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Gerd Schilddorfer

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Beschreibung

In der ältesten Kirche Wiens ereignet sich ein mysteriöser Mord. Unter der Empore mit den fünf geheimnisvollen Buchstaben A.E.I.O.U. und der Jahreszahl 1439 findet der Pfarrer einen Toten, der mit einem Kopfschuss hingerichtet wurde. Das Besondere: Die noch brennenden Kerzen wurden in Form von zwei Buchstaben - L und I - arrangiert. Das Verbrechen ruft nicht nur die Polizei, sondern auch den Reporter Paul Wagner auf den Plan. An ihm wird es liegen, den seit Jahren in freiwilliger Isolation lebenden Mittelalter-Forscher Georg Sina zu überzeugen, in die Welt zurückzukehren, um gemeinsam mit ihm die Jagd nach dem größten Geheimnis der Menschheit zu beginnen. Die beiden müssen erkennen, dass die Hinrichtung nur der Auftakt für eine mysteriöse Mordserie war, die immer weitere Kreise zieht. Die Suche nach der Lösung führt zu einem alten Geheimcode Kaiser Friedrichs III. und dessen Faszination für schier unlösbare Rätsel. Ehe Sina und Wagner wissen, worum es wirklich geht, sind sie die meistgejagten Männer zwischen Lissabon und Beijing.

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Seitenzahl: 863

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Aux filles qui nous accompagnent

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© 2011 by LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Wolfgang Heinzel unter Verwendung zweier Illustrationen von Stefanie Bemmann und Gustav Weiss Illustrationen im Innenteil: Gustav Weiss eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7844-8001-5

Prolog – 7.3.2008

Wien/Österreich

Der dunkle Wagen glitt fast lautlos über das Kopfsteinpflaster der Innenstadt in Richtung Donaukanal. Die beiden Männer hinter den getönten Scheiben hingen ihren Gedanken nach und hatten für die erleuchteten Fassaden der Palais und Patrizierhäuser, die draußen vorbeizogen, keinen Blick. Figuren und Denkmäler, Gedenktafeln und Heiligengruppen wurden von den Scheinwerfern des schweren Audi in helles Licht getaucht, um gleich wieder in der Dunkelheit zu verschwinden. Unter einem geschwungenen Baldachin reichten sich Maria und Josef aus Bronze gegossen die Hände zum Bund der Ehe, der Hohepriester nickte seinen stummen Segen, von den Vorbeifahrenden weder gewürdigt noch beachtet.

Wien Anfang März war kein anheimelnder Ort. Es nieselte und der braune Schneematsch war vom Regen fast völlig in die Kanalisation gespült worden. Die Touristen waren weitergezogen, südlich, der Wärme nach und der Sonne entgegen. Wien gehörte wieder den Wienern, und die hatten es eilig, ins warme Wohnzimmer zu kommen. Die Straßen waren um diese Zeit leer und wie ausgestorben. Von irgendwoher schlug eine Kirchenuhr dreiviertel neun.

Der kleinere der beiden Männer im Wagen schaute zum fünften Mal in der letzten halben Stunde auf seine Uhr. »Wir müssen uns beeilen, sonst ist das Tor gesperrt«, sagte er und vermied es dabei, den neben ihm sitzenden hageren Mann anzusehen, der einem Modemagazin entstiegen zu sein schien. Hochgewachsen, in Anzug mit passendem Stecktuch und langem schwarzem Mantel, einen weißen Schal lässig umgelegt und schwarze Rindslederhandschuhe im Schoß, schaute er gelangweilt auf den Rücken des Chauffeurs. Die Stadt interessierte ihn nicht, er kannte sie gut genug, um zu wissen, wo sie waren.

Der offene Platz versickerte in mehreren engen Gassen. Die Scheinwerfer des Wagens strahlten plötzlich ins Leere. Die Fahrbahn war zu Ende. Breite Stiegen führten hinunter zum Fluss.

Als die Limousine in der dunklen Sackgasse anhielt, schien die Stadt weit hinter ihnen geblieben zu sein. Aber das täuschte. Sie waren in ihrem Herzen angelangt. Es war plötzlich ruhig und man hörte in der Ferne das leise Plätschern eines Gewässers. Nicht weit von ihnen warfen die Fenster einer kleinen Kirche gelbes Kerzenlicht auf die feuchten Pflastersteine.

Der große Mann zögerte keinen Moment, als der Schlag geöffnet wurde. Er stieg aus, blickte sich kurz um wie ein Jagdhund, der die Witterung aufnahm, und nickte dem Chauffeur zu, bevor er zu dem alten Kirchentor hinüberging. Der kleinere Mann war ihm vorausgeeilt, hielt den Flügel der schweren Holztür offen und lief dienstfertig in die Dunkelheit voraus, bevor der Mann im langen Mantel ihm einen fragenden Blick zuwerfen konnte.

Vor den Seitenaltären des kleinen alten Gotteshauses brannten einige Dutzend Kerzen. Ihr Licht schaffte es kaum, die Dunkelheit zurückzudrängen, die wie ein weiches schwarzes Tuch in alle Ecken der Kirche gefallen war. Es roch nach Staub und altem Stein, nach langen Gebeten und verschämten Beichten. Der kleinere der beiden Männer eilte zur Empore, blickte sich um und sah die hagere Figur im schwarzen Mantel im Mittelgang stehen, wie ein Teil der Dunkelheit. Unbeweglich verharrte die hochgewachsene Gestalt, den Kopf vorgestreckt wie ein Adler, lauernd. Dem kleineren Mann wurde plötzlich kalt und er zögerte, sein Magen zog sich in einer dunklen Vorahnung zusammen. Dann fing er sich, griff in seine Jacke und zog eine kleine, starke Taschenlampe heraus, knipste sie an und richtete sie nach oben. Der weiße Lichtkreis schnitt durch die Dunkelheit. Putten, Ornamente und Heiligenfiguren erwachten kurz zum Leben, erstrahlten und erstarrten wieder, versanken in der Finsternis.

Als der Lichtkreis endlich sein Ziel erreicht hatte und anhielt, nur mehr leicht zitterte, trat der große Mann näher, lautlos, wie über die alten, abgenutzten Steinplatten schwebend.

Sein Blick folgte dem Lichtstrahl zur Empore, hinauf zu den fünf Buchstaben und der Zahl, die nun aufzuleuchten schienen. Seine Miene verriet keine Regung, seine Augen ruhten für einige Sekunden unverwandt auf der Empore, der Schrift und der Jahreszahl. Ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde abzuwenden, zog er die rechte Hand aus der Manteltasche und mit einer fließenden, schlangenhaften Bewegung setzte er die Pistole auf die Schläfe seines Begleiters und drückte ab. Sein Opfer hatte die Gefahr nicht kommen sehen. Es gab ein leises Plopp, und der Kopf des kleinen Mannes explodierte in einem Schauer aus Blut und Knochensplittern.

Mit einer weiteren Bewegung, die fast nebensächlich aussah, fing der Mann im schwarzen Mantel die Taschenlampe auf, bevor sie auf dem Boden aufschlug, schaltete sie aus und steckte sie ein. Dann ging er zu den großen Platten voller eiserner Spitzen, auf denen die Opferkerzen steckten. Er arrangierte einige neu, löschte andere aus und verließ dann mit ruhigen Schritten das kleine Kirchenhaus, zog die Tür hinter sich zu, holte einen Schlüssel aus einem seiner Handschuhe hervor und sperrte ab.

Während er in den Wagen stieg und der Chauffeur langsam anfuhr, nahm er ein Handy aus seiner Tasche und begann zu wählen. Es war eine lange Nummer und es dauerte eine Weile, bis es am anderen Ende läutete. »Es ist tatsächlich da«, sagte er nur und legte auf. Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Es hatte begonnen.

Kapitel 1 – 8.3.2008

Wien/Österreich

Der Morgen war grau und düster, die rotierenden Einsatzlichter der Polizeiwagen färbten den Nebel blau und ließen ihn noch dichter erscheinen. Ein Kordon aus rot-weißem Absperrband war quer über den Platz gespannt, einige uniformierte Polizisten standen dahinter, gelangweilt und frierend. Sie unterhielten sich über das Fußballspiel, das gestern ganz Wien vor den Fernsehern fasziniert hatte, die Straßen leergefegt und die Extrazimmer der Wirtshäuser gefüllt hatte. Die wenigen Passanten, die es um diese Zeit meist eilig hatten, ihren Arbeitsplatz zu erreichen, verschwendeten keine Minute, um stehen zu bleiben.

Das war dem Mann, der neben der Kirche darauf wartete, dass die Spurensicherung mit ihrer Arbeit fertig wurde, nur Recht. Er mochte keine Neugierigen an Tatorten. Kommissar Berner sah aus wie ein Buchhalter, dem der Wind das sorgfältig gescheitelte Haar zerzaust hatte. Sein unglückliches Gesicht sprach Bände – es sagte »zu früh, zu kalt, zu windig, zu regnerisch und überhaupt …«. Berner, der Bernhardiner, wie er von Kollegen genannt wurde, nahm jeden Mord in seinem Revier, der Inneren Stadt, als persönliche Beleidigung. Die Glut der Zigarette in seinen Fingern hatte den Filter erreicht, und als er versuchte, sich eine neue anzuzünden, löschte der Wind immer wieder die Flamme des Feuerzeugs aus. Berner fluchte und verstaute die Zigarette wieder in der Packung, öffnete die Kirchentür und steckte den Kopf in das von Scheinwerfern hell erleuchtete Innere.

»Ich will einen Bericht und keine Dissertation!«, rief er zu niemandem Bestimmten und seine Stimme hallte in der Kirche wider.

Als er keine Antwort bekam, drehte er sich achselzuckend um und wandte sich dem verstört blickenden, großen Mann zu, der neben ihm fröstelte. Berner zog sein Notizbuch aus der Tasche, blätterte und fand die richtige Seite, überflog seine Notizen.

»Also wenn ich Sie recht verstehe, dann war die Tür zur Kirche versperrt?«, zitierte er und Pater Johannes, der zuständige Pfarrer, nickte nur stumm. Er wirkte völlig geschockt von seiner morgendlichen Entdeckung, entsetzt über die Entweihung des Gotteshauses. Die fleckenlose, schwarze Soutane ließ sein blasses Gesicht noch fahler erscheinen. Pater Johannes war ein Schrank von einem Mann, massig und über einen Meter neunzig groß, Kommissar Berner musste zu ihm aufschauen.

»Wer hat alles einen Schlüssel für die Kirchentür?«

Die Frage riss den Geistlichen aus seiner Erstarrung, er fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung über den Kopf. »Es gibt einige Schlüssel, weil immer wieder Führungen und Besichtigungstouren in und um die Kirche veranstaltet werden, manchmal mehrere am Tag.« Pater Johannes schaute hilflos über den Vorplatz, der nun von dem rot-weißen Band wie von der Außenwelt abgeschnitten aussah. Er wollte fortfahren, setzte an, aber dann schwieg er doch.

Berner schaute ihn an. »Ja?«

Der Pfarrer schüttelte nur den Kopf. »Wer rechnet schon damit, dass so etwas …« Seine Stimme verlor sich im Wind.

Berner seufzte. Seine Haare standen weiter in alle Richtungen ab und er fror. Der Nebel kroch vom Kanal herauf wie eine hungrige Schlange, schlich um die Ecken und wand sich im Wind.

»Und weiter?« Berner versuchte ein Gespräch in Gang zu halten, von dem er wusste, dass es zu nichts führen würde.

»Dann ging ich hinein und kniete mich nieder, wie immer, bekreuzigte mich und wollte zum Altar gehen.« Johannes stockte. »Dann … sah ich ihn.« Er schloss den Mund, bis seine Lippen nur mehr zwei dünne Striche waren. »Es war so viel Blut überall …«, setzte er noch einmal an, dann verstummte er endgültig.

Berner tat so, als lese er in seinen Notizen.

»Und die Kerzen …«

Der Kommissar sah hoch, direkt in die graugrünen Augen des Geistlichen, die ihn unsicher ansahen. »Was ist mit den Kerzen? Davon haben Sie vorher nichts erzählt«, drängte er und überflog nochmals die paar Zeilen in seinem kleinen Heft.

Pater Johannes schien plötzlich einen Kopf kleiner zu werden und in seiner Kutte zu schrumpfen. Er senkte den Kopf. »Vielleicht hat es ja nichts zu bedeuten oder es ist Zufall«, fuhr er unsicher fort. »Die noch brennenden Kerzen bildeten zwei Buchstaben – ein großes ›L‹ und ein ›I‹.«

Berner war überrascht. »Sind Sie sicher?«, setzte er nach und schrieb gleichzeitig ein paar Worte auf die feuchte Seite, die begann, sich am Rand einzurollen.

»Ja, ganz sicher.« Die Stimme von Pater Johannes war wieder fest. »Ich schaue immer nach den Kerzen, das ist schon ganz automatisch. Wie viele brennen und ob ich den Vorrat nachfüllen muss.« Der Pfarrer runzelte die Stirn und schaute Berner von unten her an. »Alle anderen Kerzen waren ausgelöscht, nicht heruntergebrannt. So etwas habe ich noch nie erlebt.«

Während sie sich unterhielten, klang es, als ob ein Gewitter mit Donnergrollen und Platzregen unmittelbar bevorstünde. Die Polizisten unterbrachen ihre Unterhaltung und Berner blickte irritiert in die Richtung, von wo der Lärm immer näher kam. Über das nasse Kopfsteinpflaster jagte ein Motorrad auf die Absperrung zu, bremste knapp davor und kam mit rutschendem Hinterrad zum Stehen. Die schwere blau-weiße Suzuki GSX-R 1100 schien einer Zeitmaschine entsprungen, in makellosem Zustand trotz ihres Alters. Die von allen Sammlern gesuchte Rennversion war 1988 gebaut worden, galt als das schnellste Motorrad ihrer Zeit und war selbst zwanzig Jahre später noch immer respekteinflößend.

Berner schloss die Augen. Heute war nicht sein Glückstag. Es war überhaupt nicht sein Tag. Hatte er es beim Anblick des Toten geahnt, spätestens jetzt wusste er es.

Der Fahrer des Motorrads lehnte die Suzuki auf den Seitenständer, stieg ab, zog die Handschuhe aus und den Helm vom Kopf. Nachdem er beides nachlässig auf die Sitzbank gelegt hatte, blickte er sich um, bückte sich und schlüpfte unter der Absperrung durch, wo ihn die grinsenden Polizisten schon erwarteten.

»Du bist heute aber spät dran«, meinte einer von ihnen und warf einen demonstrativen Blick auf die Kirchturmuhr. »Du wirst auch immer langsamer …«

»Liegt nur an meiner Kaffeemaschine«, erwiderte der Motorradfahrer gut gelaunt, »die hatte heute Morgen einfach keinen Dampf, so wie ihr …«

Während sich die Polizisten lachend wieder ihrem Fußballgespräch widmeten, schlenderte er auf den griesgrämigen Berner zu, der sein Notizheft einsteckte, den Pfarrer stehen ließ und ihm entgegeneilte.

»Für alle Umbauten, die an diesem Motorrad nicht originalgetreu sind, könnte ich Sie verhaften lassen und heute hätte ich gute Lust, es einfach zu tun«, fuhr Berner den Mann in Jeans und Lederjacke an, der offensichtlich immun gegen die Kälte und den Nebel war. »Schon allein die Lautstärke dieses Vehikels verstößt mindestens gegen drei Paragraphen.«

»Schlecht drauf heute, Herr Kommissar?« Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.

Berner verzog das Gesicht, während der Wind ihm die Haare zu Berge stehen ließ. »Ersparen Sie mir einfach Ihren Sarkasmus, Wagner. Und drehen Sie gleich wieder um, nehmen Sie Ihr Lärmgerät und verschwinden Sie in den Tiefen der Stadt!«

Paul Wagner schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Ich bin zu Unzeiten aufgestanden, habe den Kampf gegen die Kaffeemaschine verloren und das Prachtstück durch dieses Wetter gejagt«, meinte er und deutete auf die abgestellte Suzuki. »Jetzt will ich etwas geboten bekommen.«

Berner steckte die Hände in die Manteltaschen, reckte den Kopf vor und seine Augen funkelten. »Ich hasse leichenfleddernde Reporter am frühen Morgen, auf nüchternen Magen und Sie ganz besonders, Wagner.«

Die grünen Augen des Journalisten waren plötzlich von Lachfalten umringt. »Die Spurensicherung hat Sie noch nicht rein gelassen, stimmt’s? Kein Tag für Künstler und Kommissare …«

Berner fühlte sich ertappt. »Wie auch immer, ich will Sie nicht hier haben. Unsere Pressestelle wird einen Bericht herausgeben, viel Spaß damit und fröhlichen Ritt nach Hause.«

Der Kommissar wollte sich wegdrehen und zur Kirchentür zurückgehen, als das Tor aufging und ein untersetzter, grauhaariger Mann mit einem kleinen Metallkoffer eilig die Stufen herunterkam und auf Berner und Wagner zuging.

»Hallo, Kommissar! Hallo, Paul!«

Berner verfluchte den Morgen und diesen Fall im Speziellen. Warum war der Amtsarzt des Bezirks Innere Stadt auf Urlaub? Warum war es ausgerechnet Dr. Strasser gewesen, der ihm zugeteilt worden war? Warum jemand, der mit Wagner per Du war? Der Reporter machte keine Anstalten zu gehen und der Arzt sagte zu niemandem im Besonderen: »Aufgesetzter Schuss an der Schläfe. Großes Kaliber, die Kugel steckt noch in der Kirchenwand. Vom Kopf ist nicht mehr viel übrig, der Tod muss gegen 21:30 Uhr eingetreten sein. Der Mann war Mitte vierzig. Alles andere steht dann in meinem Bericht. Sonst noch was?« Es klang wie auswendig gelernt.

Der Kommissar war verärgert. Was hatte er erwartet?

Paul Wagner sah ihn an. »Aufgesetzter Schuss? Sie haben ein Problem, Commissario, würde ich sagen. Eine Hinrichtung in der Kirche?«

Berner verzog erneut das Gesicht, drehte sich um und ließ den Reporter einfach stehen.

Der Amtsarzt sah ihm kurz nach, als er so mit hängenden Schultern durch den stärker werdenden Nebel wieder zur Kirche stapfte. Dann wandte er sich an Wagner. »Du hast Recht, Paul, es sieht ganz nach einer Hinrichtung aus, und nach einer bewussten Provokation. Mit einem Hinweis, den leider keiner versteht.« Dr. Strasser legte den Kopf schief und sah Wagner herausfordernd an. »Oder sagen dir die Buchstaben L und I etwas? Die Initialen des Killers? Oder des Opfers?« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich der Arzt um, winkte kurz zum Abschied und schlüpfte unter der Absperrung durch. Paul sah ihm lange nach, auch noch, als der Nebel ihn schon längst verschluckt hatte.

Im Kircheninneren kauerte Kommissar Berner fasziniert vor einem gläsernen Sarg. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit endlich beendet, und die Scheinwerfer wurden abgebaut. Langsam leerte sich die kleine Kirche wieder. Berner beugte sich vor, um besser sehen zu können. Hinter der Glasscheibe in dem reich verzierten und schwer vergoldeten Vitrinenschrank befand sich ein Skelett in prächtigen barocken Gewändern. In stundenlanger Handarbeit hatten Nonnen jeden einzelnen Knochen mit Goldfäden, Perlen und Spitzen verziert. Ein kleines Schild mit dem handgemalten Namen »Vitalis« glänzte im Licht des letzten Scheinwerfers, bevor auch er verlöschte. Nur mehr das graue Tageslicht fiel nun durch die schmalen Fenster.

Berner drehte sich um, schaute zu dem mit einer dunklen Plane zugedeckten Toten hinüber und zog sein Notizbuch wieder aus der Tasche. Dann erinnerte er sich an das, was Pater Johannes gesagt hatte. Kerzen. In Form von zwei Buchstaben. Er erkannte die große schwarze Platte mit ihren hunderten schmiedeeisernen Spitzen, die wie eine waagrechte Eiserne Jungfrau aussah. Auf einigen steckten Kerzen, dann, wie eine Insel inmitten schwarzer Wellen aus Dornen, erkannte er die Form, von welcher der Geistliche gesprochen hatte. Aus einigen Dutzend weißen Kerzen waren die Buchstaben »L« und »I« gebildet, gut erkennbar, zweifelsfrei.

Berner sah genauer hin. Die Spurensicherung hatte die Kerzen gelöscht, um das Muster zu erhalten, sie am völligen Niederbrennen zu hindern. Auf den anderen, weiter entfernten waren die Dochte in das inzwischen erkaltete Wachs gedrückt worden. Jemand hatte absichtlich die Flammen erstickt, hatte methodisch alle ausgelöscht, die ihm nicht ins Konzept passten. Berner fröstelte und fühlte sich plötzlich leer. Er quetschte sich in eine der hölzernen Kirchenbänke, setzte sich und war versucht, seit langem wieder einmal zu beten.

Das Knarren der Kirchentüre holte ihn in die Realität zurück, riss ihn aus seiner Meditation. Zwei Männer mit einem Plastiksarg kamen herein, sahen ihn fragend an und er nickte nur stumm. Er hatte den Toten schon vorher gesehen, da war nichts, was es noch zu betrachten gab, nichts, was ihm hier noch weiterhelfen konnte. Das Obduktionsergebnis der Gerichtsmedizin konnte er sich schon jetzt vorstellen. Zehn Zeilen, lapidar und ohne Überraschungen. Die Taschen des Toten waren völlig leer, sie würden auf die Kleidung angewiesen sein, wenn es um die Identifizierung ging. Oder auf das Kerzenarrangement. Sowie auf die Fingerabdrücke, da das Gesicht fehlte …

Berner schloss die Augen und hörte, wie die Männer schnell und professionell arbeiteten, hörte sie hinausgehen, dann Stille. Er wollte die Augen nicht wieder öffnen, in der Hoffnung, alles würde sich als Irrtum herausstellen, die Blutspritzer an der Wand und auf den großen Steinplatten wären gar nicht vorhanden. Da klingelte sein Handy. Er tastete in der Innentasche des Mantels, griff nach dem Telefon und nahm das Gespräch mit einem Grunzlaut an.

»Und?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang wach, befehlsgewohnt und leicht gelangweilt.

Berner fühlte sich erschöpft. »Aufgesetzter Schuss in die Schläfe, sieht aus wie eine Hinrichtung. Keine Papiere, Mitte vierzig, nichts Auffälliges.« Warum verschwieg er die beiden Buchstaben? Weil er irgendwie nicht daran glaubte? Weil es lächerlich klang? Weil …

Die Stimme des Polizeichefs unterbrach seine Gedankengänge. »Das wird weder dem Erzbischof noch dem Innenminister gefallen. Berner, bringen Sie das schnell zu Ende, bevor wir uns dafür rechtfertigen müssen, dass ein Killer friedliche Menschen in der Kirche umbringt, und das mitten in Wien. Sie wissen schon, Tourismus und so, sichere Stadt. Weiß die Presse davon?«

Der Kommissar zögerte einen Augenblick zu lang.

»Also ist Paul Wagner schon da. Verdammt!« Der Polizeichef hatte aufgelegt, bevor sich Berner irgendwie rechtfertigen konnte. Er hatte plötzlich Lust, sein Handy weit weg zu werfen und mit seinem Wagen drüber zu fahren. Als er es resignierend einsteckte, öffnete sich die Tür und mit einem Schwall kalter Luft trat der Reporter in die Kirche, schaute sich um und erblickte den Kommissar auf der hölzernen Bank sitzen.

»Vor oder nach der Beichte?« Wagner grinste.

»Danach«, murmelte Berner und wie auf Bestellung läuteten die beiden Glocken der Kirche. »Die ältesten Glocken Wiens, mehr als siebenhundert Jahre alt«, dozierte Wagner und blickte nach oben. Berner fühlte sich plötzlich genauso alt.

Das Büro des Polizeichefs im fünften Stock des Wiener Polizeipräsidiums wirkte fast gemütlich mit der dunklen Holztäfelung und den Perserteppichen und den alten Stichen von Wien an der Wand. Einem großen, überladenen Schreibtisch stand eine Sitzgarnitur gegenüber, die zu informellen Treffen einlud. Seine Sekretärin nahm eine Kaffeetasse von dem kleinen Beistelltisch und brachte sie dem massigen Mann, der am Fenster stand und dem Verkehr auf der Ringstraße zuschaute. Seine Hände, hinter dem Rücken verschränkt, öffneten und schlossen sich in einem Takt, den nur er kannte.

»Ihr Kaffee, Herr Doktor. Die beiden Akten liegen auf Ihrem Schreibtisch ganz obenauf.«

Mit einem Nicken bedankte er sich und nippte an dem heißen, süßen Kaffee, während er über den Rand der Tasse weiter auf den Ring hinunterschaute. Dann drehte er sich um, nahm die beiden roten Akten von seinem Tisch und verließ das Büro. Er wandte sich nach links, den langen, hell erleuchteten Gang hinab, der mit den Bildern der Polizeipräsidenten der vergangenen hundert Jahre ein wenig Farbe in seine triste Existenz zu bringen suchte. Die Tür des Besprechungszimmers war geschlossen und er klopfte nicht, als er sie aufstieß und eintrat.

Am langen, ovalen Tisch saß ein einzelner, hagerer Mann. Er hatte seinen Mantel nicht ausgezogen, die schwarzen Rindslederhandschuhe lagen vor ihm auf der spiegelnden mahagonifarbenen Tischplatte. Seine dunklen Augen blickten ruhig dem Polizeichef entgegen, der sich neben ihm einen Stuhl nahm, ihn zurückzog und sich hineinfallen ließ. Die beiden Akten platzierte er vorsichtig vor sich und legte seine flache Hand darauf. Beide Männer schwiegen für einen Augenblick.

»Ich nehme an, die Pistole war nicht registriert«, setzte der Polizeichef an, doch der kalte Blick des hageren Mannes neben ihm ließ ihn verstummen.

»Wer ist der ermittelnde Kriminalbeamte?« Das Deutsch seines Tischnachbarn war akzentfrei, und seine Stimme blieb ungerührt. Sie klang wie Chris Rea nach drei Whiskys, rau und tief.

»Berner, ein kriminalistischer Buchhalter auf dem Weg in die Pension. Er hat keine Ahnung und wird sie nie haben.« Der Polizeichef strich geistesabwesend über das Deckblatt der Akten vor sich.

»Und Paul Wagner?« Der dunkelhaarige Mann lehnte sich leicht vor, streckte die Hand aus und zog die oberste Akte unter der Hand des Polizeichefs weg, legte sie vor sich auf den Tisch und blätterte den Ordner auf.

»War schneller da, als Berner ›Guten Morgen‹ sagen konnte.«

»Gut.« Der hagere Mann las, blätterte weiter, betrachtete die Fotos. »Paul Wagner. 38 Jahre alt, ledig, 180 cm groß, blondes Haar, grüne Augen, sportlich, hartnäckig, intelligent, Beruf: Journalist, Korrespondent der wichtigsten Tageszeitungen in Europa und in Übersee. Geboren in Wien, Mutter: Amerikanerin, Vater: Wiener.« Er rezitierte offensichtlich auswendig, ohne zu zögern, während sein Blick weiter über die Seiten vor ihm glitt. »Leidenschaft: Motorrad fahren, sein Beruf und Frauen – in dieser Reihenfolge. Viersprachig, langjährige Hobbys: Geheimschriften entziffern und alte Rennmaschinen restaurieren. Wohnt in einer ausgedienten Straßenbahn-Remise am Stadtrand, wo er genug Platz für seine Sammlung alter japanischer Rennmotorräder hat und im Winter lieber friert als umzuziehen. Wohnt alleine, obwohl er Platz genug hätte für dreißig Motorräder mehr und einen Harem.«

Aus dem Mund des hageren Mannes klang das nicht einmal ironisch, eher feststellend, aufzählend. Er blätterte weiter, bis eine Seite voll mit Bildern – Unfallfotos – vor ihm lag. Sein Zeigefinger klopfte einen langsamen Rhythmus auf die Tischplatte, während sein Blick gedankenverloren auf den Bildern ruhte. Sie zeigten ein auf der Seite liegendes Motorrad, eine junge dunkelhaarige Frau, blutüberströmt und pinkfarbene Striche auf dunklem Asphalt. Selbst der Blitz der Polizeikamera hatte dem Gesicht der Frau ihre Schönheit nicht rauben können. Sie sah aus wie eine gefallene Madonna. Sie war tot. Ihre blicklosen braunen Augen ließen daran keinen Zweifel.

»Unser Handicap«, stellte der Mann im Mantel unbewegt fest und fixierte den Polizeipräsidenten. »Clara Sina, unser Handicap.« Aber die eigentliche Botschaft lautete: »Und was werden Sie dagegen unternehmen?«

Der Polizeibeamte blickte auf die zweite Akte unter seiner Hand, die fast ein wenig beschützend auf dem Deckblatt ruhte. »Wo Paul Wagner ist, da ist Georg Simon Sina nicht weit«, meinte er.

»War nicht weit«, korrigierte sein Nachbar. »War! Und Sie wissen, wir brauchen beide, nicht nur einen. Wo ist Sina jetzt?«

»In der Einöde«, murmelte der Polizeichef. »Unerreichbar und unwillig, unversöhnlich und gestört.« Es klang ein wenig nach Sympathie und nach widerwilliger Bewunderung. »Er hat kein Handy, kein Telefon, keinen Computer, keinen Kontakt zur Außenwelt, außer zu seiner Gemischtwarenhändlerin im nächsten Dorf. Sie hat sogar eine Haltestange für seinen Haflinger vor dem Geschäft anbringen lassen …«

»Wofür?« Der hagere Mann wirkte zum ersten Mal erstaunt.

»Für sein Pferd«, erklärte der Polizeichef trocken. »Er hat kein Auto, schickte uns seinen Führerschein vor drei Jahren zurück und hat seither seine Burgruine im Waldviertel im Norden Österreichs nicht verlassen. Und er spricht seit drei Jahren mit niemandem mehr. Mit gar niemandem …«

Der Mann im schwarzen Mantel stand auf, ging zur Türe, öffnete sie, blickte hinaus und schloss sie zufrieden wieder. »Der genialste Mittelalterforscher Europas, der beste Professor, den die Wiener Universität je hatte, international ausgezeichnet und weltweit anerkannt, mutierte mit einem Schlag zu einem paranoiden Einsiedler. Was für eine Verschwendung.« Zum ersten Mal war so etwas wie eine Regung in seiner Stimme zu vernehmen. Dann griff er in seine Tasche, zog einen weißen Umschlag heraus und legte sie auf die Akte von Georg Sina vor den Polizeipräsidenten. »Von unserem Zentralbüro für Sie als Dank und Anerkennung für Ihre Hilfe, die wir sehr zu schätzen wissen.« Sein Ton war offiziell, auswendig gelernt, oft wiederholt. »Und noch etwas, Dr. Sina: Wir brauchen Ihren Sohn mindestens so dringend wie Sie, vergessen Sie das nicht.«

Der Polizeichef nickte müde. »Wer sind Sie und worum geht es eigentlich, können Sie mir das erklären?«

Der hagere Mann richtete sich auf, seine dunklen Augen bohrten sich in die des Polizeipräsidenten. »Das wollen Sie nicht wissen, glauben Sie mir. Das wollen Sie nie erfahren.«

Burg Grub, Waldviertel/Österreich

Das wollen Sie nicht wissen, glauben Sie mir. Das wollen Sie nie erfahren.« An diese Worte erinnerte sich Professor Dr. Georg Simon Sina gerade, als im weit entfernten Wien die dunkle Limousine aus der Nebenfahrbahn vor dem Sühnhof in die Ringstraße beschleunigte und den Unbekannten, der über einen Seiteneingang ohne Personenkontrolle das Polizeipräsidium verlassen hatte, zum Flughafen nach Schwechat brachte.

Sina saß vor seinem offenen Kamin im Wohnturm der Burgruine Grub und schaute in die Flammen, die den großen Raum nur teilweise wärmen konnten. Er schien die Kälte nicht zu spüren, lebte in seiner eigenen Welt und ließ die Reise nach China, die er gemeinsam mit seiner Frau Clara vor – er dachte nach – ja, vor vier Jahren gemacht hatte, vor seinem geistigen Auge Revue passieren.

»Das wollen Sie nicht wissen, glauben Sie mir«, hatte der blasse Archäologe ihnen geantwortet, als Clara beim Besuch des Grabmals von Kaiser Qin Shihuangdi in Xi’an eine Bemerkung gemacht hatte, die den jungen Chinesen völlig unvorbereitet getroffen hatte. Der erste Kaiser von China hatte eine eigenwillige Persönlichkeit gehabt und sehr grausame Vorstellungen davon, wer mit ihm begraben sein sollte.

Von den massigen Erdwällen und den grimmigen Mienen der hunderten Terrakottasoldaten alleine in der ersten überdachten Grube eingeschüchtert und von den massiven Sicherheitsvorkehrungen irritiert, hatte sich Clara die lächerliche Bemerkung nicht verkneifen können: »Das sieht ja gerade so aus, als wollte man uns hier einsperren«, hatte sie gemeint, sich umgesehen und dann den Archäologen mit ihrem Eindruck konfrontiert. »Man bekommt hier wirklich das Gefühl, dass man ungebetene Gäste nicht fern-, sondern den Kaiser und seine Tonarmee im Grab festhalten möchte. Als hätte man Angst, dass Qin Shihuangdi aus seinem Grab klettern und entkommen könnte. Habe ich Recht?«

Sina hatte sich schon damals sehr darüber gewundert, wie der Archäologe bei Claras, seiner Meinung nach kindischem, Einwand erschreckt aufgeblickt hatte, und sofort der »Zwangsbeglücker«, wie Clara ihn nannte, der von der Volksrepublik beigestellte offizielle Reisebegleiter, das Wort an sich gerissen hatte. Der schmale Chinese, extra mit ihnen aus Beijing angereist, hatte wie ertappt gestottert: »Das wollen Sie nie erfahren.«

Weitere Nachfragen waren sinnlos, die Chinesen waren alarmiert, gar nicht mehr kooperativ, sehr schweigsam. Damit fand der Besuch der sensationellen archäologischen Stätte ein jähes Ende. Wieder einmal hatten sie Claras vorwitzige Bemerkungen um einen Kulturgenuss gebracht. Schnell und endgültig waren sie von den Aufsehern vom Gelände der Ausgrabung komplimentiert worden. Man brachte sie zurück nach Beijing, und als sie endlich das Land verließen und im Flugzeug saßen, konnte sich Sina des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Gastgeber irgendwie erleichtert schienen.

Sina holte ein paar Holzscheite aus einem kleinen Nebenraum und fütterte damit das niederbrennende Feuer im Kamin. Funken stoben, es zischte und krachte und roch plötzlich nach frischem Holz und verbranntem Harz. Der kleine tibetanische Hirtenhund, der sich vor dem Kamin zusammengerollt hatte, rührte sich nicht. Er hatte sich an die Geräusche längst gewöhnt und schlief weiter, als ob nichts gewesen sei. Der heiße Tee in der großen Tasse dampfte. Sina kostete schlürfend, nickte anerkennend und seine Gedanken wanderten wieder zu Clara zurück, wie so oft in den letzten drei Jahren. Clara. Er vermisste sie immer mehr, je tiefer er in die Einsamkeit rutschte. Er redete mit ihr, aber sie antwortete nicht mehr so oft. In den ersten Jahren war es eine lebhafte Unterhaltung gewesen, aber jetzt schwieg sie immer öfter.

Die ganze Welt schwieg. Es störte ihn nicht. Er hatte die Einsamkeit gewählt und sie war seine Freundin geworden. Was zählte, trug er in sich. Erinnerungen an eine Zeit vor seinem emotionalen Tod.

Der kleine Hund hob den Kopf und lauschte. Sina strich sich über das schwarze Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war und am Hinterkopf in einem langen Zopf endete. Er war gleich alt wie Paul Wagner, wirkte aber durch seinen struppigen, grau werdenden Bart älter. Die Falten um seinen Mund verrieten seine Enttäuschung, und die tiefen senkrechten Kerben auf seiner Stirn zwischen den Augenbrauen seine Skepsis. Seine drahtige, muskulöse, fast asketische Gestalt erzählte vom Leben auf dem Land und den ständigen Instandsetzungsarbeiten am Gemäuer seiner baufälligen Ruine ohne Zentralheizung. Fließendes Wasser gab es erst seit einigen Monaten. Sina hatte das Interesse und den Genuss an körperlichen Dingen verloren. Er aß, damit er nicht verhungerte, und schlief, weil man eben schlafen musste. Wenn er nicht Zement mischte und Steine zu Mauern schichtete, verbrachte er die meiste Zeit lesend und arbeitend in seiner Bibliothek, die jedem Schloss oder jeder Abtei Ehre gemacht hätte.

Der Hirtenhund legte sich wieder zurück, rollte sich zusammen und versteckte seine Schnauze unter den Hinterpfoten. Sina leerte seine Teetasse und griff zu einem dicken, in rotes Leder gebundenen Buch, auf dem in großen goldenen Lettern »Symbolik der mittelalterlichen Herrscher-Monogramme« stand. Er ahnte noch nicht, dass eines dieser Monogramme ihn bald zu einem der meistgejagten Männer Europas machen würde.

Kapitel 2 9.3.2008

Grub, Waldviertel/sterreich

Paul Wagner sah ihn kommen und htte ihn beinahe nicht erkannt. Der Reporter lehnte an einem Stehtisch mit geblmter Plastiktischdecke, in einem jener skurrilen Geschfte, die es als Gemischte Warenhandlungen nur mehr im sterreichischen Waldviertel gab. Bei diesem hier fehlte das W seit langen Jahren, es war eines Tages von der Hausfassade abgefallen und nie wieder ersetzt worden. So war es eine arenhandlung geworden, was aber niemanden strte, der hier einkaufte.

Das Angebot war umfangreich, um es vorsichtig auszudrcken. Es reichte von rosa Liebesttern bis zu hlzernen Mausefallen, von frischem Gebck bis zu Zahnpasta mit roten oder blauen Streifen. In einem Eck hatte die Besitzerin des Ladens vor langen Jahren einen Stehtisch aufgestellt, der wohl den Absatz von Kaffee und Kuchen htte frdern sollen. Nach kurzer Zeit jedoch war er mit Stapeln von alten Zeitungen und Prospekten berst gewesen, die niemand mitnahm oder die andere einfach weggeworfen htten. Aber in Orten wie diesem warf man nichts weg. Alles war irgendwann einmal brauchbar.

Paul suchte auf der runden Tischplatte einen Platz fr seine Kaffeetasse und fand keinen. So hielt er sie in der Hand, whrend er den ankommenden Georg Sina durch die blinden Auslagenscheiben des Ladens beobachtete. Er ist alt geworden, dachte er sich und berraschte sich dabei, an die gemeinsame Schulzeit in Wien zu denken, als das Leben noch vor ihnen lag und die Tage endlos schienen.

Sina und er waren unzertrennlich gewesen und auch nach dem Abitur trennten sich ihre Wege nicht oder nur kurz. Sie studierten an derselben Universitt im Zentrum der Stadt, schrg gegenber des weltberhmten Burgtheaters. Im Caf nebenan kellnerten sie beide, um sich das Studium zu finanzieren. Sina htte es nicht ntig gehabt, mit einem leitenden Polizeibeamten als Vater. Aber da Paul das Geld brauchte, machte er einfach mit. Sie waren wie die zwei Seiten eines Blattes gewesen bis Paul schluckte. Bis zu jenem warmen Sommertag vor drei Jahren, der ein Leben genommen, eines zerstrt und eines fr immer gezeichnet hatte. Er horchte in sich hinein. Es tat immer noch weh, gab ihm einen Stich ins Herz.

Sina war inzwischen abgestiegen und band seinen braunen, glnzend gestriegelten Haflinger vor dem Laden an, nahm die beiden Packtaschen ab und trat in das Geschft. Er trug einen alten Rollkragenpullover und eine fleckige Jacke darber. Die Jeans war ausgebeult und steckte in Stiefeln, die seit Jahren keine Brste mehr gesehen hatten. Er nickte der Besitzerin des Ladens zu, reichte ihr seine Einkaufsliste ber die Theke und wollte sich an seinen Stammplatz, den Stehtisch, hinter die Papierstapel zurckziehen, als er Paul sah und mitten in der Bewegung reglos verharrte.

Er schaute Paul an und zugleich durch ihn hindurch, wie durch einen Geist aus einer lngst vergangenen Zeit. In dieser seiner Welt hatte Paul keinen Platz mehr, weder als Freund noch als der Eindringling, der er jetzt war. Dies war die Wirklichkeit, keine klischeehafte Reportage. Nichts und niemand hatte das Recht, in das von ihm geschaffene Universum vorzustoen. Er hatte niemanden eingeladen, wrde es nie und selbst wenn, dann wre Wagner der Letzte.

Eine Verkuferin machte sich im Hintergrund des Ladens zu schaffen, um die Waren fr Sina zusammenzusuchen, und der Reporter hatte den Eindruck, die Zeit wrde pltzlich stehen bleiben, so wie Georg Sina, unvermittelt und scheinbar fr immer. Der Wissenschaftler rhrte sich nicht, stand da wie zu Stein erstarrt.

Paul fragte sich, ob Sina ihn berhaupt wahrgenommen hatte.

Ich wei, dass du mich nicht sehen willst, setzte der Reporter leise an, wie zu sich selbst sprechend. Du hast dir oft genug gewnscht, ich wre tot, gestorben an ihrer Stelle. Aber das macht sie nicht wieder lebendig, Georg.

Sina schaute ihn zum ersten Mal wirklich an, schaute direkt in seine Augen und Paul erschrak. Sie waren stahlblau und hart, voller Hass und Anklage. Kein Vergeben, kein Verzeihen, nur endloser Vorwurf waren darin zu lesen. Clara war noch immer in Georgs Gedanken und Trumen, lebte fort und stand zwischen ihnen wie eine unberwindbare Wand aus Stahlbeton. Unzerstrbar, glatt und riesig.

Paul verfluchte, dass er berhaupt gekommen war. Was hatte er sich gedacht? Was hatte er erwartet? Drei Jahre Einsamkeit hatten aus Georg Sina einen Monolithen gemacht, steinern und unbeweglich. Hart zu sich selbst und noch hrter zu allen anderen.

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