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Ein namenloser Staat der Zukunft: Implantate machen aus Menschen willenlose Funktionsträger im Wirtschaftssystem. Verweigerer gelten als Gefahr, werden in abgesonderte Ghettos gepfercht. Artem und Liv, zwei Minderjährige, wollen dort nichts als helfen, doch sie geraten an die Ränder des Systems und weit darüber hinaus ...
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Seitenzahl: 522
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Für euch, die ihr diese Geschichte lest. Und für euch, die ihr zu ihrer Entstehung und Verbreitung beigetragen habt. Ich danke euch.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Die Wurzeln des Wahnsinns lagen lange zurück. Schon seit ewigen Zeiten hatten die Menschen sich an dem Optimalen versucht, hatten sich selbst und die Welt zu Einträgen im Zahlensystem degradiert, bis die Selbstversklavung groteske Züge erreichte – ein riesiges, ratterndes Räderwerk, in dem Menschen zum Schmieröl verkamen und niemand mehr wusste, wer am Antrieb saß und wohin die Maschinerie steuerte. Doch irgendwann hatte selbst das nicht mehr genügt, hatten nicht mehr nur eine Minderheit von Abgehängten verloren. Irgendwann war Menschsein nicht mehr gut genug gewesen für die Bewältigung des Alltags.
Da waren – nach gescheiterten Versuchen mit Robotern, Klonen und genetisch veränderten Wunderkindern – die Extender ins Spiel gekommen.
Anfangs waren sie nicht mehr als ein Trend gewesen, ein Trend von vielen, nach ungezählten zuvor – winzige Implantate, die sich in einer einfachen Operation an bestimmte Nervenbahnen anschließen ließen und bereits seit langem verwendete, chemische Wirkstoffe ablösten. Diese Implantate konnten Glücksgefühle künstlich herbeiführen, Rausch auf Knopfdruck erzeugen oder Ängste nehmen. Zunächst schien alles gut.
Dann verdrängte ein Implantat der neugegründeten Firma Extend Technologies alle anderen am Markt befindlichen. Seine Träger vollbrachten Leistungen, an die sonst niemand heranreichte, und Leistung galt als Inbegriff sämtlichen menschlichen Strebens. Abgehängte schafften den Anschluss, und Perfekte steigerten sich.
Das Implantat wirkte direkt auf spezifische Hirnareale, unterdrückte überbordende Emotionalität, schenkte den Menschen vollkommende Ruhe und Konzentration. Im Ergebnis erzeugte es die bedingungslose Bereitschaft, zu leisten, sich aufzureiben in vorgegebenen Aufgaben. Man sagte, es kanalisiere körpereigenes Potential. Kaum jemand verstand, auf welche Weise dies funktionieren sollte, doch alle wollten sein wie die Extender, die Stars wurden in Wirtschaft und Wissenschaft, in Arbeit und Sport.
So weitete sich der Trend zu einer gesellschaftlichen Strömung.
In der Folge erschütterten schlimme Vorfälle das Land: Ein Finanzskandal bei einem alteingesessenen Technologiekonzern, ein Anschlag, der beinahe etliche Menschen in den Tod gerissen, ein Krieg zweier Provinzen, der beinahe ausgebrochen und das Land in den Abgrund gestürzt hätte – schon begann man sich in Staat und Straßengesprächen zu fragen, ob nicht die Menschen ohne Extender – die Simps, wie sie nunmehr genannt wurden – eine Gefahr darstellten für den friedvollen Rest der Bevölkerung und all seine redliche Unbescholtenheit.
Und so erwuchs aus dem Trend eine Bürgerpflicht.
Natürlich hatte man einen Punkt erreicht, an dem Widerstand sich formierte. Endlose Debatten wurden geführt, lange, schwere Worte zu Felde gebracht: Worte wie Produktivitätssteigerung und Kriminalitätsstatistik, aber auch Menschlichkeit und der Gedanke von Freiheit. Viele Kompromisse wurden geschlossen, viele Vorschriften ins Absurde verkehrt.
Am Ende waren die Extender nicht länger ein Hilfsmittel, das sich nach einer Prüfung, einem Wettkampf oder einem Arbeitstag von selbst abschaltete. Sie blieben auf ewig aktiv, zumindest für die kleine Ewigkeit, die ein Menschenleben währte. Zwar verblieb jedem Träger die Möglichkeit, sein Implantat aus eigenem Willen heraus abzuschalten und so die weniger produktiven Eigenheiten zurückzuerlangen, doch man wusste sehr gut, dass niemand es tun würde, solange das aktive Implantat ihn zum Funktionieren trieb.
Was aber sollte mit jenen geschehen, die nicht zum Eingriff, dem Einsatz des Extenders, bewegt werden konnten? Zunächst begnügte man sich mit Werbung und staatlicher Förderung. Dann kam es zu einem erneuten, mit viel medialer Dramatik vereitelten Anschlag auf den Firmensitz von Extend Technologies – jenem Ort, der behütet wurde wie ein Heiligtum, und es für die meisten inzwischen auch war. Nicht einmal ein Jahr nach der erstmaligen Zulassung unbegrenzt laufender Implantate gelangte man zu dem Schluss, die Gefahr durch die Simps nicht länger tolerieren zu können.
Doch es blieben Probleme. Zuvorderst waren da die Menschen, die leidigerweise als Menschen geboren wurden, nicht als Extender. Schließlich, Debatten waren viel leichter geworden, traf man eine Entscheidung: Jeder minderjährige Staatsbürger sollte fortan am zwanzigsten Tag seiner Geburt vor die Wahl gestellt werden, entweder seinen Leistungswillen durch den Extender-Einsatz in sichere Bahnen zu lenken oder sich zum Simp zu bekennen. Verweigerer, welche die Altersschwelle bereits überschritten hatten, wurden zur selben Entscheidung gezwungen.
Neu-Extender hatten im Anschluss einen sogenannten Aufbaukurs zu absolvieren; Simps hingegen mussten getrennt werden vom gefügig leistenden Rest der Bevölkerung, dessen Sicherheit man zu gewährleisten wünschte. Hierzu wurden in den Städten besondere Viertel eingerichtet, von den übrigen Stadtbezirken abgesondert durch Zäune, Mauern und Gräben.
Ein Erlass von höchster Stelle, der sogenannte Trennungserlass, untersagte von da an allen Simps das Betreten der Oberstädte.
Union City, die Hauptstadt des Staates, wo ich zu dieser Zeit lebte, war keine Ausnahme. Hier erschien die Klippe wie geschaffen zum Zwecke der Trennung – eine hundert Meter hohe, nahezu senkrechte Felsenwand, die sich fast gänzlich um einen der Außenbezirke schloss. Um jeder Gefahr für die Erweiterten und ihrer minderjährigen Kinder vorzubeugen, hatte man den Felsen noch weiter begradigt, hatte man Sperrzonen und eine Zaunanlage errichtet, Technologie aus dem Simps-Viertel abgezogen und den Blick in den Abgrund verhängt.
So war der Zaun auch in unsere Siedlung gekommen.
Der Wald stand in voller Pracht. Er war eine Idylle aus frischem Grün, Sonnenstrahlen und im Licht schillernden Wassertropfen.
Natürlich war er nicht echt, und ich wusste, bald würde ich es auch nicht mehr sein. Ich, Artem, war minderjährig im letzten Jahr. Die Entscheidung über den Eingriff stand mir bevor, und wie immer ich mich entschied, es würde ein unwiderrufliches Ende markieren.
Das Hologramm flackerte; durch Sonne, Wasser und Grün schien ein Beben zu gehen. Für einen kurzen Moment verschwamm die künstliche Welt, sah ich das Fenster, das sie verdecken sollte, den Blick hinaus, den Blick in die Wirklichkeit.
Mit einer ruckartigen Bewegung wandte ich mich ab, noch ehe sich das Bild neu aufbaute, schlüpfte in meine Schuhe und schulterte einige sehr sorgsam geschnürte Bündel. Die Wohnung, die ich raschen Schrittes durchquerte, war leer. Mein Bruder war nicht mehr hier, meine Eltern würden erst spät von der Arbeit zurückkehren. So war es eigentlich immer.
Ich verließ die Wohnung und zog die Tür nachlässig hinter mir zu. Im Treppenhaus herrschte schwache Beleuchtung. Gedämpfte Musik drang durch eine der Türen im Erdgeschoss … Es kam oft vor, dass man Musik hörte. Die Stimmen brachten Leben in ansonsten stumme, sprachlose Räume …
An einem anderen Tag, das hatte ich mir fest vorgenommen, würde ich das Lied mitsingen, lautstark, aus vollem Hals grölend, und auf den Stufen tanzend Luftgitarre spielen – gleich, ob irgendjemand mich dabei sah.
Doch derzeit stieg ich die Stufen einfach hinab.
Als ich mit meinen Bündeln aus der Haustür trat, verklang die Musik. Tiefe Stille lag über die Siedlung gebreitet, wie ein dicht gewobenes Tuch.
Am oberen Ende der Außentreppe blieb ich stehen. Bei unserem Haus war das Erdgeschoss leicht erhöht gebaut, weshalb zunächst drei von einem Mäuerchen eingefasste Stufen seitlich hinabführten. Anstatt auf die weiß getünchten Fassaden der gegenüberliegenden Häuser blickte ich deshalb unweigerlich weiter die Straße hinauf, dorthin, wo teure Eigenheime und einfache Mietsblöcke endeten.
Vor Jahren war dort die Weite gewesen, der Straßenverlauf bis hin zu einem prächtigen Aussichtspunkt und dahinter der Himmel über der Klippe, die die Grenze markierte. Nun war diese Weite gespalten, und wenn ich wie jetzt an der äußersten Schwelle zur Stille noch der Wohnungsmusik zu lauschen versuchte – dann sah ich graue Planen als Sichtschutz, Polizeiwagen, Wachhäuschen und Stacheldraht, nur wenige hundert Meter entfernt. Dahinter lag die Sperrzone, und niemand sollte mehr in den Abgrund blicken, in dem die Simps lebten: Jene, welche sich des Eingriffs verweigert hatten.
Ich packte meine Bündel und hastete die drei Stufen hinab, von einer Angst getrieben, die weit tiefer schnitt als der Zaun. Seitdem die Sperrzone die Straße zerteilte, hörte ich die Lieder nur selten zu Ende, es sei denn, ich verschloss beim Hören die Augen.
Die fahl wirkende Mittagssonne ließ die Magnetbahn-Station in grauem Licht schimmern. Nur zwei Blöcke lag sie von unserem Haus mit dem Zaunblick entfernt. Von innen waren ihre Wände vollständig mit Werbeplakaten, Bildschirmen und Hologrammen verkleidet. Künstlich vollendete Gesichter lächelten auf die Wartenden herab, priesen dieses und jenes.
Die Bahn kam, pünktlich auf die Sekunde.
Hier draußen waren die Wagen noch spärlich besetzt. Nur die Stimmen zweier Telefonierender durchdrangen die Stille, ansonsten sprach keiner. Viele lasen in Unterlagen oder erledigten Dinge an den Bildschirmen ihrer Pads oder Smartphones. Einige nutzten die Zeit, um Schlaf nachzuholen. Die Übrigen starrten, und sie starrten zu mir.
Obwohl ich die missbilligende Strenge in ihren Blicken reichlich gewohnt war, spürte ich das Unbehagen wie einen kalten Windzug im Nacken. Schon dass ich als Minderjähriger noch nicht für ein Implantat geeignet war, machte mich in ihren Augen zu einem unberechenbaren Risikofaktor. Kinder waren eine notwendige Mühsal zum Erhalt des Systems, doch inzwischen misstraute man ihnen, sah man in ihnen eine Gefahr. Einige Staatseinrichtungen, Hotels, aber auch ganze Straßenzüge hatte man bereits zu kindfreien Zonen erklärt, wo sämtlichen Minderjährigen der Zutritt verboten war. Es hatte einen aufsehenerregenden Fall gegeben, in dem eine Masse erweiterter Menschen ein Kind totgeprügelt hatte, weil es im Zug die Notbremse gezogen und damit eine Verspätung verursacht hatte.
Eigene, unangenehme Erfahrungen hatten mich gelehrt, meine Bündel sichtdicht verpackt zu halten, auch wenn ihre schiere Existenz, ihr Gewicht und ihre Unhandlichkeit ausreichten, um Verdacht zu erregen. Niemand betätigte sich in dieser Form körperlich – seriöse Transporte wurden von Transportdiensten übernommen.
Und alles wäre noch viel fataler gewesen, hätten die Extender den Inhalt meiner Bündel erkannt.
Der Zug trug mich weiter ins Stadtzentrum und wurde dabei langsamer aufgrund der hohen Zahl von Stationen. Man hätte nach draußen sehen können, doch auch im Zug bedeckten Plakate und Hologrammflächen den Großteil der Wände, Türen und Fenster. Einzig von meinem Platz aus konnte man durch einen Spalt zwischen zwei Werbeanzeigen für Zusatz-Extender hindurchspähen. So erblickte ich für Augenblicke die vorbeiziehenden Straßen, Autos, Fabriken, Bürotürme und gelegentlich einen Menschen.
Unweit des Zentrums erhoben sich die Straßen zu Hochbrücken, das Schwebegleis wurde von Mauern umschlossen und wandelte sich zu einem Schacht. Die gesamte Stadtmitte von Union City hatte den Aufbau eines Etagengestells. Als der Platz nicht mehr ausgereicht hatte für all die gefräßigen, wuchernden Elemente des Stadtlebens, hatte man einfach in die Höhe und in die Tiefe gebaut, nicht nur einzelne Gebäude, sondern einen ganzen Stadtteil. Jetzt gab es getrennte Ebenen für die Bahn, den Verkehr, für Transporte, die Industrie, für das übrige Leben und über allem die Luftfahrt.
Ich verließ den Wagen an der Union Central Station, dem größten Bahnhof der Stadt. Blanke, schneeweiß verkleidete Wände nahmen die Menschenmenge in ihre Mitte; die dicht wogende Masse erfasste mich augenblicklich. In dieser Station achtete niemand auf Minderjährige oder deren Gepäck, alle waren nur darauf aus, so schnell wie möglich weiterzukommen. Die Männer trugen Anzüge, die Frauen teure Kostüme. In meinen Augen waren sie Soldaten, Soldaten in Uniform, dazu verdammt, jeden Tag aufs Neue dieselben Schlachten zu schlagen.
Wie von unsichtbaren Fäden geleitet verteilte sich die Masse der Menschen, strebte in Strömen zu Rolltreppen, Aufzügen und Förderbändern. Ich aber war der einsame Quergänger, konnte und wollte ihren Wegen nicht folgen und hatte noch dazu meine Bündel zu tragen. Es war ein regelrechter Kampf, aus dem Strom hinauszugelangen und weiterzulaufen bis zum Ende des Bahnsteigs, wo hoch über mir ein Leuchtschild mit der Aufschrift „Ebene 1 – Gleis 6“ den Ort der Ankunft verkündete. Darunter hing ein Wegweiser, der unbeleuchtet war und kaum lesbar und schlicht mit „Ebene 0“ beschriftet. Er wies in einen schmalen, düsteren Tunnel, wo eine Treppe in die Tiefe hinabführte und roher Stein an die Stelle des kaltweiß glänzenden Metalls trat. Wie jedes Mal hatte ich das Gefühl, einer schrecklichen Gefahr entronnen zu sein, als ich einen Fuß auf die oberste Stufe setzte.
Die niedrigen Gänge der Unterstation waren menschenleer, das Gewimmel der höheren Ebenen nicht zu erahnen. In der ersten Treppenwende zweigte ein Tunnel ab, der mich einmal um eine Ecke herumführte und dann an einer massiven Mauer aus Backsteinen endete. Vermutlich war er früher ein Abstieg von einem anderen Gleis gewesen, doch mittlerweile gab es nur noch einen einzigen Zugang zu Ebene 0. Dafür diente dieser Gang, in den sich sonst niemand verirrte, uns nun als Treffpunkt.
„Artem!“, rief sie, kaum dass ich um die Ecke getreten war.
„Liv!“
Ich fühlte, wie eine starke, herrliche, vertraute Welle der Erleichterung mich durchfloss, so als würde die Enge der Extender-Stadt durch unser bloßes Zusammenfinden hinfortgespült.
Es wäre naheliegend gewesen, aber Liv und ich waren damals kein Paar. Zumindest waren wir es offiziell nie geworden, obwohl wir sehr viel Zeit miteinander verbracht hatten. Vielleicht hatten wir es vergessen über dem, was wir beide als unsere Mission empfanden; vielleicht hatten wir auch nie gelernt, wie es war. Dennoch – gewiss gab es da etwas Besonderes zwischen uns, etwas, das ein Gefühl von Wärme und Behaglichkeit entstehen ließ, sobald man den anderen sah.
Und ohne diese Wärme wäre meine Welt ein sehr kalter, trauriger Ort gewesen.
Mein Blick in Livs Gesicht war wie ein Blick in eine freundliche Zeit. Es war kein Gesicht, wie es von Plakatwänden herabstrahlte, kein vollkommenes Antlitz, wie es nur am Computer entstehen konnte, keine allmorgendlich aufgetragene Maske. Was ich sah, war schlicht: Liv.
Livs Gesichtszüge wirkten ebenmäßig und leicht gebräunt, das Kinn konnte sich markant nach vorn schieben in Trotz und Unbeugsamkeit. Im Kontrast dazu standen ihre Augen, groß und dunkel, aber oftmals hell aufleuchtend wie eine Sonne, die hinter dunstigen Wolken hervortrat. Die langen Haare waren ebenfalls von einem dunklen Braun und leicht gewellt, weder geglättet noch künstlich gelockt. Liv trug keinen Schmuck außer einer goldenen Kette am Hals, ihre Kleidung war schlicht und zweckgediehen.
Zweckgediehen – ein Wort der Extender. Es war erstaunlich, welch unterschiedliche Bedeutungen ein und demselben Wort innewohnen konnten, ohne dass die Unterschiede so leicht zu benennen waren. Wie dem auch sei, eines war sicher: Niemand konnte weiter entfernt sein vom Extender-Denken als Liv. Es war durchaus bemerkenswert, denn als Tochter reicher Eltern hätten ihr als Erweiterten alle Möglichkeiten offen gestanden. Doch hatte sie ihre Entscheidung schon lange getroffen, während ich immer noch zauderte – vermutlich war auch das ein Hindernis, das zwischen uns stand.
Ich legte meine Bündel neben die Beutel und Taschen, die Liv fein säuberlich an der Tunnelwand aufgestapelt hatte. Ihre ausgeprägte Ordnungsliebe war eine weitere Eigenheit, wie sie auch die Extender verkörperten. Auf gewisse Weise war Livs Charakter mir immer ein Rätsel geblieben, doch das ließ sie nur umso interessanter erscheinen, denn es war ein wundervolles Rätsel, das einen in seinen Bann zog, an dem man immerzu knobeln wollte, von dem man nicht lassen und es wahrscheinlich doch niemals lösen konnte.
Zur Begrüßung umarmten wir uns. Es lag keine wirkliche Romantik darin, eher war es eine einfache, fast ritualartige Geste des Zusammenhalts, des gegenseitigen Vertrauens und des Bewusstseins, aufeinander angewiesen zu sein. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass wir uns näher waren als sonst. Ich roch Livs weiches, dezentes Parfüm, den Duft nach Blumen und frischen Kirschen, den sie verströmte, und ich roch ihn länger und klarer als an anderen Tagen.
„Du siehst blass aus …“, flüsterte Liv, nachdem wir uns voneinander gelöst hatten. „Ist alles in Ordnung?“
Ich nickte, bejahte, schüttelte dabei ein wenig den Kopf. Die Wärme zwischen uns war noch da, aber sie begann sich bereits zu zersetzen, wie sie es schon oft getan hatte.
„Wir leben in einer Welt der Ordnung“, antwortete ich, darauf hoffend, dass sie es nicht missverstehen würde.
Sie tat es nicht. Zu gut kannten wir uns. Auf Livs Gesicht öffnete sich ein Lächeln, das schummrige Gänge wie diesen in klarstes Sonnenlicht tauchen konnte.
„Sag schon, was ist los?“
Es ging nicht anders, ich musste die Wärme zerstören. „Es ist … der Eingriff. Mir bleiben nur noch wenige Wochen …“
Das Lächeln flackerte, zuerst erlosch seine Strahlkraft, das Leuchten in diesem rohen, schmutzigen Tunnel. Dann wurde Livs Miene düster wie der Gang um uns herum, und ich wünschte bereits, ich hätte das Thema niemals zur Sprache gebracht. Denn ich wusste, was sie sagen würde. Was sie von mir erwartete.
Und sie sagte es auch, wie schon bei mehreren Gelegenheiten in den vergangenen Wochen: „Du musst dich entscheiden. Du weißt doch längst, was du willst.“
Und wie bei jedem vorherigen Mal antwortete ich durch ein Kopfschütteln. „Bislang weiß ich nur, was ich nicht will.“
Wir schwiegen eine längere Zeit. Irgendwo tropfte Wasser, ein langsamer, wiederkehrender Klang, an den ich mich klammerte, in der Hoffnung, seine Monotonie möge mir helfen, diese Minuten zu überstehen.
„Hast du die Tabletten bekommen?“, fragte Liv schließlich in neutralem Ton.
Ich nickte, dankbar, dass wir wieder über weniger unangenehme Dinge als unsere Zukunft sprechen konnten; über Dinge zumindest, mit deren Unumgänglichkeit wir uns abgefunden hatten.
„Gut. Dann hätten wir alles, für heute.“
„Also los“, antwortete ich, mit wieder wachsender Entschlossenheit in der Stimme, denn zum ersten Mal an diesem Tag war ich sicher, das Richtige gesagt zu haben.
Ich packte meine Bündel, Liv nahm ihre Taschen und Beutel. Leicht schwankend unter den Lasten verließen wir unser Refugium und kehrten zurück in den Treppenabgang, der freilich ebenso leer war. Kaum jemand stieg auf Ebene 0 hinab, schon gar keine Extender.
Die Treppe war lang, der Abstieg anstrengend. Unten erwartete uns ein weiterer dunkler, mit Ziegelwänden gemauerter Gang. Auch auf dieser Ebene stieß man auf einen Bahnsteig, allerdings erst, wenn man ein gutes Stück zu Fuß hinter sich brachte – eine zusätzliche Maßnahme der Abschreckung, denn fast niemand hätte sich diese Mühe gemacht. Der Gang zu Fuß galt gemeinhin als Zeichen von Armut und Schwäche.
Der Tunnelboden war uralt und von Rissen durchzogen, die mich, obwohl ich den Weg sehr gut kannte, einige Male ins Stolpern brachten. Alles auf dieser Ebene war alt, viel älter als das postmodernistische Zentrum von Union City: Der Gang, das Gewölbe, die Ziegel in den Wänden. Lediglich die Tunnelluft bildete eine Ausnahme, schmeckte überraschend, frisch und rein, so wie in der gesamten Stadt.
Wenn sich in den letzten Jahren etwas zum Guten entwickelt hatte, dann war es, dass die Zeiten der Smogglocken vorüber waren. Auf allen Stadtebenen – sogar auf dieser – gab es hocheffiziente Luftverteiler und Aufbereitungsanlagen. Gigantische Luftpumpen arbeiteten im Nutzland jenseits der Städte, den Ländereien, und bliesen sauerstoffreiche Winde über die Metropolen.
Die Ländereien waren zu dieser Zeit etwas wie die Vorrats- und Ressourcenkammer des Staates. Dort wurden jene Arbeiten erledigt, die nicht ins Bild der Städte passten: Die Erzeugung von Nahrungsmitteln, die die Bevölkerung versorgten, der Abbau von Rohstoffen, aus denen die Maschinerie bestand, die Gewinnung von Energie, die sie antrieb, die Einlagerung von Abfällen, die wir produzierten. Und eben auch der Transport von atembarer Luft in die Städte.
Liv und ich hätten das Leben dort dem in Union City vorgezogen, aber das war nur ein Traum und nicht realisierbar. Auf den Ländereien durften sich nie mehr Menschen aufhalten, als zum Erhalt des Systems nötig waren, und auch nur solche, die eine offizielle Genehmigung und einen klaren Arbeitsauftrag besaßen. Beides erhielten in unserer Zeit natürlich nur Extender.
Doch das Ländereien-Konzept war lange vor den Extendern entstanden. Ich kannte den Erlass nur aus der Geschichte. Einst, so hieß es, hatten die Menschen gelebt, wo sie es wollten. Dann hatte die Regierung aus Gründen, die nie genauer erklärt wurden, verfügt, dass menschliche Ansiedlungen und Nutzland zu trennen seien. Schließlich war ein Netz aus miteinander verbundenen Stadtflecken mit Oberstädten und Simps-Vierteln entstanden, und dazwischen das Land, das die Oberstädte versorgte.
Liv und ich folgten dem Tunnel. Zweimal mussten wir eine Pause einlegen, weil unsere Lasten zu schwer wurden, dennoch begegneten wir niemandem.
Nach einer halben Stunde erreichten wir eine Art Rampe, schwer erkennbar im fahlen Licht fleckiger Neonröhren. An deren Ende wartete ein Gefährt, das entfernt an ein Auto erinnerte, jedoch auf Schienen fuhr. Liv meinte immer, das Ding sähe aus wie eine Raumkapsel, mit der man zu fernen Planeten fliegen könne. Auf mich wirkte es eher wie ein gedrungenes, kauerndes Tier. Die offizielle Bezeichnung lautete „Schienengleiter C4“.
Wir bezahlten, indem wir nacheinander unsere Geldkarten vor einen Sensor hielten. Die Tür öffnete sich mit einem Zischen, nicht unähnlich einem Fauchen. Leicht strauchelnd unter unserem Gepäck zwängten wir uns hinein. Es war eng, obwohl der Innenraum Platz für bis zu vier Personen bieten sollte. Noch größere Gruppen waren auf Ebene 0 nicht erwünscht.
Kaum dass wir Platz gefunden hatten, setzte das Vehikel sich in Bewegung. Hinter uns glitt ein zweites an seinen Platz.
Es wurde keine gemütliche Fahrt. Alles ratterte, knarrte, schwankte und wirkte wie ein Relikt aus Urzeiten. Mehrmals ließen Gleisunebenheiten das Gefährt so heftig erbeben, dass mein Kopf ans niedrige Kabinendach stieß. Meine Hände umklammerten die Sitzbank, da ich Liv den einzigen Haltegriff überlassen hatte. Komfort war auf diesem Weg nicht zu erwarten, und wahrscheinlich wäre er auch unangemessen gewesen.
Nach einer Weile tauchten Lichter aus der Dunkelheit auf. Ich spürte, wie sich mein Körper bei diesem Anblick noch weiter versteifte, wie jeder Muskel in mir nach Flucht schrie. Gleich, in welcher Absicht ich herkam, unter diesen Lichtern fühlte ich mich wie ein Verbrecher. Schlimmer aber war, dass jene, die dort unserer harrten, genau das in Liv und mir sahen: Verbrecher.
Ein abrupter Ruck ließ das Gefährt stoppen. Harter Stiefelschritt, zu hören sogar durch die geschlossenen Scheiben, näherte sich uns.
„Aussteigen!“ Es war ein Befehl.
Liv kletterte als Erste hinaus, noch ehe die Aufforderung verhallt war. Ich folgte. Bereitwilligkeit war unsere Form des Widerstands, denn man erwartete von uns, dass wir Angst zeigten.
Der Mann, der zum Ausstieg aufgefordert hatte, trug eine schwere, graue Uniform, die eher für einen Kampfeinsatz ausgelegt schien als für die Tunnelwache, dazu einen Helm mit verschließbarem Visier, feste Schnürstiefel, Schlagstock und Pistole am Gürtel. In seinem Rücken warteten mindestens fünf weitere Uniformierte. Sie nahmen Liv und mich in ihre Mitte und führten uns zu einer Art Wachhäuschen. Davor stand ein altertümlicher Steintisch. Papieren lagen auf der Platte gestapelt, aber es gab auch einen Bildschirm und eine Vielzahl eingelassener Sensoren, die in Erinnerung riefen, in welch hochtechnisierter Epoche wir uns befanden. Rote Kameralichter blitzen uns aus dunklen Ecken entgegen.
Der Tunnel war keine andere Welt, er war Teil der Welt, wie wir sie kannten – einer jener Teile, die man bevorzugt tief unter der Erde oder hinter planenverhangenen Zaunanlagen verbarg.
„Name?“, fragte der Beamte hinter dem Tisch, in demselben herrischen Tonfall wie schon sein Helfer.
Liv trat als Erste vor. Ihre Haltung war ungebeugt, ihr Kopf hoch erhoben, und aus ihren Augen sprach eine Verachtung, die nicht einmal ein Extender zu übersehen vermochte. Wie tief der Tunnel auch war, sie suchte immer den Weg hinaus, viel zu furchtlos und lebensleicht, als dass irgendeine noch so grässliche Uniform sie einschüchtern konnte.
Ich erinnerte mich, wie ich diese Fahrt vor mehreren Jahren das allererste Mal an ihrer Seite bewältigt hatte. Ich hatte ihre Unverfrorenheit nur bewundern können, und die Selbstsicherheit, mit der sie den Beamten entgegengetreten war. Vielleicht hatte ich diese Fahrten überhaupt erst wegen Liv auf mich genommen, obwohl sicherlich auch andere Antriebe ihre Rolle gespielt hatten. Doch erst während der letzten Wochen, da es wegen des bevorstehenden Eingriffs bei mir beinahe zu spät war, hatte sich zwischen uns langsam etwas verändert.
„Olivia Margon“, beantwortete Liv die Frage des Beamten.
Der Mann sah zu mir, auffordernd, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Ich brauchte einen Moment, meine Gedanken zu sammeln.
„Artem Anwinkler“, sagte ich knapp.
Hinter dem Tisch, an der Wand des Wachhauses, hing ein in helles Weiß gerahmter Spiegel, seltsam deplatziert in dieser feindseligen Umgebung. Vermutlich war er dazu gedacht, den Ankommenden das Bild ihrerselbst vorzuhalten, klein und verletzlich, umgeben von finsteren Wachleuten. Man misstraute den Ankommenden, misstraute ihnen fast ebenso sehr wie den Herauskommenden. Vielleicht sollte das Spiegelbild ein Gefühl des Schams erzeugen, sich selbst in diese Lage gebracht zu haben. Doch in meinem Fall verfehlte es seinen Zweck – es verdeutlichte mir eher, dass, was ich tat, richtig und notwendig war.
In dem Spiegelglas sah ich mich selbst, und tatsächlich wirkte ich ein wenig blass, was möglicherweise auch an dem kalten Schummerlicht lag. Mit Sicherheit besaß ich nicht die kraftvolle Ausstrahlung Livs, aber es war schon viel besser geworden seit jenem ersten Mal, als ich am liebsten umgedreht und fortgerannt wäre.
Der Rest des Spiegelbildes war völlig unauffällig: Durchschnittliche Größe, halblanges, hellbraunes Haar, grüne Augen, schmales Gesicht, fliehendes Kinn, Bartansatz. Ich hätte jeder sein können, und doch war ich einer von ganz wenigen, die sich überhaupt an diesen Ort wagten.
Die Kontrolle setzte sich fort. Als nächstes wurden mithilfe unserer ID-Cards die Identitäten geprüft. Eigentlich war das alles vollkommen überflüssig, denn Liv und ich waren lange bekannt bei den Wachleuten. Trotzdem mussten wir jedes Mal das komplette Prozedere über uns ergehen lassen, und niemand ließ auch nur erahnen, dass er uns schon einmal gesehen hatte.
Nach erfolgter ID-Prüfung maß ein Biosensor unser Alter und bestätigte uns als Minderjährige, die noch keine Entscheidung über den Implantateinsatz hatten treffen müssen. Abschließend wurde unser Gepäck untersucht.
Stumm sahen wir zu, wie sie unsere Taschen, Beutel und Bündel durchleuchteten, einige öffneten und darin herumwühlten. Man durfte nur so viel mitnehmen, wie man am Körper zu tragen imstande war. Liv und ich reizten diese Grenze stets aus, und ein paar Mal hatten sie uns allen Ernstes genötigt, unsere Sachen aus dem Schienengleiter zu holen und ihnen zu beweisen, dass wir es schafften mit all den Sachen. An diesem Tag blieb uns der Test glücklicherweise erspart.
„Zulässig“, entschied der Mann, der offenbar der Chef der Wachgruppe war, am Ende der Inspektion. „Weiterfahren!“
„Auf Wiedersehen!“, entgegnete Liv bissig. Wir wussten, wir würden sie nur allzu bald wiedersehen. Nämlich auf dem Rückweg.
Der Beamte zeigte keinerlei Reaktion, was von einem Extender wohl auch nicht zu erwarten war, sondern schloss wortlos die Tür hinter uns. Sofort setzte das Vehikel sich in Bewegung.
„Du bist so schweigsam heute“, meinte Liv, selig, als wäre es die reinste Entspannung, durch einen düsteren Tunnel zu rattern und von einem Trupp Wachleute gefilzt zu werden.
Ich murmelte etwas Unverständliches. Viel zu oft schwieg ich. Und auch jetzt war alles zu kompliziert, konnte ich Liv nicht erklären, wie froh ich war, diese Fahrt, eingezwängt in einem kapselartigen Gefährt und mit Gepäck überladen, an ihrer Seite bewältigen zu dürfen. Welche Worte wären geeignet gewesen, um meine Niedergeschlagenheit zu beschreiben, dass diese Zeit mit meiner Eingriffsentscheidung ihrem Ende entgegenging? Und wie hätte ich den Mut aufbringen sollen, meine Irritation darüber auszusprechen, dass Liv immer wieder so tat, als wüsste sie gar nicht, dass mir, dass uns dieser Einschnitt bevorstand?
Dabei ahnte ich: Sie wollte mich nur provozieren, das Thema selbst aufzuwerfen, wie es ihr vor Beginn der Fahrt auch gelungen war. Sie wollte, dass ich Farbe bekannte – etwas, wozu ich mich nicht bereit fühlte.
Und als ich erneut den Mund öffnete, um ihr wenigstens diesen Umstand verständlich zu machen – da erreichten wir das Ende unseres Tunnelweges. Automatische Tore glitten zur Seite; das Sonnenlicht schlug uns entgegen wie eine weiß glühende Wand und erstickte die ungesprochenen Worte.
Das Vehikel schaukelte hinaus ans Licht und beschrieb eine enge Kurve, die es sogleich wieder in den Tunnel zurückführen würde. Bei meiner ersten Fahrt hatte ich noch geglaubt, es würde am Scheitelpunkt der Kurve stoppen, doch wahrscheinlich war schon das Ausdruck meiner Naivität gewesen. Der Haltepunkt lag direkt vor der Wiedereinfahrt ins Dunkle; man bekam den Rückweg vor Augen geführt, noch ehe man das Ziel erreicht hatte, und dachte fortwährend daran. Abschreckung genügte den Wachleuten nicht, sie wollten auch, dass, wer die vorangegangenen Hindernisse überwand, so schnell wie möglich wieder verschwand.
An diesem Punkt aber waren ihre Anstrengungen sinnlos. Der Platz hinter dem Haltepunkt mochte riesig und leer sein, die Betonwände kalt und abweisend, doch da waren die Menschen, die uns ihre Dankbarkeit spüren und die Tunnelgedanken vergessen ließen, deren Leben nicht selten abhing Livs und meiner Mission: Die Simps.
Die Ersten kamen, noch ehe wir ausgestiegen waren. Helfende Hände zogen uns aus dem Tunnelgefährt, nahmen uns Taschen und Bündel ab; man lachte und grüßte und bot kleine Erfrischungen an. Hier kannten sie uns und wir kannten sie, und nirgends tat man, als hätte man sich noch niemals gesehen.
Was Liv und mich in der Oberstadt so verdächtig machte, ließ sich recht einfach erklären: Wir waren Teil einer Hilfsorganisation. Der Jungspunde. Der Name war Programm, denn sie bestand ausschließlich aus Minderjährigen, die oft mehr oder minder kurz vor dem eigenen Eingriffsentscheid standen.
Die Hilfe war bitter nötig. Um die Ablehnung eines Implantats keinesfalls reizvoll erscheinen zu lassen, hatte die Regierung die Simps-Viertel in allen Städten fortlaufend verarmen lassen. Der Handel war praktisch zum Erliegen gekommen, selbst einfachste Zuarbeiten wurden mittlerweile von Maschinen oder den Extendern selbst übernommen. Die Simps mussten sich aus eigenen Kräften versorgen; was sie noch hatten, war die bröckelnde Substanz vergangener Tage, und zugleich nahm man ihnen immer mehr weg.
Wir Jungspunde waren die Einzigen, die zu helfen versuchten, die Einzigen außer den Sicherheitskräften, die überhaupt das verrufene Viertel betraten; Verwandtschaften und einstige Freundschaften spielten kaum eine Rolle. Für die Simps sammelten wir überlebenswichtige Güter – nicht Essen, so weit war es bisher noch nicht gekommen, sondern Medikamente, Solarbatterien als Ersatz für die gekappte Stromversorgung, Wasseraufbereitungstabletten, manchmal auch Kleidung und Haushaltswaren. Kleine Dinge zumeist, leicht transportierbar, aber von enormem Wert für die notleidenden Menschen. Oft übernahmen es Liv und ich, die gesammelten Güter ins Viertel zu bringen.
Es war eine schwere Mission. Da gab es nicht nur die Repressalien im Tunnel, sondern auch die schlichte Tatsache, dass kaum jemand zu spenden bereit war. Kein Extender scherte sich um Befindlichkeiten der Simps. Auch war es fast unmöglich, eine funktionierende Organisation aufrechtzuerhalten, wenn alle paar Monate führende Mitglieder die Altersschwelle erreichten und zu Simps oder Extendern wurden.
Es gab kaum Nachwuchs. Schon in unseren Jahrgängen konnten sich wenige bewusst an die Zeit vor dem Trennungserlass zurückerinnern, und die Jüngeren standen unter noch stärkerem Einfluss ihrer erweiterten Eltern, der allgegenwärtigen Werbung und staatsgetriebenen Ausbildung. Eines nicht allzu fernen Tages würde wohl in Vergessenheit geraten, dass die Verhältnisse einmal anders gewesen waren, dass sich Erwachsene nicht immer in Erweiterte und Ausgestoßene geteilt hatten.
Die Menschenmenge trug Liv und mich, jubelnd und grölend, fort von unserem Tunnelfahrzeug. Wir mussten uns nicht sorgen, dass jemand von den Hilfsgütern stahl – das war in all den Jahren noch nie vorgekommen. Die Simps sahen sich als Schicksalsgenossen, und die Solidarität unter ihnen war groß. Wohl aber mussten wir achtgeben, wie und wo wir die Güter verteilten. Es waren immer zu wenig.
Doch auch die Simps waren weniger geworden – wenngleich sich die Botschaft von unserer Ankunft rasch verbreitete und sie aus allen Straßen herbeigeströmt kamen, blieb die Menge wesentlich kleiner als noch bei meinen ersten Besuchen im Viertel. Die Verarmungs- und Isolationspolitik der Regierung verfehlte keineswegs ihre Wirkung. Immer mehr Simps entschieden sich für den nachträglichen Einsatz eines Extenders, und immer weniger Minderjährige verweigerten ihn. Selbst ehemalige Jungspunde traf man nur selten im Viertel.
Und, so schwer dieses Eingeständnis mir fiel: Die Not im Simps-Viertel war der Grund, weshalb auch ich vor einer Entscheidung gegen den Eingriff zurückschreckte. Es erschien einfacher, sich dem Glauben hinzugeben, als Extender ein wenig des eigenen Wesens bewahren zu können, zu leben, gleichermaßen für sich selbst wie für andere. Tief im Inneren jedoch wusste ich, dass diese Hoffnung reine Illusion war, sah es Tag für Tag an meinen Eltern und jedem Erwachsenen in unserer Straße, an ihrem Desinteresse und Missfallen, wenn Liv und ich ihre Hilfe erbaten.
Die Simps trugen uns weiter, zum gegenüberliegenden Ende des Platzes, wo Häuser und Straßen begannen. Hier gab es einen kleinen Markt, schrecklich verloren wirkend im Angesicht der riesigen Fläche leeren Asphalts. Früher hatten wir die Güter direkt verteilt, doch als Not und Bedürftigkeit immer weiter gewachsen waren, hatten wir uns anpassen müssen. Die Aufenthaltsdauer für Minderjährige war strikt auf drei Stunden begrenzt, deshalb gaben wir nun unsere Sachen in die Obhut der Händler, die sie an die Bedürftigen weiterreichten. Anfangs hatten wir ihnen misstraut, aber es waren ehrliche Männer, die fairen Handel betrieben und besser wussten als wir, wer die Hilfe gerade am dringendsten benötigte.
Cortus Radebrecher war einer von ihnen, auf den ersten Blick einer von vielen. Ein Stammabnehmer, ein Freund und auch an diesem Tag unsere erste Anlaufstelle. Der Mann musste weit über sechzig sein, doch jeden Tag stand er mit seinem Stand auf dem Markt. Vor dem Trennungserlass hatte er als Arzt gearbeitet und dabei genug Geld verdient, um sich den Ruhestand in der Oberstadt leisten zu können. Stattdessen verlebte er jetzt seine Tage im Viertel und verkaufte Arzneien, oder, wie er selbst sagte, er handelte mit ihnen. Es gab wenige Simps, für die Medikamente zum normalen Preis erschwinglich gewesen wären; den Großteil gab Radebrecher zum Nulltarif weiter. Wir – zwei Minderjährige mit ein paar Taschen zusammengescharrter Spenden – waren seine wichtigsten Lieferanten. Für die gesammelten Dinge verlangten wir nichts, doch bekamen wir stets eine großzügige Spende für unsere Organisation.
Andere, die kaum oder gar kein Geld besaßen, dankten uns mit Dingen, die oft noch der Zeit vor dem Trennungserlass entstammten. Meist waren sie zur Unterstützung der Jungspunde gedacht, manchmal aber auch nur für uns. Livs Halskette war das Geschenk einer alten, kurz darauf verstorbenen Frau gewesen, die keine Nachkommen im Viertel gehabt hatte. Zunächst hatte Liv sich geweigert, das wertvolle Schmuckstück überhaupt anzunehmen, doch die Bitten der alten Frau waren ergreifend gewesen. Sie hatte nicht gewollt, dass ihr Nachlass den Extendern und dem Staat zufiele. Schließlich hatte Liv nachgegeben, und seither trug sie die Kette jeden Tag um den Hals.
Die alte Frau und Radebrecher – das waren zwei von vielen Geschichten, die mir deutlich vor Augen führten, wohin die Extender und ihr Trennungserlass uns geführt hatten. Wohin es mich führen würde, wenn ich meine Wahl traf.
Radebrecher erwartete Liv und mich hinter seinem Verkaufstresen stehend, seine schweißfeuchte Glatze glänzte im Sonnenlicht. Hinter ihm, in einem breiten Schrank, lagerten die Arzneien, mit derselben Umsicht einsortiert wie in jeder Apotheke der Oberstadt. Wir befreiten uns sacht aus den Händen unserer Träger, aber die Masse folgte uns wie an unsichtbaren Haken gezogen. Jemand reichte Liv die benötigten Taschen. Auch als wir an den Tresen herantraten, blieben viele in unserer Nähe. Für sie ging es um mehr als die Dinge, die wir brachten. Wir waren auch ihre einzige Möglichkeit, an Nachrichten aus der Oberstadt zu gelangen. Meistens waren es schlechte, jedenfalls aus unserer und der Sicht der Simps, aber an diesem Tag hatten wir gar keine.
„Ausgerechnet heute. Und ihr kommt spät. Wollten sie euch nicht durchwinken?“
Radebrechers kratzige, von vielen Stunden im offenen Stand rau gewordene Stimme passte zu seiner gewiss etwas ruppigen Art. Hatte man sich jedoch erst einmal daran gewöhnt, konnte man kaum anders, als den Mann zu mögen, besonders nach der stocksteifen Förmlichkeit der Extender-Welt.
„Sie haben uns malträtiert und dann gehen lassen, alles wie immer“, antwortete ich, bemüht fröhlich.
„Geschieht euch recht, wenn ihr euch mit unsereins einlasst!“, entgegnete Radebrecher. Seine Miene wurde weicher, als er die Fläschchen entgegennahm, die Liv ihm reichte. „Ich meine, in unseren Zeiten ist es doch die Pflicht jedes ehrenwerten Bürgers, Ärger zu machen, nicht wahr? Ihr habt das einfach verdient, als Anerkennung … Penicillin? Nicht schlecht.“
Beinahe aus Versehen gelang mir ein echtes Lachen. Eigentlich hätte es mir unangenehm sein müssen, wie wir uns unterhielten, inmitten so vieler Leute. In Extender-Kreisen galt es als unschicklich, in großen Gruppen mehr als das Nötige miteinander zu sprechen, weil andere gestört werden konnten. Doch obwohl ich bei weitem nicht alle, die auf dem Markt waren, kannte und schätzte, gab mir die Menge das Gefühl, einer riesigen, einer echten Familie anzugehören. Ja, es war ein Genuss, so viel Gesprochenes zu hören, sogar wenn es belanglos war; Geplänkel und Witzeleien, die nicht einem bestimmten Nutzen oder der Förmlichkeit dienten. Die Anerkennung und Wertschätzung, die wir allenthalben genossen, taten ihr Übriges dafür, dass die Erfahrung, im Zentrum des Trubels zu stehen, nach der finsteren Einsamkeit des Tunnels eine durchaus angenehme war.
„Wie kommt ihr an all diese Sachen?“, fragte einer der wenigen jungen Männer unter den Simps. „Erzählt uns doch nicht, die Extender würden was Anderes spenden als Schrott.“
„Wir sind für die Verteilung zuständig und sammeln eher selten“, erklärte Liv. „Ansonsten wird eben zusammengetragen. Ich glaube, einer unserer Mitstreiter hat einen Vater, dem eine Apothekenkette gehört. Da zweigt er hin und wieder etwas ab, und die Schäden werden auf Fehler in der Abrechnung geschoben. Das ist gar nicht so schwierig, die Extender leben in ihrer eigenen Welt.“
Der Mann lachte schadenfroh, ich allerdings schaute Liv verwirrt an, vergaß für einen Moment sogar meine Sorgen wegen der Eingriffsentscheidung. Soweit ich wusste, betrieben wir unsere Sammelaktivitäten ausschließlich im legalen Bereich. Wenn man sie lange genug belästigte, ließen sich die Extender in der Regel eine kleine Spende abschwatzen, nicht aus Mitgefühl, aber damit sie wieder an ihre Arbeit zurückkehren konnten.
„Jetzt macht mal, dass ihr wegkommt!“, trieb Radebrecher die Versammelten zur Eile. „Sonst werden unsere zwei Helden nie fertig.“
Natürlich wurden wir unseren Anhang nicht los, und dementsprechend lange dauerte unsere Runde über den Markt. Weder Liv noch ich versuchten, die Leute abzuschütteln, doch so wohltuend all der Zuspruch auch war, schwebte dennoch die Drei-Stunden-Regel vor unseren Augen wie eine langsam sich senkende Schranke. Die Extender glaubten, wir würden die Spendengüter meistbietend verkaufen, nur deshalb hatten wir überhaupt eine Genehmigung zur Fahrt ins Viertel bekommen. Hätten sie gewusst, dass wir die Sachen praktisch verschenkten, hätten die Wachleute uns wohl nicht einmal in den Tunnel gelassen und obendrein wegen Schädigung des Wirtschaftskreislaufes eingesperrt. Bei unseren Aktionen mussten wir immer auf der Hut sein vor Spitzeln, doch zum Glück kannten sich auf dem Markt alle untereinander und gaben Acht auf fremde Gesichter.
Eineinhalb Stunden vergingen, bis Liv und ich sämtliche Händler auf dem Platz abgeklappert hatten. Die übriggebliebenen Sachen verkauften wir für kleines Geld in ein paar nahen Geschäften. Liv führte die Gespräche mit den Händlern, ich hielt mich weitgehend heraus.
Früher waren wir tiefer in die Straßen vorgedrungen, doch jetzt blieben wir immer in der Nähe des Platzes. Neben der unerbittlich herunterlaufenden Zeit gab es dafür auch andere Gründe. Mochte die zur Schau gestellte Solidarität noch so groß sein, in einem Viertel, in dem die Not ständig wuchs, gab es zwangsläufig Ecken, die zu besuchen nicht klug war. Und die Not war allgegenwärtig, selbst hier, in den besseren Straßen. Sie nistete in heruntergekommenen Häusern, kroch hervor aus dem löchrigen Asphalt, lauerte in dunklen, schäbigen Ecken. Wenn es noch länger so weiterging, die Regierung die Handelsblockade aufrechterhielt oder gar verschärfte, würde das Viertel zu einem Slum verkommen, und wie weit dann noch die Einigkeit unter den verbliebenen Simps reichen würde, konnte niemand sagen.
Konnte ich hier leben, inmitten dieser stetig wachsenden Not? Konnte ich mich entscheiden, hier zu leben? Noch immer hatte ich keine rechte Antwort darauf. Vielleicht, weil es bei erzwungenen Wahlen keine rechten Antworten gab.
Eine halbe Stunde trennte uns vom Ende der Zeit, als Liv und ich schließlich wieder den Marktplatz erreichten. Es tat weh, sehen zu müssen, wie die Simps an den Ständen um unsere Güter feilschten, in dem Wissen, dass es auch diesmal nicht für alle reichen würde, und dass wir mehr ihnen nicht bieten konnten, dass unsere Taschen leer waren. Zugleich brachte das Verlassen der teils zwielichtigen Straßen eine gewisse, unleugbare Erleichterung mit sich. Ich wusste jedoch: Dieses Gefühl würde äußerst rasch weichen, sobald die ablaufende Besuchszeit Liv und mich zurück ins Dunkellicht des Tunnels und in die Oberstadt zwang.
Cortus Radebrecher hantierte hinter seinem Stand an einem Schriftkommunikator herum. Da er unsere erste Anlaufstelle gewesen war, waren die wichtigsten Medikamente bereits vergriffen und der Stand im Gegensatz zu den übrigen beinahe verwaist. Auf dem Tresen standen drei dampfende Tassen mit Kräutertee.
Schon oft, in Zeiten, als meine Eingriffsentscheidung noch fern und eine gewisse Unbeschwertheit möglich gewesen war, hatten wir unsere Restzeit an Radebrechers Stand verbracht. Nach gelungenen Verteilungen hatte sich der Alte geradezu redselig gegeben, und sein menschenfreundlicher Kern war nicht mehr nur zu erahnen gewesen.
An diesem Tag jedoch schmeckte unser Tee bitter, war Radebrechers Miene noch düsterer als bei unserer Ankunft, und zudem auf eine seltsame Weise gespannt. Rückblickend hätten wir diese Zeichen erkennen sollen.
„Gerüchte“, murmelte Radebrecher, kaum dass wir vor ihm standen. Mit einer Hand schob er die Teetassen über den Verkaufstresen, mit der anderen ließ er den Kommunikator in einer Schublade verschwinden.
„Wieder ein bevorstehender Extender-Zwang?“, fragte Liv scheinbar gelangweilt. Doch ich wusste, dass ihre Gelassenheit an dieser Stelle genauso wenig echt war wie meine. Seit sie ihre Entscheidung gegen den Eingriff getroffen hatte, bestand Livs größte Angst in dem Verlust dieser letzten, so unendlich bedeutsamen Selbstbestimmung – darin, dass ihre Wahl zur Makulatur verkommen könnte, dass eines Tages Simps wie Minderjährige zum Eingriff gezwungen wären. Bislang hatten sich alle dahingehenden Mutmaßungen als falsch herausgestellt, doch sie wirkten jedes Mal wieder glaubhaft. Der Zwang zum Implantateinsatz schien nur der nächste, logische Schritt. Wer hätte sich dagegen erheben sollen? Die Simps waren zu wenige und zu isoliert. Die Extender beherrschten Staat und Gesellschaft, nein, sie waren Staat und Gesellschaft; originäre Menschen standen schon lange am äußersten Rand. Sie konnten tun, wozu auch immer ihre Implantate sie trieben.
„Ein Bekannter von mir hat sich selbst eine Antenne konstruiert“, erklärte Radebrecher, ohne Liv und mich anzusehen. „Damit kann er Oberstadt-Fernsehen empfangen.“
„Und?“, hakte Liv nach. Unter normalen Umständen war den Simps der Zugang zu Informationsquellen wie Fernsehen verwehrt. Schon der Kommunikator, den Radebrecher besaß, war ungewöhnlich.
„Sie haben es auf allen Kanälen verkündet.“ Radebrecher zögerte, sein Blick blieb auf einen Bereich jenseits unserer Köpfe geheftet, so als wolle er sich vergewissern, dass wir nicht belauscht wurden – oder als würde er in unserem Rücken nach etwas suchen.
„Es wird einen neuen Regierungserlass geben. Worüber, haben sie nicht gesagt, nur dass er kommt … bald.“
Der warme, bittere Tee, der meinen Magen durchlief, wurde zu einem eisigen Frösteln, als hätte man mich in die tiefsten Tunnel von Union City verbannt. Erlasse waren nicht zu vergleichen mit den detailverliebten Gesetzen, wie sie früher fast täglich verabschiedet worden waren. Sie veränderten das Leben der Menschen, das Wesen des Staates, in jüngerer Zeit die Verteilung von Simps und Extendern. Was sollte kommen, wenn nicht ein Extender-Zwang? Blitzschnell entwarf ich im Geist eine Vielzahl Szenarien, die meisten hanebüchen und vollkommen realitätsfern, und klammerte mich dennoch an jedes einzelne von ihnen. Was auch immer ich tat, ich wollte nicht leben als Teil einer Welt, in der jeder nur klaglos im Abarbeiten seiner tagtäglich vorgegebenen Aufgabenliste gefangen wäre.
Liv hingegen tat etwas sehr Merkwürdiges. Nach einem kurzen Moment der Schockstarre blickte sie auf ihre Uhr. Vielleicht ahnte sie, dass es für uns an der Zeit gewesen wäre, das Viertel zu verlassen; vermutlich rang sie wie ich mit Ängsten und sinnlosen Mutmaßungen. Im Gegensatz zu mir hätte sie sich niemals der Hoffnung auf Milde von Seiten der Extender hingegeben, sondern versucht, Pläne zu schmieden für den schlimmsten Fall: Pläne, den Erlass zu verhindern und gegen den Zwang anzukämpfen.
Wie es der Zufall wollte, mahnte auch Radebrecher in diesem Moment: „Ihr solltet jetzt gehen.“ Ich wünschte, wir hätten es tun können, wären fortgerannt, soweit unsere Beine uns trugen. Vielleicht wäre vieles dann anders gelaufen.
Meine Aufmerksamkeit aber ging fort von Livs verhärteter Miene, folgte dem Blick des alten Radebrechers, der urplötzlich nach oben, in Richtung des Tunnelausgangs, geschnellt war.
Allüberall auf dem Platz merkten die Menschen auf. Die Simps besaßen eine Art sechsten Sinn für sich öffnende Tore, denn wann immer Tunnel und Platz sich verbanden, wurden ihnen eine große Erleichterung zugetragen, oder aber noch größeres Leid.
In diesem Fall wusste jeder sofort, worum es sich handelte. Es war nicht der kleine Vehikel-Durchlass für Besucher, der lautlos aufglitt, sondern die haushohen Torflügel daneben. Ich hatte sie noch niemals offen gesehen, obwohl ich bei jedem meiner Besuche viele Male den Blick zurück gewagt hatte, über den so fürchterlich leeren Platz hin zu den blankgeschliffenen Felswänden der Klippe und weiter in Richtung des Stadtzentrums, wohin ich unweigerlich zurückmusste.
Nie hatte ich gewusst, welcher Teil dieser Aussicht der niederschmetterndste war. Das Simps-Viertel war Beuteland, der Zugangstunnel mit seiner gerundeten Betonfront eine Schlange, die im letzten, einzigen Durchlass zur Oberstadt Stellung bezogen hatte – eine monströse Schlange aus Beton, eingerahmt von senkrechtem Fels, mit Stacheln und Auswüchsen an ihrer Oberseite, wo halb verdeckt von Stein, Sand und Zement die höchsten Gebäude der Zentralebenen in den Himmel ragten.
In diesem Moment war geschehen, womit ich längst hätte rechnen sollen: Die Schlange hatte ihr Maul aufgerissen, und heraus quoll das Gift. Mannschaftswagen, vollbesetzt mit schwer bewaffneten Polizisten, Reiterstaffeln und sogar gepanzerte Wagen des Staatsschutzes, erkennbar an dem Wappen, das auf jedes einzelne der Fahrzeuge aufgesprüht war – ein weißes, ein schwarzer und ein goldenes Band, ineinander verflochten, als wollten sie sich die Hände reichen.
Ich kannte die Extender-Welt in all ihrer Tücke und Kälte, doch diesen Anblick vermochte ich nicht zu begreifen.
Die Kolonne aus Fahrzeugen und Reitern schien endlos. Mit jeder Einheit, die aus dem Dunkel des Tunnels erschien, wuchsen Aufruhr und Furcht auf dem Markt. Einige Simps rannten schon in die angrenzenden Straßen davon, doch da waren auch andere, die vortraten und sich als bloße Kette von Menschen dem Zug der Waffen und Schwerbewaffneten entgegenstellten.
Meine Hand zuckte, wie im Wunsch, diese Leute zurückzuhalten. Nie hatte ich eine für sich genommen friedliche Aktion gesehen, die von derart unbändiger Wut kündete – ja, ich erkannte, welche Wut in diesen Menschen schlummerte, die so viele Entbehrungen auf sich genommen hatten, die jubelten, wenn wir kamen mit Medikamenten und Batterien. Es war eine lang aufgestaute Art von Wut, über Jahre gewachsen, bis sie schließlich die Grenzen der Unterdrückung sprengte, freilich ohne dass diese verschwand oder die andere Seite zum Nachgeben bereit wäre – eine beklemmende Gemengelage, die unweigerlich in die Katastrophe führen musste.
Immer mehr Simps schlossen sich an, ihre Kette reichte von einer Seite des Platzes zur anderen. Die Staatsschutzwagen rollten weiter, unerbittlich, stoppten erst im letzten Moment, schnaubend und stampfend wie Kriegsmaschinen aus vergangenen Jahrtausenden. Der Anführer der Reiterstaffeln wechselte ein paar Worte mit einem der Simps. Selbst auf die Entfernung waren die barschen Aufforderungen zu verstehen.
Die Simps blieben stehen.
Da knallten die Schüsse.
Was wir erlebten, war nicht die kaltblütige Durchsetzung eines makabren Planes, kein Resultat gefühlsloser Logik. Die Kugeln töteten Simps, aber sie offenbarten auch die wohl größte Schwäche, die die Extender verbargen. In Büros und Kasernen lösten sie jedes Problem, doch unvermittelt auftretenden Situationen, die den Takt ihres organisierten Lebens durchbrachen, zeigten sie sich selten gewachsen, und allzu schnell gerieten die Dinge außer Kontrolle.
Hätten sie drei Stunden zuvor schon etwas im Schilde geführt, einen Angriff, eine Razzia, was auch immer, sie hätten Liv und mich niemals in das Viertel hineingelassen. Nun, auf dem Platz, hätten nichts weiter tun müssen, als die vergleichsweise wenigen Blockierenden festzunehmen, und alle Wege ins Viertel hätten ihnen offen gestanden.
So aber schrien Menschen, rannten sie durcheinander, doch es geschah auch, dass sie sich wehrten.
Radebrecher zehrte uns fort vom Platz, in die Straßen, noch ehe wir begriffen, was passiert war. Zu viele Menschen waren auf dem Markt gewesen, unseretwegen, und von allgemeiner Solidarität war nun nichts mehr zu spüren. Ladenbesitzer verrammelten ihre Türen, man wurde angerempelt, Menschen strauchelten, wurden niedergetrampelt. Hinter uns hörten wir bereits das Röhren der Motoren. Ich glaube, sie schossen nicht mehr, doch vor meinen Augen floss das Blut der Getöteten, und mein eigenes Herz pochte, dass mich Schwindel befiel.
Ich sah einige, die versuchten, Barrieren zu errichten, Kisten von einem Karren auf die Straße kippten und sie in Brand setzten. Warum? – Es war sinnlos, so sinnlos, und würde nur weiteres Leid bringen. Schon sausten Panzerwagen an uns vorbei und rammten die Hindernisse einfach beiseite. Dann erschallten Durchsagen, so ohrenbetäubend laut, dass sie jedes Geschrei übertönten. Ausgangssperre. Wer draußen blieb, würde erschossen.
Meine Gedanken waren zu wirr, um das Geschehen begreifen zu können. Unvorstellbare Gräuel waren vor meinen Augen begangen worden, unvorstellbar, bis man sie wirklich durchlebte, und selbst danach noch. Was folgte, war eine Hatz ums eigene Überleben, und Worte wie Angst oder Panik konnten nicht mehr beschreiben, was ich empfand. Erneut peitschten Schüsse durch die Luft; wie in Wellen warfen sich die Menschen zu Boden, duckten sich, stolperten, rangen nach Luft, blieben liegen, und dann schrie Liv auf.
„Liv!!“ Ich brüllte, wie ich noch nie im Leben gebrüllt hatte.
Liv war auf dem Boden zusammengesunken, ein zitterndes Bündel von Restleben. Ihre linke Hand umklammerte krampfhaft den rechten Oberarm, der unter den Körper gepresst war. Der Ärmel hing in Fetzen, und darunter breitete sich ein Blutfleck aus.
Radebrecher stieß mich grob beiseite, kniete sich neben Liv und zog ihre Hand von der Wunde.
„Schon gut“, hörte ich ihn murmeln, mehrmals, während er die Verletzung untersuchte. „Keine Kugel, nur ein Splitter.“
Der alte Arzt richtete sich auf, und mit erstaunlicher Kraft hob er Liv vom Boden empor. Ich versuchte, ihm zu helfen, aber meine zitternden Beine vermochten die Last kaum zu tragen. Irgendwie arbeiteten wir uns vorwärts, durch das Gedränge flüchtender, panischer Menschen, an irgendeiner Hauswand entlang, bis zu einer Tür, die Radebrecher aufstieß. Gemeinsam trugen wir Liv über die Schwelle. Mein ganzer Körper zitterte, der Atem ging stoßweise, jeder Stoß eine neuerliche Woge des Entsetzens, die mir durch die Glieder strömte wie Gift.
„Was … was ist mit ihr?“, stammelte ich.
Radebrecher hatte die Tür ins Schloss geworfen und kniete bereits neben Liv. Er hatte die Erste-Hilfe-Tasche hervorgeholt, die er stets bei sich trug, und fingerte eine sterile Pinzette heraus.
„Ich muss den Splitter herausziehen. Schaffst du’s?“
Liv nickte, vielleicht war es auch nur ein Zucken, das ihren Körper durchlief. Ihr Gesicht war von Tränen und Schweiß überströmt, ihr Körper wurde von stummen Schluchzern geschüttelt.
„Hier“, sagte Radebrecher und reichte ihr ein Stück mit rauem Stoff umwickeltes Holz, auf das sie beißen konnte. Einer Eingebung folgend kniete ich mich an Livs andere Seite und schloss ihre linke Hand fest in meine. Flatternd öffneten sich ihre Lider, und Livs Augen fanden die meinen. Ganz kurz schaute ich zu der Wunde und bereute es augenblicklich, als ich sah, wie tief die Pinzette hineindrang. Livs Finger spannten sich, dass die Nägel blutige Furchen in meine Handfläche gruben, ihrem Mund entwich ein knebelgedämpftes Keuchen.
Dann war es vorbei. Die Greifer von Radebrechers Pinzette hielten einen winzigen, blutig verfärbten Steinsplitter.
Der alte Arzt legte das Instrument auf eine Kommode, reinigte die Wunde und sprühte ein Desinfektionsmittel darauf. Anschließend umwickelte er sie mit einem Mullverband, dessen innere Schichten sich sogleich mit Blut vollsogen.
„Du hast Glück gehabt. Der Splitter hat keine Arterien oder Nervenbahnen verletzt. Es ist nicht allzu schlimm.“
Liv schaffte kein Lächeln, auch ich brachte nur ein mattes „Danke“ heraus, irgendwo zwischen Erleichterung und Erschöpfung. Radebrecher stieß einen Seufzer aus, dann ließ er sich, mit einem Mal von aller Kraft verlassen, neben uns auf den harten Boden sinken.
Zu dritt hockten wir da, mit dem Rücken an die kahle Steinwand gelehnt, lauschten Livs Atem und dem allmählich verklingenden Keuchen darin. Ihre und meine Hände waren unverändert fest ineinander verschlungen. Es brannte, wo Livs Fingernägel sich in meine Haut gebohrt hatten, dennoch ließ ich nicht los. Keiner von uns schien überhaupt mehr zu einer Bewegung fähig. Nach und nach drangen die Ereignisse in ihrer vollen Wucht an unser Bewusstsein, und mit ihnen eine andere Art von Schrecken: Ein Gefühl von Betäubung, von Ausweglosigkeit – das Grauen, in einer todbringenden Falle gefangen zu sein, ohne jede Aussicht auf Rettung. Draußen war es ruhiger geworden, doch man hörte den Klang schwerer Räder und gelegentlich einen Schrei, und noch immer gelang es mir nicht, zu verstehen, was im Viertel passierte. Vor einer halben Stunde noch war die Welt in relativer Ordnung gewesen, hatte ich mich wegen meiner Wochen entfernten Eingriffsentscheidung und eines unbekannten Erlasses gesorgt.
„Wo … wo sind wir?“, fragte ich schließlich mit noch immer zittriger Stimme.
„Na, was glaubst du denn?“, schnauzte Radebrecher zurück, wieder ganz in seinem grantigen Selbst schlechterer Tage, und dies war der wohl schwärzeste Tag, den unsere Welt jemals gesehen hatte.
„Bei mir natürlich.“
An anderen Tagen wäre ich auf diese Aussage hin vielleicht neugierig geworden, hätte ich verstohlen damit begonnen, mich in dem Flur umgesehen. Hier und jetzt gab es nichts außer dem harten Boden, der kahlen Steinwand und Livs Hand in meiner. Plötzlich wurde mir klar, wie unbequem es für sie sein musste.
„Wir sollten sie nicht hierlassen. Sie irgendwo … hinbringen.“
Ich merkte selbst, wie furchtbar unbeholfen meine Worte sich anhörten. Seit Jahren kämpfte ich darum, entschlossener zu werden, Mut zu erlangen, doch im mahlenden Getriebe von Union City ließen sich Tugenden aus Heldenerzählungen schwerlich erlernen.
Obwohl es natürlich nicht das erste Mal war, dass ich mich mit Verletzungen, sogar mit dem Tod konfrontiert sah. Vor drei Jahren waren meine letzten lebenden Großeltern gestorben, beide zugleich, bei einem schrecklichen Unfall. Alle waren gekommen zur Trauer und Beisetzung: Verwandte, Bekannte, Menschen, die man nie zuvor gesehen hatte und auch nie wiedersehen würde, außer zu Anlässen des Todes. Sie alle waren gekommen und hatten die uralten Rituale zelebriert. Doch hatten sie lediglich getan, was man in solchen Fällen immer tat, ohne weitere Gedanken an dessen Sinn zu verschwenden …
Radebrecher verschwand ins obere Stockwerk, um für Liv ein paar Kissen zu holen. Vermutlich wäre es einfacher gewesen, sie in eines der Zimmer zu bringen, doch ich war froh über den kurzen Augenblick, den wir für uns waren. Es war beängstigend, dass ich im Zusammenhang mit Liv – und mir selbst – an den Tod denken musste.
„Wie geht es dir?“, flüsterte ich.
Liv wiegte leicht den Kopf. Ihr Gesicht wirkte ungewohnt hell durch Blässe und Tränenfilm, doch ihre großen, dunklen Augen waren geöffnet und glänzten. „Es geht schon. In dem Spray muss ein Schmerzmittel gewesen sein. Nur schwere Taschen werde ich so schnell nicht wieder ins Viertel schleppen.“
Ich lachte, ohne zu wissen, warum. Kaum etwas konnte bitterer sein als diese harmlose Aussage. Livs Verletzung würde heilen, doch ob der Zugang zum Viertel jemals wieder geöffnet, ob es überhaupt noch ein Simps-Viertel geben würde, stand in den Sternen. Selbst wenn es so käme, würden nach diesem Einsatz etliche Wochen vergehen, bevor die Extender zur Normalität zurückkehrten – Wochen, nach denen meine Zeit abgelaufen wäre. Und hätte ich überhaupt noch einmal, den Wegen der Extender folgend, mich ihrem Regelwerk fügend, den Einlass ins Viertel erbitten können?
Nein, ich wusste, wir würden nie wieder durch diesen Tunnel fahren.
„Liv …“ Sogar jetzt noch fiel es mir schwer, die Worte zu finden. Mir war klar, einmal ausgesprochen würden sie mich mein ganzes Leben begleiten. Dennoch war ich selten so sicher gewesen in einem Entschluss.
„Ich weiß nicht, ob wir noch die Wahl haben werden. Aber wenn doch … Nach allem, was ich heute sehen musste, was sie den Simps … und dir … antun, kann ich kein Extender mehr werden. Ich werde mich zum Simp bekennen.“
Für einen winzigen, wertvollen Moment hellte Livs Miene sich auf, für einen Augenblick, in dem auch der kahle, kalte Flur in ihrem Licht zu erstrahlen schien. Doch das Leuchten war von kurzer Dauer, fast sofort legten sich wieder tiefe Schatten darüber.
„Das wird wohl nicht mehr die Frage sein.“
Sie hatte Recht. Es war eine Aussage von erbärmlicher Schwäche. Wie immer hinkte ich in meinen Entscheidungen hinterher. Liv hatte schon Hilfsgüter verteilt, als ich noch auf dem Schulhof Fangen gespielt hatte. Sie hatte den unumstößlichen Entschluss gegen ein Implantat gefällt, als ich noch Jahre des Zauderns vor mir gehabt hatte. Es war kaum zu glauben, dass sie eigentlich die um ein paar Monate Jüngere war. Doch während ich in der Vergangenheit zumindest immer gewusst hatte, welche Verzweigungen es zu bewältigen galt, wohin die unterschiedlichen Wege mich führen würden, hatte ich jetzt nicht einmal die leiseste Vorstellung, was wir tun konnten. Die Ausgangssperre hielt uns in diesem Flur, und sie hätte genauso gut ewig andauern können.
Radebrecher kam zurück, in den Armen nicht nur ein paar Kissen, sondern ein ganzes Sammelsurium an Dingen, von der Klappliege bis zur Wasserflasche. Ich sprang auf, um ihm zu helfen, doch mit einer ungeduldigen Geste wies mich der Alte zurück. Aus irgendeinem Grund schien er nicht zu wollen, dass wir von seiner Wohnung mehr als den Flur sahen.
Ächzend stellte Radebrecher die Sachen ab und reichte Liv als Erstes ein paar Taschentücher, mit denen sie ihr Gesicht abwischen konnte. Als der Alte meine Handfläche sah, bestand er darauf, auch diese zu verarzten.
„Tut mir leid wegen der Kratzer“, bedauerte Liv.
Ich winkte ab. „Das ist jetzt wirklich kein Thema.“
„Was glaubt ihr, was die vorhaben, da draußen?“, flüsterte Liv. Aus eigener Kraft hievte sie sich auf die Liege, verzog das Gesicht, blieb aber aufrecht sitzen. „Warum das … alles?“
„Weiß die Hölle“, knurrte Radebrecher.
„Um uns wird es bestimmt nicht gehen“, versuchte ich zu beruhigen. „Sie hätten uns einfach auf dem Marktplatz festnehmen können.“
„Nein, lieber Artem, um uns geht es bestimmt nicht …“
Ich glaube, unbewusst hatte ich auf genau diese mürrische Erwiderung Radebrechers gehofft. Obwohl ich nicht davon ausging, dass mehr dahintersteckte, festigte sie in mir den Glauben, wir wären in diesem Flur sicher, wären wir mit dem Verschließen der Haustür der Gewalt auf den Straßen entronnen.
Natürlich war auch dieser Glaube eine Illusion, und sie enttarnte sich, noch ehe ich Hoffnung schöpfen konnte. Die Sicherheit hinter der Haustür war genauso wenig echt gewesen wie das Hologramm in der Oberstadt-Wohnung – ein Trugbild, ein Versuch, sich die Wirklichkeit angenehmer darzustellen, als sie es war. Wir waren so sicher, wie man es als Fußgänger in der Mitte einer sechsspurigen Verkehrsader gewesen wäre. Vielleicht brausten sie vorbei, die fahrenden Geschosse, doch man selbst war vollkommen ohnmächtig, hilflos, ausgeliefert gegenüber unbeeinflussbaren Gewalten. Wenn man uns einen Moment des Durchatmens gewährt hatte, so hatte dieser doch abgehangen von Gnaden der Extender und unserem Glück.
Auf keines von beidem sollte man setzen, und das musste ich an diesem Tag schmerzvoll erfahren, spätestens als eine ganze Salve von Schüssen in das Gebäude einschlug – Schüsse, die keinem Maschinengewehrfeuer entstammten, sondern schwerer Artillerie, Geschwaderfeuer, das Mauern wanken und Steine und Fenster zerbersten ließ und unseren Flur in den dichten, erstickenden Staub der Zerstörung hüllte.
Ich wusste nicht länger, was um mich herum geschah, ob dort überhaupt noch etwas war, ob vielleicht die Zeit stehen geblieben war und es auf ewig so weitergehen würde; konnte mich nur noch zusammenkauern zu einem bedeutungslosen, wehrlosen Punkt inmitten der Zielschneise, wo ich auf den Tod wartete, der jedoch nicht kam. Kugeln und Feuer trafen mich nicht, und ganz, ganz allmählich drang die Erkenntnis zu mir, dass die Geschosse in einem anderen Teil des Hauses eingeschlagen sein mussten, vielleicht auch ins Nachbargebäude.
Ihre Wucht war dennoch gewaltig gewesen, hatte Löcher in einst feste Stützen gerissen, und die Standfestigkeit des gesamten Hauses schien angegriffen. Es knackte, und irgendwo rumpelte etwas. Wie in Trance öffnete ich die Augen, hätte sie fast sofort wieder geschlossen ob des beißenden Staubs, der in der Luft lag, kämpfte mich auf die Füße. Als wäre dies ein Weckruf gewesen, eine Aufforderung, weiterzuleben, sich nicht dem Schicksal zu ergeben, richtete auch Liv sich auf, und dann war es der alte Radebrecher, der hochschoss wie jemand, der aus einem Albtraum aufschreckt, einen Moment schwankte und dann durch den Flur davonstampfte.
„Cortus!“, schrie Liv. Nie zuvor hatte sie ihn beim Vornamen genannt. „Wir müssen raus!“
Radebrecher hielt kurz inne, wirkte, als hätte man ihn aus einer anderen Welt herausgerissen, einer Welt, in der Liv und ich mit Sicherheit nicht willkommen waren. Die Staubwolken hatten ihn beinahe verschluckt, nur schemenhaft konnten wir seine Silhouette erkennen.
Unvermittelt riss der Alte eine Tür auf, hinter der ein finsterer Abgang hinabführte.
„Geht in den Keller! Bleibt dort!“
Und schon war er durch eine andere Tür verschwunden.
„Nein, Cortus!“, schrie ich, und Liv rief etwas Ähnliches, doch der Alte ließ sich nicht aufhalten.