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Findelkind Eyla wächst beim Stamm der Acumander auf. Kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag macht sich eine außergewöhnliche Fähigkeit bei ihr bemerkbar. Nothea ihre Adoptivmutter gibt Eyla den Rat, die Gabe geheim zu halten. Doch als Nothea stirbt, bricht für Eyla nicht nur die Welt zusammen, sondern auch ihre Gabe wird allen bekannt. Der Ältestenrat will Eylas Fähigkeit nutzen, aber sie ist noch zu jung. Zuerst muss Eyla lernen ihr plötzliches Verschwinden zu kontrollieren. Dafür zieht sie zu Senelo nach Nuskahan. Arcarius der Ratsvorsitzende lässt nicht locker. Eyla soll ihre Schuld gegenüber dem Volk der Acumander abtragen und die Widersacher des Ältestenrates ausspionieren. Eyla weigert sich und so bleibt ihr nur die Flucht über die Nordlandberge. Findet sie dort eine neue Heimat und Antworten auf ihre unzähligen Fragen?
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Seitenzahl: 298
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Eyla zwischen zwei Welten
Fantasy Roman
Hannelore Thürstein
IMPRESSUM
Dieses Buch ist ein Kreativroman. Alle Charaktere, Geschehnisse und Schauplätze, die in dem Roman geschildert werden, sind frei erfunden und der Fantasie des Autors entsprungen.
Texte: © Copyright by Hannelore Thürstein
Umschlaggestaltung: © Copyright by Heather Dale, www.patchworkdog.com
Hannelore Thürstein
32 Carey Parade
Tamborine Mountain 4272
Qld Australien
Vertrieb: epubli - ein Service der Neopubli GmbH Berlin
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Widmung
Für alle deren Leidenschaft das Lesen ist
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel 1 Notheas Wunsch geht in Erfüllung
Kapitel 2 Maranas Seele auf Wanderschaft
Kapitel 3 Eyla erfährt die Wahrheit
Kapitel 4 Die Tragödie
Kapitel 5 Paratheles Angebot
Kapitel 6 Eyla zieht nach Nuskahan
Kapitel 7 Pflichten und Fortschritt
Kapitel 8 Traumvisionen
Kapitel 9 Die letzte Prüfung
Kapitel 10 Eylas Flucht über die Nordlandberge
Kapitel 11 Neue Begegnungen
Kapitel 12 Die Seherin
Kapitel 13 Gewissheit für Ascella Rhan
Kapitel 14 Fürst Khons Auftrag
Kapitel 15 Auf der Suche nach dem Weg
Kapitel 16 Senelo trifft eine Entscheidung
Kapitel 17 Eylas erste Reise in die Zukunft
Kapitel 18 Senelos schwerer Verlust
Kapitel 19 Eyla kehrt zurück nach Minelouva
Kapitel 20 Die Acumander bereiten sich vor
Kapitel 21 Rettung des geistigen Erbes
Kapitel 22 Letzte Reise durch die Zeit
Kapitel 23 Erkenntnis und Bestimmung
Prolog
Senelo blickte mit ernstem Gesichtsausdruck auf seinen ehemaligen Schüler Parlon. Er machte sich große Sorgen um ihn. In seinen Augen war Parlon dabei einen unwiderruflichen Fehler zu begehen.
"Du weißt, dass du dein Leben riskierst", bemerkte Senelo mit warnender Stimme.
Parlon blickte hilflos auf den roten Sand vor seinen Füßen. Ja, er wusste es nur zu gut.
"Aber Arcarius besteht darauf."
"Arcarius kann nicht wollen, dass du stirbst."
Parlon erwiderte nichts. Das Arcarius darauf bestand, entsprach nicht ganz der Wahrheit. Der Ratsvorsitzende hatte zwar versucht ihn unter Druck zu setzen, aber auch er selbst hatte einen triftigen Grund für diese Reise. Doch den wollte er Senelo gegenüber verschweigen.
"Du kannst mich nicht davon abhalten, Senelo."
Senelo seufzte. "Wie du willst, Parlon. Dann kann ich nichts weiter tun, als dir Glück wünschen." Senelo blickte traurig in Parlons Augen und sah sofort, dass er ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen konnte. Parlon war fest entschlossen diese Reise anzutreten. Senelo aber ahnte wohl, dass es diesmal für Parlon, der wie ein Sohn für ihn war, nicht gut ausgehen würde und das Einzige, was er noch für ihn tun konnte, war, hier an dieser Stelle auf ihn zu warten.
"Ich bleibe am Ufer des Sees, und warte auf deine Rückkehr", sagte Senelo.
Parlon nickte dankbar, drückte Senelo die Hand und machte sich dann bereit für seine letzte Reise in die Zukunft. Ihm graute vor den höllischen Schmerzen, die ihm bevorstanden, aber dann siegte die tiefe Liebe zu seiner Angebeteten und er verschwand unter den Augen seines alten Lehrmeisters.
Senelo wartete Stunde um Stunde. Als sich Asphon, der hellste Trabant am tauranischen Nachthimmel zeigte, kehrte Parlons Körper in die Gegenwart zurück. Er schrie und krümmte sich vor Schmerzen am Boden. Aus seiner Nase und seinem Mund floss Blut und tropfte in den roten Sand am Ufer des Sees. Bestürzt, über das was Senelo sah, kniete er sich neben den Todgeweihten und ergriff seine Hand. Parlon drückte sie so fest, dass es Senelo schmerzte.
"Sag Arcarius, dass es nicht gut für ihn aussieht", quetschte Parlon mühsam zwischen den Lippen hervor. Dann schloss er für immer seine Augen. Senelos Trauer war unsagbar.
Nachdem Parlons Leichnam verbrannt und seine Asche über den See der Wiedergeburt verstreut worden war, ging Senelo zu Arcarius. Als Arcarius Parlons letzte Worte von Senelo hörte, wurde sein Gesicht fahl. Senelo bemerkte es und wusste sofort, dass der Ratsvorsitzende ihm etwas verheimlichte.
"Sag mir den Grund, warum Parlon noch einmal für dich in die Zukunft reisen musste, obwohl du wusstest, dass sein Körper zu schwach dazu war."
"Das kann ich nicht, Senelo." Arcarius schüttelte heftig den Kopf und dachte nur, niemand durfte je erfahren, warum er Parlon zu einer weiteren Reise in die Zukunft gedrängt hatte. Senelos Augenbrauen zogen sich verärgert zusammen.
"Er war mein Schüler und wie ein Sohn für mich. Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, warum er sterben musste?", forderte der alte Lehrmeister erneut.
"Ich kann dir den Grund nicht nennen, Senelo." Arcarius Hände begannen zu zittern. Parlons letzte Worte hatten all seine Hoffnung vernichtet.
"Du bist schuld an seinem Tod", schrie Senelo Arcarius wütend ins Gesicht. "Du hast ihn zu dieser Reise gezwungen."
Arcarius hob abwehrend die Hand.
"Gib nicht mir die Schuld. Hast nicht du ihm alles über Zeitreisen beigebracht?"
Senelo musste schlucken, als er den Vorwurf vernahm. Arcarius hatte recht. Er selbst hatte doch gewusst, wie gefährlich die Reisen durch die Zeiten waren und dennoch hatte er sie Parlon beigebracht. Senelo musste eingestehen, dass er nicht weniger schuldig war an Parlons Tod als Arcarius.
"Nothea und Marana werden uns das niemals verzeihen", bemerkte Senelo betrübt.
Als Arcarius den Namen Nothea vernahm, zuckte er zusammen. Sie wird mich noch mehr verabscheuen als je zuvor, dachte er. "Geh jetzt Senelo." Arcarius wollte allein mit seinen Gedanken sein.
Senelo verabschiedete sich und verließ das Haus des Ratsvorsitzenden. Vor ihm lag der Besuch von Parlons Schwestern, nach deren Befinden er sich erkundigen wollte. Er hatte die Absicht ihnen gegenüber aufrichtig zu sein und wollte sich mitschuldig bekennen am Tod ihres Bruders.
Kapitel 1
Nothea zog ihre Kapuze tief ins Gesicht, um es vor den spitzen Eiskristallen zu schützen, die wie Nadeln in ihre Haut stachen. Wie konnte sie nur wieder so dumm sein und die Zeit vergessen, schalt sie sich. Ausgerechnet heute, wo sie doch wusste, dass der erste Schneesturm des Schattenwinters angekündigt war. Denn Lumea hatte vor kurzem damit begonnen sich langsam zwischen Tauran und der Koronis zu schieben. Ein planetarisches Ereignis, dass sich alle achtzehn Jahre wiederholte und Tauran für mehrere Wochen in eine unerbittliche Eiswüste verwandelte.
Nothea lief immer schneller. Ihre steifgefrorenen Finger umklammerten fest ihren grauen Umhang, den sie eng um ihren schlanken Körper zog. Doch der eisige Wind pfiff gnadenlos durch den Wollstoff hindurch und drang bis tief unter ihre Haut. Endlich erkannte sie in der Dämmerung und dem Schneetreiben das schwache Licht der Laterne, die am Eingang zu den unterirdischen Winterquartieren hing. Dorthin hatte sich der Stamm der Acumander für die Dauer von Lumeas Eiszeit zurückzogen. Als sie den Eingang erreichte, stellte sie erschrocken fest, dass ihr etwas den Zugang versperrte. Das fehlte noch. Ausgerechnet jetzt, wo ich schon halb erfroren bin, dachte Nothea. Sie musste so schnell wie möglich hinter diese Tür. Sie bückte sich, um zu sehen, was ihr den Weg versperrte, und erkannte unter der dünnen Schneeschicht eine graue Wolldecke. Nothea hob sie hoch und erschrak, als sie in das blasse Gesicht einer jungen Frau blickte, die ein kleines Fellbündel fest umklammert hielt.
"Steh auf, sonst erfrierst du", schrie Nothea zitternd vor Kälte. Sie schüttelte den leblosen Körper, doch die junge Frau bewegte sich nicht. Mit letzter Kraft schob Nothea den Körper beiseite, öffnete die dicke Holztür und zog die junge Frau in den windgeschützten Raum hinter der Türe. Endlich waren sie in Sicherheit und dem heftigen, eiskalten Sturm nicht mehr ausgeliefert.
Nothea kniete sich neben die junge Frau und suchte an ihrem Handgelenk nach dem Puls. Doch sie konnte kein Pochen fühlen und auch kein Atem war mehr zu erkennen. Plötzlich vernahm Nothea ein leises Wimmern. Vorsichtig schob sie ein Stück des Fells zur Seite und zum Vorschein kam das Gesicht eines Neugeborenen. Notheas Herz schmolz dahin. Dann besann sie sich aber sofort. Sie nahm der jungen Mutter das Kind aus den Armen und lief die schwach beleuchtete Treppe nach unten.
"Marana", schrie Nothea laut und rannte so schnell sie konnte den schmalen Gang entlang zu ihren Wohnräumen, die sie sich mit ihrer Schwester während des Schattenwinters teilte. Sie stieß die Tür auf und lief ihrer besorgten Schwester direkt in die Arme.
"Da bist du ja endlich. Ich habe mir solche Sorgen gemacht."
"Du musst mir helfen, Marana. Eine junge Frau mit diesem Kind hier in ihren Armen, lag oben im Schnee. Wir müssen sie schnell nach unten in die Wärme bringen, sonst stirbt sie."
Nothea legte das Kind schnell vor den Kamin und machte sich auf den Rückweg. Marana folgte ihr. Die Schwestern eilten die Treppe nach oben zu der jungen Frau, die immer noch regungslos auf dem kalten Boden lag.
"Nimm du ihre Beine", bat Nothea ihre Schwester und gemeinsam trugen sie den Körper der Frau hinunter in ihre Räume und legten sie neben das Kind. Das Gesicht der jungen Mutter war blutleer. Ihr langes, fast schwarzes Haar war noch voller Eiskristalle, die nun langsam vor dem Feuer des Kamins dahin schmolzen. Nothea strich ihr eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht, während Marana erneut den Atem und den Puls prüfte. Doch, wie zuvor ihre Schwester, konnte sie kein Lebenszeichen mehr feststellen.
"Wir müssen sie beatmen und ihre Gliedmaßen warmrubbeln, damit das Blut wieder zirkulieren kann", schlug Nothea vor. Marana schüttelte traurig den Kopf.
"Es ist zwecklos, Nothea. Sie ist tot."
"Das kann nicht sein." Nothea rüttelte den Körper der jungen Frau.
"Nein, Nothea. Sie ist für immer gegangen."
Voller Entsetzen starrte Nothea auf den leblosen Körper, der vor ihr lag. Sie begann wie Espenlaub zu zittern und fühlte sich auf einmal schuldig. Warum nur war sie wieder viel zu spät aufgebrochen. So wichtig waren die Arbeiten im Tempel nicht mehr gewesen. Wäre sie nur etwas früher los, dann wäre die junge Mutter noch am Leben. Nothea machte sich schreckliche Vorwürfe.
"Wer ist sie, Marana?", fragte sie ihre Schwester. "Ich habe die Frau noch nie zuvor gesehen. Sie sieht auch nicht aus, wie eine von uns. Auch die Farbe ihres Kleides ist so ungewöhnlich. Und sieh dir nur den Stoff an. So fein und glänzend." Nothea strich sanft über das blaue Kleid, während Marana die Hände der Toten zusammenlegte und dabei das Amulett an ihrem Hals entdeckte.
"Das Amulett hier ist ebenso ungewöhnlich. So kunstvolle Arbeiten gibt es nicht bei uns."
Nothea betrachtete das Amulett und gab ihrer Schwester recht. Da machte sich der Säugling erneut bemerkbar. Nothea nahm das Kind und wickelte es behutsam aus dem Fell.
"Ist es nicht ein Wunder, dass das Kind überlebt hat?" Nothea drückte den Säugling liebevoll an ihre Brust.
"Wir müssen sofort den Ältestenrat informieren", empfahl Marana. Nothea aber war so in ihren Gedanken versunken, dass sie nicht hörte, was ihre Schwester gesagt hatte.
"Es ist ein Mädchen", stellte sie erfreut fest. Sie streichelte sanft über den Kopf des Kindes, das zaghaft zu strampeln begann. "Dich hat mir der Himmel geschickt", flüsterte Nothea mit glänzenden Augen. Marana ahnte sogleich, was ihre Schwester im Schilde führte.
"Du kannst das Kind nicht behalten, Nothea."
"O doch, das kann ich sehr wohl, Marana. Es ist eine Fügung des Schicksals. Wir wissen nicht, wer die Mutter war, oder woher sie kam, aber das Kind braucht eine Mutter und warum soll ich das nicht sein. Ich habe sie schließlich gefunden."
"Niemals wirst du die Zustimmung des Ältestenrats erhalten. Arcarius wird es dir nicht erlauben."
"Ich weiß, aber nicht er allein entscheidet darüber. Bitte unterstütze mich, Marana. Du bist die Seelenheilerin unseres Stammes. Sie hören auf dich."
"Wie du willst. Ich helfe dir, obwohl ich nicht überzeugt davon bin, dass es richtig ist."
Nothea umarmte dankbar ihre Schwester.
"Ich habe auch schon einen Namen für das Kind. Eyla soll sie heißen. Eyla ist ein sehr schöner Name."
Nothea war, im Gegensatz zu ihrer Schwester, von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt. Arcarius konnte ruhig gegen sie stimmen, aber sie wusste auch, dass die Entscheidung jeder einzelne im Rat für sich selbst traf. Sie musste nur die Mehrheit auf ihre Seite bringen.
Nothea wickelte das Kind wieder in das Fell und legte es in ihre Arme. Jetzt würde ihr sehnlichster Wunsch endlich in Erfüllung gehen.
Marana eilte durch die schwachbeleuchteten Gänge zu Arcarius. Sie war nicht sehr zuversichtlich, dass Nothea das Kind behalten konnte, denn sie wusste nur zu gut, wie sehr sich Nothea und der Ratsvorsitzende verabscheuten.
Wie ich ihn kenne, wird er nicht erfreut über die Angelegenheit sein, dachte sie und klopfte an die Tür, die sich kurz darauf öffnete.
"Guten Abend, Arcarius", grüßte Marana und verbeugte sich.
"Warum störst du zu später Stunde, Seelenheilerin", erwiderte Arcarius barsch. Marana ließ sich nicht einschüchtern. Sie kannte seine schroffe Art und war daran gewöhnt.
"Nothea hat vor dem Eingang zu unseren unterirdischen Quartieren eine junge Frau mit einem Säugling gefunden. Die Mutter..."
Arcarius fiel Marana unfreundlich ins Wort.
"Wer ist die Mutter?"
"Wir haben sie noch nie zuvor gesehen. Die Mutter ist tot, aber der Säugling ist noch am Leben."
"Bringt das Kind zu Honora. Sie wird sich darum kümmern."
Marana machte eine kurze Pause.
"Nothea möchte das Kind behalten."
Arcarius Blick verfinsterte sich schlagartig.
"Dann informiere sofort die anderen Ratsmitglieder und bitte sie zu euch zu kommen", befahl er in eisigem Ton und schlug die Tür zu.
Während Marana die anderen Ratsmitglieder informierte kümmerte sich Nothea liebevoll um den Säugling. Sie gab ein paar Tropfen Wasser in seinen Mund, die er begierig aufnahm. Dann legte sie ihn wieder vor den Kamin. Traurig blickte Nothea hinüber zu der Toten. Sie sieht aus, als würde sie nur schlafen, dachte sie. Plötzlich erinnerte sie sich an das Amulett. Sie nahm es der Toten vom Hals, um es genauer zu betrachten. Es war eine filigrane Schnitzarbeit. Auf dem etwas dickeren, runden Teil in der Mitte befand sich eine kelchförmige Blüte. Nothea durchsuchte auch den bestickten Lederbeutel der Toten, in der Hoffnung einen Hinweis auf die Herkunft von Mutter und Kind zu finden. Aber außer ein paar persönlichen Dingen, die Frauen so bei sich trugen und ein paar blauen Steinen, kam nichts zum Vorschein. Da hörte Nothea laute Stimmen. Schnell stopfte sie alles in den Beutel und versteckte ihn. Sie kannte Arcarius. Er würde sofort alles an sich reißen.
Nur widerwillig senkte Arcarius sein Haupt vor Nothea.
"Sei gegrüßt", sagte er kurz angebunden.
Nothea versuchte sich ein Lächeln abzuringen. Sie war innerlich aufgewühlt, aber versuchte nach außen hin Ruhe auszustrahlen.
"Sei auch du gegrüßt, Arcarius. Trete ein", forderte sie ihn auf und verbeugte sich. Sie rechnete fest damit, dass Arcarius seine Zustimmung verweigerte, aber Nothea zählte auf die anderen Ratsmitglieder.
Parathele und Kimjana, die dem Vorsitzenden gefolgt waren, umarmten Nothea herzlich. Die beiden kannten und schätzten die Bewahrerin der Traditionen seit vielen Jahren. Auch Xanto und Riberato grüßten freundlich. Arcarius ging sofort hinüber zum Kamin und betrachtete den Leichnam.
"Die Tote ist nicht von unserem Stamm", stellte er fest. Nothea hielt kurz die Luft an, als sie den nüchternen Ton in Arcarius Stimme vernahm. Sie durfte sich unter keinen Umständen provozieren lassen. Sie hob das Kind auf und zeigte es Arcarius, der es ohne Gefühlsregung betrachtete und dann sagte:
"Gib es Kimjana."
Kimjana nahm den Säugling mit leuchtenden Augen entgegen. Sie selbst hatte vier Töchter auf die Welt gebracht und war mittlerweile Großmutter.
"Bist du dir sicher, dass du der Aufgabe gewachsen bist? Schließlich bist du nicht mehr die Jüngste", wollte Xanto nun wissen.
"Ich bin mir sicher, verehrter Xanto. Wie du weißt, gebe ich die Traditionen und Riten unseres Stammes weiter und ich komme sehr gut mit Kindern zurecht."
"Das stimmt, verehrter Xanto. Die Kinder lieben Nothea. Es ist überall bekannt. Auch die Kinder meiner Kinder lieben sie sehr." Kimjana bestätigte Notheas Aussage und auch Parathele nickte zustimmend mit dem Kopf. Nun wusste Nothea, dass beide Frauen auf ihrer Seite waren.
"Du bist gar nicht angerichtet für ein Kind Nothea", stellte Riberato fest.
"Alles, was sie braucht, kann sie von mir haben und meinen Töchtern", bot Kimjana sofort an.
"Und ich habe bestimmt auch noch viele Dinge, die ich entbehren kann", äußerte Parathele schnell. Nothea warf den beiden Frauen einen dankbaren Blick zu.
Arcarius hatte schon vermutet, dass die Frauen auf Notheas Seite stehen würden. Unwirsch fauchte er Kimjana an:
"Gib mir sofort das Kind. Ich werde es zu Honora ins Haus der Verlorenen bringen."
Kimjana überließ ihm den Säugling nur widerwillig. Sie kannte Arcarius Herrschsüchtigkeit und wollte auf keinen Fall Nothea schaden. In ihren Augen war Nothea sehr verantwortungsvoll und fürsorglich. Eine bessere Mutter konnte das Kind nicht bekommen und deshalb hatte sie schon auf dem Hinweg ihre Entscheidung getroffen. Im Haus der Verlorenen und in Obhut von Honora würde das Kind keine Liebe erfahren.
"Du kannst das Kind nicht behalten, Nothea. Niemand kennt ihre Mutter und weiß der Teufel, wer der Vater ist. Ich bin mir sicher Xanto und Riberato stimmen mir zu." Arcarius warf den beiden Männern einen vielsagenden Blick zu. Notheas Herz schlug wie verrückt. Hilfesuchend blickte sie zu ihrer Schwester.
"Arcarius, bedenke. Es ist ein Säugling. Er braucht rund um die Uhr Fürsorge und Betreuung, damit er nicht für alle Zeit Schaden nimmt. Ich als Seelenheilerin kenne die Auswirkung der Vernachlässigung. Im Haus der Verlorenen hätte niemand ausreichend Zeit sich um einen nur wenige Tage alten Säugling zu kümmern."
Arcarius blickte Marana verächtlich an und zeigte dann mit dem Finger auf Nothea.
"Sie hat auch nicht den ganzen Tag Zeit", argumentierte er dagegen.
"Ich kann das Kind mit in den Tempel nehmen", warf Nothea tollkühn ein, worauf Arcarius blitzschnell konterte:
"Du wirst deiner Aufgabe dann nicht mehr gerecht werden, Nothea."
Marana sah ihre Schwester an, und wusste, dass sie kurz davor war zu explodieren. Sie machte eine beschwichtigende Handbewegung.
"Du vergisst, Arcarius. Ich bin auch noch da und werde meine Schwester in allem unterstützen. Wie du weißt, ziehe ich mich langsam von meinen Aufgaben als Seelenheilerin zurück. Meine Nachfolgerin nimmt mir schon jetzt viele Arbeiten ab und so können Nothea und ich uns die Aufgaben teilen."
"So wie es aussieht sind wir drei gegen zwei, Marana. Kimjana und Parathele sind zwar auf eurer Seite. Aber Xanto, Riberato und ich sind dagegen und wollen, dass das Kind im Haus der Verlorenen aufwächst." Arcarius sprach mit erhobener Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
"Halt Arcarius. Du greifst vor", meldete Xanto seinen Einspruch an. "Es ist eine deiner ärgsten Schwächen, zu schnell für andere zu sprechen. Bevor ich eine Entscheidung treffe, möchte ich Nothea prüfen." Xanto ging zu Nothea hinüber, nahm ihre Hände und sah ihr in die Augen. Er wollte sehen und auch fühlen, ob sie es ehrlich meinte.
"Wirst du genug Liebe und Fürsorge für ein Kind aufbringen, das nicht Deines ist und von dem wir nicht einmal wissen, wer die Eltern sind? Du musst meine Frage ehrlich beantworten."
Nothea schätzte Xanto sehr und sie vertraute ihm. Er war ein ausgleichender und diplomatischer Charakter. Im Gegensatz zu Arcarius, der aufbrausend war.
"Verehrter Xanto, ich werde das Kind lieben, wie mein eigenes. Sicherlich werde ich Fehler machen. Viele Fehler vermutlich sogar, aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, dem Kind eine gute Mutter zu sein."
Xanto sah in Notheas Augen und fühlte es sogar an ihren Händen, dass sie es ehrlich meinte. Er nickte zustimmend. Nothea würde ihre Sache gut machen, da war er sich sicher. Hätte sie behauptet sie wäre die perfekte Mutter, hätte er Zweifel gehabt.
"Das Kind soll in Notheas Obhut kommen, Arcarius. Und da nun drei Stimmen dafür sind, ist es eine beschlossene Sache." Xanto warf einen Blick zu Riberato hinüber, der ein Mann mit äußerst scharfsinnigem Verstand war und ohne viel Worte dem Geschehen gefolgt war. Auch Riberato stellte sich auf die Seite der Befürworter.
"Ich bin zu der gleichen Entscheidung gekommen wie du Xanto. Außerdem bin ich dafür, dass wir das Kind in die Stammesgemeinschaft aufnehmen. So wird es gleichberechtigt mit allen anderen aufwachsen. Das baldige Koronisfest bietet hier einen schönen Rahmen. Findet ihr nicht?"
Kimjana, Parathele und Xanto stimmten freudig zu und Nothea jubelte innerlich.
Schlagartig aber verhärtete sich der Gesichtsausdruck von Arcarius. Er presste seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und warf Nothea einen hasserfüllten Blick zu.
"Wie ihr wollt, aber es ist noch nicht das letzte Wort gesprochen." Ungehalten drückte er Nothea das Kind in die Arme und rauschte ohne Abschiedsgruß hinaus. Überschäumend vor Glück flossen dicke Tränen über Notheas Gesicht, das sie in dem Fell vergrub, in dem die kleine Eyla eingewickelt war. Nach so vielen Jahren, war ihr sehnlichster Wunsch doch noch in Erfüllung gegangen.
"Du gehörst ab jetzt zu mir, Eyla. Von nun an bist du meine Tochter und keiner kann dich mir mehr wegnehmen."
Nachdem Lumea an Tauran vorübergezogen war und die Koronis ihre wärmenden Strahlen wieder auf den Planeten und die Stadt Aldafara werfen konnte, verließen die Bewohner ihr unterirdisches Winterquartier und zogen zurück in ihre Häuser. Auch dieses Mal wurde das Ende des Schattenwinters mit einem großen Fest gefeiert und Eyla wurde, wie angekündigt, feierlich in die Gemeinschaft aufgenommen. Von diesem Zeitpunkt an war das Findelkind Eyla für jeden Acumander die Tochter Notheas. Nur nicht für Arcarius. Er wusste, dass der Tag kommen würde, an dem er Nothea alles heimzahlen konnte. In seiner Verbitterung verhinderte er mit all seiner Macht, dass Eylas leibliche Mutter verbrannt und ihre Asche über den See der Wiedergeburt verstreut wurde. Damit war ihre Seele für immer verloren und eine Wiedergeburt nicht möglich. Stattdessen wurde ihr Leichnam ohne Gebete im Moor, weit außerhalb von Aldafara, versenkt. Die anderen Ratsmitglieder konnten nichts dagegen tun, da Arcarius ohne ihr Wissen handelte.
Kapitel 2
Das Leben von Nothea und Marana änderte sich von Grund auf. In den folgenden Jahren mussten beide viel Energie aufbringen, das lebhafte Mädchen zu versorgen und zu erziehen. Aber sie brachte auch so viel Freude und Glück in das ehemals so stille Haus der Schwestern. Als Eyla drei Jahre alt war, erkrankte die Seelenheilerin Marana schwer.
"Es tut mir schrecklich leid, geliebte Schwester, dass ich derzeit keine große Hilfe für dich bin. Aber ich fühle mich nicht gut. Bestimmt wird es mir in den nächsten Tagen besser gehen."
Nothea stellte eine Tasse heißen Tee neben das Bett ihrer Schwester. "Ruhe dich aus und werde erst wieder gesund. Der Tee hier wird dir dabei helfen." Nothea machte sich große Sorgen um Marana, die schon einige Tage im Bett lag und sie mit glasigen Augen ansah. Marana drückte dankbar den Arm ihrer Schwester und schloss die Augen. Sie war so schrecklich müde.
Auf leisen Sohlen verließ Nothea Maranas Schlafkammer. Ihre Schwester brauchte unbedingt Ruhe und so entschied Nothea Eyla mit in den Tempel zu nehmen. Dort konnte sie in einer Ecke des Vorbereitungsraums spielen. Meine Schüler werden bestimmt bereit dazu sein ein wachsames Auge auf Eyla zu richten, dachte Nothea. Nur Arcarius darf es nicht erfahren. Er würde sonst wieder alle Hebel in Bewegung setzen, um mir das Kind wegzunehmen.
So vergingen mehrere Wochen. Marana wurde immer schwächer und eines Morgens fand Nothea ihre Schwester tot in ihrem Bett. Sie hatte wohl geahnt, dass sich ihr Gesundheitszustand nicht mehr verbessern würde und hatte, beschlossen selbst zu gehen. Sie hinterließ Nothea einen Abschiedsbrief, in dem sie ihr alles erklärte und sie um Verzeihung bat. Für Nothea war es ein weiterer Schicksalsschlag. Erst starb ihr Bruder Parlon und nun war auch Marana gegangen.
Lange Zeit plagten sie Schuldgefühle, denn seit Eyla im Haushalt lebte, hatte sie nur noch Augen und Ohren für das Kind und alles andere um sich herum vergessen. Sie hatte nicht erkannt, wie krank ihre Schwester wirklich gewesen war. Ihr blieb nichts anderes übrig, als um ihre Schwester zu trauern und Maranas Asche an einem kühlen Morgen über den See der Wiedergeburt zu streuen. Ihre Seele befand sich nun auf Wanderschaft, bis sie wiedergeboren wurde. In diesem Glauben fand Nothea Trost.
Nicht lange nach Maranas Tod stand Arcarius vor Notheas Haus. "Willst du mich nicht hereinbitten, Nothea?", fragte er.
"Was willst du?", fragte Nothea kühl und verwehrte Arcarius den Zutritt.
"Ich will sehen, ob es dem Kind gut geht. Jetzt, wo du allein bist, kannst du dich sicherlich nicht mehr ausreichend genug um das Findelkind kümmern."
"Eyla geht es gut", versicherte Nothea.
"Ich habe gehört, dass du das Kind mit in den Tempel nimmst."
"Was geht es dich an, Arcarius?" In Nothea begann es zu brodeln.
"Das geht mich sehr wohl etwas an, wenn du deine Aufgaben im Tempel vernachlässigst."
"Gab es Beschwerden?"
"Das nicht, aber ich muss mich vergewissern. Außerdem wollte ich dir mitteilen, dass demnächst der Rat zusammenkommt, um wegen des Kindes neu zu entscheiden. Deine Anwesenheit und die des Kindes sind dabei erwünscht."
Notheas Körper verkrampfte sich. Wann nur endlich hörte dieser schreckliche Kerl auf, jede Gelegenheit zu nutzen ihr weh zu tun? Hatte er ihr nicht schon genug angetan?
"Das Kind und ich werden da sein", sagte Nothea schroff und knallte dem Ratsvorsitzenden die Tür vor der Nase zu.
Zwei Tage später stand Nothea, gemeinsam mit Eyla, vor dem Ältestenrat. Ihre Kniee zitterten vor Angst. Parathele, der die üblen Spielchen von Arcarius langsam zuwider waren, lächelte ihr aufmunternd zu, worauf Nothea etwas ruhiger wurde. Doch da schmetterte Arcarius auch schon lautstark seine Forderung in den Raum.
"Dieses Kind da muss endlich zu Honora ins Haus der Verlorenen gebracht werden, nur dort bekommt es die nötige Aufmerksamkeit und erhält eine anständige Erziehung."
"Wie kommst du zu deiner Forderung Arcarius? Vernachlässigt Nothea das Kind", wollte Riberato wissen.
"Wie ihr alle wisst, ist Marana, unsere geliebte Seelenheilerin, gestorben. Nothea ist nun mit der alleinigen Erziehung völlig überfordert und auch ihren Aufgaben im Tempel wird sie nicht mehr gerecht", wetterte Arcarius wild gestikulierend.
Kimjana schüttelte missbilligend den Kopf. In den Augen der alten Rätin tat Arcarius Nothea unrecht.
"Ich kann keine Vernachlässigung bei dem Kind feststellen", bemerkte Kimjana.
"Aber sie nimmt das Kind mit in den Tempel."
"Warum sollte sie es nicht tun?", wollte Parathele wissen.
"Sie muss sich auf ihre Aufgaben im Tempel konzentrieren, verehrte Rätin", konterte Arcarius sofort zurück.
"Du redest Unsinn und das weißt du. Ich werde meine Meinung auch diesmal nicht ändern. Eyla soll bei Nothea bleiben." Parathele wandte sich an die männlichen Mitglieder des Rates. "Wie sieht ihr die Dinge, verehrter Xanto, verehrter Riberato?"
"Es gibt keinen Grund für uns die Entscheidung von damals zu revidieren", erwiderte Xanto mit fester Stimme. "Mir sind bisher auch keinerlei Beschwerden über Nothea zu Ohren gekommen. Euch vielleicht?"
Bis auf Arcarius verneinten alle Xantos Frage.
Auch Riberato änderte seine Meinung nicht. In seinen Augen hatten alle, bis auf Arcarius, das Wohl des Kindes im Auge. Er fragte sich aber, warum der Ratsvorsitzende immer wieder versuchte Nothea das Kind wegzunehmen. Es musste einen besonderen Grund dafür geben.
"Ich gebe euch Bedenkzeit", sagte Arcarius, der nicht aufgeben wollte.
"Die brauchen wir nicht", kam es augenblicklich aus Riberatos Mund. "Das Kind gehört zu Nothea. Akzeptiere das endlich, Arcarius. Wie du siehst, geht es dem Kind ausgezeichnet und das ist alles, was zählt."
Riberato blickte auf die kleine Eyla, die sich an Notheas Beinen klammerte und das Geschehen mit wachen Augen verfolgte.
Verärgert darüber, dass er seinen Willen auch diesmal nicht durchsetzen konnte, sprang Arcarius vom Stuhl und rauschte hocherhobenen Hauptes aus dem Saal hinaus. Nothea sah ihm erleichtert hinterher. Diese Schlacht hatte sie gewonnen. Sie wusste aber, Arcarius würde nicht aufgeben. Niemals!
Kapitel 3
Die folgenden Jahre vergingen nach Ansicht von Nothea viel zu schnell. All die Jahre über hatte sie sich fest vorgenommen Eyla irgendwann die Wahrheit zu erzählen. Und da ihre Tochter mittlerweile zu einer jungen, verständigen Frau herangereift war, fand Nothea, dass der fünfzehnte Geburtstag den passenden Rahmen dafür hergab. Natürlich war es nicht der Tag ihrer Geburt, denn den kannte Nothea nicht, aber sie hatte den Tag, an dem sie Eyla in den Armen ihrer leiblichen Mutter gefunden hatte, zum Tag ihrer Geburt auserkoren.
Nur wenige Tage vor dem großen Ereignis, vor dem Nothea etwas bange war, stand Eyla unerwartet und völlig in Tränen aufgelöst, plötzlich vor ihr.
"Stimmt es, dass du nicht meine richtige Mutter bist?", fragte Eyla mit zittriger Stimme. Notheas Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen. Jetzt war es also passiert. Eyla hatte es von jemand anderen erfahren.
"Wer sagt das?", fragte sie vorsichtig nach.
"Arcarius Neffe. Er hat es mir heute erzählt."
Ich hätte mir denken können, dass Arcarius seine Hände im Spiel hat, dachte Nothea und verfluchte sich selbst. Schon viel früher hätte sie Eyla alles erzählen sollen.
"Setz dich zu mir, geliebte Tochter", begann Nothea liebevoll. Eyla schüttelte heftig ihren Kopf und blickte durch tränennasse Augen auf ihre Mutter. Nothea suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen.
"Ja, es stimmt Eyla. Ich hätte es dir schon längst erzählen sollen, aber ich hatte entsetzliche Angst davor, dass dann das Band zwischen uns zerreißt."
"Dann hast du mich all die Jahre über belogen?"
"Ich habe dich nicht belogen, Eyla. Ich wollte nur auf den richtigen Zeitpunkt warten. Ich konnte doch nicht ahnen, dass Arcarius Neffe mir zuvorkommt."
Nothea stand auf und wollte ihre Tochter in die Arme nehmen und trösten. Doch Eyla schüttelte brüsk die Hände ihrer Mutter ab, drehte sich um und lief weinend und schluchzend aus dem Zimmer. Nothea überlegte, ob sie ihr folgen sollte. Doch eine innere Stimme hielt sie davon ab. Sie kannte Eyla. Bestimmt würde sie sich bald beruhigen. Außerdem würde bald die Neugier bei ihr siegen und diese Zeit wollte Nothea nutzen, und den bestickten Lederbeutel zu suchen, der all die Habseligkeiten enthielt, die Eyla von ihrer leiblichen Mutter geblieben waren.
Nothea hatte richtig vermutet. Nach einer Weile kam Eyla aus ihrem Zimmer und setzte sich zu ihrer Mutter an das prasselnde Kaminfeuer.
"Du musst mir alles erzählen", forderte Eyla mit stockender Stimme ihre Mutter auf.
Nothea zog tief die Luft ein, machte eine kurze Pause und begann:
"Eyla, zuerst sollst du wissen. Wenn ich dich auch nicht geboren habe, so bist du doch meine über alles geliebte Tochter."
Eyla ließ es nun zu, dass Nothea sie umarmte.
"Ich weiß, Mutter", erwiderte sie etwas kleinlaut.
Nothea fuhr mit ihrer Erklärung fort.
"Der Schattenwinter damals setzte früher und schneller ein, als erwartet und als ich vom Tempel aufbrach, ich hatte die Zeit völlig vergessen, war es schon bitterkalt und es tobte ein entsetzlicher Schneesturm. Vor unserem unterirdischen Winterquartier lag deine Mutter und versperrte mir den Eingang und nur mit letzter Kraft konnte ich sie in den Schutzraum ziehen. Dort fand ich dich in ihren Armen."
"Wie sah meine Mutter aus?", fragte Eyla neugierig.
"Ich sehe sie noch genau vor mir. Du siehst ihr sehr, sehr ähnlich. Auch sie hatte das lange, fast schwarze Haar und den dunklen Teint, die keiner der Acumander hier hat. Sie war, genau wie du, groß gewachsen und gertenschlank."
Eyla schmiegte sich fest an ihre Mutter und fragte tief bewegt: "Was weißt du noch über sie?"
Nothea schüttelte traurig den Kopf.
"Nichts mehr. Keiner kannte deine Mutter oder hatte sie je zuvor gesehen. Und alles, was sie bei sich trug, war dieser Lederbeutel mit ein paar Kleinigkeiten."
Eyla nahm den bestickten Lederbeutel, den ihr Nothea entgegenhielt und betrachtete ihn neugierig. Er war auf einer Seite mit kelchförmigen blauen Blüten bestickt. Eyla gefiel der Beutel sehr.
"Dann weißt du auch nicht, wer mein Vater ist?"
Nothea streichelte Eyla liebevoll über den Kopf und teilte ihrer Tochter betrübt mit: "Nein, Liebes. Ich kenne deinen Vater nicht und ich fürchte, wer deine Eltern waren, wird für immer ein Geheimnis bleiben."
Eyla war immer der Ansicht gewesen, dass sie ihre Andersartigkeit von ihrem Vater geerbt haben musste. Nothea hatte nie viel über ihren verstorbenen Mann erzählt. Sie hätte gerne mehr über ihn erfahren, aber Nothea weigerte sich vehement mit der Begründung, es würde den Seelen der Toten auf ihrer Wanderung schaden, wenn man über sie redete.
"Irgendwo dort draußen wurde die Seele meiner Mutter sicherlich schon wieder geboren. Vielleicht werde ich ihr irgendwann einmal begegnen", sagte Eyla.
Notheas Gesicht wurde ernst. Zuerst überlegte sie, ob sie ihrer Tochter diese Information verheimlichen sollte. Sie entschied sich aber dann, Eyla die ganze Wahrheit zu sagen.
"Wir konnten den Leichnam deiner Mutter leider nicht verbrennen, denn Arcarius hat sofort nach dem Schattenwinter veranlasst deine Mutter im Moor zu versenken."
Eyla war entsetzt und schrie ungläubig: "Ihr habt sie im Moor versenkt?"
Nothea nickte traurig.
"Arcarius hat es ohne Wissen der anderen Ratsmitglieder entschieden."
"Aber dann ist ihre Seele für immer verloren", schrie Eyla aufgebracht und Tränen der Wut schossen in ihre Augen. Schon wieder dieser verfluchte Arcarius. Sie konnte diesen Mann nicht ausstehen.
Eyla erhob sich, drückte traurig den bestickten Lederbeutel an ihre Brust und ging in ihr Zimmer. Sie wollte allein sein. Sie setzte sich auf ihr Bett und entleerte den Inhalt des Beutels in der Hoffnung einen Hinweis über ihre Herkunft zu bekommen. Vor ihr lagen aber nur ein paar nutzlose Dinge und einige seltsame blaue Steine. Da fiel ihr Blick auf das Amulett. Was für eine schöne Schnitzarbeit, dachte Eyla und bemerkte sofort, dass die kelchförmige Blüte in der Mitte, den blauen Blüten auf dem Lederbeutel sehr ähnlich waren. Sie nahm das Amulett in die Hand und betrachtete es ausgiebig, dann fasste sie nach den Enden des Lederbandes und verknotete es in ihrem Nacken. Wenigsten das wollte sie tun. Zum Andenken an ihre leibliche Mutter wollte Eyla dieses wunderschöne Amulett tragen.
Nicht lange, nachdem sie das Schmuckstück angelegt hatte, wurde ihr entsetzlich heiß. Es schien, als würden in ihrem Körper Flammen lodern und sie innerlich verbrennen. Voller Panik und in Todesangst sprang sie vom Bett und lief ans Fenster, um die kühle Luft hereinzulassen. Sie holte tief Luft. Auf einmal begann sich alles um sie herum zu drehen, dann verlor sie das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf feuchter Erde zwischen dicken Baumwurzeln. Eyla versuchte aufzustehen, aber ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. Stattdessen musste sie sich heftig übergeben. Erst nach einer Weile kehrten ihre Kräfte und ihr Gleichgewicht zurück und gestatteten es ihr aufzustehen. Völlig orientierungslos blickte sie sich um und da erkannte sie, zwischen ein paar dicken Ästen, die hohen Säulen des ihr sehr vertrauten Tempels von Aldafara. Schweißgebadet und fröstelnd suchte Eyla nach einer Erklärung für das, was gerade vorgefallen war. Da fiel ihr ein, dass sie das Amulett in ihrer Hand gehalten hatte. War das die Ursache für alles?
Nothea war sehr beunruhigt, als sie feststellte, dass Eyla nicht mehr in ihrem Zimmer war. Als sie nach einigen Stunden endlich das vertraute Öffnen der Tür vernahm, lief sie Eyla entgegen.
"Wo warst du, Liebes. Ich habe mir entsetzliche Sorgen gemacht?"
Eyla wollte den Fragen ihrer Mutter irgendwie ausweichen. Aber wie? Stürmisch umarmte sie plötzlich ihre Mutter und schrie ganz laut, so als solle es ganz Aldafara erfahren:
"Du bist die beste Mutter von Tauran."
Nothea fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte schon befürchtet ihre Tochter für immer zu verlieren. Scheinbar aber hatte Eyla die Wahrheit besser verkraftet, als sie gedacht hatte.
"Wenn du das nächste Mal das Haus verlässt mein Kind, dann sag es mir bitte. Sich einfach aus dem Haus schleichen, das geht nicht." Ganz ohne Vorwürfe sollte Eyla nicht davonkommen. Nothea wollte nicht über jeden Schritt ihrer Tochter in Kenntnis gesetzt werden, aber zumindest wollte sie wissen, wann sie aus dem Haus geht. Das war nicht zu viel verlangt, wie sie fand.
Eyla nickte und versuchte so zu tun, als wäre nichts geschehen. Nothea spürte wohl, dass ihre Tochter mit irgendetwas innerlich kämpfte, aber das schob sie auf die, für ein junges Mädchen nicht leicht zu verkraftende Neuigkeit des Tages. Von dem, was geschehen war, erzählte Eyla kein Sterbenswörtchen. Sie wollte Nothea nicht beunruhigen.