Schlagabtausch - Ivan Vladislavić - E-Book

Schlagabtausch E-Book

Ivan Vladislavić

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Beschreibung

Kann eine Geschichte jemals zwei Menschen gleichermaßen gehören? Ivan Vladislavić erzählt von Liebe und Konkurrenz zwischen den Brüdern Joe und Branko, ihrem Aufwachsen während der Apartheid, den Ursprüngen von Passionen und Illusionen. Im Sommer 1971 begeistert sich der zwölfjährige Joe für den größten Sportler aller Zeiten und entwickelt eine Sammelwut, die nur nachempfinden kann, wer selbst einmal ein echter Fan war. Er trägt alles über das Ausnahmetalent Cassius Clay alias Muhammad Ali zusammen. Für diese Obsession hat Joes älterer Bruder Branko kein Verständnis: Der Kleine ist weder sportlich begabt noch sonst besonders lebenstüchtig – verschlingt dafür aber fünf Bücher pro Tag. Vierzig Jahre später bittet Joe seinen Bruder, sich die alten Notizbücher voller Zeitungsartikel noch einmal gemeinsam vorzunehmen. Es beginnt eine Detektivarbeit, die die Familiengeschichte im Südafrika der siebziger Jahre ebenso rekonstruiert wie die unzähligen Legenden, die sich um Muhammad Ali ranken. Ali, der das Sportmarketing und das Spiel mit den Medien quasi erfindet, der Boxer, der dichtet, provoziert und sich als "Black Muslim" engagiert – Vladislavić schreibt eine Hommage an den großen, bis heute wirkmächtigen Dissidenten des Sports und einen Roman über die Liebe zweier ungleicher Brüder und die trügerische Erinnerung an die entscheidenden Jahre.

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Seitenzahl: 390

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Die südafrikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel The Distance bei UMUZI, Penguin Random House in Kapstadt, Südafrika.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.

E-Book-Ausgabe 2020

© 2019 by Ivan Vladislavić

© 2020 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin www.wagenbach.de

Covergestaltung Julie August unter Verwendung zweier Fotografien © Circa Images / Bridgeman Images; Granger / Bridgeman Images. Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142726

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3320 5

www.wagenbach.de

Für Dave Edwards

1Der Kampf des Jahrhunderts

Der Oberbefehlshaber der südvietnamesischen Streitkräfte in Laos teilte heute mit, dass seine Truppen drei der wichtigsten Kreuzungen des Ho-Chi-Minh-Pfades eingenommen hätten und kurz davorstünden, zwei Ziele ihrer Offensive zu erreichen – nordvietnamesische Stützpunkte zu zerstören und deren Nachschublinien abzuschneiden.

Pretoria News, März 1971

Joe

Im Sommer 1971 verfiel ich Muhammad Ali. Diese Liebe, diese tiefe, bedingungslose Hingabe, die man Heldenverehrung nennt, wurde nahezu postwendend auf die Probe gestellt, als Ali im Madison Square Garden die erste Niederlage seiner Profikarriere hinnehmen musste und nach Punkten gegen Joe Frazier verlor. Als Junge in einem Vorort von Pretoria, in der gefühlstoten Hoch-Zeit der Apartheid, war ich so weit vom Ring entfernt, wie man nur irgend sein konnte. Zumindest empfand ich es so. Die National Party befand sich seit über zwei Jahrzehnten an der Macht. Die ersten demokratischen Wahlen in Südafrika lagen noch ebenso viele Jahre entfernt in einer unvorstellbaren Zukunft.

Es muss der unvergleichliche Rummel um den Kampf Ali gegen Frazier gewesen sein, der mich, wie so viele andere, die sich bisher nicht für das Boxen interessiert hatten, zum Fan machte. Der ›Kampf des Jahrhunderts‹ gehörte zu den ersten globalen Sportspektakeln, ein Wettkampf im Stile Hollywoods, der wie kein anderes Sportereignis zuvor die Einbildungskraft der Öffentlichkeit erregte. Solly Jasven zufolge war er im Sinne eines Tanzes ums Goldene Kalb für das Wall Street Journal ebenso wichtig wie für die Zeitschrift Ring.

Ich weiß nicht, was ich vor dem Kampf des Jahrhunderts von Ali hielt. Ich komme aber aus einer Zeitung lesenden Familie und blätterte schon seit meiner Grundschulzeit die Tagespresse durch, muss also dabei auf ihn gestoßen sein. Nicht nur auf den Sportseiten. Die World Boxing Association und die New York State Athletic Commission hatten ihm im März 1967 seinen Weltmeistertitel im Schwergewicht aberkannt, weil er sich geweigert hatte, in der US-Armee zu dienen. Das wurde in Südafrika ausführlich berichtet, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, welchen Eindruck das auf mein neunjähriges Ich machte.

Ali war nicht faul in den mehr als drei Jahren, in denen er nicht im Ring stand: Er begab sich auf Tour durch Vortragssäle und Talkshows, tauchte in Werbekampagnen auf und spielte sogar in einem kurzlebigen Broadway-Musical mit dem Titel Buck White. Kurz: Er unternahm alles, was sämtliche Prominente heutzutage ganz selbstverständlich tun, um ihre Namen und Gesichter im Rampenlicht zu halten und ihre ›Marken‹ zu entwickeln. Er wechselte vom Boxring zum Affenzirkus der Komplimente und Gastauftritte. Außerdem sprach er in Moscheen und unterstützte die Forderungen der Black Muslims. Unabhängig davon, welche dieser Aktivitäten ernst gemeint waren: In der Ferne Südafrikas war von alldem nur wenig zu spüren.

1970, ich war mittlerweile zwölf, gab ein Bundesgericht Ali die Boxlizenz zurück. Der erste Kampf seines Comebacks fand in Atlanta gegen Jerry Quarry statt. Er gewann durch technischen K. o. in der dritten Runde. Sechs Wochen später schlug er Oscar Bonavena und qualifizierte sich damit für den Titelkampf gegen Frazier im März des darauffolgenden Jahres. Frazier hatte ihm diesen Kampf für den Fall versprochen, dass er jemals seine Boxlizenz zurückerhalten sollte.

Fernsehen gab es damals in Südafrika nicht, die Nachrichten entnahmen wir dem Radio und den Zeitungen. Der Kampf des Jahrhunderts löste eine wahre Berichterstattungsflut in der Presse aus. Dad hatte die Tageszeitung Pretoria News und zwei Wochenzeitungen, die Sunday Times und den Sunday Express, abonniert. Das waren folglich meine wesentlichen Informationsquellen. Im Vorfeld des Kampfes begann ich Zeitungsausschnitte zu sammeln, und in den folgenden fünf Jahren hob ich alles über Ali auf, dessen ich habhaft werden konnte, schnitt Hunderte Artikel aus und klebte sie in Alben. Während ich dies schreibe, vierzig Jahre später, liegen diese Bücher auf einem Tapeziertisch neben meinem Schreibtisch ausgebreitet. Ich will auch gestehen: Ich schreibe dies überhaupt nur, weil es die Alben gibt.

Drei Eclipse-Zeichenbücher mit Transparentpapier zwischen den Seiten bilden das Kernstück meines Archivs. Diese Bücher haben nackte Pappeinbände mit aufgedrucktem Eclipse-Logo. Daneben steht das obligatorisch zweisprachige ›drawing book‹ und ›tekenboek‹. Jeden Einband ziert ein handgezeichneter Titel in der Mitte: ALI I, ALI II und ALi III. Das Zeitungspapier ist tabakbraun und brüchig. Während ich es zwischen den Fingern reibe, mache ich mir bewusst, dass es sich bei dem Jungen, der diese Berichte als Erster las, und mir um ein und dieselbe Person handelt.

Branko

Ich bin der Sportsmann der Familie! Mein Bruder Joe kickt ganz gern mal mit dem Fußball im Hof hinterm Haus, aber wenn ich ihn rufe, damit er sich ins Tor stellt, weil ich meine Elfmeter üben will, dann hat er die Nase immer in ein Buch gesteckt. Jetzt ist er auf einmal Boxfan. Nicht, dass ich selbst viele Boxkämpfe gesehen hätte. Ich war mit Kelvin, meinem Cousin, bei einigen Golden-Gloves-Turnieren im Berea Park. Dort stellen sie vor der Haupttribüne immer einen Boxring auf das Cricketfeld. Das rofstoei in der Pretoria City Hall gefällt uns aber besser.

Das Gute am Wrestling ist, dass die Regeln einfach sind. Wenn Jan Wilkens mit von der Partie ist, weiß man, dass er gewinnen wird. Er ist ein hünenhafter Afrikaaner und außerdem südafrikanischer Meister. Kelvin feuert immer Wilkens an. Mein Favorit ist Rio Rivers. Er gewinnt nicht oft, aber er liefert einen guten Kampf ab. Letztes Mal, als mein Cousin und ich zum Wrestling wollten, bestand Dad darauf, dass wir Joe und Rollie – das ist Kelvins kleiner Bruder – mitnehmen. Es war eine Katastrophe. Joe fing tatsächlich an, Sammy Cohen anzufeuern. Sammy ist ein Berg Wabbelspeck in schwarzem Trikotanzug. Er sieht aus, als hätte er drei Tage nicht geschlafen. Und er verliert immer. Das ist die Rolle, die er zu spielen hat. Und Joe versteht das Prinzip nicht: Man feuert nicht die Penner an.

Und jetzt das mit Ali. Hat ihn angesteckt wie die Masern. Das Boxvirus geht um. Wegen dieses bevorstehenden Kampfes zwischen Ali und Joe Frazier. Ich halte es selbstredend mit Smokin’ Joe. Ich wäre sowieso auf seiner Seite, doch die Tatsache, dass sich mein kleiner Bruder für die andere Ringecke entschieden hat, macht es noch verlockender. Wieder mal eine Gelegenheit, ihn ordentlich zu piesacken.

Joe Frazier wird Cassius Clay eine Boxlehrstunde erteilen, sagt Dad. Er wird dem Großmaul siebenmal die Scheiße aus dem Leib prügeln.

Achtmal, sage ich.

Und Mom sagt: Vorsicht! Keine Ausdrücke! Dabei ist acht bloß eine Zahl.

Der Name Muhammad Ali kommt Dad nicht über die Lippen. Nur über meine Leiche! Bei ihm heißt er immer nur Cassius Clay. Das treibt meinem Bruder Wuttränen in die Augen. Manchmal geht er dann raus in den Garten und zertrümmert hinter der Gesindehütte Tomatenkisten mit einem Bleirohr.

Der Sport ist meine Sache, und er soll sich da raushalten. Ich will irgendwann die Tour de France gewinnen. Ich habe zwar Straßenrennen lieber, aber ich mache auch die Querfeldein-Saison mit, um mich fit zu halten. Radsport ist nicht besonders populär. Wenn wir Glück haben, kommen Freitagabend fünfzig oder sechzig Radfahrer zum Pilditch-Track in Pretoria West, zumeist Ältere, und eine Handvoll von uns Jüngeren im Schulalter. Halbwüchsige nennen sie uns. Ein dämlicher Begriff, den man auf sich selbst nie anwenden würde. Die Tribünen bleiben weitgehend leer: Die Frauen und Freundinnen und Mütter hocken in Grüppchen in ein paar Reihen zusammen, mit Häkeldecken über den Knien. Zehn Reihen dahinter sitzt Joe allein unter dem eisigen Wellblechdach, eine Strickmütze mit riesiger Bommel auf dem Kopf. Er wäre lieber zuhause, aber Dad sagt: Jungs, ihr müsst zusammenhalten. Wenn der Starter seine Pistole abfeuert oder der Zeitnehmer die Glocke für die letzte Runde läutet, tut er so, als sähe er zu. Das Den-Letzten-beißen-die-Hunde-Rennen interessiert ihn nur halbwegs und höchstens wegen des Namens. Meistens liest er ein Buch, das er dabeihat, die Canterbury Tales oder David Copperfield, und müht sich mit seinen schwarzen Lederhandschuhen beim Umblättern ab. Die riesige Bommel, die größte, die Mom je gemacht hat, schwebt wie ein Verhängnis über seinem Kopf.

Als ich ins Bett gehe, erwische ich ihn beim Schattenboxen. Er sollte eigentlich schon schlafen, aber er hat die Schreibtischlampe so gedreht, dass sie einen Schatten auf die Wand neben dem Fenster wirft. Wippen und weben, erklärt er.

Klar, antworte ich, schwebst wie ’ne Hummel.

Joe

Auf dem Einband des ersten Albums – ein Buch der Bruchstücke, über Bruchstücke – hatte ich in aufrechten Großbuchstaben das Wort ALI mit doppelseitigem rotem Isolierband aus Vaters Garagenwerkstatt ausbuchstabiert. Nachdem das Isolierband eingetrocknet und abgefallen war wie alter Schorf, blieb ein zarter Schatten des Namens auf dem Karton zurück, und ich zog jeden Buchstaben mit schwarzem Filzstift nach, um seinen Umriss wiederherzustellen. Die Ziffer hinter dem Namen muss ich hinzugefügt haben, als der wachsende Umfang der Zeitungsausschnitte ein zweites Album erforderte.

Der erste Zeitungsausschnitt in ALI I trägt die rote Überschrift ›Der Kampf des Jahrhunderts‹. Er erschien am Tag vor dem Kampf. Wie die meisten Artikel ist auch dieser nicht annotiert, geht man jedoch von Schrifttype und Layout aus, so muss er aus der Sunday Times stammen.

Es handelt sich um eine überfüllte, unruhige A3-Seite. Zeichnungen von Ali und Frazier stehen einander gegenüber und dazwischen finden sich, unter der Überschrift ›Die Kämpfer im Vergleich‹, die statistischen Angaben zu Gewicht, Größe und Reichweite, die Maße von Taille, Oberschenkel, Brustkorb (im Normalzustand und nach dem Einatmen), Faust und Bizeps und, zu guter Letzt, zum Alter. Boxreporter bezeichnen das als ›Die Fabel des Maßbands‹. Darunter sind beider ›Kampfchroniken‹ verzeichnet, und die Karrierehöhepunkte der beiden Boxer ziert jeweils eine Fotografie. Das Bild von Joe Frazier, wie er seinen bis dahin letzten Herausforderer Bob Foster k. o. schlägt, kommt mir unbekannt vor. Aber das andere gehört zu den bekanntesten Bildern der Sportgeschichte: Cassius Clay, der über einem hingestreckten Sonny Liston aufragt, nachdem er ihn in der ersten Runde ihres Rückkampfes im Mai 1965 k. o. geschlagen hat. Clays rechter Unterarm ist vor der Brust abgewinkelt, als ob er immer noch durchschwingt, und er blickt ebenso wütend wie verächtlich auf Liston herab. Diese Haltung macht eindeutig klar, worum es bei einem Boxkampf geht. Ali erzählte später einem Reporter, was er gesagt hatte: Steh auf und kämpfe, du Penner!

Die restliche Seite ist Frazier gewidmet, und seine Auslassungen offenbaren, warum das Interesse an diesem Kampf so groß war. Clay verlor seine Lizenz, weil er sich weigerte, seinen Dienst in der amerikanischen Armee zu leisten. Dafür kann ich kein Verständnis haben. Frazier erzählt David Wright weiter, dass er selbst, gerade fünfzehn geworden, versucht hatte, zu den Marines zu kommen, aber abgelehnt wurde, weil er die IQ-Tests nicht bestand.

Darüber hinaus beschreibt er seine Kindheit als Sohn eines einarmigen Farmpächters in South Carolina, sein Arbeitsleben in einem Schlachtbetrieb in Philadelphia, in dem er mit dem Boxen anfing, um sein Gewicht zu halten, und die Bedeutung der Bibel in seinem Leben. Vor kurzem bin ich beim siebten Kapitel im Buch der Richter hängengeblieben – wo Gideon gegen diese Stämme und alle kämpft. Gideon hatte nur wenige Männer gegen Tausende, aber er gewann den Krieg, weil er den Herrn auf seiner Seite hatte. Genauso empfinde ich, was diesen Kampf gegen Cassius Clay angeht.

›Buch der Richter‹, Kapitel 7, ist eine jener frohen Sinnes brutalen biblischen Episoden, in denen die Gerechten ihre Feinde zerschmettern. Hier gibt der Herr die Midianiter in die Gewalt Israels. Er weist Gideon an, eine ausgesprochen kleine Armee aufzustellen, nicht mehr als dreihundert aus der Mitte der Tausenden. Gideon führt also eine große Anzahl Männer an das Wasser, entlässt jene, die zum Trinken niederknien, und behält nur die bei sich, die das Wasser mit der Zunge auflecken, ›wie ein Hund es tut‹. Diese Männer werden gegen das Lager des Feindes geschickt, ausgerüstet mit Widderhörnern und Fackeln in leeren Krügen, und die Midianiter werden gänzlich zerschmettert. Die Midianiterfürsten Oreb und Seeb werden erschlagen, ihre Köpfe abgetrennt und zu Gideon an das Ufer des Jordan gebracht.

Das ›Buch der Richter‹ produziert ein schiefes Bild, aber wenn man genau hinsieht, gerät Fraziers Abneigung einem Mann gegenüber ins Blickfeld, der dem Christentum zugunsten einer ›fremden Religion‹ abgeschworen und sich geweigert hatte, im Vietnamkrieg zu kämpfen.

In der Woche vor dem Kampf waren Ali und Frazier unter der Überschrift ›Die 5-Millionen-Dollar-Boxer‹ auf der Titelseite des Time-Magazins abgebildet. Der dazugehörige Artikel fasste, auf stundenlangen Interviews mit beiden Boxern beruhend, die Symbolik des Kampfes zusammen: Raffinierte Werbung vor dem Kampf hat folgende Rechnung aufgemacht: Frazier, der gute Staatsbürger, gegen Ali, den Drückeberger und Wehrdienstverweigerer; Frazier, der Champion der Weißen, gegen Ali, die Große Schwarze Hoffnung; Frazier, der schweigsame Einzelgänger, gegen Ali, das unverwüstliche Großmaul; Frazier, der einfache, die Bibel lesende Baptist, gegen Ali, den Parolen speienden Black Muslim.

Am 8. März 1971 füllten 20.000 Menschen den Madison Square Garden bis unters Dach, um sich anzusehen, was zu einem der denkwürdigsten Schwergewichtsboxkämpfe der Geschichte werden sollte. Der Kampf ging über die volle Länge, und alle drei Ringrichter werteten ihn zugunsten Fraziers.

Das ist der schönste Tag in meinem Leben, sagte mein Vater, ausgenommen den Tag, an dem ich eure Mutter heiratete, dem Tag, an dem sie eurer Schwester das Leben schenkte und dem Tag, an dem ich mein erstes Auto kaufte, einen 38er Chev mit Schwiegermuttersitz. Jissie, das war ein hübsches Auto.

Branko

Ich bin ein besserer Taxifahrer, sagt Dad, ich sollte ein Schild aufs Dach setzen.

Es ist Samstagabend, und wir holen Sylvie von einer Session im Skilpadsaal ab. Der Saal wird normalerweise zum Rollschuhlaufen genutzt, aber heute Abend spielt eine Band. Als wir sie vor ein paar Stunden abgesetzt haben, stand ein Junge in einem rosa Hemd rauchend an einer Säule, und sie erklärte: Das ist der Bassgitarrist. Und Dad meinte: Ach was, jeder mampara kann Bassgitarre spielen.

Die Straßen rund um das Messegelände sind alle zugeparkt. Dad findet trotzdem einen Parkplatz gleich neben der Halle. Im Auto sitzen nur wir zwei. Mom ist mit Joe zuhause geblieben.

Dads Vorstellung von Pünktlichkeit beinhaltet, eine halbe Stunde zu früh da zu sein. Deswegen muss er immer warten, und wenn die vereinbarte Zeit herannaht, wird er schnell ungeduldig. Sylvie aber kommt immer zu spät, erst recht bei solchen Sessions. Sie überzieht um fünfzehn oder zwanzig Minuten. So wahr mir Gott helfe, sagt Dad, wenn du mich wieder warten lässt, komme ich rein und zerr dich vom Tanzboden. Sie würde glatt im Boden versinken, so peinlich wäre ihr das. Aber er macht es sowieso nie. Zum einen, weil er unter dem alten Mantel mit dem Hahnentrittmuster, den er sich von seinem ersten Lohn gekauft hat, seinen Schlafanzug trägt. Muss ungefähr gewesen sein, als Moses noch mit Murmeln spielte. Und zweitens, weil Sylvie immer ihren Willen kriegt.

Dad macht sein Fenster einen Spalt weit auf, damit die Scheibe nicht beschlägt, und die Musik aus dem Saal weht durch die kalte Luft zu uns herüber. ›A Whiter Shade of Pale‹. Sie haben mit den langsamen Stücken angefangen. Und das ist in Dads Augen kein gutes Zeichen. Er hat die Zündung angelassen, damit das Parklicht brennt und nicht irgendein Trottel in uns reinfährt. Ein schwaches grünliches Glimmen geht vom Armaturenbrett aus. Wir parken unter einer Platane, und die Straßenlaterne wirft eine Borte blättriger Schatten über die Motorhaube. Wenn hinter uns Autos auftauchen, kriechen außerdem längliche Schatten langsam über das Führerhaus. Ich sollte nicht einschlafen wie ein kleines Kind, aber nach einer Weile fallen mir langsam die Augen zu, und ich atme den tierhaften Duft des Ledersitzes ein, der jedes Mal knarrt, wenn Dad den Fuß bewegt.

Ich muss tatsächlich eingedöst sein, und auf einmal steht Sylvie am Seitenfenster. Sie ist zehn Minuten zu früh dran und hat ihre Freundin Glenda im Schlepptau. Ungeachtet des Wetters tragen beide Bolero-Tops. Es ist ein alter Trick: Sie will noch ein bisschen länger bleiben, und die Freundin ist dabei, damit es für Dad schwerer wird, nein zu sagen. Dadman, sagt sie, jedermann tanzt noch. Wer ist dieser Jedermann?, fragt er. Ich würde ihn gern kennenlernen. Letzten Endes aber sagt er immer ja. Sie ist seine Prinzessin.

Glenda hat Gänsehaut auf den Armen. Vielleicht werden wir sie hinterher vor ihrem Haus in Valhalla absetzen.

Dad beklagt sich über die Fahrerei, aber es gibt nichts, was er lieber tut. Wenn wir sonntags aus der Kirche kommen, sagt er zum Beispiel: Ich glaube, es ist höchste Zeit nachzusehen, ob die Fische beißen. Das heißt, dass wir zum Hartebeespoort Dam oder nach Bon Accord fahren, vielleicht sogar die ganze lange Strecke bis zu Pienaars River oder zum Loskop. Als junger Mann ist Dad oft angeln gewesen, und die Stauseen sind die Wahrzeichen seines Lebens. Uns andere langweilen diese Orte. Wir wollen lieber nach Bapsfontein oder Fountains, aber Dad kriegt nie genug von den Seen. Er ist gern am Wasser, obwohl er nicht gern hineingeht, sondern lieber zusieht, wie die Leute in Motorbooten herumkutschieren oder die Angel auswerfen. Mom nimmt die Fahrerei hin, weil sie dabei stricken kann. Nach Pienaars und zurück, und sie hat das Vorderteil einer Jacke fertig.

Bon Accord hört sich großartig an, ist aber bloß eine Sickergrube voll schlammigen Wassers inmitten eines Durcheinanders ausgefahrener Straßen und Gestrüpps. Einen Campingplatz gibt es dort nicht. Die Leute schlagen sich unter den Dornenbäumen Plätze frei, auf denen sie ihre Zelte auftakeln. Der ganze Ort stinkt nach Matsch und unglücklichem Fisch. Wir holpern über die Fahrwege, von einer Angelstelle zur nächsten. Wir suchen das Ufer, an dem Dad und Uncle Arthur an den Wochenenden immer ihr Zelt aufgeschlagen haben. Das war, bevor sie beide heirateten.

Mom und Sylvie warten im Auto, während wir auf Erkundungstour gehen. Dad läuft voran, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Unten sitzt ein Angler auf einem Campingstuhl, und er wird eine Unterhaltung über Ruten und Rollen anfangen. Joe und ich gehen in die andere Richtung. Wir heben alte Köder auf, stinkende Klumpen aus Karpfen und mieliepap, die um rostige Haken gepappt sind, verheddern uns mit den Füßen in Knäueln blaugrüner Angelsehne, die aussehen wie die Haarbüschel, die Sylvie aus ihrer Bürste zieht und auf dem Waschbeckenrand liegen lässt.

Als wir zurückkommen, herrscht Aufregung. Irgendein Trottel ist mit seinem Studebaker im Schlamm steckengeblieben, als er mit dem Bootsanhänger ans Wasser zurücksetzen wollte.

Dad besteht darauf, dass wir zu Hilfe eilen. Ich habe meine neuen Laufschuhe mit den roten und blauen Streifen an der Seite an und will sie ausziehen, bevor ich in die Untiefen hineinwate, aber Dad erlaubt es nicht. Du trittst womöglich auf einen Haken oder so, sagt er. Dann kriegst du Wundstarrkrampf wie Uncle Franjo. Jetzt mach hin und schieb!

Sind doch bloß tackies, meint Joe. Jeder normale Mensch weiß, dass zwischen Tackies und Laufschuhen ein Unterschied besteht. Er selbst hat seine alten Flipflops an.

Der Fahrer des Studebakers lässt den Motor aufheulen, die Räder drehen durch, und das Auto sinkt noch tiefer in den Schlamm. Dad redet durchs Fenster mit ihm. Dann steigt der Fahrer aus, tippelt auf Zehenspitzen auf den trockenen Boden hinüber, und Dad setzt sich ans Steuer. Er weiß genau, wie man die Kupplung kommen lassen muss, und weil wir außerdem von hinten schieben, kommen Auto und Anhänger frei. Der Fahrer klatscht Beifall.

Meine Schuhe sind voll Schlamm. Eine Schicht, so dick wie Schokolade. Joe spült seine Latschen im Wasser ab, aber ich kann gar nichts machen.

Wir werden sie mit Schuh-Weiß auffrischen, sagt Mom. Dann sind sie wieder wie neu.

Sie sind aber nie wieder dieselben. Dad bestimmt, dass ich sie in den Kofferraum lege, damit die Fußmatten nicht schmutzig werden. Dabei hat er schon Extramatten über die Standardausrüstung gelegt, damit sie sauber bleibt. An dem Tag in naher Zukunft, an dem er den Zephir verkauft, werden sich die Originalmatten in makellosem Zustand befinden.

Verdammter hirnloser Affe, sagt er auf der Fahrt nach Hause und meint den Mann, der im Schlamm steckengeblieben war.

Warum mussten wir ihm dann helfen?, frage ich.

Er antwortet nicht. Stattdessen meint Mom: Das macht man so. Man hilft seinen Nachbarn, und wenn man selber in Schwierigkeiten steckt, helfen sie einem. Hofft man zumindest.

Unterwegs halten wir in Sunnyside an. Normalerweise machen wir einen Schaufensterbummel ein oder zwei Blocks hinunter, während Joe im Tauschantiquariat auf Jagd geht. Ich bleibe im Auto sitzen. Ich werde nicht kaalvoet durch die Stadt laufen wie ein rock.

Joe

Der ›Kampf des Jahrhunderts‹ wurde von einem Agenten aus der Unterhaltungsbranche namens Jerry Perenchio veranstaltet, der der ganzen Welt ungeniert mitteilte: Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung vom Boxen.

Perenchio war ein Erneuerer. Schon vor dem Kampf hatte er die Idee, die Schuhe und Boxhandschuhe der Kämpfer zu versteigern. Wenn ein Filmstudio Judy Garlands rote Slipper versteigern kann … dann müssen diese Dinger auch etwas wert sein. Ihre Vorstellung von diesem Kampf können Sie über den Haufen werfen. Dieser Kampf geht weit über das Boxen hinaus – er ist spektakuläres Showbusiness.

Die Puristen waren von der Wendung, die das Boxen nahm, nicht gerade begeistert. Sie lästerten über die Schauspielerei, die Clownereien und die Kostümwechsel, doch ihr Unmut goss nur noch Öl ins Feuer. Es war angerichtet, und es gab kein Zurück mehr. Muhammad Ali schritt an der Spitze des Karnevalsumzugs. Er passte zu diesem neuen Stil wie eine Faust in den Boxhandschuh. Schon seit Jahren hatte er die Obrigkeit gegen sich aufgebracht: Wegen Prahlerei beim Wiegen vor dem ersten Liston-Kampf war er beispielsweise des Wiegeplatzes verwiesen worden, und ihm wurde eine Strafe aufgebrummt. Im Vergleich mit der Karnevalsstimmung vor dem Frazier-Kampf aber erschien das regelrecht harmlos. Die Beschreibung von Alis Gefolge, die das Time-Magazin am Vorabend des Kampfes veröffentlichte, fängt dies anschaulich ein: Da haben wir zunächst Bundini, den Betreuer und persönlichen Mystiker, der ihn ›den Segen des Planeten‹ nennt; einen weiteren Betreuer, dessen einzige Aufgabe es ist, Ali zu kämmen; allerlei finster dreinblickende muslimische Funktionäre; den durch nichts zu erschütternden Angelo Dundee, der ihn seit 1960 trainiert; Norman Mailer, den Schauspieler Burt Lancaster, Cash Clay senior in roten Schlaghosen, rotem Satinhemd und Plantagenstrohhut; den Major, einen Lebemann aus Philly, der in einem Duesenberg durch die Gegend fährt; sowie Brother Rahaman Ali (ehemals Rudolph Valentino Clay), seinen Leibwächter. Ali hatte gesagt, dass das weiße Amerika durch den Anblick schwarzer Menschen verunsichert werde, die mit Geld um sich werfen können, durch Männer in Nerzmantel und Hut, Frauen in Paillettenkleidern, die nach Kundenwünschen gefertigten Cadillacs.

Der Anblick zweier Männer, die sich für ein Preisgeld gegenseitig besinnungslos prügeln, muss zu allen Zeiten die Neugierigen ebenso wie die Morbiden angezogen haben, die Blutdürstigen ohne jedes Verständnis für die Feinheiten des Sports. Als aber das Zeitalter der Massenmedien heraufdämmerte und das Boxen mehr Unterhaltungsereignis als Sport wurde, fand es bei Leuten wie mir, den unwissenden Fans, die kaum einen Haken von einem Jab unterscheiden können, ein neues Publikum.

Auch wenn ich am Boxen nur insofern interessiert war, als es Muhammad Ali betraf, so war dieses Interesse nicht minder vereinnahmend. Ich würde das volle Ausmaß vergessen haben, weil wir ja so viel vergessen, was wir in der Vergangenheit dachten und taten, wenn es das Archiv der Zeitungsausschnitte nicht gäbe, das ich fünf ganze Jahre lang getreulich bestückte.

Als meine Besessenheit abklang und schließlich verschwand, verstaute ich die Alben und losen Zeitungsausschnitte in einem Karton. Die Zeit verging, ich zog bei meinen Eltern aus, fing an zu studieren und ließ den Karton in einem Schrank zurück. Man wird die Vergangenheit aber nicht so leicht los. Ich wollte Schriftsteller sein, und im Licht dieses Strebens schien der Karton eine Art Schlüssel zu meiner Vergangenheit zu werden. Er enthielt ein kodiertes Protokoll, das vollständigste Verzeichnis meiner Jugend, auf das ich Zugriff hatte, obwohl ich selbst darin nicht ein einziges Mal erwähnt werde. Ich holte den Karton aus dem Haus meiner Eltern, und er begleitete mich durch ein Dutzend Umzüge.

In den vergangenen zwanzig Jahren blätterte ich die Alben so oft durch, bis ich es nicht mehr zählen konnte. Ich wollte etwas über sie schreiben, war immer wieder aufs Neue gespannt, was sie über die Welt bloßlegten, in der ich aufgewachsen war. Ein Buch wurde nicht daraus. Warum nicht? Ich wusste nicht genau, wonach ich suchte: Ich wusste nicht, welche Fragen ich diesen vergilbten Seiten stellen sollte. Jeder Gang durch das Archiv führte zu einigen skizzenhaften Entwürfen für dieses Kapitel oder jenen Abschnitt. Dazu Seiten über Seiten mit Notizen und Gliederungen, verstreuten Assoziationen und unausgegorenen Strukturen, Zusammenfassungen und Zitaten, die ich allesamt in einem Aktenordner sammelte und dann bei jedem erneuten Versuch überarbeitete und mit Anmerkungen versah. Letztlich wurde dieser Ordner voll einander widersprechender Notizen ein ebenso unüberwindbares Hindernis wie die Alben selbst, der Schatten einer obskuren Absicht auf einer leeren Seite, mit der ein Buch tatsächlich anfangen könnte.

Branko

Seit fünf Jahren wohnen wir in Clubview. Davor hatten wir ein Haus in Pretoria West gemietet, aber das hier gehört uns. Es ist im Ranch-Style gebaut, was bedeutet, dass die Zimmer alle nebeneinanderliegen und man vom Wohnzimmer direkt in die Garage gelangt. Die Flachglasfenster sind fast so groß wie das Garagentor. Es ist, als wären wir nach Amerika gezogen.

In jedem Zimmer ist eine Wand mit Bildtapete beklebt. Solange es bei einer Wand bleibt, sieht das Ganze recht modern aus, ich weiß auch nicht warum. In Sylvies Zimmer sind es Szenen aus der Ming-Dynastie. Man sieht Pilger auf ihrem Weg durch die teefarben gehaltene Landschaft oder unter verschnörkelten Bäumen und Pagoden rasten. In dem Zimmer, das ich mir mit Joe teile, bildet die Tapete einen himmelblauen Hintergrund für Heißluftballons, Raddampfer und Bugattis. Sieht nach Jules Verne aus. Die Wand hinter dem Kamin im Wohnzimmer soll an knotiges Kiefernholz erinnern. Der Kaminsims ist aus echtem Schiefer.

Ein Ölheizkörper steht auf dem Kaminboden wie ein Mondfahrzeug. Dad hält nicht viel von offenem Feuer: Von der Gefahr abgesehen, hasst er auch den Geruch nach Rauch und Ruß. Er hat es gern, wenn die Dinge mehr als nur einem Zweck dienen. Deshalb hat er diesen Beistelllampentisch (wie er es nennt) angeschleppt, mit grüner Formica-Tischplatte und zwei Hängeleuchten mit orangefarbenen Plastiklampenschirmen.

Die Hausaufgaben sind gemacht, und das Geschirr ist abgewaschen. Dad ruht im Sessel neben der Musiktruhe, die Beine von sich gestreckt, den Kopf Richtung Lautsprecher. Keiner sonst setzt sich je in Dads Sessel. Wir sind so an unsere Stühle gefesselt wie diese an ihre jeweiligen Plätze im Wohnzimmer: Die Beine haben kleine Löcher in den Teppichboden gedrückt, sodass sie nun für immer an diesem Fleck stehenbleiben müssen. Dad liest die Pretoria News. Vor dem Abendbrot liest er immer nur bis zum Leitartikel; jetzt beschäftigen ihn die Sportseiten und die Kleinanzeigen.

Irgend so ein Scherzkeks in Villieria verkauft einen Sprite 400, sagt er.

Mom beachtet ihn nicht. Sie soll ihn fragen, wieviel der Scherzkeks dafür haben will.

Verlangt nur siebenhundert Rand, sagt er desungeachtet.

Ihm entgeht nichts. Ob ein Scherzkeks in Villieria einen Sprite 400 zu verkaufen hat, ob die Harlequins die CBC Old Boys in der Sunday Hockey League mit 2 zu 1 besiegen, ob die Russen damit drohen, einen Mann auf den Mond zu schießen – verdammte Russkis, das möchte ich erleben –, er weiß drüber Bescheid.

Müßiggang ist aller Laster Anfang. Deshalb kommt Mom nie zur Ruhe. Jeden Sommer strickt sie jedem von uns einen Pullover für den bevorstehenden Winter. Sie häkelt Babysachen, Babyschuhe, Matineejacken, Tagesdecken, Tischläufer, Zierdeckchen. Auf Bestellung strickt sie Pullover und Strickjacken für eine ganze Familie und überreicht sie den Käufern in Zellophan gewickelt. Als kämen sie von Garlicks.

Heute Abend schneidet sie ein Top für Sylvie zu. Sie kniet auf dem Teppich, hat den Stoff mit dem darauf festgesteckten Schnittmuster vor sich ausgebreitet. Es ist immer besser, den Zuschnitt auf dem Fußboden zu machen, sagt sie. Sie schneidert viele Sachen für Sylvie, damit die mit der neuesten Mode mithalten kann, ohne die Bank zu sprengen (wie Dad es nennt). Wir hatten schon Zeltkleider und Granny-Print-Latzkleider. Jetzt also Bolero-Tops. Joe spricht das Wort schon den ganzen Abend vor sich hin, als lerne er eine Fremdsprache. Bolero, Bolero, Bolero. Wenn er so drauf ist, möchte ich ihm eine reinhauen.

Dad legt die News zur Seite und nimmt sich den Reader’s Digest. Wie eine Zunge ragt ein rotes Seidenbändchen daraus hervor. Der Digest kommt monatlich und der Band mit den Condensed Books alle zwei. Das ist Gaunerei, sagt Dad. Sie schicken sie dir, ob du sie haben willst oder nicht, und dann musst du sie bezahlen. Er stapelt die Bücher auf dem Fußboden neben seinem Bett, aber der Stapel wächst nicht, weil Joe jedes Mal unten einen Band rauszieht, wenn er oben einen drauflegt.

»Zu Ihrer Erbauung und Ihrer Lust / Unsere Schlagzeilen das Beste gegen Donnerstagsfrust«

Mach mal lauter, sagt Dad, gleich kommen die Nachrichten, aber Joe tut so, als sei er taub. Er sitzt am Esszimmertisch, hat sich mit einem großen Zeichenbuch und einem Bündel Filzstiften in den Spalt zwischen Wand und Tischplatte gequetscht. Er bastelt am ersten Ali-Album. Also stehe ich auf und drehe das Radio lauter.

Mom zieht drei Stecknadeln wie Fischgräten zwischen den Lippen hervor und steckt sie in das Nadelkissen. Meine Schere ist weg. Sie packt den Beutel mit ihren Stricksachen aus. Das grüne Ding da ist das Vorderteil meines Winterpullovers. Wär gut, wenn sie vorher mal fragen würde. Sie müssen mich schon umbringen, bevor ich den anziehe. Der dicke Stoß Zeitungsausschnitte in der Papierklemme, das sind Kreuzworträtsel. Und in dieses schwarze Notizbuch schreibt sie jeden Sonntag die LM Hit Parade, damit wir sehen, welche Songs auf- oder absteigen, und Wetten abschließen können, wer Nummer eins wird. Und diese Dinger da sind Kaninchen. Sie strickt sie für das Schulfest, und jedes hat einen andersfarbigen Pullover an.

Jissimpie, Pats, sagt Dad. Hecken die da drin?

Das ist kein Spaß, Bo. Hat jemand meine Schere gesehen?

Joe hat die Schere und schneidet damit einen Artikel aus der Zeitung aus. Wenn Mom das entdeckt, wird das auch kein Spaß. Die Schneiderschere ist ausschließlich für Seide und Satin gedacht. Sie soll durch Chiffon gehen wie ein heißes Messer durch Butter. Es ist uns ausdrücklich verboten, sie für unsere Schulsachen zu verwenden. Aber Joe kommt sogar mit Mord davon.

Halb zehn – höchste Zeit fürs Bett, sagt Dad – und dann probiert Sylvie den Bolero an, und der sieht aus wie eine ganz gewöhnliche Weste.

2Lehrstunden

Befestigt man mehrere Haken an einer Lotschnur und prüft damit Tiefe wie Boden auf das Vorhandensein von Gras oder Schlamm, kann man schnell die Schlammbänke finden. Eric Willsden fing am Sonntag in Meerhof einen 5-Kilo-Spiegelkarpfen.

Pretoria News, Juni 1971

Branko

Joe Frazier stirbt am 7. November 2011 an Leberkrebs. Es kommt in den Nachrichten, es steht in den Zeitungen, es ist überall im Internet.

Einige Tage später ruft Joe mich an. Er klingt ganz aufgelöst. Möglich, dass er wieder auf offener Straße ausgeraubt worden ist, denke ich. Er zieht Scherereien an wie ein Magnet, ihm stoßen andauernd schreckliche Dinge zu. Aber nein, es geht um ein Problem mit seiner ›Arbeit‹, und mit Arbeit meint er ›Schreiben‹, als ob alles andere Muße wäre. Wir müssen reden, sagt er. Normalerweise bin ich nicht derjenige, den er um eine Einschätzung bittet, und überhaupt: Es ist nicht der richtige Augenblick. Mein Mach-ich-auf-den-letzten-Drücker-Sohn Jordan – wir dachten an Louis, die Leute immer nur an Michael – produziert einen Film auf seinem Laptop, ein Mash-Up (seine Bezeichnung) von Pulp Fiction mit irgendetwas anderem wahrscheinlich, und ich habe versprochen, ihm heute Nachmittag ein bisschen beim Ton zu helfen. Ich bin neugierig und will wissen, was dabei rauskommt, wenn man Mash vermanscht: Mus? Die jüngste Krise meines Bruders interessiert mich allerdings noch mehr.

Er taucht mit einem Pappkarton mit dem Aufdruck ›Pres-Les‹ auf. Während ich mich zu erinnern suche, wo ich den schon mal gesehen habe, packt er ihn auf dem Esszimmertisch aus. Die Ali-Alben! Es ist dreißig Jahre her, dass ich sie zuletzt gesehen habe. Wir blättern das erste durch. Das heißt: Er blättert, und ich sehe zu. Viele Zeitungsausschnitte haben sich gelöst, und er achtet darauf, dass sie nicht durcheinanderkommen, schiebt die Handfläche unter das Transparentpapier und wendet sie zärtlich wie ein Archivar einen Satz seltener Drucke. Nur die weißen Baumwollhandschuhe fehlen. Die losen Ausschnitte hat er mit Bleistift gekennzeichnet, um zu markieren, wohin sie gehören: Die Ziffern und Stichwörter in den Ecken der Zeitungsausschnitte passen zu denen zwischen den braunen Klebebandnarben. Warum sich die Mühe machen, in diesem Ramsch Ordnung zu halten?

Ich setze zu einer Frage an, aber er schneidet mir das Wort ab wie ein strenger Bibliothekar. ›Schau hin!‹ Sieh es dir einfach an. Das Archiv wird alles klarstellen.

Das Archiv! Aha. Hier taucht ein unglaubwürdiger kleiner Bericht mit der Überschrift ›Als Roter vereinnahmt‹ auf, in dem steht, dass die sowjetische Nachrichtenagentur TASS dem Kampf des Jahrhunderts lediglich einige Zeilen gewidmet und nur darauf hingewiesen hat, dass der Negersportler Cassius Clay, auch Muhammad Ali genannt, einen Kampf gegen Joe Frazier nach Punkten verloren hat. Dort findet sich oberhalb der Überschrift ›Ali sagt, er ließ Gnade walten‹ ein Foto, das Ali zeigt, wie er Jimmy Ellis boxt. Und ein anderes, das nach dem Kampf aufgenommen wurde, mit der Überschrift ›Cassius fletscht die Zähne‹. Im darunterstehenden Artikel: Cassius Clay sagt, dass er ein Visum für einen Besuch in Südafrika erhalten hat. Regierungssprecher in Pretoria behaupten aber, dass kein Antrag des Boxers vorliege. Daran erinnere ich mich nicht. Ist er tatsächlich in Südafrika gewesen? Bevor ich fragen kann, fängt Joe wieder zu blättern an. Jetzt steht da ›Buster gebrochen‹. Der arme Buster Mathis auf allen Vieren, nachdem er einen von Alis linger-on-Schlägen einstecken musste. Eine Überschrift nennt sie ›Clays neue Waffe‹. Weiter durchblättern. Hier und da ein Innehalten, damit ich einen besseren Überblick bekommen oder einen Absatz überfliegen kann. Dabei zeigt er mit seinem Stift auf die eine oder andere Überschrift, entfaltet die Ziehharmonika einer Zeitungsseite, um mir ein Foto zu präsentieren, auf dem Ali mit weit aufgerissenem Mund zu sehen ist. Die Großmaulpose.

Eins steht fest: Joe war ein fürchterlicher Archivar. Er hätte vollständige Zeitungsseiten aufheben sollen, hätte sie in Aktenkisten verstauen können, zweckmäßig nummeriert und indiziert. Oder sie, jeden Kampf für sich, in Pappmappen ordnen. Stattdessen hat er sie ausgeschnitten und zu albernen, komplizierten Origami-Figuren gefaltet und Teile der Ausschnitte mit Klebeband versehen, um so viel Material wie möglich auf einer Seite unterzubringen. Einige dieser Anhäufungen sind durchaus raffiniert, entfalten fünf oder sechs Artikel aus einer Oberfläche. Wie das findige Layout in einem Aufklappbuch für Kinder. Das Klebeband aber ist eine unverzeihliche Sünde. Jeder Archivar wird sagen, dass so was das Allerletzte ist, was man an Ausschnitten oder Fotografien sehen will, die man erhalten möchte. Der Klebstoff entfärbt und ruiniert das Papier, das Klebeband trocknet aus und verformt sich. Die Ausschnitte sind von einem schmutzigen Gelbbraun. Das ist die Farbe, die man an den Fingern eines Rauchers von Texas Plains entdecken würde, der am Tag eine Schachtel konsumiert. Eins kann man Joe nicht vorwerfen: Das Ganze hat er angefertigt, lange bevor säurefreies oder holzfreies Papier entwickelt wurde, von papierfreien Nachrichten ganz zu schweigen. Oder dem wahrheitsfreien Zeug. Aber die Klebebandnarben sind sein Fehler. Keine Frage.

Dann wiederum ist ihm nie der Gedanke in den Sinn gekommen, dass er ein Archiv aufbaut. Es ist komisch, ihn so darüber reden zu hören. Ist doch nur ein Stapel Alben. Sylvie hatte auch ein paar, die waren Cliff Richards gewidmet. Oder waren es die Fab Four? Der Gedanke, dass er etwas für die Nachwelt anlegte, ist lächerlich. Ein Dreizehnjähriger mit Flaum auf den Wangen? Er dachte nicht weiter als bis zum Läuten der Schulglocke am Freitagnachmittag. Wenn er sich überhaupt etwas in der Zukunft ausmalte, dann einmal so einen E-Type-Jag wie Mark Condor zu fahren, einen roten mit Speichenrädern. Und dazu eine ganz besonders hübsche Freundin zu haben, die davon aber nichts weiß, weil sie mit sechs aufgrund einer geheimnisvollen Krankheit erblindet war. Ganz offensichtlich nichts, was ich mir vorstellen würde.

Jahre später, als er in California wohnte, holte ich wegen eines anstehenden Reservistenlagers meinen balsak aus dem Einbauschrank in Clubview. Dabei stieß ich auf diese Kiste und öffnete sie aus Neugier. Die erste Seite des ersten Albums, dasjenige, das wir jetzt gerade durchblättern, trug eine handgeschriebene Überschrift: ALI VS FRAZIER – VORHER. Die dicklichen Cartoon-Buchstaben, umgeben von farbigen Wellenlinien, die wie Schockwellen aussehen, der blasse Schimmer einer Psychedelia in Suburbia. Ich kann ihn vor mir sehen, über den Esszimmertisch gebeugt, wie er diese Henry-Moore-Schrift ausmalt, die Hand auf diese seltsame Art zurückgebogen, wie immer, wenn er einen Stift hielt, als hätte er sich das Handgelenk gebrochen und es sei schief zusammengewachsen. Was Schulprojekte anging, war er wie besessen, gab sich endlose Mühe, um Strichzeichnungen aus Enzyklopädien zu kopieren und Fotos aus Broschüren auszuschneiden. Er tat nicht einfach das Nötigste, wie es jeder normale lightie machen würde, sondern viel zu viel. Und zwar immer. Er wollte unbedingt gefallen, nehme ich an. Ließ dadurch alle anderen faul aussehen und an ihrer Visiomotorik zweifeln. Ständig hatte er Angst, etwas Falsches zu sagen, die richtige Antwort nicht zu wissen, wie ein Dummkopf dazustehen. Ich hätte seine kostbaren Alben wegschmeißen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.

Was willst du von mir?

Wir sind am Ende von ALI I angelangt. Dort gibt es eine Seite mit Zeitungsausschnitten über Alis Besuch in Südafrika. Wilbur, der Cartoonist, fragt: Betreibt die Regierung Schattenboxen mit Clay? Noch eine Seite zum Kampf gegen Al ›Blue‹ Lewis in Dublin 1972. Lewis bekam seinen Spitznamen, weil er blaue Anzüge und blaue Autos mochte. Ich muss an den Witz über den südafrikanischen Meister Mike Schutte denken: Was für ein Auto fahren Sie, Mike? Mike (kratzt sich am Kopf): ein blaues! Neil Allen, der den Ellis-Kampf für die Times beobachtete, meinte belegen zu können, dass Clay über keinen harten Punch verfüge. Im Gegensatz dazu vertrat der Bericht in der Pretoria News die Ansicht, dass Clay einen weiteren Gegner ebenso ruhig wie brutal aus dem Weg geräumt hatte. Chuck Nary, der Manager des Verlierers: Es war mehr die Erschöpfung als etwas anderes, die Lewis schlug.

Ich habe diese körnigen Bilder von Männern satt, die Faustschläge austeilen. Wie viele Arten gibt es, einen anderen zu treffen? Jab (kurze Gerade), Gerade, Haken, Cross (Gerade, die die Arme des Gegners kreuzt) … Die Fotos, auf denen Ali für die Kamera den Clown spielt, den Mund so aufgerissen, als wolle er das Objektiv und den Betrachter verschlingen und sagen, halt mich zurück, doch lässt auch das keine Wärme aufkommen. Er hat schwierige Zeiten durchgemacht, das weiß ich, mit dem Parkinson und allem, aber meine alte Abneigung gegen ihn meldet sich wieder. Ich studiere die Gesichter der Männer, die er geschlagen hat. Jimmy Ellis mit seinen Elvis-Koteletten wie zwei Raffgardinen, Broken Buster, dem sein speicheltriefender Mundschutz herausragt, all diese Männer, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, sich dumm schlagen zu lassen. Mein Gott. Was ist eigentlich aus George Chuvalo geworden?

Jeden Augenblick wird er mit ALI II anfangen.

Warum zeigst du mir das?

Mit den Fingern trommelt er auf den Einband des zweiten Albums, auf dem ich ein Bild von Goofy in Boxhandschuhen erkenne. Nervös oder einfach um eine Antwort verlegen. Dann sagt er: Ich brauche deine Hilfe. Ich versuche, etwas über diese Zeit in meinem Leben zu schreiben.

Verdammte Scheiße, den kannte ich noch nicht! Mein Bruder, der Schriftsteller, bittet mich um Hilfe. Ich bin nicht gut darin, Dinge auszuschmücken, sage ich. Das ist dein Metier.

Genau darum geht es. Denn die Dinge auszuschmücken, würde nichts bringen. Ich muss mir die Dinge so ins Gedächtnis rufen, wie sie tatsächlich waren.

Und wieso glaubst du, dass ich dir dabei helfen kann?

Du warst dabei.

Er holt einen blauen Aktenordner aus der Kiste, schlägt ihn auf, kramt missmutig in einigen eng mit Hand beschriebenen Seiten. Mit Bleistift, nogal. Ich versuche seit zehn Jahren, etwas darüber zu schreiben, nein, eigentlich schon seit zwanzig Jahren. Ich krieg es einfach nicht hin. Mein Gedächtnis ist nicht mehr, was es mal war. Ich kann nicht auseinanderhalten, was ich erinnere und was ich mir einbilde.

Ich drehe den Ordner zu mir. In einer Sache war er immer ganz und gar unduldsam: Niemand darf eine Zeile des Buches lesen, an dem er arbeitet, bevor es nicht erschienen ist – oder zumindest zur Veröffentlichung bereit. Aber jetzt hält er mich nicht zurück.

Ich lese die Seite, die obenauf liegt. Ich erinnere mich an seine aufrechte, überkorrekte Handschrift, aber das hier sieht betrunken und unordentlich aus. Da steht eine Spalte in ungeordneter Bleistiftschreibschrift, aus der Pfeile hervorschießen und Blasen voller ergänzender Gedanken daneben, und ich quäle mich durch drei Absätze. Notizen zum ›Rumble in the Jungle‹.

Du schreibst ein Buch über Muhammad Ali? Hinzufügen möchte ich: Das meinst du doch nicht ernst. Aber ich reiße mich zusammen. Was er über das Boxen weiß, war immer eine delikate Angelegenheit, vor allem für ihn selbst.

Nein, nein, antwortet er. Gereizt. Es geht nicht um ihn, es geht um uns. Unser gemeinsames Leben.

Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Zumal ich den Ton nicht einordnen kann. Seine Stimme zittert ein wenig, und er hat Tränen in den Augen. Ob er vielleicht an der Flasche hängt? Ich suche die Seite nach Namen ab, aber da steht nichts über mich. Es geht nur um Ali.

In diesem Augenblick kommt Jordan herein. Sein Mac hängt in seiner Hand wie ein aufgeschlagenes Taschenbuch. Die Stimmung im Raum klebt sich an ihn wie ein nasser Duschvorhang, und er schließt den Laptop mit einer Handbewegung. Was ist das für altes Zeug?

Joe schmeißt die Alben und Ordner in den Karton. Als hätte man ihn erwischt, wie er heimlich den Playboy liest. Wir sehen uns, sagt er.

Joe

Paul Skinner verpasste mir eine Boxlehrstunde, die ich nie vergessen werde. Unter einem Highveld-Himmel, der fast das Blau meines Schulblazers angenommen hatte, haute er mir an einem Sommernachmittag eine aufs Maul. Und von da an mochte er mich.

Eigentlich begann die Lehrstunde bereits in Mrs. Worsnops Kunst- und Handwerk-Unterricht, als Skinner den Hocker unter mir wegzog, während ich mich setzte. Ich war aufgestanden, um eine Frage zu beantworten, zweifellos auch richtig, und er beschloss, mich auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Er konnte nicht anders. Er langte nach meinem Schemel, der in der Sitzmitte einen Spalt in der für eine Kinderhand passenden Größe hatte und zog ihn zur Seite, sodass ich auf dem Hintern landete.

Ich konnte nicht anders, Miss. Das sagte er zu Mrs. Worsnop, nachdem das Lachen verklungen war. Sie war eine träge, rötlich befusselte Kröte von einer Frau, die gern grüne Weintrauben zwischen den Zähnen platzen ließ und die Kerne auf jeden Jungen spuckte, der gerade in Reichweite war. Der Fußboden rund um ihren Schreibtisch war mit diesem Laich vollgeschleimt. Sie stand nie auf, wenn sie es vermeiden konnte, und auch der Tumult, der durch diesen Streich ausgelöst worden war, brachte sie nicht dazu, sich zu erheben. Ich erwartete, dass sie Skinner zum Direktor schicken würde, damit er sich Mr. Hobbs gegenüber rechtfertigte, oder ihn mit dem Papierkorb über dem Kopf in die Ecke stellte, beides durchaus übliche Bestrafungen, doch offenbar war es eine akzeptable Entschuldigung, wenn man nicht anders konnte.

Der Sturz verletzte meine Gefühle, mehr nicht. Aber er demütigte mich und machte mich wütend. Zuhause hatte man mir beigebracht, dass es nicht lustig war, jemandem den Stuhl wegzuziehen. Das stand fast an der Spitze der Liste der Dinge, die eine bestimmte Personengruppe lustig findet, die aber in Wirklichkeit so gefährlich sind wie jemandem Brooklax in den Kaffee einzurühren oder hinter einer Tür hervorzuspringen und Huh! zu rufen. Die Opfer könnten an Dehydrierung oder Herzversagen sterben. Wenn man jemandem den Stuhl wegzieht, kann sich die betreffende Person das Hinterteil brechen und lebenslang gelähmt sein. Ich kenne ein Mädchen, dem das passiert ist, hat Mom gesagt, und sie saß den Rest ihres Lebens im Rollstuhl. Im Rollstuhl! Als Donny Drummond wegen seiner Senkfüße operiert wurde, saß er hinterher monatelang im Rollstuhl, und wir mussten ihn in der Schule die Treppen rauftragen und wieder runter. Was, wenn es mir so erginge? Bedrohlichen Eventualitäten aus dem Weg zu gehen bildete, soweit vorhanden, den Kern unserer Familienphilosophie, die darin bestand, sich bedeckt zu halten und das Unvermeidliche zu akzeptieren.

Unglücklicherweise verlangte ein weiteres, ziemlich gegensätzliches Familienprinzip, dass man für das Richtige einstand. So kam es, dass ich Paul Skinner herausforderte. Ich konnte nicht anders. Ich wusste nicht genau, wozu mich meine Entrüstung verleiten würde. Über die Konsequenzen hatte ich noch nicht nachgedacht, und eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt, es mit ihm auszufechten. Nur war das eben die Sprache, die er verstand, und bevor ich mich versah, hatte ich ihn zu einem Kampf herausgefordert.

Nach der Schule bei den Wasserhähnen, sagte er.

Ja, ich werde da sein, Skinner. Keine Sorge.

Kaum war meine Herausforderung angenommen worden, wünschte ich schon, sie zurückzuziehen. Nur wie sollte das möglich sein, ohne das Gesicht zu verlieren? Diese Frage ging mir während der gesamten Kunsthandwerksstunde durch den Kopf. Wir gestalteten Objekte aus Pappmaché. Wir hatten Ton zum Modellieren mitgebracht, Zeitungen, die man in Streifen reißen konnte, und Mehl, um den Klebstoff anzumischen. Terence Jones und Melanie Fuller kamen mit Modellierton aus dem Künstlerbedarf im neuen Einkaufszentrum am Barclay Square. Dad meinte aber, er würde sein Geld nicht für etwas zum Fenster rausschmeißen, das man genauso gut einfach ausgraben konnte. Also fuhren Branko und ich eines Nachmittags mit den Fahrrädern zum Sesmylspruit hinunter, lehnten sie ans Brückengeländer, kletterten zum Fluss hinunter und gruben am Ufer Ton aus. Melanie Fullers Ton sah wie ein Sahnebonbon aus und roch wie das Innere eines Mercedes. Mein Zeug aber war, in Zeitungspapier eingewickelt und auf dem Gepäckträger nach Hause gefahren, nichts anderes als Schlamm, dicker brauner Schlamm, gespickt mit Weidenblättern und Insektenflügeln, der nach den Untiefen des Spruit miefte. Ein solcher Haufen lag nun, zu einer Grimasse geformt, vor mir auf der Werkbank, während ich angestrengt überlegte, wie ich es vermeiden konnte, mich mit Skinner bei den Wasserhähnen zu prügeln. Dem Klebstoff aus Mehl und Wasser waren Nelken beigefügt, warum, wusste Mrs. Worsnop allein, doch der würzige Geruch nach Irish Stew konnte den Gestank von Flussschlamm kaum überdecken – es roch dreimal schlimmer als der Bon Accord Dam. Ich weichte meine Zeitungsstreifen ein und legte sie wie schleimgetränkte Bandagen über das Gesichtsmodell. Es war eigentlich ein Clownsgesicht, mit erstaunt hochgezogenen Augenbrauen und einer Knollennase. Als ich es am Trimesterende, mit Farbe aus dem Modellflugzeugbau effektvoll aufgetakelt, mit nach Hause brachte, meinte Branko: Also ehrlich, Joe, wie Tickey, der Clown. Was Besseres bringst du nicht zustande?

Nach der Pause hatten wir Gesundheitskunde und anschließend Englisch. Miss Drysdale las uns aus Die Abenteuer des Huckleberry Finn