsen und entwickelt auf die Welt. Natürlich waren ihre Gedankengänge und Instinkte noch nicht annähernd so gut ausgeprägt wie die eines ausgewachsenen Engels. Anfangs denken sie fast menschlich, doch dies verlieren sie schon nach wenigen Tagen.

Die Brut der Engel entwickelte sich rasend schnell.

Nur zwei Mal hatte er es miterleben dürfen. Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit zurück und er vergaß für einen Moment seine Einsamkeit.

Zu dieser Zeit war Darrell selbst erst noch im Kindesalter. Die Jugendzeit trat bei einem Engel erst ein, sobald man sein erstes Jahrhundert durchlebt hatte.

Anfangs war das Ei nicht größer als ein Hühnerei, doch auch wie das Engelskind selbst, entwickelte es sich unfassbar schnell. Innerhalb einer Woche, war es so groß wie ein ausgewachsener Mensch.

Er stand verloren mit unzähligen weiteren Engeln in einer gigantischen Kapelle, welche an eine königliche Halle erinnerte. Riesige Säulen aus Stuck, die durch hinein gehauene Federn verzier wurden, ragten Meter weit in den Himmel. Die hohe Decke war mit Gemälden von himmlischen Wesen geschmückt. Darunter waren auch die drei gefiederten Erzengel. In seinen Augen stach Raphael mit seiner unnahbaren Eleganz deutlich heraus. Gold schlang sich in Form von Blättergeäst die Wände empor und verlieh der Kirche etwas unfassbar bedeutsames. Mehrere Statuen standen entlang des marmornen Durchgangs, der sich ebenfalls Meter weit erstreckte. Auch diese zeigten Abbilder von Erzengel.

Erneut entdeckte er die Drei und unter ihnen Raphael. Er war wahrhaftig der Schönste unter ihnen. Der Unterschied zu einer menschlichen Kirche war jedoch weit aus größer. Immerhin gab es hier keinen Altar. Die weiten, geschmückten Fenster ließen die warmen Sonnenstrahlen, welche das kalte Gemäuer wärmten, herein fallen. Sie tauchten alles in ein mystisches Licht, was direkt auf das Ei, welches am Ende des Gebäudes auf einer leichten Erhöhung thronte, traf. Die Schale des Eis glänzte und schimmerte im Licht der Sonne wie eine wertvolle Perle des Ozeans. Doch was unter dieser Schale steckte, war weitaus mehr Wert und Bedeutsamer, als der Wert einer echten Perle. Nur selten wurden Engelskinder geboren. Denn die Geburt eines Kindes der Engel war gleichgestellt mit einer unfassbaren Gefahr. Ein unerfahrener Engel war noch nicht gegen das Gift eines Dämons geschützt, weshalb es eine ganze Engelsschar auslöschen könnte.

Darrell selbst wusste nicht einmal, ob etwas an diesem Gerücht der Wahrheit entsprach.

Nicht, dass ein Engel es jemals wagen würde zu lügen. Denn andern Falls würde sich sein anfangs schneeweißes Gefieder, in einem Hauch von Grau verfärben. Irgendwann würde das Grau zu einem tiefen Schwarz werden und dem Engel war es nicht länger gestattet im Himmel zu weilen. Dann würde er zu den Gefallenen angehören.

Damals hätte er nie gewagt daran zudenken, dass er einst ihnen angehören könnte.

Er war zu dieser Zeit zwar jung, doch schon in seinem Alter gehörte er zu den höchsten der Engel an. Er selbst war der Schützling Raphaels.

Raphael gehörte den drei gefiederten, höchsten Engeln an. Er war ein Erzengel.

Die Engel hatten Ränge unter sich.

Die höchste Schicht, die für keinen Engel erreichbar war, waren die drei Erzengel Raphael, Michael und Gabriel.

Dann kamen die von den Drein persönlich ausgebildeten Erzengel. Alle Erzengel gehörten der Elite an, welche dicht von den Kriegerengeln gefolgt war.

Die Kriegerengel besaßen die Aufgabe, die Erde von den Dämonen zu reinigen.

Erst dann kam Darrell selbst, die Auszubildenden. Wenn er erst einmal ausgebildet war, so müsste er sich erst als Kriegerengel beweisen.

Alleine bei dem Gedanken diese niederträchtigen Gestalten zurechtzuweisen, lief ihn ein eiskalter Schauer den Rücken entlang. Doch er wusste, dass er es schaffen würde. Nicht umsonst war er schon seit Jahrzehnten ein Bote.

Die Boten überbrachten Nachrichten an andere Engel unter ihnen. Eigentlich dauerte es einige Jahrhunderte, bis man auch nur annähernd zu einen der Auszubildenden angehören konnte.

Doch als er einst Raphael aus einer misslichen Lage rettete, hatte dieser beschlossen ihn unter seiner Hand auszubilden.

Der Gedanken an ihrer ersten Begegnung, ließ seine Brust schmerzen. In solchen Moment bereute er es, Raphael begegnet zu sein. Aber immerhin hatte er jetzt Kate. Allerdings nur fast.

Denn sobald er ihr Gesicht vor seinem inneren Auge sah, verschwand jegliche schlechte Gedanken und auch die Leere erblasste. Doch es war nur ein kurzer Moment, bis er wieder in der Vergangenheit versank.

Unter den Boten standen die normalen Engel. Danach folgten die Menschen. Allerdings machten die Engel unter Menschen keine Unterschiede. Jedoch – und das faszinierte ihn – machten Menschen selbst Unterschiede untereinander. Er konnte es nicht ganz nachvollziehen, da in seinen Augen ein Mensch immer noch genauso schwach wie ein andere, der weniger von diesem Papier oder dem billigen Metall hatte. Raphael hatte ihn einst gelehrt, dass die Menschen es Geld nannten und bei ihnen gleichgestellt mit Macht war.

Alleine wegen dieser seltsamen Rangordnung, war Darrell dankbar ein Engel zu sein. Immerhin wurden sie hier an ihrem Können unterschieden und Macht war gleichgestellt mit Stärke.

Die vorletzte Schicht waren die Gefallenen. Engel, die wegen einer Sünde aus dem Himmel verbannt wurden. Diese trugen schwarze Federn. Um so dunkler sie waren, um so unverzeihlicher waren ihre Sünden. Beging ein Engel jedoch eine Todsünde, so gehörte er der untersten Schicht an.

Denn eine Todsünde, war noch weit aus schlimmer als irgendeine andere Sünde. Die sieben Todsünden. Superbia der Hochmut, Avaritia der Geiz, Luxuria die Wollust, Ira der Jähzorn, Gula die Völlerei, Invidia der Neid und die siebte und letzte Acedia die Faulheit.

Beging ein Engel eine Todsünde, so wurden ihm die Flügel abgeschlagen. Die Schwingen eines Engels waren das empfindlichste Organ. Ohne diese konnte er nicht überleben.

Es war, als würde man ihnen das Herz herausschneiden.

Sobald beide Flügel abgeschlagen waren, konnte man dem Flügellosen nicht mehr helfen. Normalerweise heilte sich ein Engel selbst. Er war ein so gut wie unverwüstbares Wesen, doch die Wunden durch den Verlust der Flügel, heilten nicht.

Niemals. Dadurch konnte die Unreinheit der Dämonen den Engel infizieren. Diese Unreinheit war überall. Sogar in der Luft, die sei atmenden. Doch Engel waren immun dagegen, allerdings nur durch ihre Flügel, die diese Seuche reinigten.

Jedoch gab es noch einen Weg, wie das Gift eines Dämons einen Engel ergreifen konnte. Wenn er ihn biss. Aber dies war unmöglich, da in der Regel ein Engel stärker als ein Dämon war.

Sobald das Gift in die Blutbahnen geriert, blieben dem Gefallenen höchsten ein paar Stunden, bevor sich das Gift wie Säure durch den Körper brannte und ihn von innen heraus zerfraß. Wie ein loderndes Feuer, was alles verschlang.

Qualvolle Schmerzen, die so unerträglich waren, dass der Tod eine Erlösung wäre.

Doch ein Engel konnte nicht sterben. Zu mindeste war davon nichts bekannt. Aber soweit er wusste, hatte es auch noch niemand jemals gewagt, einen Engel töten zu wollen.

Allerdings war der Gedanke, dass es doch möglich war so schrecklich und unerträglich für ihn, dass er ihn schnell wieder verwarf.

Erst nach Monaten der Pein, würden sie Rettung finden. Dies glaubten sie zumindest, denn in Wahrheit war es ihr Todesurteil. Von da an waren sie nicht länger ein himmlisches Wesen, sondern ein Höllen Verdammter. Ein Dämon. Bestien in Menschengestalt mit Hörnern, die immer nur nach mehr Sünden lechzten. Sie wurden von Gefallenen gerade zu angezogen. Von ihrer Sünde und doch ihrer Reinheit, die sie immer noch in sich trugen. Sicher waren ihnen Erzengel noch lieber, doch im Gegensatz zu ihnen waren Gefallene schutzlos.

Sie besaßen nur noch geringe Kräfte. Die Dämonen, als Todsünde begangene Engel, verzehrten sich nach den Flügeln eines Engeln. Raphael begründete es damit, dass sie sich selbst wieder danach sehnten, fliegen zu können, da sie es niemals wieder konnten. Auch ihre Unsterblichkeit war dahin.

Sicherlich konnten sie nur schwer sterben, aber wenn ein Engel dazu beitrug, war es möglich.

Schon immer hatte Darrell Raphael bewundert.

Niemals hätte er dies getan, wenn er schon zu dieser Zeit gewusst hätte, dass Engel alles andere als gnädige und reine Wesen waren. Wenn er gewusst hätte, zu was diese zarten, majestätischen Gestalten im Stande waren. Was hinter Raphaels Anmut tatsächlich steckte. Hätte er doch schon damals gewusst, dass ein Engel manchmal mehr Dämon waren, als ein wahrhaftiger Dämon. Hätte sich etwas für ihn geändert? Hätte er sein Schicksal ändern können? Vielleicht.

Aber Vielleicht auch nicht. Doch Bereuen brachte ihn jetzt auch nicht mehr zurück in den Himmel.

Einer Raphaels Schützling zu sein, war für ihn eine große Ehre gewesen. Denn nur die Stärksten unter ihnen wurden von den Drein persönlich auserkoren.

Der Gedanke bei Raphaels wahrhaftigen Gesicht. Diesen dunklen Augen, die sonst so blau und klar erstrahlten wie der wolkenlose Himmel. Diese unerbittliche, gnadenlose und eiskalte Mine in seinem Gesicht, in der nicht eine Spur von Mitleid lag.

Die Erinnerung ließ ihn erschauern und auf einmal fror er richtig. So kalt und unbehaglich wurde ihm bei dem bloßen Gedanken daran.

Hätte er sich damals beweisen können, so hätte er eines Tages auch ein Erzengel werden können. Doch er hatte gewusste, dass dies harte Arbeit hieß. Dennoch war er bereit dafür. Er war bereit zu kämpfen und Raphael stolz zu machen.

Von wegen einer dieser ehrlosen Erzengel zu werden. Jetzt gehörte er zu der vorletzten Schicht. Den Gefallenen.

Das Ei begann auf einmal zu beben, was Darrells Aufmerksamkeit wieder auf das Ungeborene lenkte.

Plötzlich wurde die Halle mit gleißend helles Licht geflutet, sodass er die Augen zusammen kneifen musste. Es war so grell, dass er kaum noch etwas sehen konnte.

Nach ein paar Minuten erlosch es wieder und er schlug seine Lieder mit seinen schwarzen, dichten Kleid aus Wimpern auf.

Genau da standen sie, die drei Erzengel Gabriel, Michael und Raphael. Wie gebannt starrte er sie an, als sie graziös den langen Gang entlang stolzierten, während ihre weißen, reinen Gewänder hinter ihnen flatterten. Sie strahlten so viel Macht aus, dass er sie kaum ansehen konnte. Er war regelrecht geblendet von ihnen. Von ihrem Anmut, ihrer Schönheit und der Kraft, die sie ausstrahlten.

Sofort stellten sich alle auszubildenden Engel – er eingeschlossen – an den Rand der Kapelle, um ihnen Platz zu schaffen. Verehrend beugten sie alle zeitgleich ihr Haupt.

Obwohl hier unzählige Engel versammelt waren, bemerkte er, dass Raphaels Himmelsgleichen Augen auf ihn alleine ruhten.

Sein Blick war fast liebevoll, wie der eines Vaters. Etwas peinlich berührt, wandte er schnell den Blick zu Boden. Doch er konnte geradezu spüren wie diese Reaktion Raphael ein Lächeln entlockte, was ein sehr ungewöhnliches Feinomen war und schon seit er denken konnte nur ihm galt.

Erst als alle um ihn herum sich wieder erhoben, tat er es ihnen gleich. Die Erzengel standen nun um das Ei herum. Sie standen so nah, dass sie es fast berührten. Da waren nur Millimeter Abstand zwischen ihnen und das Ei.

Er konnte spüren wie es in seinen Finger kribbelte. Nervosität breitete sich in ihm aus. Vor Vorfreude auf das Ungeborene?

Vor Sorge um Raphael, da er so nah stand, wo er doch genau wusste, wie gefährlich es sein konnte? Er wusste es nicht.

Er musste zugeben, dass er dem jungen Ding misstraute.

Da war sie wieder. Die Erinnerung daran, dass es eine Schar aus Engel töten könnte.

Die Mythen, die Raphael ihm erzählt hatte, besagten, dass ein Kind vor hunderttausenden von Jahren, genau dies getan hatte.

„Eine unschuldige Seele, ungeschützt vor dem Unheil, was auf sie wartet.

Schwach. Naiv. Unschuldig.

Mit seinen großen Augen zog das unberührte Geschöpf ein jeden in sein Verderben.

Denn das, was sie nicht vermochten zu verstehen, trieb sie in den Tod.

Zu verstehen, dass in diesen harmlos scheinenden Augen, dämonisches Blut durch die Adern floss, war für sie alle unsichtbar.

Blut, was ein jeden verdarb.

Ohne Unterlass verfielen die Engel dem kleinen Wesen.

Doch es war bereits kein himmlisches Kind mehr.

Es war die Brut der Finsternis.

Da es zu jung war, konnte es sich selbst vor der Seuche in der Luft nicht schützen.

Es war zu schwach und Schwäche ist gleichgestellt mit dem Tod.

Da dieses Höllengeschöpf dennoch durch sein trügerisches Abbild die Engel zu sich lockte, hatte der Dämon leichtes Spiel.

Ohne Reue oder zu zögern, biss er diese naiven Sünder.

Sofort floss auch durch ihren Adern das Gift, was sie ergriff und um den Verstand brachte.

So zog es seine ewigen Kreise, bis wir jeder der zur Sünde Geleiteten, die Flügel abschlugen und sie von ihrer Missetat befreiten.“

Das waren damals Raphaels Worte gewesen. Er konnte sich noch so gut daran erinnern, als habe er sie gerade erst zu ihm gesagt.

Plötzlich wandte sich Raphael zu ihnen um und ließ damit Darrells Gedanken in den Hintergrund drängen.

Die Menge hielt den Atem an und lauschte gespannt seinen Worten.

„Engel, ihr die, die einst aus solch einem Ei geschlüpft seit.

Euch ist bewusst, welch Gefahr wir einst damit auf uns nahmen und heute ist erneut ein solcher Tag gekommen. Ein Tag der Hoffnung auf das Leben und der des Frieden. Doch dies ist nicht der Grund, weshalb ich meine Stimme erhob. Denn ab des heutigen Tages möchte ich einen aus euren Reihen, zu mir bitten. Er soll erlernen, was das Leben bedeutet. Wie wertvoll, das unser aller ist. Denn dieser unter euch, wird von heute an unter den Kriegerengeln hausen. Doch seit euch bewusst, dass die Last unserer Krieger nicht das Leben sondern den Tod mit sich bringt. Sie sollen den unser Verlorenen erlösen. Jene, die sich der Finsternis zu wandten, zum Licht führen und ihnen Gnade zusprechen. Gnade, die ein jeder von uns verdient hat.

Auch die, die sich von uns abwandten. Darum bitte ich dich, lehre das Leben zu ehren und die, die von Dunkelheit geplagt werden, von ihrer Pein zu retten. So bitte ich dich, zu mir zu kommen.“

Genau dann sprach er seinen Namen aus. Ein Name, der alleine bei der Erinnerung seines Klangs, alles in sein jetziges Selbst rebellieren ließ. Der Name seiner eigenen Pein. Der Grund seiner Qualen.

Zischend zog er die Luft vor Überraschung ein. Blitzschnell fuhr er auf und sah Raphael mit großen Augen an. Sein Herz hämmerte heftig gegen seine Brust.

Erneut legte sich ein väterliches Lächeln auf dem Erzengel seine ausgeprägten Lippen. Mit wackeligen Beinen lief er unsicher auf die Drei und das Ei zu. Um so näher er ihnen kam, desto nervöser wurde er.

Die Hülle um das Engelskind war gigantisch. Es war sogar um einiges größer als er und das wollte etwas heißen. Immerhin war er ein Engel.

Engel waren viel größer als Menschen. Ein ausgewachsener Engel war mindestens um die zwei Meter groß.

Wie parallelisiert und verzaubert starrte er die funkelnde, glatte Schale an.

Plötzlich spürte er einen warmen Hauch an seinem Ohr. Erst jetzt bemerkte er, dass Raphael sich zu ihm gebeugt hatte.

„Wir müssen das Junge vor der Unreinheit der Luft schützen, sonst wird es infiziert und das würde bedeuten, dass es zum Dämon wird. Du weißt, was das bedeuten würde.“

Sie würden alle sterben. Oder zumindest würde es einen Kampf geben. Ein Kampf auf Leben und Tod. Aber ein Engelskind war wertvoll und er würde alles dafür tun, dass es gesund das Himmelszelt erblicken würde. „Tu es mir gleich und breite deine Flügel aus.“ Sofort tat er wie ihm geheißen. Seine Federn raschelten, als er seine Flügel erhob. Neben die Raphaels wirkten sie fast zierlich. Raphael hatte die größten und stärksten Flügel von allen. Er war auch am längsten einer der Kriegerengel gewesen, sodass er weit aus mehr Schlachten und Kämpfe, als die anderen Zwei durchlebt hatte. Aber natürlich waren die Schwingen der anderen beiden dennoch größer als Darrells. Doch bald würde auch er so stark sein wie sie.

Raphael sagte kein Wort mehr zu ihm, weshalb Darrell genau beobachtete, was er tat und machte es ihm nach. Raphael legte schützend sein Gefieder um die Perlen gleiche Schale. Sogleich tat er es ihm nach. Das Ei lag jetzt weich gebettet zwischen ihren Flügeln.

Die Schale fühlte sich unfassbar glatt auf seinen Schwingen an.

Da die Flügel das empfindlichste Organ eines Engels waren, war auch der Tastsinn viel ausgeprägter auf ihnen, als auf der Haut eines Engels.

Er konnte die Oberfläche so intensiv spüren, dass er sogar das Leben darin fühlen konnte. Er konnte es gerade zu atmen hören oder wie ruhig der Herzschlag immer im selben Rhythmus pochte. Wie sich der Brustkorb hob und senkte und wie das Kind atmete und sich unruhig hin und her wälzte, um endlich aus der Enge und an das Licht zu brechen. Wie die noch kleinen zaghaften Flügel vor Aufregung kribbelten und sich die Daunen streckten und regten.

Knack.

Die robuste Schale bekam einen Riss. Mit einem weiteren Knacken zog sich der Riss noch weiter darüber. Das Knarren wurde immer lauter, sodass der einzelne Sprung sich aufsplitterte und sich wie die Äste eines Baumes darauf entlang schlang.

Er konnte spüren wie sich der Sprössling ungeduldig umher wandte und mit aller Mühe versuchte ans Freie zutreten.

Das gesprungene Ei bebte leicht und erzitterte, wobei er spürte wie sich alle Nackenhaare auf seinem Rücken aufstellten.

Allerdings war es dieses Mal anders. Es lang nicht an dem Respekt vor dieser Kreatur, sondern vor eigener Ungeduld.

Ein unerklärliches Gefühl breitete sich in seinen Knochen aus.

Sein gesamter Körper spannte sich an und seine Finger kribbelten vor Tatendrang.

Sie war so hilflos und schwach, dass er ihr helfen wollte. Er wollte sie befreien. Jeder einzelne Muskel versteifte sich und jede Zelle in ihm schrie er solle ihr helfen.

Moment. Ihr? Woher konnte er das wissen?

Aber tief in seinem Innersten wusste er es einfach. Er konnte es spüren.

Und dann brach ein Teil der Schale. Ohne sich länger halten zu können, holte Darrell mit seinen Schwingen aus und drückte sich in die Luft, um die Schale endlich von ihr zureisen. Um sie aus ihrem Gefängnis, was ihr die Luft zum Atmen raubte, zu befreien.

Er spürte wie er selbst immer schwieriger atmen konnte. Wie sich sein gesamter Brustkorb zusammenzog. Doch egal wie sehr er sich bemühte, normal zu atmen, es gelang ihm nicht. Er würde ersticken. Sie würde ersticken.

Doch noch ehe seine Füße den Boden verlassen konnten, packte Raphael ihn und stürzte ihn rücklings zu Boden.

Mit einem Mal brach Panik in der Menge von Engeln aus. Alle schrien und kreischten wild um sich.

„Raphael, es schlüpft gleich! Geh in deine Reihe zurück! Sonst wird es uns töten!“, brüllte Michael. Seine Stimme war nicht annähernd so erhaben wie sonst. Sie klang eher erbost.

Trotz Michaels Zorn gehorchte Raphael nicht. Stattdessen versuchte er mit bemüht ruhiger Stimme mit ihnen zureden, während er Darrell immer noch auf den kalten Marmorstein drückte.

„Engel, hört mich an! Legt eure Flügel um das Ei, um die Unreinheit zu reinigen!“

Zuerst reagierte keiner von ihnen. Alle waren sie wie angewurzelt in einer Schockstarre verharrte. Genau in diesem Moment erblasste auch Raphaels Ruhe und aus ihm sprach die pure Verachtung, während Darrell unter ihm wild um sich schlug.

„Nichtsnutzige Narren, es wird uns töten und sterben!“,

donnerte er. Seine erzürnte Stimme drang selbst Darrell am Rande seines Verstandes unter die Haut und ließ seine Knochen erzittern.

Sofort setzten sich die Engel in Bewegung und halfen den zwei anderen Erzengeln, das Ei zu kontrollieren.

Die Wut in Darrell stieg und erschütterte ihn. Der Zorn erfüllte ihn bis ins Mark und er schlug heftiger. Wand sich in Raphaels Griff, der ihn nur noch mit Mühe festhalten konnte. Während die Kräfte des Erzengels schwanden, schienen seine eigenen stärker zu werden.

Mit seinen kräftigen Flügeln stieß er sich gegen den Boden, sodass sein gesamtes Gewicht gegen den Erzengel drückte. Ein markerschütterndes, bestialisches Knurren drang aus seiner Kehle und dann schleuderte er Raphael in die Luft.

Sobald er frei war erhob er sich ebenfalls in die Höhe. Ohne jegliche Kontrolle über sein Handeln, stürzte er sich auf das Ei.

Auch Raphael nahm er nicht länger wahr.

Kurz bevor er sie jedoch erreichen konnte, packten ihn zwei stählerne Arme seitlich an seiner Hüfte und schleuderten ihn bis an die steinerne Mauer der Kirche.

Ein dumpfer Schlag hallte durch das Gemäuer, als sein Rückgrat auf die Steine krachte, wobei ein schmerzerfülltes, raues Stöhnen aus seiner Kehle drang. Die Steine gaben unter der Wucht des Schlags und seinem Gewicht nach, sodass die Backsteine barsten. Der Putz bröckelte von der Wand.

Schwarze Flecken tanzten vor seinem Sichtfeld und ihm wurde ganz schlecht. Er spürte wie das dickflüssige Blut zäh seinen Rücken hinunter lief.

Plötzlich legte sich eine eiskalte Hand an seine Kehle. Die langen, schlanken Finger klammerten sich um seinen Hals und bohrten sich in sein Fleisch. Sie schlangen sich immer fest herum, sodass er röcheln musste. Panisch versuchte Darrell Sauerstoff in seine Lugen zu ziehen, doch sein Sichtfeld wurde immer dunkler.

Dennoch packte er Raphael an seinen Händen und versuchte dessen Griff zu lösen, doch es schien vergebens. Stadtessen wurde der Griff noch fester und er hob Darrell an seinem Hals hoch, sodass seiner Füße nicht mehr den Boden berührten.

Aber dann schlug Darrell seinen Fuß so kräftig gegen Raphaels Schienbein, dass es ein lautes Krachen von sich gab. Zischend zog Raphael die Luft ein. Trotzdem waren es nur Bruchteile von Sekunden, als er sein Gesicht verzog und ihn dann wieder kalt ansah. Sein Griff hatte sich währenddessen nicht ein einziges mal gelockert.

Doch Darrell gab nicht auf. Er bohrte seine Finger in Raphaels, sodass die heiße, rote Flüssigkeit heraus trat. Raphael war nicht länger in der Lage den Griff zu halten. Noch ehe Raphael realisierte, was gerade geschah, warf sich Darrell wie ein wildes Tier auf ihn. Seine Hände schlossen sich um einen Flügel von Raphael. Raphael keuchte auf vor Schmerz. Als Darrell wieder diese heiße Flüssigkeit auf seinen Fingerspitzen, die sich tief in Raphaels Fleisch gekrallt hatten, spürte, durchdrang ein qualvoller Schrei das Gemäuer. Raphael atme schwer und ungleichmäßig, während sein Schrei Darrells Sehnen zum Beben brachte und von den Wänden zurück geworfen wurde. Dieser hallte immer wieder nach und kam aus allen Richtungen. Darrell würde ihm jede Feder einzeln herausreißen.

Ein dumpfer Schlag traf Darrell auf den Hinterkopf und seine bereits trübe Sicht wurde so pechschwarz wie die finsterste Nacht. Er verlor das Bewusstsein.

Das Einzige was er noch wahrnahm, war das laute Bersten der Eischale. Noch ein letztes Mal zog er gierig den frischen Sauerstoff in seine Lungen. Es ging ihr gut!

Dann ergriff die Finsternis Besitz von ihm und er gab sich ihr willenlos hin.

Ein erstickter Schrei entfuhr Darrell. Doch eine große Hand hielt das Geräusch zurück. Sofort schlug er die Augen auf.

Schnell warf er die Handfläche von sich und schnellte kampfbereit in die Höhe. Doch die Hand drückte ihn bestimmend und doch sanft wieder auf die weiche Oberfläche, auf der er lag. Er hatte nicht genug Kraft, um sich zu wehren.

Außerdem schien die Kraft seines Gegenüber viel stärker. Also lies er sich kraftlos und widerstandslos zurück sinken.

Sein Blick wanderte in dem Raum umher.

Es war mehr eine kleine Halle als ein Zimmer. Alles erstrahlte in einem prunkvollen Gold. Vergoldete Säulen stützten die gewölbte Decke. Der Boden bestand aus weißem Marmor und die Wände zeigten das nackte Stuck. Gigantischer, roter, seidiger und hauchdünner Stoff verschleierte seine Sicht auf seinen Gegenüber. Erst jetzt begriff er, dass er in einem Himmelbett lag. Der einzige Unterschied zu einem gewöhnlichen Himmelbett war, dass es freien Blick auf die Zimmerdecke gab und das Gestell aus echtem Gold bestand.

Die Bettstangen waren im Barockstil gehalten. Die Decken auf denen er lag, fühlten sich so weich wie eine Wolke an und schmiegten sich sanft an seine Haut. Es war roter Samt, der ihn umhüllte.

Aber Engel mussten nicht schlafen. Warum besaß also ein Engel ein Bett?

Verwirrt sah er zu der Person, die von den roten Schleier, des herunter hängenden Stoffs, bedeckt wurde.

„Du fragst dich sicher, warum ich im Besitz eines Bettes bin und dieses auch noch in meinen Gemächern habe.“ Es war die beruhigende Stimme von Raphael.

Er konnte es nicht beschreiben, doch aus einem unerfindlichem Grund, erschauerte er bei dem Klang seiner Stimme.

Trotz Raphaels Hand, die auf seiner Brust ruhte, um ihn weiterhin ans Bett zu fesseln, richtete er sich auf. „Du solltest dich wirklich noch etwas ausruhen, mein Sohn.“

Mein Sohn? So hatte Raphael ihn noch nie zuvor genannt. „Du scheinst überrascht über meine Wortwahl, kleiner Engel mit dem Herzen eines Löwen.“

Er konnte schon die Galle in seinem Rachen schmecken, die ihm aufstieß, bei der Erinnerung seines Namens. Wie sollte er sich jemals von der Vergangenheit lösen können, wenn sogar sein Namen ihn daran fesselte?

„Ist es denn so abwegig, dass ich, Raphael, einer der Drei, dich mir als ebenbürtig ersehe?“ Darrell erwiderte nichts darauf.

Was hätte er auch sagen sollen? Natürlich war es das. Da er Raphael jedoch nicht widersprechen wollte, lenkte er lieber schnell vom Thema ab.

„Warum besitzt du ein Bett?“ Er war der Einzige – abgesehen von Gabriel und Michael – der ihn duzen durfte.

„Weil mich das Leben der Menschen fasziniert. Sollte ich in Sorge wegen einer Aufgabe sein, so lege ich mich manchmal hinein und denke nach.“ Darrell konnte das zaghafte, traurige Lächeln gerade zu aus seiner Stimme hören. Er wusste genau, was er mit Aufgabe meinte. Einen Todsünder bestrafen, denn das war die Aufgabe der Drei. Während die normalen Erzengel lediglich die Aufgabe hatten, die Gefallenen zu verbannen.

Plötzlich erfüllte Darrell ein stechender Schmerz in seinem Kopf und er erinnerte sich. Schmerzhaft drückte er seine Handfläche gegen seine Schläfen.

Ein kratziger, schmerzerfüllter Laut entfuhr ihm, als er sich daran erinnerte, wie er Raphael von sich gestoßen hatte. Wie er sich aus seinem Griff gelöst und ihn zu Boden geschmissen hatte, als sei er nichts als ein großes, lästiges Insekt.

Zugegeben, das war vielleicht übertrieben. Aber dennoch hatte er, ein unerfahrenes Kind, den großen Raphael besiegt.

Genau dann traf es ihn wie ein Schlag. Warum er das Alles getan hatte.

„Wo ist sie? Ist sie… unversehrt?“, brach es unaufhaltsam aus ihm heraus, wobei er den roten Saum des Bettes zur Seite riss, sodass er freien Blick auf Raphael hatte.

Alleine der Gedanke, dass ihr etwas zu gestoßen war und sei es auch nur ein Kratzer, brachte ihn zur Weißglut. Dass sie es nicht überlebt haben könnte, daran wollte er erst gar nicht denken. Schon jetzt zog sich sein Herz krampfhaft zusammen und er musste ein Brüllen unterdrücken.

Er würde es sich nie verzeihen, wenn ihr tatsächlich etwas zugestoßen war.

„Es geht ihr gut, genau wie allen anderen. Sie wurde nicht infiziert, aber bis die Tage ihrer Entwicklung noch nicht abgeschlossen sind, müssen wir sie an einem sicheren Ort halten.“

Am liebsten wäre er ihm an die Gurgel gegangen und hätte ihn dazu gebracht, ihm zu erzählen, wo sie war. Aber er wusste, dass es nur so sicher für sie. An diesem Ort befand sich nur die erhabenste Schicht. Die Erzengel. Nur sie konnten die Luft zu genüge reinigen, damit sie sich nicht infizierte.

Erleichtert ließ er die Schultern wieder sinken und entspannte sich. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, wie er sie vor Anspannung gestraft hatte. Tief atmete er durch, als er das Wort wieder an Raphael richtete.

„Warum hast du mit mir gekämpft? Ich wollte doch nichts… “ Doch seine Frage blieb ihm in der Kehle stecken und er riss seine Augen weit auf. Raphaels einst klare, saubere Flügel waren nicht länger weiß. Rote Striemen zogen sich an dem Bogen seines rechten Flügels. Die damals weißen, glatten Federn und Daunen, waren mit Blut verklebt und standen störrisch in alle Himmelsrichtungen. Es sah so aus, als sei er wie ein Huhn gerupft worden. Die rote Verfärbung zog sich wie ein Muster durch das sonst so perfekt anliegende Gefieder.

Außerdem sah der Bogen des Flügels gequetscht aus. Er erstarrte. Das musste er gewesen sein. „Warum? Wie konnte ich nur?“ Seine eigene Stimme klang so fremd in seinen Ohren, als sei es nicht seine. Sie war so kratzig und rau wie Schmirgelpapier, als hätte er sie schon Ewigkeiten nicht mehr benutzt.

Raphaels Miene wurde hart und ließ keinen Funken Gefühl erahnen.

Er musste unsagbar, höllische Schmerzen haben. Darrell wusste genau, dass Verletzungen eines Flügels niemals heilten.

Nicht in der Ewigkeit ihres Lebens. Nicht einmal bei einem so starken Engel wie Raphael es war. Auch die roten Striemen und das Blut würde er nie wieder los werden. Von Engelsblut konnte man sich nicht rein waschen. Noch nicht einmal, wenn es sein eigenes war. Es war wie eine Brandmarkung. Eine Brandmarkung, die alleine seine Schuld war. Zu gleich war es jedoch auch ein Zeichen Raphaels Schwäche und für Darrells Stärke.

Aber das hatte er niemals gewollt. Lieber würde er selbst diese Male der Pein tragen. Da der Flügel eines Engels so empfindlich war und die Schmerzen nicht mehr von ihm zu nehmen waren, würde er ewig gequält werden.

Darrell fühlte sich schrecklich. Wie konnte Raphael ihm überhaupt noch in die Augen sehen, ohne den Drang zu verspüren, ihn genauso leiden zulassen? Stadtessen hatte er ihn sogar zum ersten Mal Sohn genannt.

„Du warst nicht der Schuldige, weshalb dir keine Last zugesprochen wird. Ich hätte es in Betracht ziehen müssen.

Immerhin hattest du die deine noch nicht gefunden gehabt.“

Doch Darrell starrte ihn immer noch verständnislos an. Wie konnte er nur so ruhig bleiben? Er ließ sich noch nicht einmal den Schmerz ansehen.

Das stimmte nicht ganz. Raphael hatte tatsächlich noch nie seinen Schmerz gezeigt. Noch nicht einmal als Darrell ihm damals geholfen hatte.

Schnell überging er die Erinnerung daran. Es wäre damals besser gewesen, hätte er ihm nicht geholfen.

Doch ausgerechnet Darrell selbst hatte ihn so gepeinigt, dass er sogar vor Schmerz aufgeschrien hatte. Der dämonengleiche Klang breitete bei der bloßen Erinnerung daran eine Gänsehaut auf seinem gesamten Körper aus. Als Raphael fortfuhr, lenkte er seine gesamte Konzentration auf ihn. „Ich verschwieg dir, dass jeder unseres Gleichen ein sogenanntes Himmelsgegenstück besitzt. Dieses Gegenstück bezeichnen die Menschen als Liebe zu ihrem Partner. Allerdings ist unser Gegenstück etwas weit aus weitreichenderes, als die Liebe bei Menschen. Für uns gibt es lediglich ein einziges Gegenstück.

Sobald wir diesem Engel begegnen, werden wir uns von nichts, als der Liebe zu diesem Engel leiten lassen. Genau wie du blind gehandelt hast. Vom einzigen Gedanken gelenkt sie zu beschützen. Auch wenn dies nicht nötig war, so hast du dieses Gefühl verspürt. Daher bin ich mir sich, dass dieser weibliche Engel dein Himmelsgegenstück ist. Aber für Engel ist es besser, dem seinen nicht zu begegnen. Denn wie ich dir so eben sagte, handelt man unbedacht und naiv. Ein solches Handeln führt zu Leichtsinn, der schon viele Engel zu Fall und schließlich zu Tode gebracht hat.“ Raphael sah ihn streng unter seinen himmelblauen Augen an. Wie ein Vater, der sein kleines Kind tadelte. „Ich bitte dich, dich von ihr fernzuhalten, mein Junge.“ Darrell verstand noch immer nicht, was er mit all diesen Informationen anfangen sollte.

Himmelsgegenstück. Irgendwie klang es so seltsam fremd und dennoch kam es ihm so vertraut vor. Bedrückt senkte Darrell den Blick.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das schaffe.“, gab er ehrlich zu. Immerhin hatte er erlebt, was mit ihm geschehen war.

Allerdings sagte ein Gefühl, welches er nicht beschreiben konnte, dass er es auch überhaupt nicht wollte. Alles in ihm schrie ihn an, sie zu finden und zu ihr zu gehen. Doch ein anderer Teil, seine Vernunft, wusste, dass Raphael nur das Beste für ihn wollte und er gehorchen sollte.

Liebevoll legte Raphael seine Hand auf Darrells Schulter und tätschelte sie fast etwas unbeholfen.

„Es wird sicher nicht einfach und es verlangt auch niemand von dir, dass du dieses Gefühl einfach abschalten sollst. Das ist auch gar nicht möglich. Aber du wirst dem Stand halten. Du bist ein sehr starker Engel und ich bin stolz auf dich.“

Raphael war tatsächlich stolz auf ihn. Eigentlich sollte ihn das glücklich machen. Noch vor ein paar Stunden wäre das, das Schönste in seinem bisherigen Dasein gewesen. Doch jetzt fühlte es sich an, als seien es nichts als Silben eines fremden Engels. Belanglose Worte.

Der Gedanke, dass er sich von ihr fernhalten sollte und sie niemals zu Gesicht bekommen würde, erfüllte ihn mit Schmerz. Mehr Schmerz als er je verspürt hatte. Auf einmal kam ihm nicht einmal der Verlust seiner Flügel so schmerzhaft, wie die Unerreichbarkeit von ihr vor. Er fühlte sich leer und seine Brust schmerzte.

Als würde sein Herz weinen und klagen.

Obwohl er sie noch nicht einmal gesehen hatte, geschweige denn kannte. Was wäre, wenn er sie erst kennenlernen würde?

Vielleicht hatte Raphael Recht und es war tatsächlich besser, sie niemals zu sehen.

Aber alles in ihm sträubte sich, dem Glauben zu schenken und dennoch schwieg er. Die erstickende Sehnsucht in ihm schluckte er einfach runter.

„Natürlich werde ich dir eine Stütze sein. Schließlich würde ich dir nur ungern den Höllensturz versetzen.“

Noch nicht einmal die indirekte Drohung von Raphael, die ihn einst vor Furcht erzittern gelassen hätte, schreckten ihn davon ab, sie zu sehen. Raphaels Worte ließen ihn einfach kalt.

Obwohl Raphael ihn scheinbar nicht dem Höllensturz versetzten wollen, hatte ihn dies offensichtlich dennoch nicht aufgehalten. Sonst wäre er jetzt immerhin keiner der Gefallenen.

Kate wandte sich innerlich unruhig hin und her, als würde ihre Decke ihr die Luft zum Atmen rauben. Sie wollte nach etwas greifen. Sie wollte es fest halten. Doch sie wusste nicht recht, was sie bei sich halten wollte. Trotz ihres Versuchs, es aufzuhalten von ihr zugehen, konnte sie fühlen, wie immer mehr Entschlossenheit darin aufkeimte, sie zu verlassen. Nach einer kurzen Zeit drang es sich schließlich dazu, sie alleine zu lassen. Am liebsten wäre sie auf gesprungen, hätte es gepackt und zu sich gezogen. Stattdessen tat sie nichts und klammerte sich an das erst Beste, was sie fand. So fest, dass sich ihre Finger verkrampften und begannen zu schmerzen. Sie konnte geradezu spüren, wie ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Sie spürte wie es sich immer weiter entfernte und der Sauerstoff dabei aus ihren Lungen gepresst wurde. Röchelnd riss sie die Augen weit auf. Sofort schnellte sie hoch, sodass sie aufrecht saß. Ihre Kleidung war schweißnass und ihr Herz raste wild in ihrer Brust. Das Adrenalin war durch ihre Adern gepumpt worden. Die himmelblaue Decke hielt sie noch immer fest umklammert. Ihr Atem rasselte, ging schnell und ungleichmäßig, als wäre sie gerade einen Marathon gerannt.

Außerdem war ihr unfassbar schlecht. Am liebsten hätte sie sich den Leib aus der Seele erbrochen, um dieses seltsame Gefühl los zu werden.

Ein Gefühl, was sie zu erdrücken drohte. Ihr ganzer Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen und ein Ziehen erfüllte ihr Herz. Als würde es ihr zeigen wollen, welchem Weg sie folgen solle.

Doch nachdem der Adrenalinschub abgeklungen war, machte sich die pure Leere in ihr breit. Es war, als hätte man ihr ein Stück ihrer Seele entrissen. An dieser Stelle ragte jetzt ein klaffendes Loch. Sie erfüllte der Drang, dieses Loch zufüllen, um sich wieder vollständig zu fühlen. Doch in diesem Moment besaß sie keinen Funken Kraft mehr. Sie fühlte sich schwach, verletzlich und alleine gelassen.

Aber von wem oder was fühlte sie sich verlassen? Was erfüllte sie nur mit solch einem starken Gefühl der Sehnsucht? Ihre Gedanken rauschten durch ihren Kopf, wie ein ratternder Zug.

Sie wusste überhaupt nicht, wo sie war. Unter ihr war eine Feder weiche Matratze, die von einem schleierhaften Blau umgeben war. Langsam ließ ihr Griff, um die Decke locker, sodass sie auf ihren Schoß rutschte. Ihr verschlafener Blick wanderte weiter durch den Raum. Überall waren weiße Wände und an der Decke hing eine altmodische Deckenlampe. Erst jetzt nahm sie den allzu vertrauten weißen Eckschreibtisch und den hölzernen, ebenfalls weißen Kleiderschrank mit den Spiegeltüren wahr. Auch die vollgestopften Bücherregale und der kleine Fernseher, der an der Decke hing, nahmen langsam Gestalt an und fügten sich zu einem gesamte Bild zusammen.

Sie befand sich bei sich zuhause.

Verträumt ließ sie sich zurück auf das Bett fallen und sah hinaus aus dem kleinen Fenster. Der nackte Fensterrahmen wirkte etwas nüchtern, so wie der Rest ihrer gesamten Wohnung. In keinem einzigen Zimmer hing irgendetwas Persönliches. Nicht einmal ein einziges Familienbild oder etwas Vergleichbares. Wäre es anders gewesen, hätte sie sich nur an ihr früheres Leben erinnert. Aber das wollte sie jetzt hinter sich lassen. Deshalb hatte sie sich auch dafür entschieden hierher zuziehen. Sicher war es nicht der optimale Wohnort. Immerhin sah hier alles gleich aus. Aber alles war besser, als dort zubleiben wo sie zuvor lebte.

Seufzend sah sie dem Sonnenaufgang entgegen. Die hinaufsteigende Sonne tauchte den gesamten Horizont in ein leuchtendes Orange, was sich in den Wolken widerspiegelte, die langsam über den bunten Himmel zogen. Sanft wogen sich die Vorhänge ihres Himmelsbett im frischen Morgenwind.

Draußen war nicht eine kleine, grüne Fläche zu erahnen. Dort gab es nur den dunklen Asphalt der ruhigen Straße und das graue Beton der aneinander gereihten Häuser, welche eine genaue Abbildung der anderen Häuserblöcke waren, die sich Meter weit an der Straße entlang streckten.

Die Müdigkeit ruhte noch immer schwer auf ihren Gliedern, dennoch zog sie die Decke von sich und schleuderte sie in eine Ecke des Himmelbettes. Dann schwang sie die Beine über die Bettkante. Sobald sie sich auf die Füße raffte, erfüllte sie ein Gefühl des Schwindels, sodass ihre gesamte Umgebung zu Schwanken begann. Dazu erfüllte sie ein stechender Schmerz, als hätte man ihr eine Nadel durch den Schädel gebohrt. Das Gefühl der Übelkeit übermannte sie noch heftiger, sodass sie schwer schlucken musste. Woran könnte das liegen?

Sie rechnete mit Kreislaufproblemen. Allerdings - und das fand sie ziemlich seltsam - trat es immer ein, wenn sie dieses Gefühl der Leer überrannte.

Noch ganz schlaftrunken schliff sie ihre müden Knochen in das kleine Badezimmer. Die eiskalten, weißen Fließen, fühlten sich wie Nadelstiche auf ihre nackten Fußzehen an. Sofort bekam sie Gänsehaut am ganzen Leib und fröstelte etwas.

Sobald sie ihr Gesicht im Spiegel erblickte, riss sie erschrocken die Augen auf. Ihre braunen Haare lagen wirr auf ihrer Kopfhaut und standen in alle Richtungen. Die Strähnen hingen ihr klebrig und nass ins Gesicht. Ein glänzender Schweißfilm stand auf ihrer Stirn und unter ihren Augen zeichneten sich dicke, blaue Ringe ab. Außerdem waren ihre dunklen kaffeebraunen Augen mit Wasser gefüllt, was über ihre Augen trat und sich eine feuchte Spur über ihre blasse Wange bahnte.

Vorsichtig legte sie ihre ebenso blassen Finger an die Wange, wodurch sie die Träne stoppte. Sie weinte, aber warum?

Schnell wischte sie sich über das tränennasse Gesicht und wusch es mit Wasser sauber.

Nachdem sie sich etwas frisch gemacht hatte, trat auch wieder Farbe in ihr Gesicht und ihr bronzener Hautton kam zurück.

Plötzlich ertönte das noch ungewohnte Klingeln ihrer Haustür.

Gähnend und noch immer etwas wackelig, lief sie durch den Flur und warf einen Blick durch den Türspion.

Vor ihr war das bildhübsche, freudig lächelnde Gesicht ihrer Schwester, Carina. Kate öffnet etwas zögerlich die Haustür.

Sobald diese offen war, trat ihre Schwester auch schon ein und warf sich ihr um den Hals. Lächelnd erwiderte Kate ihre herzliche Umarmung. Als sie sich wieder von einander lösten, trat ein breites Grinsen auf die vollen Lippen ihrer Schwester.

Doch das Lächeln erblasste sofort wieder, als sie Kate unter ihren ebenfalls Kaffeebraunen Augen musterte. Ein besorgter Gesichtsausdruck legte sich jetzt stattdessen über ihre sanften Gesichtszüge, die sie viel weiblicher wirken ließen, als Kate es jemals sein würde.

„Wie geht es dir denn? Du siehst fruchtbar aus.“ So war Carina schon immer. Direkt. Sie sagte genau das, was ihr gerade durch den Kopf ging.