Exploded View: Johannesburg - Ivan Vladislavić - E-Book

Exploded View: Johannesburg E-Book

Ivan Vladislavić

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Beschreibung

Südafrika: Für viele ein Sehnsuchtsort von magischer Anziehungskraft. Doch seit dem Ende der Apartheid macht das Land eine schwierige Phase durch. Mauern, Stacheldraht und Zäune zerteilen Johannesburg, seine heimliche Hauptstadt. Soziale Differenzen und wild wuchernde Siedlungen sprengen die Metropole, festungsartige Wohnstätten am Freeway improvisieren eine halb fertige Welt. Zu ihrem schärfsten Analytiker und angesehensten Schriftsteller hat sich Ivan Vladislavicć entwickelt. Sein Roman Exploded View gliedert sich in vier lose miteinander verbundene Teile, deren Protagonisten eines gemeinsam haben: Alle vier versuchen ihren Platz im neuen Südafrika zu bestimmen, alle sind Sinnsucher in einem veränderten Koordinatensystem. Mit äußerster Präzision und bestechender Klarheit beschreibt Vladislavic die südafrikanische Lebenswirklichkeit. Seine große Vorliebe gilt dabei der Architektur, an der sich die gesellschaftlichen Umbrüche festmachen lassen. Vladislavicć ist ein Meister des zweiten Blicks, ein Virtuose im Zusammenfügen der Details, die uns den Mechanismus des Ganzen erklären. Entstanden ist ein Monumentalpanorama Südafrikas auf einem sprachlichen Niveau, das seinesgleichen sucht. Der Roman ist eine Tour de Force, die unter die Oberfläche dringt. In grandiosen Sätzen bringt der Autor die Stadt zum Oszillieren: ihre Verheißungen und Abgründe, ihre Tragik und ihren Witz.

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Ivan Vladislavić

Exploded View. Johannesburg

Ivan Vladislavić

EXPLODED VIEW. JOHANNESBURG

Roman in vier Abbildern

Aus dem Englischen von Thomas Brückner

Osburg Verlag

Titel der englischen Originalausgabe:The Exploded View Copyright © 2004 by Ivan Vladislavić

Die Originalausgabe in englischer Sprache erschien bei Random House Südafrika.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e. V.

Dank des Autors:

Ich danke dem Arts and Culture Trust für die Unterstützung meiner Arbeit an diesem Buch.

Erste Auflage 2016© der deutschsprachigen AusgabeOsburg Verlag Hamburg 2016 www.osburgverlag.deAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Lektorat: Ulrich Steinmetzger, HalleUmschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg Satz: Hans-Jürgen Paasch, OesteISBN 978-3-95510-116-9

Für Joachim Schönfeldt

Inhalt

Villa Toscana

Afritude Sauce

Curiouser

Crocodile Lodge

Glossar

VILLA TOSCANA

Ein kleines Fertigteilitalien im veld, liegt Villa Toscana am Hang eines Höhenzugs neben dem Freeway, ruht auf einer Feuerschneise roter Erde wie eine Spielzeugstadt auf einer Picknickdecke. Daneben sieht alles andere wie Fremdkörper aus – die Wellblechdächer der alten Bauernhäuser auf den angrenzenden Flurstücken, die altersschwachen Windmühlen, die Eukalyptusbäume.

Als Budlender auf der N3 daran vorüberfuhr, bildete er sich ein, Iris an einem Fenster der Villa Toscana sehen zu können, wie sie nach ihm Ausschau hielt. Das war sein fünfter Ausflug in die Toskana. Es sollte der letzte werden, ein so kurzer zudem, dass er noch nicht einmal unter eigenem Namen abgeheftet wurde.

Er nahm die Ausfahrt Marlboro Road. Während er an der Ampel hielt, schob ein Straßenhändler einen Vogel in sein Auto, eine Art Handpuppe mit steifem Kamm und einer scharlachroten Zunge, die in der Kehle zuckte. Durch das dehnbare Gewebe konnte er erkennen, wie die Faust des Mannes die Zunge herausschnellen ließ. Ob es eine Schlange war? Er kurbelte das Fenster hoch und starrte wütend zu den Kuriositätenhändlern und ihren Waren hinüber, die an den Straßenrändern und auf den Verkehrsinseln ausgestellt waren: eine Herde Holzgiraffen, groß wie ausgewachsene Männer, Trommeln und Masken, aus Perlen geknüpfte Anstecker, die für Aids-Bewusstsein oder die Staatsflagge warben, Obstschalen und Krawattenständer und Leuchter aus verdrilltem Draht. Kunst und Kunsthandwerk. Trödel. In Johannesburg wurde jede Straßenecke zum Flohmarkt. Anteil der Beschäftigung im informellen Sektor (in Prozent der Gesamtbeschäftigung): 30. Oder höher?

Zwischen den beiden Autoschlangen näherte sich ein Mann mit einem handgeschriebenen Schild, auf dem er um Geld oder Essen bat, ging von einem Autofenster zum nächsten und führte für jeden Fahrer einen kleinen Stepptanz auf. Immer aufs Neue flammte in seinem Gesicht ein Lächeln auf und verglühte. Er glich einem Spielzeug, das man mit einem Kopfschütteln ausschalten konnte. Unten auf seinem Schild war eine Botschaft zu lesen: Bitte fahren Sie vorsichtig.

Budlender drehte den Kopf so, dass sich der Sprung in seiner Windschutzscheibe, eine Sonnenkorona von der Art, wie sie ein Geschoss verursacht, auf den Leib des Straßenhändlers einstellte und ihn in Stücke zerspringen ließ.

Ob er Nigerianer war? Höchste Zeit, die Merkmale zu lernen. Ein Freund aus der Bank hatte ihm eines Abends nach der Arbeit im Baron and Farrier in der Old Joburg Road bei einem Pint einen Crashkurs in Ethnografie gegeben. Tuschelnd hatten Warren und er in einer Nische gesessen, als ob man sich des Themas schämen müsste, und rau aufgelacht, als ihnen bewusst wurde, was sie da taten.

›Kleine Ohren?‹

›Genau. Kleine Ohren, zierlich und eng am Schädel anliegend, wie bei einem Hamster.‹

Und das Ergebnis der Übung? Seit er auf die charakteristischen Merkmale aufmerksam gemacht worden war – eine besondere Kräuselung des Haars oder eine Hautschattierung, die Betonung eines Wangenknochens oder der Kieferpartie, die Wölbung einer Lippe, die Schrägstellung eines Auges, die Größe eines Ohrs –, kam es ihm so vor, als wären überall Nigerianer. Auch Mosambikaner sah er jetzt ständig. Und Somalis. Das alte Stereotyp hatte sich umgekehrt: Für ihn sahen sie jetzt alle unterschiedlich aus. Ausländer, wohin man sah. War es möglich, dass die Fremden den Eingeborenen den Rang abgelaufen hatten? Konnte das sein? Es gab keine belastbare Statistik.

Budlender hatte sich an diesem Punkt seiner Karriere genötigt gesehen, seine Leidenschaft für Statistik, wenn man sie als solche bezeichnen konnte, mit einem professionellen Interesse an Einwanderung zu verbinden. Von der Development Bank zu Statistical Services abgestellt, half er dabei, die Fragebögen für die Volkszählung zu überarbeiten – die 1996 bei der Volkszählung verwendeten, der ersten nichtrassischen Auszählung der Köpfe in der Geschichte des Landes, hatten die halbe Bevölkerung völlig überfordert. Um sicherzustellen, dass die neuen Versionen jedermann verständlich waren, hatten die Verfasser eine Gruppe zu befragender Personen gewonnen, Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund (sie bemühten sich, die alten Kategorien ›Rasse‹ und ›Bevölkerungsgruppe‹ zu vermeiden) und aus jeder Einkommensschicht (auch den Begriffen ›reich‹ und ›arm‹ gingen sie aus dem Weg), wie es in der Anleitung hieß. Seit Monaten fuhr er nun zwischen dem Documents Committee und seinem Anteil des Freiwilligenpools hin und her, stimmte Fragen ab, transportierte überarbeitete Entwürfe durch die Gegend. Immer auf Achse, immer unterwegs.

Es war der Fragebogen, der ihn überhaupt erst in die Toskana geführt hatte.

Johannesburgs Grenzmarken treiben davon, gleiten über uranfängliche Höhenzüge und durch Talsohlen, verweilen in unsicheren Gefilden, entschlüpfen erneut. An den Rändern, dort, wo die Stadt sich für einen Augenblick im Veld verläuft, bilden sich unvorstellbare neue Stimmungsgebilde heraus. Als er zum ersten Mal an den Toren von Villa Toscana vorfuhr, war eine seltsame Erregung über ihn gekommen, eine traumähnliche Mischung aus Vertrautheit und Deplatzierung.

Villa Toscana.

Abheften wollte er alles später. Im Augenblick fühlte er sich wie ein Mensch in einem Film, der sein Gedächtnis verloren hat und zufällig an einen Ort zurückkehrt, den er liebt. In seinem Hinterkopf schwefelten, wie ein hingeworfenes Streichholz kurz vor dem Aufflammen, einige charakterisierende Fakten herum.

Der Architekt hatte der Einfahrt die mittelalterliche Behandlung verordnet. Eisenbahnschwellen unter den Rädern ließen die Zufahrt wie eine Zugbrücke rumpeln, schwer und dunkel sahen die mit Bolzen und Angeln beschlagenen Holztore aus, in die Trockenmauern waren Eisengitter eingelassen. Durch die Schießscharte eines befestigten Wachhäuschens sah ihn ein Wachmann an, der dann, befriedigt darüber, dass er keine unmittelbare Bedrohung darstellte, mit einem Klemmbrett in der Hand herauskam.

Budlender schlug seinen Kalender auf, der auf dem Beifahrersitz lag, um sich des Namens der zu befragenden Person zu vergewissern.

»In welcher Nummer wohnt Miss Iris du Plooy?«

»Unit 24.«

Ein Stift war mit einem Stück Schnur am Klemmbrett befestigt, und an dessen Ende befand sich eine kleine eingravierte Abbildung. Er drehte den Stift, um sie von allen Seiten zu betrachten. Ein dreiköpfiges Tier mit einem Haarwust auf der Schädeldecke, sechs energielosen Augen und drei rosa Nasen. Hündisch. Die Nasen waren Radiergummis.

Er füllte das Formular aus. Name: Iris du Plooy. Diese kieseligen Silben fühlten sich in seinem Mund vertraut an, schmeckten glatt und salzig. Unit: 24. Warum nannten sie die ›Units‹? Name des Unternehmens. Er schrieb Erbsenzähler. Grund des Besuchs: Erbsen zählen. Ein kleines Spiel, das er mit dem Mann vom Sicherheitsgewerbe spielte. Wie weit man es wohl treiben müsste, bis jemand den Bluff auffliegen ließ?

Der Wachmann nahm ihm das Klemmbrett ab und ging um das Auto herum zum Heck des Wagens, um das Nummernschild zu überprüfen. Budlender beobachtete im Rückspiegel, wie er sich mit dem vielköpfigen Hund hinter dem Ohr kratzte und angestrengt etwas schrieb. Vielleicht hatte er den Witz bemerkt. Er schirrte sich die Hosen zurecht und trat wieder ans Wagenfenster.

»Tut mir leid, Sir, Sie haben die falsche Nummer.« Als ob sie miteinander telefonierten.

Scheiße. Die Nummer war auf das neue Provinzsystem umgestellt worden, als das Auto vor einigen Wochen zugelassen worden war. Gauteng Province. Er hatte, ohne nachzudenken, die alte Nummer mit dem T am Ende eingetragen. Aus alter Verbundenheit zum dahingegangenen Transvaal.

»Ich hab’s vergessen. Ich bin erst letzte Woche auf die GP-Schilder umgestiegen.«

»Es ist die falsche Nummer.«

Erwartete man von ihm, dass er die neue hersagte? Einen Augenblick lang fiel ihm nicht ein, wie sie lautete. Dann entdeckte er, dass der Wachmann sie bereits unter der Überschrift ›Vorkommnisse‹ in der Spalte auf der rechten Seite eingetragen hatte.

Gefährliche Zeiten, in denen wir leben, dachte er. Ein kleiner Ausrutscher, ein falscher Strich des Stifts können sich unversehens in ein Vorkommnis verwandeln. Oder verhält es sich genau anders herum? Stimmt es nicht, dass 42 Prozent aller Verkehrstoten Fußgänger sind? Dass 67 Prozent aller Haushaltsunfälle in der Küche geschehen? Dass 83 Prozent der Kindersterblichkeit verhindert werden könnten, wenn die Mütter die Grundregeln der Hygiene befolgten?

»Sie dürfen nicht rein.«

Der Wachmann klang fast ein bisschen kleinlaut. Dennoch bestand kein Zweifel daran, dass er nicht mit sich reden lassen würde.

»Könnten Sie Miss du Plooy für mich anrufen?«

»Ja, Sir.« Er zog sich in die Hütte zurück.

Von den Festungswällen zurückgeschlagen. ›Villa Toscana‹ stand links auf einer lachsfarbenen Wand. Unter jedem gusseisernen Buchstaben ein Roststreifen wie getrocknetes Blut, als hätte sich eine Einbrechertruppe an dem Namen gepfählt. Ob die Verteidiger dieses Stadtstaates siedendes Öl heruntergössen, wenn er sich zu nah heranwagte? Er stieg aus dem Auto und lehnte sich an den Kotflügel. Die Festungsatmosphäre des Ortes löste sich auf. Die Tönungen und Texturen waren auszuhalten, klumpige Holzbalken, pastellfarbener Putz, der kunstvoll abblätterte, gelber Stein. Prinz Eisenherz auf dem Kontinent. Nur die Größenverhältnisse stimmten allesamt nicht. Die Dinge waren entweder zu groß oder zu klein. In der Tür zum Wachhäuschen prangten ein derart großes Schlüsselloch, dass er seine Faust hineinstecken könnte, und genau darunter die Messingscheibe eines althergebrachten und wahrscheinlich funktionstüchtigen Yale-Schlosses. Er fragte sich, ob die aus dem Stein ragenden Balken tatsächlich durch die Mauern gingen. Vielleicht hatte man sie nachträglich angeschraubt. Und möglicherweise befand sich Mörtel in den ›Trockenmauern‹.

Gedankenverloren zog er den Taschenrechner aus der Tasche, drehte ihn in den Fingern, verstaute ihn wieder.

Als Iris du Plooy schließlich wie durch Magie in einem hinter einem Mauervorsprung verborgenen Eingang auftauchte, schloss er aus ihrem feuchten Haar, dass sie unter der Dusche gewesen war. Sie redeten kurz miteinander. Es gab nicht viel zu besprechen, da man sie bereits durch eine E-Mail darüber informiert hatte, was von ihr erwartet wurde. Er übergab ihr den Umschlag mit dem Entwurf des Fragebogens und verabschiedete sich.

Später, als es darum ging, unter der Überschrift Villa Toscana die Fakten dieser Begegnung zu ordnen, versuchte er, sich an den ersten Eindruck zu erinnern, den sie auf ihn gemacht hatte. Es waren nicht so sehr Merkmale als vielmehr Empfindungen oder Stimmungen, die schwerelos wie Dampf in ihm schwebten. Gegensätzliche Eigenschaften, Sanftheit und Kantigkeit, dunkle italienisch-kursive Kräusel an ihren Schläfen, die verschattete Kante einer Mauer, als sie durch die leuchtenden Sonnenbalken kam und ging, die eine Pergola warf, die erst noch von einer struppigen Bougainvillea erobert werden musste. Und als er davonfuhr, der chemische Duft ihres Shampoos.

Er hatte sich schon einmal durch die Art, wie sie von der Welt Besitz ergriff, zu einer Frau hingezogen gefühlt, durch die Art, wie sie Dinge aufhob und wieder ablegte, einen Telefonhörer oder eine Zeitschrift, wie sie einen Schlüssel im Schloss drehte oder die Spitze eines Kugelschreibers herein- oder herausklickte. Iris hatte eigenartige Hände, für seinen Geschmack zu groß und zu knochig, um schön zu sein, aber sie rührten ihn. Er spürte, wie sie von ihm Besitz ergriffen, wie sie grob über seine Oberflächen fuhren, wie sie ihn aufhoben, fallen ließen.

Sein zweiter Besuch in der Toskana trug die Überschrift Hände.

Er war gekommen, um ihre Stellungnahme zum Volkszählungsfragebogen mit ihr durchzugehen. Diesmal ließ ihn der Wachmann sofort durch. Zu seiner Überraschung öffneten sich die riesigen Holztore nicht nach innen. Stattdessen rumpelte das Tor – es stellte sich heraus, dass es aus einem Stück bestand – auf Knopfdruck mit Angeln und allem in einen Schlitz im Stein. Hinweisschilder aus Keramikfliesen wiesen den Weg zu Unit 24. Er rollte die Via Veneto entlang, er durchfuhr einen Kreisverkehr namens Piazza de Siena, er kam am Abzweig zum Monte Aperto vorbei. Unit 17, Unit 21, Unit 24. Sie wartete draußen auf ihn, am Fuß einer steilen, schmalen Treppe, und nachdem er das Auto geparkt hatte, folgte er ihr die Stufen hinauf zu ihrer Wohnung. Bögen mit Schildern wiesen auf beiden Seiten den Weg zu Unit 23 und 25, Laternen aus unbeschichtetem Eisen mit blasigem gelbem Glas standen da und in den Blumenkästen tummelten sich alberne Mengen Mohnblumen. Im Glas des Küchenfensters entdeckte er das Malereimotiv einer Sonnenblume und dahinter, in einer blauen Vase auf dem Fensterbrett über dem Ausguss, eine weitere Sonnenblume wie ein ungewiss leuchtendes und solides Echo, die sowohl echt oder aber aus Seide beziehungsweise Papier hergestellt sein konnte.

Sie setzte ihn ins Wohnzimmer und ging Kaffee kochen. Die Zimmer in Villa Toscana waren klein, quadratisch und weiß. Die Möbel, sparsam und spillrig, schienen zu groß. Er hatte das verstörende Gefühl, auf der Seite eines Buches gelandet zu sein, in einem dieser Bilderbücher, die für Erwachsene interessanter waren als für die Kinder, für die sie ursprünglich geschrieben wurden. Alles Gefühl für Proportion war ihm abhandengekommen. Er stand auf, erwartete beinahe, sich bücken zu müssen, und hob die Hand über den Kopf, maß den Abstand zwischen seinen ausgestreckten Fingerspitzen und der Zimmerdecke. Mindestens ein Meter. Möglich, dass es da städtische Vorschriften gab. Warum kam sie ihm so niedrig vor?

Sie brachte den Kaffee in weißen Bechern mit blauen Streifen und setzte sich neben ihn auf das weiße Sofa. Um eine Unterhaltung zu beginnen, wollte er sie nach etwas Persönlichem fragen, aber sie wollte mit der Arbeit anfangen und schob ihren Becher ans äußerste Ende des Couchtisches. Er rutschte nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Knie. Sie schlug den Fragebogen auf der Glastischplatte auf und strich ihn mit der Handfläche glatt, dann schob sie ihn zu ihm hinüber. Sie hielt die Finger der rechten Hand gespreizt, um das Papier flach zu drücken. Mit dem Mittelfinger der Linken – ihm fiel auf, dass sie nicht den Zeigefinger benutzte – fuhr sie eine Druckzeile entlang.

»Mr. Budlender …«

»Bitte nennen Sie mich Les.«

»Les. Der größte Teil der ersten Seite ist in Ordnung. Name, Anschrift, Postleitzahl, das ist alles ganz klar. Aber das hier mit den Babys, die vor Mitternacht zur Welt kommen und den Leuten, die nach Mitternacht sterben?«

Ihre Hände waren groß und lang, fast schon knochig, die Fingernägel breit und flach und an den Enden leicht gekrümmt. Sie sollten lackiert sein, dachte er. Warum lackiert sie sie nicht? Er war sich ihrer knochigen Substanz überaus bewusst. Sie erinnerten ihn an den Meeresstrand, an die durchscheinenden Überreste bleicher Kreaturen, so fein geformt wie Plastik.

»Nehmen wir an, ich übernachte im Haus meiner Schwester.«

Er konzentrierte sich auf den Fragebogen. »Wenn Sie am nächsten Morgen nach Hause kommen … Es steht hier irgendwo. ›Haushaltsangehörige, die über Nacht nicht anwesend sind‹, blablabla.«

»Das ist nicht richtig eindeutig.«

Ihr kleiner Finger, eingeklappt, damit die Spitze nicht auf dem Papier ruhte, schien sich von der scharf umrissenen Kante des Papiers fortzuwinden.

»Das ist die entscheidende Stelle. ›Die Volkszählung erfasst die Situation zu Mitternacht vom 9. auf den 10. Oktober.‹«

Mit weicher, runder Schrift, die im Widerspruch zu ihrer kantigen Erscheinung stand, hatte sie an den Rand geschrieben. Ihr Knie war eine Handbreit von seinem entfernt.

Als er ging, fiel ihm beim Blick durch die Küchentür wieder die Sonnenblume auf. Er stellte sich eine Unterhaltung vor, einen beschwingten Austausch, in dessen Verlauf er eine Bemerkung über die Sonnenblume fallen ließ und sie ihn aufforderte, ein Blütenblatt zwischen Daumen und Zeigefinger zu reiben, um festzustellen, ob sie echt war oder vielleicht auch unecht, und dann lehnten sie an den melaminbeschichteten Schränken und schwatzten unbeschwert, lachten.

Er nahm die N1 Richtung Pretoria und fuhr am Star Stop Egoli raus. Im Restaurant, in dem er in letzter Zeit mehrmals eine Pause eingelegt hatte, um seine Routen zu planen und ein oder zwei Stunden totzuschlagen, wurde ein überraschend guter Kaffee serviert. Im Gegensatz zu Iris arbeiteten die meisten Leute auf seiner Liste tagsüber und hatten erst nach der Arbeit für ihn Zeit. Als Nächster stand Johnny Constantinou aus Olifantsfontein auf der Liste, und der war erst ab fünf zu Hause.

Das Restaurant im Star Stop spannte sich über den Freeway. Er fand einen Tisch am Fenster, das nach Süden ging, sodass er die Autos auf sich zurasen sehen konnte. Er nahm die Tageszeitung und das Witwatersrand Map Studio aus seiner Aktentasche und schlug beide auf der Tischplatte auf, doch das waren nur Requisiten, Blickfänger für den Fall, dass ein Fremder sich ihm gegenüber setzte und ihn aufschreckte. Nach einem flüchtigen Blick auf die Überschriften schob er die Zeitung beiseite. Er war in träumerischer Stimmung. Er verrückte den Stuhl und sah direkt auf den Verkehr hinunter.

Es war ein Hochsitz, wie geschaffen für einen Statistiker: Wie ein Junge, der Haken und Schnur von einer Brücke herabbaumeln lässt, schwebte er über einem großen demografischen Fluss und wartete darauf, dass der Verkehr zur Stoßzeit dichter wurde. Sein Blick erfasste den Verkehrsstrom, isolierte einzelne Teile, ruhte auf Größen und Formen und Schattierungen. Farben wuschen durch die Fahrzeugindustrie, wechselten so sicher wie das Laub mit den Jahreszeiten, und die Wellen kräuselten immer noch die Oberfläche dieses Stroms. Eine Minute lang zählte er die schwarzen Autos, rechnete die Summe anschließend zum Stundenmittel hoch. Er zählte die Fahrerinnen, machte den Überschlag. Autos für Männer, Autos für Frauen. Flüsse, bestehend aus Fahrern. Er hörte auf zu zählen und ließ seinen Blick über die Trends tanzen: Dachträger (für Gepäck, Fahrräder, Kajaks), Kuhfänger, Anhänger, Überrollbügel, bakkies, Allradfahrzeuge. Ganze Lebensweisen nahm sein geübter Blick wahr, aufgelöst im Fluss wie ein störendes Additiv, wie statistisches Fluorid. Firmenfahrzeuge, Familienwagen, neue Autos, alte. Die Leute sagten ständig: ›In Joburg sieht man kaum alte Autos auf der Straße. Sieh dich an einer beliebigen Kreuzung um, nur Mercs und BMs. Wo haben die Leute das Geld her?‹ Gleichzeitig aber sagten dieselben Leute: ›In Joburg fällt jedes zweite Auto auseinander und rast trotzdem durch die Gegend wie ein geölter Blitz. KeinWunder, dass die Unfallquote in den Himmel schießt.‹ Waren nun neue oder alte Autos auf den Straßen? Darin steckte eine Lehre, die nur ein Statistiker begreifen zu können schien: Sobald man auf das achtete, was die Leute redeten, verlor man aus dem Blickfeld, was tatsächlich vor sich ging. So wie er gerade absichtlich das Ganze aus dem Blickfeld verlor und einzelnen Fahrzeugen gestattete, sich wieder in einem Bewegungsstrom aufzulösen, während seine Gedanken zu den Verkaufszahlen der Fahrzeugindustrie im zurückliegenden Quartal schweiften, zum Ausstoß an Treibhausgasen, zu Sicherheitsabständen und tödlichen Unfällen. Volle neunzig Prozent der in Auffahrunfälle verwickelten Autos ignorierten den empfohlenen Sicherheitsabstand. Axiomatisch: Hätten sie den Abstand eingehalten, wäre es nicht zum Unfall gekommen. Was haben diese Leute? Sie behandeln die Verkehrsregeln als Empfehlungen, deren Grenzen dazu da sind, dass man sie ausreizt. Sie spielen mit ihrem Leben. Ändern die auf den Teer gemalten Pfeile etwas daran? Kleine Pfeilflecken auf der Straßenoberfläche und ein Schild am Rand: Immer drei Pfeile Abstand. Ein Experiment. Kontrolliert jemand die Ergebnisse? Deckt die Trends auf? Wie verhält sich die Unfallquote auf Straßen mit Pfeilen zur Unfallquote auf Straßen ohne? Wenn es funktioniert, sollten sie sie auch an anderen Stellen aufmalen. Klar, wenn sie es dabei übertrieben, gewöhnten sich die Leute daran, wie sie sich an die Markierungen zur Geschwindigkeitsbegrenzung gewöhnt hatten, und die Pfeile verlören ihre Wirkung. Man muss ein Gleichgewicht herstellen.

»Michael? Butch. Wie geht’s? Gut, echt gut, Mann. Pass auf, Mike, die Lieferung, über die wir geredet haben?«

Budlender richtete seinen Blick auf Butch, einen zerzausten Geschäftsmann in Hemdsärmeln mit auffällig gemusterten Hosenträgern (eine Eigenart, die er sich bei Larry King abgeschaut haben mochte), mit einem Stapel Papiere in der einen, einem Stift in der anderen Hand und einem Mobiltelefon, das er mit der hochgezogenen Schulter ans Ohr drückte. Zwischen zwei Tischen eingezwängt, stand er am Fenster und sah auf den Verkehr hinunter, als erwartete er, dass Mike jeden Augenblick unten vorüberfuhr. Bereit zum Winken.

Lediglich 35 Prozent der Südafrikaner besitzen einen Festnetzanschluss. Andererseits gibt es im Land viereinhalb Millionen Mobiltelefone. Es gibt mehr Mobiltelefone als Kühlschränke.

Budlender rief die Kellnerin heran, damit sie ihm nachschenkte, und bestellte ein Stück Zitronen-Baiser-Torte. Während er am Kaffee nippte, ging er die Liste der zu Befragenden durch, die er im Laufe des Abends noch besuchen musste. Nach Constantinou noch drei: Martha Masemola in The Reeds, das würde er im Stadtplan heraussuchen müssen; Eleanor Williams in Vorna Valley Extension 5, ebenfalls; Jimmy Dijkstra in Glen Marais. Dort raus würde er dreißig Minuten brauchen. Den hätte jemand anderes aus dem Documents Committee übernehmen sollen. Wohnte Stephenson nicht in dieser Richtung? Dann grübelte er mit weit größerem Interesse als nötig oder angebracht über Iris du Plooys persönliche Angaben. Ihr zweiter Vorname lautete Annabelle. Sie war achtundzwanzig Jahre alt. Sie war – wahrscheinlich in der Reihenfolge ihrer Vorlieben – Schauspielerin, Model und Ansagerin bei Channel One. Deswegen also kam ihm der Name so bekannt vor. Vielleicht hatte er sie schon gesehen?

Es war nach zehn, als Jimmy Dijkstra ihm über den Summer das Tor zur Ausfahrt in Glen Marais öffnete. Mit Dijkstra, einem Bauingenieur, den Fragebogen durchzugehen, war ein Geduldsspiel gewesen. Er erwies sich als bemerkenswert stur, weigerte sich, Dinge zu verstehen, selbst wenn sie ihm schon fünf Mal erklärt worden waren. Ist der Mann blöde?, fragte sich Budlender. Oder starrköpfig? Oder einfach nur einsam? Er kannte die Zeichen dafür, dass ein Mann allein lebte. Es war nicht so sehr das Fehlen einer weiblichen Note als vielmehr deren völlige Ausgrenzung. Eine Schale mit Obst auf dem Tisch im Flur, ein leerer Kühlschrank, ein Ausguss mit schmutzigem Geschirr, eine gebügelte Hose über einer Stuhllehne im Esszimmer, Laufschuhe und ungeöffnete Rechnungen auf dem Teppich vor dem Fernseher. Man wusste nach dem ersten Blick auf die absonderliche Verteilung von Ordnung und Chaos, dass die Putzfrau die einzige Frau im Haus war.

Er bog auf die R562 ein und fuhr Richtung Freeway. Ihm war danach, durchzutreten – um diese Zeit gab es nie Radarfallen –, aber ein Minibus kroch vor ihm den Anstieg hinauf und er konnte nicht überholen. Er ließ sich zurückfallen und schaltete sein Fernlicht ein. Das Taxi schlingerte so sehr, dass es den Anschein hatte, als könnte es jeden Augenblick umkippen. Entweder waren die Stoßdämpfer hinüber oder die Ladung war verrutscht. Auf dem Dachgepäckträger stapelten sich Pappkartons, ein Koffer, eine Schubkarre, etwas in schwarze Plastik Eingewickeltes. Eine Jalousie, auf der in gotischen Buchstaben ›Born to Run‹ gedruckt stand, war hinter der Heckscheibe heruntergezogen worden.

Dann ging ein Blinker an, das Taxi wurde noch langsamer und schaukelte nach links hinüber. Als Budlender sich vorbeischob, schoss ein Stein vom Asphalt hoch, schlug gegen seine Windschutzscheibe, prallte ab und hinterließ einen Sprung von der Größe einer menschlichen Hand.

Obwohl er vor dem Einschlag zurückzuckte und bevor er noch sah, wie das Taxi in eine Seitenstraße hineinschlingerte und die Scheinwerfer die Hütten ringsum beleuchteten, wurde Budlender klar, wo er sich befand. Hier war im vergangenen Jahr eine illegale Siedlung auf dem offenen Veld zwischen dieser Straße und dem Freeway entstanden, direkt gegenüber der neuen Wohnsiedlung. Er wusste nicht im Mindesten, wie die eine oder die andere hießen, hatte sie aber oft genug vom Freeway aus gesehen, von einer Smogglocke überwölbt, die keinen Unterschied zwischen der legalen und der illegalen Siedlung machte, und er war bereits früher am Abend zwischen diesen beiden Zonen hindurchgefahren, einer Anordnung kleiner RDP-Häuser auf der einen Seite und einer wirren Ansammlung von Hütten aus Wellblech und Pappe auf der anderen. Irgendwo auf diesem Feld aus Schlamm und Rost war ihm einmal ein leuchtendes Schild mit der Aufschrift Vodacom aufgefallen, das ein findiger Bauherr zur Wand seines Hauses gemacht hatte. Es gab nur eine Zufahrt, und das war die Stelle, an der das Taxi abgebogen war. Er konnte ihm da hinein nicht folgen. Aber er bremste trotzdem mit einem Fluch, als ob sich etwas tun, ein Beweis liefern ließe, und lenkte auf den Schotter hinüber. Er hätte wohl ganz und gar angehalten, aber irgendetwas trieb in den Leuchtkegel seiner Scheinwerfer: der Schlauch eines Traktorreifens, ein riesiger schwarzer Gummi-Krapfen, und ein Mann, der darin ruhte, den Kopf zurückgeworfen, die Arme und Beine über den Rand baumelnd. Er schwamm dort in den spitzen, jungen Sprösslingen auf einem geschwärzten Saum Veld, ließ die Finger durch die Asche verbrannten Grases gleiten wie jemand, der in einem Swimmingpool dümpelt. Die Scheinwerfer schienen ihn aus einem seichten Schlaf geweckt zu haben, er setzte sich im buckelnden Gummi auf, bog den Rücken zurück, reckte seinen robbenglatten Bauch in die Luft und hob die rechte Hand zu einer grüßenden oder warnenden Geste. Budlender nahm den Fuß von der Bremse und rollte im Leerlauf weiter, während der nackte Mann am Fenster vorbeiglitt, benommen lächelte, winkte und hinter dem Auto in die Dunkelheit zurückgezogen wurde. Durch das Heckfenster sah er, wie der Mann für einen Augenblick ins grellrote Licht der Rückstrahler getaucht wurde, sich im Schlauch wand und den Hals reckte, als wollte er ihm in die Augen sehen. Dann gab der Schlauch nach und er purzelte heraus. Budlender legte den Gang ein und beschleunigte, steuerte auf den Asphalt zurück, und die Szenerie im Rückspiegel wurde in eine Gischt aus Staub gehüllt.