Fabelmacht. Die komplette Reihe (Band 1-2 und das Prequel) im Bundle - Kathrin Lange - E-Book

Fabelmacht. Die komplette Reihe (Band 1-2 und das Prequel) im Bundle E-Book

Kathrin Lange

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Beschreibung

***Die zwei Bände des Fantasyspektakels inkl. Prequel im Bundle*** Glaubt Mila an Liebe auf den ersten Blick? Im Zug nach Paris trifft sie einen alten Mann, der ihr diese Frage stellt. Mila ahnt noch nicht, was er längst weiß: Paris wird in ihr eine uralte Fähigkeit wecken. Eine Gabe, mit der sie in ihren Geschichten die Wirklichkeit umschreiben kann. Und tatsächlich, als sie am Bahnhof auf den geheimnisvollen Nicholas trifft, scheint er direkt ihren Geschichten entsprungen. Doch auch Nicholas beherrscht die Gabe der Fabelmacht - und er hat ebenfalls über Mila geschrieben. Ein Kampf der Geschichten um die einzig wahre Liebe entbrennt. Und Mila und Nicholas sind mitten drin. Im Bundle enthalten sind: Die Fabelmacht-Chroniken. Flammende Zeichen (Band 1) Die Fabelmacht-Chroniken. Brennende Worte (Band 2) Die Fabelmacht-Chroniken. Nicholas' Geschichte (Prequel)

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Seitenzahl: 1098

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Impressum

© 2020 Arena Verlag GmbH Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg Alle Rechte vorbehalten Text: Kathrin Lange Covergestaltung: Irina Smirnov nach Carolin Liepins unter Verwendung von Motiven von Shutterstock (© Gunnar Assmy, Lukas Gojda, Claudio Divizia, SH-Vector, paulrommer, spirins) Umschlagtypografie: Sibylle Bader E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net ISBN 978-3-401-80917-5 Besuche den Arena Verlag im Netz: www.arena-verlag.de

Inhalt

Die Fabelmacht-Chroniken (1). Flammende Zeichen

1

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Die Fabelmacht-Chroniken (2). Brennende Worte

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Die Fabelmacht-Chroniken. Nicholas’ Geschichte

Fabelmacht - Nicholas’ Geschichte

Nicholas’ Geschichte

Quellenangabe

Kathrin Lange

DIEFABELMACHT- CHRONIKEN

FLAMMENDE ZEICHEN

Weitere Bücher von Kathrin Lange im Arena Verlag:

Herz aus Glas Herz in Scherben Herz zu Asche Schattenflügel Septembermädchen In den Schatten siehst du mich

1. Auflage 2017 © 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Carolin Liepins unter Verwendung von Motiven von Shutterstock (© Gunnar Assmy, Lukas Gojda, Claudio Divizia, SH-Vector, paulrommer) ISBN 978-3-401-80718-8

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Inhaltsverzeichnis

1

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1

Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?«

Mila sah von ihrem abgegriffenen Notizbuch hoch. Sie hatte versucht zu schreiben, aber sie hatte noch nicht viel zustande gebracht.

Draußen vor dem Zugfenster waren die ersten Ausläufer von Paris zu sehen, schäbige, düster wirkende Hochhaussiedlungen, in denen der Beton alles Leben zu erdrücken schien.

Der Mann, der Mila diese sonderbare Frage gestellt hatte, war in Straßburg zugestiegen und hatte sich ihr gegenübergesetzt. Bis eben hatte er geschwiegen, sie nur ab und an neugierig betrachtet.

»Wie bitte?«, fragte Mila.

»Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?«, wiederholte er. Er schien alt zu sein. Er war auf diese besondere Art geschrumpft, wie das nur bei sehr betagten Menschen manchmal vorkam. Mila schätzte ihn auf über achtzig. Sein Gesicht war faltig, die Augen lagen tief in den Höhlen, die von hervorstehenden Wangen- und Stirnknochen gebildet wurden.

»Keine Ahnung«, antwortete Mila. »Ich habe noch nie darüber nachgedacht.«

Was gelogen war. Natürlich hatte sie schon ab und zu darüber nachgedacht, ob es Liebe auf den ersten Blick gab, und wenn ja, ob sie ihr irgendwann einmal begegnen würde. Sie war siebzehn. Welches siebzehnjährige Mädchen dachte nicht über solche Sachen nach?

Aber sie hatte keine Lust, sich mit dem Mann darüber zu unterhalten. Sie hatte überhaupt keine Lust, sich zu unterhalten.

Sie richtete den Blick wieder auf ihr Notizbuch. Ihr Handy, das sie neben sich auf den leeren Nachbarsitz gelegt hatte, summte zum vierten Mal, seit der Zug Straßburg verlassen hatte. Mila warf einen Blick auf die Textnachricht, die sie erhalten hatte.

»Wo bist du??????«

Mittlerweile war ihre Mutter bei sechs Fragezeichen angekommen. Nicht mehr lange und sie würde auch anfangen zu fluchen.

Du mich auch!, dachte Mila und drehte das Telefon um, sodass sie die Nachrichten nicht mehr sehen musste.

»Sie sollten ihm antworten«, sagte der alte Mann. Jetzt fiel Mila auf, wie altmodisch sein Französisch klang. Trotzdem konnte sie ihn gut verstehen. Sie war in Paris geboren, aber gleich nach ihrer Geburt hatte ihre Mutter Frankreich verlassen und war mit ihr nach Berlin gezogen. Aus diesem Grund war Mila mehr oder weniger zweisprachig aufgewachsen. Sie sprach Französisch fast genauso gut wie Deutsch.

Mila sah dem Mann ins Gesicht, und das schien ihm ein wenig unangenehm zu sein. Nervös kratzte er sich mit dem kleinen Finger den Nasenflügel. Seine Nägel waren ein bisschen zu lang für einen Mann und sorgfältig gefeilt. Auch an seinen Händen erkannte man sein Alter: dürr, knotig waren sie, mit faltiger Haut. Mila musste bei ihrem Anblick an den Geruch von Pergament und altem Leder denken.

Der Mantel, den der Alte trotz der stickigen Luft im Zug nicht ausgezogen hatte, war von einem unauffälligen Grau, was insgesamt zu ihm zu passen schien. Irgendwie wirkte er, als sei er nicht richtig existent.

»Woher wissen Sie, dass es ein Er ist?«, fragte Mila.

»Ich habe nur geraten. Seit Straßburg haben Sie vier Nachrichten erhalten und keine davon beantwortet. Dafür haben Sie mindestens zwanzigmal geseufzt.« Er schürzte die Lippen zu einer Art Kussmund, dann zog er sie ein, als müsse er seine Zähne davon abhalten, ihm aus dem Mund zu fallen. »Das lässt mich auf Liebeskummer tippen.«

»Kein Liebeskummer, nein.« Sie drehte ihren Bleistift zwischen den Fingern.

»Nicht?« Der alte Mann schien überrascht. »Ich finde, Sie sehen aus, als hätten Sie Liebeskummer.«

Wenn du selbst mal Liebeskummer gehabt hast, dachte Mila, dann ist das vermutlich schon ziemlich lange her.

Obwohl, was wusste sie schon? Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Er war so alt und vermutlich wollte er einfach nur nett sein. Sie legte den Bleistift auf das Notizbuch. »Wie sieht denn jemand aus, der Liebeskummer hat?«

»Na, wie eine hübsche, junge Dame, die allein im TGV nach Paris sitzt, stundenlang grübelnd aus dem Fenster starrt und dabei ab und zu seufzt.«

Das Kompliment freute Mila. Aber ihr war es auch unheimlich, dass er sie die ganze Zeit so genau beobachtet hatte.

»Sie sind von Ihrem Freund kürzlich erst verlassen worden.« Er formulierte das nicht als Frage, sondern wie eine Feststellung.

Mila hatte keine Ahnung, wie er darauf kam, aber er lag richtig. »Und wenn?«, murmelte sie.

Da lächelte er. »Wie hieß er?«

Sie überlegte kurz, ob sie es ihm sagen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. In dieser Geschichte hier, das hatte sie sich geschworen, würde ihr Ex keine Rolle spielen. Sie zuckte mit den Schultern.

Das Lächeln des alten Mannes vertiefte sich. »Ah. Er braucht keinen Namen in dieser neuen Geschichte, nicht wahr?«

Das lag so dicht an dem, was sie gerade gedacht hatte, dass sie ihn erstaunt musterte. »Können Sie Gedanken lesen?«

»So was Ähnliches.«

Mila bemerkte, dass ihre Fingerspitzen nervös auf das dicke Notizbuch trommelten. Irgendwann war es einmal rot gewesen, aber die Farbe war schon lange verblasst. Kinokarten, Prospekte und allerlei Zettel steckten zwischen den Seiten und damit sie nicht herausfielen, hatte Mila ein regenbogenfarbenes Haarband um den Umschlag geschlungen.

»Aber er hat Ihnen wehgetan.« Wieder eine Feststellung.

Und sie ging Mila zu weit. Small Talk im Zug war in Ordnung, aber mit dem Mann über ihren Exfreund zu reden, da hörte es auf. Denn ja, es tat noch immer weh, wobei der Schmerz weniger in ihrem Herzen saß, sondern eher ein Stück höher, in ihrer Kehle, wie ein bitterer Geschmack, den sie nicht loswurde. Ein klarer Fall von gekränkter Eitelkeit, hatte ihre Freundin Isabelle neulich am Telefon gut erkannt.

Milas Handy kündigte eine weitere Nachricht an. Diesmal schaute sie gar nicht erst nach. Ob ihre Mutter diesmal zu ihren Fragezeichen einen Fluch hinzugefügt hatte?

Wo zum Teufel bist du???????

Mila war gestern Abend im Streit von zu Hause abgehauen. Sie hatte ihrer Mutter nur gesagt, dass sie bei einer Schulfreundin übernachten würde, und das hatte sie auch getan. Davon, dass sie heute Morgen ziemlich kurz entschlossen in einen Zug gestiegen war, um zu Isabelle nach Paris zu fahren, hatte ihre Mutter nicht die geringste Ahnung.

Isabelle war eine Freundin, die Mila schon kannte, seit sie sich auf einem internationalen Jugendfreizeitcamp für junge Künstler in Riga getroffen hatten. Damals war Mila vierzehn gewesen, Isabelle schon achtzehn. Und obwohl Mila schrieb und Isabelle malte, hatten sie sich auf Anhieb gut verstanden und waren in Kontakt geblieben.

Gestern nach dem Streit mit ihrer Mutter hatte Mila Isabelle eine SMS geschrieben und sich bei ihr ausgekotzt. »Helena ist mal wieder unmöglich«, hatte sie geschrieben. Sie nannte ihre Mutter oft beim Vornamen, besonders, wenn sie sauer auf sie war. Isabelles Antwort hatte aus genau zwei Sätzen bestanden: »Komm her! Bleib, so lange du willst.«

Also hatte Mila die Nacht bei ihrer Schulfreundin verbracht, deren Mutter glaubte, dass Helena Bescheid wusste, wo sie war. Heute Morgen dann hatte sie sich ganz früh über das Internet eine Fahrkarte nach Paris besorgt und weil sie einfach nur wegwollte, hatte sie sich für die erste, längere Verbindung über Karlsruhe entschieden.

Der alte Mann schaute sie immer noch erwartungsvoll an. Offenbar erwartete er irgendeine Antwort. Betont demonstrativ wechselte sie das Thema. »Ich besuche jemanden in Paris.«

Wie, um sie für ihre Unhöflichkeit zu tadeln, begann ihr Handy jetzt auch noch zu klingeln. Mila drehte es wieder um.

Auf dem Display war ein Bild zu sehen, das sie zusammen mit ihrer Mutter zeigte. Es war das einzige Foto, das sie hatte, auf dem ihre Mutter lächelte.

Mila starrte die beiden Gesichter an, ihr eigenes, das von einer leichten Urlaubsbräune überzogen war, die gut zu dem sonnigen Blond ihrer Locken und zu ihren hellblauen Augen passte. Die paar Sommersprossen, die sie immer im Sommer bekam, wirkten wie mit einem feinen Haarpinsel auf ihre Nase getupft.

Und daneben das Gesicht ihrer Mutter, ihrem eigenen ähnlich, aber ausgezehrter. Schon immer hatte Milas Mutter gewirkt, als koste es sie zu viel Kraft, Gefühle zuzulassen. Was kein Wunder war, wenn man bedachte, dass Milas Vater und ihr älterer Bruder kurz vor ihrer Geburt gestorben waren. Helena, die Schriftstellerin war, hatte mehrere Bücher über das Thema Tod und Verlust verfasst, die allesamt nicht besonders erfolgreich gewesen waren. Und gleichzeitig war der Tod der beiden natürlich auch der Grund, warum Helena so sehr an Mila klammerte, dass sie manchmal kaum Luft bekam.

Seufzend drückte Mila den Anruf weg, dann zog sie ihr Notizbuch ein wenig dichter zu sich heran. »Seien Sie nicht böse, aber ich würde jetzt gern weiterschreiben.«

Der Mann nickte. »Natürlich. Bitte entschuldigen Sie! Ich bin wieder einmal viel zu aufdringlich.«

Mila lächelte ihn schwach an. Dann nahm sie ihren Bleistift und setzte ihn auf das fast leere Blatt.

Liebe auf den ersten Blick, dachte sie und las den einzigen Satz, den sie von ihrer neuen Geschichte bisher zustande gebracht hatte.

»Nicholas kniete auf dem Rasen vor dem Eiffelturm«, lautete er.

Nicholas kniete auf dem Rasen vor dem Eiffelturm und blickte das kleine Mädchen an, das vor ihm stand und ihn anstarrte. Die Kleine weinte. In der einen Hand hielt sie den Körper einer bunten Flickenpuppe, in der anderen deren abgerissenen Kopf. Die Haare dieser Puppe waren aus gelben Wollfäden geflochten. Schaumgummi quoll aus dem Hals und der Stoff, aus dem der Körper genäht war, wirkte ausgefranst und zerschlissen. Nicholas war auf das Mädchen aufmerksam geworden, weil er ihr verzweifeltes Schluchzen gehört hatte. Jetzt strich er sich die halblangen schwarzen Haare aus den Augen. »Zeig mal!«

Als er ihr behutsam den Puppenkörper und den Kopf wegnahm, schluchzte sie noch einmal und zog die Nase hoch. »Emmy war schon ganz doll kaputt. Aber jetzt ist der Kopf ganz ab …« In ihren Augen schimmerte kindliche Verzweiflung.

»Schon gut«, sagte er. Er sah sich um. »Wo ist denn deine Mama?«

»Eis kaufen«, antwortete sie mit einem tiefen, schmerzvollen Seufzen. »Ich wollte Emmy doch nur die Tauben da zeigen …« Mit ihrer Kinderhand wies sie auf einen Schwarm der grauen Vögel, die hier überall herumhüpften. »Und dann war der Kopf einfach ab«, schniefte sie.

Nicholas schaute hinüber zum Kiosk. Die Mutter der Kleinen stand in der Schlange und unterhielt sich mit einem älteren Mann. Gleich dahinter wartete Nicholas’ Freund Luc, der für sie beide Kaffee holen wollte.

Nicholas blickte wieder auf die beiden kaputten Puppenhälften. Sollte er? Noch während er sich das fragte, tastete seine Hand schon in der Tasche seines schwarzen Mantels herum. Ihm war klar, dass er gegen die Regeln verstieß, die sein Vater aufgestellt hatte, aber was machte es für einen Unterschied? Er wusste, welche Gefahren damit einhergingen. Gerade er wusste das. Trotzdem erlaubte er sich manchmal, bei solch kleineren Ereignissen die Fabelmacht zu benutzen. Es war, als versuchte er damit etwas wiedergutzumachen.

Er zog einen silbernen Kugelschreiber und ein kleines schwarzes Notizbuch hervor.

»Gleich geht es Emmy wieder gut«, versprach er der Kleinen. »Aber du darfst niemandem verraten, was ich jetzt tue. Einverstanden?«

Mit ernsthaftem Blick nickte das Mädchen.

»Wie heißt du?«, fragte Nicholas.

»Marie-Claire.« Ihr ging auf, dass sie mit einem Fremden redete, und plötzlich verschloss sich ihr Gesicht.

»Ein schöner Name.« Nicholas lächelte sie an. Es wirkte.

Marie-Claire kicherte.

Er schaute sich noch einmal rasch um. Mit Puppe und Notizbuch in der Hand drehte er Marie-Claire den Rücken zu und schlug dann das Notizbuch auf. Seine Bewegungen waren beiläufig. Er konnte es sich nicht leisten, dass jemand auf ihn aufmerksam wurde.

»Was tust du denn da?«, fragte Marie-Claire. Sie kam um ihn herum. Neugierig starrte sie auf das schwarze Buch in seiner Hand, in das er rasch ein paar Sätze gekritzelt hatte. Aber er klappte es hastig zu, bevor die Kleine sah, dass die Buchstaben in einem schwachen Blau aufleuchteten.

»Schau«, sagte er und gab Marie-Claire Emmy zurück.

Marie-Claires Augen wurden riesengroß. »Er ist wieder dran!«, hauchte sie. Ungläubig starrte sie die Puppe an, schlenkerte sie. Der Kopf saß auf dem Körper und nichts wies mehr darauf hin, dass er kurz zuvor abgerissen gewesen war. Prüfend betrachtete sie den ehemals ausgefransten Hals. »Da sind keine Nähte«, bemerkte sie ziemlich altklug. »Wie hast du das gemacht?«

Nicholas lächelte sie erneut an. »Ich bin ein Zauberer.«

»Ich will das auch können!«

»Ich fürchte, das geht nicht«, sagte Nicholas.

»Warum nicht?«

»Schau mal, da kommt deine Mama!« Er stand auf, klopfte sich den Schmutz von den Knien, als die Frau mit einem Eis in der Hand den Kiosk verließ. »Du hast mir versprochen, ihr nichts zu verraten, weißt du noch?«

Marie-Claire nickte ernsthaft, aber sie war höchstens fünf Jahre alt. Sie würde ihrer Mutter erzählen, dass ein großer, schwarz gekleideter Junge gekommen war und ihre kaputte Puppe wieder heilgezaubert hatte. Und es würde als kindliche Fantasie abgetan werden. Nicholas kramte ein zusammengefaltetes Stofftaschentuch aus der Tasche und wischte dem Kind damit die tränenverschmierten Wangen sauber. »So«, sagte er. »Jetzt ist alles wieder gut.«

Die Mutter war in vielleicht zwanzig Metern Entfernung stehen geblieben und sah sich suchend nach Marie-Claire um. Dann entdeckte sie ihre Tochter auf dem Rasen und kam direkt auf sie und Nicholas zu. Dabei kam sie an einem Mann in einem Clownkostüm vorbei, der eine riesige Traube bunter Luftballons in der Hand hatte. Nicholas zuckte unwillkürlich zusammen, aber der Mann stand einfach da, ohne dass etwas geschah. Nur ein harmloser Luftballonverkäufer, wie es sie zu Hunderten in Paris gab. Kein Grund, in Panik zu geraten.

Marie-Claire strahlte Nicholas an. »Danke!«, zwitscherte sie. Dann rannte sie ihrer Mutter in die Arme.

Nicholas machte, dass er davonkam. Mit gesenktem Kopf ging er quer über den Rasen davon. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass Marie-Claire ihrer Mutter eine aufregende Geschichte erzählte. Er lächelte.

Der Clown war bei einer Familie stehen geblieben und verhandelte mit dem Vater über den Preis für einen schreiend pinkfarbenen Ballon. Der Wind wehte eine schwache Melodie über den Rasen. Ballade pour Adeline.

Nicholas fühlte seinen Pulschlag überdeutlich.

Er drehte sich um, suchte den überfüllten Platz ab. Ein Straßenmusikant stand direkt neben den Eisenstreben des Turms und hatte ein Keyboard aufgebaut, auf dem er das Stück spielte. Und dann, als Nicholas sich wieder umwandte und zu dem Clown und der Familie zurückblickte, kam ein Skateboardfahrer vorbeigeschossen. Er blieb an einer Rasenkante hängen und stolperte dem Clown direkt in die Hacken. Der verlor das Gleichgewicht, ließ die Ballons los, die sich in einer riesigen, bunt schillernden Schar in den Himmel von Paris erhoben.

Der Keyboardspieler hatte Ballade pour Adeline beendet. Für ein, zwei Sekunden war es merkwürdig still auf dem Platz, dann begann der Musiker ein neues Lied.

Greensleeves.

Und Nicholas wusste, dass das nie hätte passieren dürfen.

»Hey, Nicholas, was ist los? Du bist kalkweiß!« Luc stand plötzlich neben ihm, sein bester Freund. Er war mehr als einen Kopf kleiner als Nicholas und kräftig gebaut. Seine Haare hatte er ganz kurz geschnitten, sodass sie wie ein dunkler Schatten auf seinem Schädel wirkten. Er hatte zwei Becher Kaffee dabei und mit einem davon deutete er auf Nicholas’ Gesicht.

Nicholas’ Blick hing an der Luftballontraube, die mittlerweile nur noch ein kleiner bunter Punkt zwischen den Wolken war. Der Keyboardspieler hatte mittlerweile auch Greensleeves beendet und packte seine Sachen zusammen.

»Nicholas?« Luc berührte ihn an der Schulter. »Was ist?«

Da endlich riss sich Nicholas aus seiner Erstarrung. Er versuchte, Luft zu holen, aber es gelang ihm nur mit Mühe. »Es geht los«, keuchte er.

Eine Frau schlenderte vorbei und als sie seine Erschütterung bemerkte, stockte ihr Schritt kurz. Luc stellte die beiden Kaffeebecher auf einer nahe liegenden Bank ab und nahm Nicholas’ Arm. »Komm. Setz dich erst mal.«

Die Frau ging mit einem Ausdruck von Erleichterung weiter.

Nicholas ließ sich von seinem Freund auf die Bank niederdrücken.

»Was geht los?«, fragte Luc.

Nicholas blinzelte. Ihm war plötzlich schwindelig, doch er riss sich zusammen. »Sie ist auf dem Weg hierher«, sagte er. Seine Stimme klang rau.

»Wer?« Einen Moment lang war Luc irritiert, dann erschien ein Ausdruck von Begreifen auf seiner Miene. »Mila?«, stieß er hervor.

Nicholas schloss die Augen.

»Schwachsinn!«, sagte Luc.

Nicholas deutete in die Richtung, in der die Luftballons verschwunden waren. Dann dorthin, wo eben noch der Keyboardspieler gestanden hatte und sich in diesem Moment zwei junge Männer auf einen Steinsockel setzten und Händchen haltend die Leute beobachteten. »Der Clown, die Luftballons, die Musik. Es stimmt alles, Luc.«

Luc schüttelte den Kopf. »Unmöglich!«, wiederholte er. »Ein Zufall! Nicholas, das ist nur ein bescheuerter Zufall!« Er packte Nicholas an den Schultern, schüttelte ihn. »Ich meine: Du warst damals wie alt? Dreizehn? Du bist nie im Leben so mächtig, dass du …« Er stockte. »Verdammt!«, fluchte er.

Nicholas bohrte die Fingernägel in das Holz der Bank. »Tja«, sagte er. »Sieht ganz so aus, als sei mein Leben soeben ein bisschen interessanter geworden.«

Luc starrte ihn an. »So kann man es natürlich auch formulieren.«

Nicholas zuckte mit den Schultern.

Eine Weile schwiegen sie beide.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Luc.

»Ich muss zum Gare de l’Est. Ich muss wissen, ob ich recht habe.«

Luc fuhr hoch. »Es ist nur eine Geschichte, Nicholas! Nichts weiter!«

»Wir werden sehen«, murmelte Nicholas. Er stand auf und zog fröstelnd seinen Mantel um sich zusammen.

Wenn ich wirklich recht habe, dachte er, dann ist es jetzt Zeit zu sterben.

»Sind Sie zufrieden?«

Wieder riss der alte Mann Mila aus ihren Gedanken. Leicht verwirrt schaute sie zu ihm auf, weil es sie beim Schreiben immer Anstrengung kostete, in die Realität zurückzukehren. »Wie bitte?«

Der TGV war langsamer geworden und schlängelte sich durch das Schienengeflecht in Richtung Gare de l’Est, einem der großen Bahnhöfe von Paris.

Der alte Mann deutete auf ihr Notizbuch. »Das, was Sie eben geschrieben haben: Sind Sie zufrieden damit? Besonders viel haben Sie ja nicht geschafft.«

Ja, dachte Mila verdrossen. Weil ich andauernd unterbrochen werde!

Sie ließ ihren Blick über das Geschriebene huschen. Viel hatte sie tatsächlich nicht geschrieben, dabei war die Geschichte zuerst ganz gut in Gang gekommen. Ohne viel darüber nachzudenken, hatte sie eine kurze Szene verfasst, in der der Eiffelturm vorkam und ein kleines Mädchen mit Namen Marie-Claire, das mit einer viel geliebten und zerschlissenen Stoffpuppe spielte und ihr aus Versehen den Kopf abriss. Ein Junge kniete sich zu ihr und tröstete sie. Es war derselbe Junge, über den Mila schon oft geschrieben hatte, eigentlich seit sie ihre ersten Schreibversuche gemacht hatte.

Früher hatte sie in ihrer Fantasie mit ihm zusammen Abenteuer erlebt – sie waren gemeinsam auf die höchsten Bäume geklettert und hatten dort die Beine baumeln lassen. Sie hatten alte Abrisshäuser und verlassene Fabriken durchstreift und dort gegen imaginäre Gegner gekämpft. Später dann, als Mila kein Kind mehr gewesen war, sondern schon ein Teenager, war auch Nicholas in ihren Geschichten älter geworden. In ihrer Vorstellung war er ungefähr so alt wie sie. Er sah auf unaufdringliche Art gut aus – groß, breite Schultern, schwarze Haare. Und er strahlte diese Lässigkeit aus, die sie auch in echt faszinierte. Sie mochte es, wenn jemand sich nicht so leicht durchschauen ließ.

Der alte Mann wartete noch immer auf eine Antwort auf seine Frage.

Mila ließ den Blick über ihren letzten Satz schweifen.

Sollte er?, hatte sie geschrieben. Und: Noch während er sich das fragte, tastete seine Hand schon …

Jetzt fügte sie rasch noch ein in die Tasche seines schwarzen Mantels hinzu und nickte dem alten Mann zu.

»Darf ich es lesen?«, fragte der.

Wie kommt er auf diese absurde Idee?, durchzuckte es sie. Sie wollte ihn schon anfahren, was ihm einfiele, aber dann sah sie in seine hellen, von unzähligen Falten umrahmten Augen.

Plötzlich kam es ihr gar nicht mehr so blöd vor, ihm ihre Texte zu zeigen.

Der alte Mann schien wirklich begierig darauf zu sein, etwas von ihr zu lesen. Und es gab nicht allzu viele Menschen, die sich für ihre Texte interessierten.

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie trotzdem. Das gerade Geschriebene schien ihr zu intim, immerhin schrieb sie über Nicholas, als würde er tatsächlich existieren. Und der Stil hatte etwas Schwärmerisches, das ihr plötzlich fast ein bisschen peinlich war. Dieser Mantel zum Beispiel, den Nicholas trug. Mehr Klischee ging ja wohl eigentlich nicht. Aber sie mochte die Vorstellung, dass er mit einem langen schwarzen Mantel herumlief, dessen Kragen er im richtigen Moment aufstellte oder dessen Schöße hinter ihm herwehten, wenn er mit energischen Schritten durch die Straßen von Paris ging.

Mila blätterte zurück zu einer Szene, die sie vor einigen Wochen geschrieben hatte.

Ein namenloser Mann kam darin vor. Er war alt. Sehr alt, vermutlich noch älter als ihr Gesprächspartner. In der Szene lag dieser Mann auf dem Sterbebett, eine ebenfalls namenlose junge Frau saß neben ihm und empfand einen so tiefen, grauenvollen Schmerz, dass Mila davon beim Schreiben die Tränen gekommen waren.

Sie zögerte kurz, aber dann gab sie sich einen Ruck und schob dem Alten das Notizbuch zu. Er drehte es um.

Las.

Seine Miene blieb völlig ausdruckslos dabei, aber als er fertig war, seufzte er tief. »Sie haben großes Talent, wissen Sie das?«

Das Kompliment freute sie mehr, als sie zugeben wollte. Sie spürte förmlich, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.

»Das hier«, der Alte tippte auf ihren Text, »erinnert mich an eine alte Liebesgeschichte, von der ich einmal gehört habe«, erklärte er. »Eine sehr traurige Liebesgeschichte.«

Jetzt fing er schon wieder damit an. Mila bemühte sich, nicht allzu genervt auszusehen. Er schien wie besessen von der Liebe.

Aber dann meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Was, wenn seine Frau vor nicht allzu langer Zeit verstorben war? Bei seinem Alter wäre das nur naheliegend. Und sie zeigte ihm ausgerechnet eine Geschichte über ein Paar am Sterbebett.

Für einen Moment war sein Blick nach innen gerichtet, dann besann er sich. Mit einem Blinzeln schaute er wieder hoch und schob Mila das Notizbuch zurück über den kleinen Tisch. »Genug geredet«, verkündete er überraschend energisch. »Wir sind da.«

Im selben Moment knackte der Lautsprecher über Mila.

»Meine Damen und Herren«, verkündete die Ansage, »in Kürze erreichen wir den Gare de l’Est.«

Mila machte sich daran, ihre Sachen zusammenzupacken. Sie schob Notizbuch und Handy in ihre Umhängetasche und griff nach der Jacke, die sie an den Haken neben dem Zugfenster gehängt hatte.

Der alte Mann sah ihr dabei zu.

»Soll ich Ihnen mit Ihren Sachen helfen?«, fragte sie.

»Nicht nötig.« Er lächelte jetzt wieder. »Ich habe kein Gepäck.«

Sie nickte nur. Sie fühlte sich leicht schwindelig. Vermutlich hatte sie zu lange gesessen.

»Also dann, auf Wiedersehen«, sagte sie und erhob sich.

Draußen vor den Fenstern tauchte das Bahnhofsgebäude auf und der Zug bremste ab. Mila stand schon im Gang, da beugte sich der alte Mann noch einmal zu ihr. »Worte, junges Fräulein«, raunte er. »Worte können sehr mächtig sein. Wenn die richtigen Menschen sie benutzen, sogar mächtig genug, die Welt zu verändern.«

 

2

Als Mila den Bahnsteig betrat, klopfte ihr Herz unerwartet stark. Sie lebte in Berlin, war also die Großstadt gewöhnt, dennoch fühlte es sich gleichzeitig aufregend und beängstigend an, ganz allein hier zu sein. Zum Teil lag das bestimmt daran, dass die letzten Tage ihr so zugesetzt hatten. Und daran, dass ihre Mutter keine Ahnung davon hatte, wo sie steckte.

Sie schüttelte sich. Die letzte Stunde im Zug mit dem alten Mann hatte sie ziemlich durcheinandergebracht und seine merkwürdige Verabschiedung noch viel mehr.

Als sie zusammen mit den anderen Reisenden in Richtung Zugtür gegangen war, hatte ein junger Mann mit Pferdeschwanz den Alten vorgelassen. Jetzt sah Mila den jungen Mann aus dem Zug steigen, doch der Alte war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte er noch einen kleinen Abstecher auf die Zugtoilette gemacht.

Der Bahnhof war bei Weitem nicht so groß, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, und mit seinen vielen schmiedeeisernen Pfeilern und den marmornen Säulen wirkte er viel altmodischer als der moderne Hauptbahnhof von Berlin. Auf dem Bahnsteig herrschte ein unfassbares Gedränge. Eine Großfamilie mit hoch aufgetürmtem Gepäckwagen drängelte sich ganz in der Nähe durch die genervte Menge. Die Frau, eine dicke Blondine, schnatterte dabei auf ihren Mann ein, der jeden ihrer Sätze mit einem resignierten Nicken beantwortete. Geschäftsleute eilten mit ihren Laptoptaschen an Mila vorbei und ein paar Polizisten mit Maschinengewehren musterten prüfend jeden, der ankam. Der Jingle, mit dem die Lautsprecheransagen angekündigt wurden, ertönte, aber das, was durchgesagt wurde, ging in dem Getöse unter, mit dem ein Schnellzug aus der Schweiz auf dem Gleis nebenan einfuhr.

Milas Blick fiel auf ein eisernes Gitter, das direkt an der Bahnsteigkante in den Boden eingelassen war. Aus dem Reiseführer, den sie im Zug zwischen Berlin und Karlsruhe gelesen hatte, wusste sie, dass sich unter einigen Bahnsteigen alte Bunker befanden, die im Zweiten Weltkrieg zum Schutz vor Bomben gedient hatten. Der Gedanke, in einem winzigen, unterirdischen Keller zu hocken, während ringsherum Feuer und Verderben wüteten, bereitete ihr Beklemmungen. Gleichzeitig aber fiel ihr eine Szene ein, in der sie und Nicholas sich gemeinsam in einem solchen Keller befanden.

Sie schob den Gedanken von sich, griff nach ihrem Rucksack und hob ihn auf den Rücken. Zeit, dass sie loskam. Ihre Freundin Isabelle würde sie nicht abholen, weil sie noch arbeitete, aber es war einfach, zu Isabelles Wohnung zu kommen. Mila musste nur vom Gare de l’Est die Metro Richtung Porte de Clignancourt nehmen und an der Station Château Rouge aussteigen. Isabelles Wohnung lag dank ihrer reichen Eltern mitten im Künstlerviertel Montmartre. Um sie zu erreichen, musste Mila zwar zu Fuß den gesamten Hügel erklimmen, aber das war ihr egal. So konnte sie sich gleich ein bisschen in den vielen bunten und interessanten Geschäften dort umsehen – und vielleicht sogar schon einen Abstecher zur berühmten Kirche Sacré-Cœur machen.

Eine Gruppe von halbwüchsigen Jugendlichen kam kreischend und lärmend auf sie zu. Zwei von ihnen, die damit beschäftigt waren, sich gegenseitig in den Schwitzkasten zu nehmen, rempelten sie aus Versehen an und Mila taumelte auf eine der orangefarbenen Bänke zu.

»Hoppla«, sagte jemand. Ein schlanker Junge, ungefähr in ihrem Alter und mit dunklem Haar, grinste sie an. Er saß auf der unbequemen Bank und sie wäre fast über seine ausgestreckten Beine gestolpert. Inmitten des Chaos auf dem Bahnhof strahlte er eine so seltsame Ruhe aus, als hätte er alle Zeit der Welt. Hatte er vielleicht auch. Er hatte jedenfalls kein Gepäck dabei.

»Tut mir leid«, sagte Mila. Sie sah ihm in die Augen, die milchkaffeebraun waren und in denen etwas lag, das sie nicht recht einordnen konnte.

»Kein Problem«, sagte der Junge.

Der Zug auf dem Nachbargleis löste seine hydraulischen Bremsen mit einem hässlichen Zischen und hüllte sie in einen Schwall stinkende Luft. Irgendwo begann ein kleines Kind zu weinen.

»Na, hab ich dir die Sprache verschlagen?« Der Junge zwinkerte Mila zu und sie riss sich zusammen. Den Spruch hatte sie sich verdient. Was stand sie auch herum und starrte fremde Jungs an?

Die Großfamilie hatte offenbar nicht gefunden, wonach sie suchte. Jedenfalls kam sie denselben Weg zurück. Die dicke blonde Frau redete noch immer auf ihren Mann ein.

Mila wollte die Worte des Jungen nicht auf sich sitzen lassen.

»Ja, hast du«, erwiderte sie und grinste. »Deswegen kann ich dir auch meine schlagfertige Antwort auf deine blöde Frage leider nicht verraten.« Sie packte ihre Umhängetasche fester und lief in Richtung Haupthalle. Es wurde Zeit, dass sie zu Isabelle kam und sich diese Reise mit einer kalten Dusche von der Haut spülte.

Liebevoll rückte Maréchal seine Bücher zurecht. Er war Buchhändler, einer der sogenannten Bouquinisten, und betreute wie jeden Tag seinen Stand am Ufer der Seine, wo er den Großteil seines Tages verbrachte. Er war nicht mehr jung, an die sechzig. Er trug Cordhosen und eine ausgebeulte Strickjacke und er hatte Falten um die Augen, die aussahen, als kämen sie vom vielen Lächeln. Sein Bart war weiß und dicht, ebenso wie der schmale Haarkranz, der ihm geblieben war.

Die Bouquinistenstände mit den grünen Dächern bildeten einen der berühmtesten und romantischsten Büchermärkte der Welt unter freiem Himmel und Maréchal war stolz darauf dazuzugehören. Noch viel stolzer allerdings war er darauf, dass es an seinem Stand, im Gegensatz zu denen vieler Kollegen, ausschließlich Bücher gab. Während Maréchals Standnachbar Jean und auch viele der anderen Bouquinisten sich ganz auf ihre Haupteinnahmequelle, die Touristen, eingestellt hatten und ihnen Posterdrucke, Kataloge und sogar Kühlschrankmagneten verkauften, gab es bei Maréchal wie in den guten, alten Zeiten nur Bücher. Und die meisten davon waren sehr alt. Rücken an Rücken standen sie unter dem hochgeklappten Holzdach, sorgfältig nach Größe und Einbänden sortiert. Ganz rechts die kleineren im Quartformat und nach links hin immer größer werdend, bis ganz an der Seite schließlich die dicken und schweren Folianten standen. Es gab Bücher über Schlachten, die vor vielen Jahrhunderten geschlagen worden waren, Bücher über Paris, Bücher über Schriftsteller und Künstler. Gedichtbände von berühmten französischen Autoren wie Baudelaire genauso wie moderne Taschenbuchbändchen völlig unbekannter Schriftsteller, die im Selbstverlag herausgegeben und Maréchal überlassen worden waren.

Mit einem Lächeln zog er eines dieser dünnen Bändchen heraus, schlug es auf und sog den Geruch von Papier und frischer Druckerschwärze ein. Wenn er seinen Stand aufklappte, roch es normalerweise eher nach Leder und Staub, trotzdem mochte er es genauso gern, an den frisch gedruckten Worten junger Dichter zu riechen.

Es war ein sonniger, für den Frühsommer angenehm warmer Tag und die Stadt war voller Touristen, die die Sonne ausnutzten und den Tag am breiten Strom genossen, der sich majestätisch durch Paris zog.

Maréchal setzte sich auf die Ufermauer und beobachtete die Leute. Ab und an kam jemand zu ihm an den Stand geschlendert, stöberte durch sein Angebot, kaufte aber nichts. Maréchal störte sich nicht daran.

Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche seiner alten Strickjacke, schlug es auf und begann zu schreiben. Gleich darauf ließ er das Büchlein jedoch wieder sinken, denn ein junges Paar Mitte zwanzig trat an seinen Stand. Die Frau hatte einen verrückten Turban aus pink- und lilafarbenen Stoffbahnen auf dem Kopf. Sie und ihr Freund, der in Maréchals Augen ein bisschen aussah wie Aramis von den Drei Musketieren, hielten Händchen. Maréchal lächelte die beiden an und steckte sein Notizbuch fort. Die Frau ließ ihren Blick an den Buchrücken entlanggleiten. Der Reihe nach zog sie ein Buch nach dem anderen hervor, bis sie bei einem ganz besonderen angekommen war. Es war eine kostbare Ausgabe aus den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts: Die Blumen des Bösen von Charles Baudelaire.

»Mögen Sie Baudelaire?«, fragte Maréchal.

Sie schaute von ihrer Lektüre auf. Sie hatte ihre Augen tiefschwarz umrandet, was ihr ein etwas eulenhaftes Aussehen gab. Statt auf seine Frage zu antworten, zitierte sie: »Er ist ein literarisches Schreckgespenst, das immer aussieht, als wäre es einer unterirdischen Höhle entstiegen.«

Maréchals Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. »Le Figaro«, sagte er und vollendete das Zitat: »Irgendwo im Dunkeln hält er – als Drohung – Bücher versteckt, die gar nicht existieren.«

Die junge Frau lachte. »Ich liebe diesen Mann!« Sie drehte das Buch um und warf einen Blick auf den mit dünnem Bleistift in die hintere Klappe geschriebenen Preis. Ihre Miene verdüsterte sich. »Aber ich fürchte, ich kann mir das nicht leisten.« Sie stellte die Ausgabe wieder an ihren Platz.

Maréchal unterdrückte sein Bedauern. Das Buch hätte gut zu dieser jungen Frau gepasst. »Warten Sie!«, sagte er, als die Frau und ihr Begleiter schon Anstalten machten weiterzugehen. Er zog sein Notizbuch wieder hervor, schrieb ein paar Gedichtzeilen auf eine leere Seite, riss sie heraus und reichte sie der Frau.

Die warf einen Blick darauf. »Das ist aber nicht Baudelaire.«

Maréchal schüttelte den Kopf. »Es stammt von einem ganz und gar unbekannten Dichter.«

Die Frau las seine Verse aufmerksam durch, dann sah sie ihm direkt in die Augen. »Unbekannt vielleicht«, sagte sie. »Aber keinesfalls ohne Talent. Ich danke Ihnen.« Sie steckte den Zettel sorgsam ein, dann nahm sie wieder die Hand ihres Begleiters, der die ganze Zeit geduldig gewartet hatte.

»Was hast du da bloß wieder geschrieben?« Maréchals Standnachbar Jean, Buchhändler und knapp an die sechzig wie er selbst, stellte die Frage, kaum dass die beiden jungen Leute außer Hörweite waren.

»Nichts«, sagte Maréchal. Jean hielt ihn schon seit Jahren für einen komischen Kauz. Und er hatte ganz recht damit. »Ich wünsche den beiden einfach alles Glück der Welt.«

Er streckte sich und blickte sich lächelnd um. Doch im nächsten Moment durchfuhr es ihn, als habe eine ganze Horde Geister mit kalten Händen in sein Genick gefasst. Ihn fröstelte. Er starrte auf einen alten Mann in einem farblos grauen Mantel, der gegenüber auf der anderen Straßenseite zwischen den Häusern aufgetaucht war und direkt auf ihn zuhielt.

»Maréchal?« Jean sah ihn beunruhigt an. »Was ist los? Du bist plötzlich ganz blass geworden.«

Maréchal schüttelte rasch den Kopf. »Ich habe nur gedacht, ich hätte jemanden gesehen. Passt du einen Augenblick auf meinen Stand auf, bitte?«

Jean nickte und da überquerte Maréchal auch schon die breite Straße, die den Fluss säumte, für dessen Schönheit er jetzt keinen Blick mehr hatte.

Der alte Mann mit dem grauen Mantel war im Schatten eines Cafés stehen geblieben und sah ihm entgegen. Das Gefühl, dass Geister ihn mit kalten Fingern berührten, verstärkte sich noch einmal, als Maréchal vor ihn hintrat.

Der Alte rieb sich die Schläfen mit den Fingerspitzen beider Hände, als habe er starke Kopfschmerzen. Dann seufzte er und obwohl Maréchal ihn noch nie zuvor gesehen hatte, wusste er plötzlich, was kommen würde.

»Es geht los, nicht wahr?«, flüsterte er.

Der alte Mann nickte. »Das Mädchen. Sie kommt gerade auf dem Gare de l’Est an.« Er machte eine Pause.

»Wer sind Sie?«, fragte Maréchal. Er hatte am ganzen Körper Gänsehaut.

Der Alte antwortete ihm nicht. Stattdessen sagte er: »Nicholas’ Geschichte. Sie beginnt.«

Mila verließ den Bahnsteig und blieb mitten in der Haupthalle stehen. Hier war es nicht weniger laut als bei den Zügen. Das Dach bestand aus einem Gewirr von Metallstreben, die ein Glasgewölbe stützten und für einen starken Hall sorgten. An jeder zweiten Querstrebe über ihrem Kopf hingen große Plakate, die den neuesten Liebesfilm eines berühmten amerikanischen Schnulzenautors ankündigten. Ein Mann war darauf zu sehen, der eine Frau auf den Armen durch eine ziemlich dramatische Nebelwolke trug.

Milas Blick wanderte weiter zu den Sonnenstrahlen, die schräg durch das Glasdach hereinfielen und dessen Stahlgerippe weichzeichneten. Die achteckige Jugendstiluhr an einem der Marmorbögen zeigte kurz vor halb drei. Auf dem großformatigen Gemälde war eine Zugszene abgebildet, die auf den ersten Blick heiter wirkte. Bis Mila erkannte, dass es eine Abschiedsszene war. Sie wandte den Blick davon ab. Aus einem der kleinen Geschäfte ganz in der Nähe wehte der Geruch von Crêpes zu ihr herüber. Von irgendwoher kam Gesang. Jemand gab ein altes Edith-Piaf-Lied zum Besten. Es klang ziemlich schief, aber irgendwie sympathisch.

Mila wandte sich wieder dem lichtdurchfluteten Glasdach zu. Sie kniff die Augen zusammen. Wenn sie den geschäftigen Lärm des Bahnhofs, die ständigen Lautsprecherdurchsagen mit ihren nervigen Jingles, das Stimmengewirr und auch das Kreischen von Zugbremsen ausblendete, wirkte der Ort fast magisch. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, darüber zu schreiben, und sie wunderte sich, wie stark es war. Sie griff nach dem Schultergurt ihrer Umhängetasche und zog ihr Notizbuch hervor.

»Haben Sie einen Euro für mich?«

Mila blickte auf. Eine Frau von unbestimmbarem Alter hatte sich vor ihr aufgebaut. Sie trug ein buntes Tuch über grauen Locken, die aussahen wie Stahlwolle. Sie roch auch nach Stahlwolle, jedoch seltsamerweise vermischt mit dem Geruch von edlem Körperpuder. Gehüllt war die Frau in mehrere lange und ziemlich schmutzige Röcke. Darüber trug sie eine Wolljacke, die mehr aus Löchern als aus Garn bestand. Die Farbe konnte man nicht mehr erkennen, so verblasst war das Teil. Hellblau, tippte Mila. Vielleicht auch lila.

»Haben Sie einen Euro für mich?«, wiederholte die Frau mit einem freundlichen Lächeln. Ihre Fingernägel waren so schmutzig, dass es aussah, als seien die Trauerränder Teil ihres Körpers, genau wie ihre schlanke Nase oder die hellblauen, forschenden Augen.

Mila nickte. Da war etwas an dieser Frau, ein unbewusst wahrnehmbarer Widerspruch, der sie faszinierte. »Natürlich.« Sie klemmte ihr Notizbuch unter den Arm, kramte ihr Portemonnaie aus der Tasche und suchte ein Zwei-Euro-Stück heraus. »Reicht das?«

Die Frau hielt die Hand auf. Quer über ihre Finger liefen alte, wulstig aussehende Narben. Es sah aus, als habe die Frau sich vor langer Zeit einmal beinahe die obersten Fingerglieder abgeschnitten. »Vielen Dank für Ihre Großzügigkeit«, sagte die Frau und ließ die Münze in den Falten ihres Rockes verschwinden. Und dann tat sie etwas sehr Unheimliches.

Sie beugte sich über Mila, als müsse sie an ihr schnuppern. »Armes Ding!«, murmelte sie.

Mila fühlte sich schlagartig unwohl. Was, wenn die Alte auf ihr Portemonnaie aus war?

»Was meinen Sie damit?« Ihre Sorge schien in ihrer Stimme mitzuschwingen, denn die Alte lächelte sie beruhigend an.

»Von mir droht Ihnen keine Gefahr.«

Mila konnte nicht anders. Sie musste fragen: »Sondern?«

Da schüttelte die Frau traurig den Kopf. »Diese Geschichte hier ist längst zu Ende erzählt, meine Liebe. Nicholas befindet sich schon in Ihrer Nähe.«

Nicholas?

Mila dachte an die Zeilen, die sie auf der Fahrt hierher geschrieben hatte. Nicholas, der sich im Schatten des Eiffelturms vor das kleine Mädchen kniete. Nicholas, der sie in ihrer Fantasie schon seit Jahren begleitete. Ihr Unbehagen wandelte sich in eine Gänsehaut, die ihr bis zum Haaransatz im Genick hochkroch. Ihr gesamter Körper kribbelte plötzlich.

Diese Geschichte hier ist längst zu Ende erzählt …

Bevor Mila fragen konnte, was genau die Obdachlose gemeint hatte, wandte diese sich ab. Als sie davonging, glaubte Mila, sie Gedichtverse rezitieren zu hören.

»Nichts süsser für ihn dem alles erfüllt ist mit trauer

Und der seit langem in eurem reife gefriert

Ihr bleichen himmel die ihr unsre Länder regiert.«

Sie blieb noch einmal stehen. »Passen Sie auf sich auf«, rief sie Mila über die Schulter zu. »Das Gesindel hat Sie längst im Visier. Und es hat Seelen mit Rabenfittichen.«

 

3

Baudelaire«, sagte eine Stimme direkt hinter Mila.

Ihr Herz verstolperte einen Schlag. Erschrocken fuhr sie herum. Hinter ihr stand der Junge von der Bank auf dem Bahnsteig, den sie fast angerempelt hatte. Offenbar war er ihr gefolgt. Er grinste sie ebenso entwaffnend an wie zuvor, aber als habe sich ein zweites Bild über das erste geschoben, kam seine Miene Mila plötzlich irgendwie weniger freundlich vor.

»Nervös?« Sein Blick folgte der Obdachlosen. »Ja, Odette hat diese Wirkung auf die meisten Menschen.«

»Odette.« Mila sah der Alten ebenfalls nach, schaute zu, wie sie mit bedächtigen Schritten in Richtung Ausgang schlurfte. »Was meintest du eben mit Baudelaire?«, fragte sie den Jungen.

Er zuckte mit den Schultern. »Die Alte ist hier am Bahnhof bekannt dafür, dass sie ständig dieses eine Gedicht von Baudelaire rezitiert. Die Rabenfittiche kommen darin auch vor.«

»Baudelaire«, sagte Mila und legte so viel Ungläubigkeit in ihre Stimme, wie sie nur konnte.

Der Junge vergrub die Hände in den hinteren Hosentaschen. Er war schmal, aber ihr fiel auf, dass er einen ziemlich sehnigen Körper hatte. Die Muskeln seiner Oberarme zeichneten sich unter seinem T-Shirt ab, die Unterarme schienen kräftig zu sein. Er wirkte aufsässig, irgendwie kompromisslos herausfordernd.

»Baudelaire, ja.« Er warf einen Blick über ihre Schulter. Seine dunklen Haare fielen ihm dabei ins Gesicht.

Milas Hände umklammerten das rote Notizbuch. Mit den Fingerspitzen spielte sie an dem Haarband, spürte die dünnen Gummifäden, die daraus hervorstaken. Das, was diese Odette eben gesagt hatte, ging ihr durch den Kopf.

Diese Geschichte hier ist längst zu Ende erzählt. Und: Nicholas befindet sich schon in Ihrer Nähe.

Wieder erfasste ein Kribbeln Milas Körper.

»Wie heißt du?«, fragte sie den Typen.

Er zog überrascht das Kinn zurück. »Ich? Warum interessiert dich das?«

»Bist du Nicholas?« Sie kam sich albern vor. Diese Obdachlose hatte offensichtlich ihren Verstand nicht mehr ganz beieinander. Doch dann dachte Mila wieder an ihr Notizbuch und die Szenen von Nicholas darin. An seine dunklen Haare, die ihm so leicht in die Augen fielen. An seinen durchtrainierten Körper. Vielleicht war ja sie selbst es, die gerade den Verstand verlor.

»Nicholas?« Der Typ schüttelte den Kopf. Seine Haare gerieten ihm wieder in die Augen und er strich sie weg. »Nie gehört. Wer soll das sein?«

Verwirrt atmete Mila aus. Nicht den Verstand verlieren! Nicholas war eine Figur aus einer Geschichte. Eine Fiktion, die sie sich selbst ausgedacht hatte. Abgesehen davon hatte der Junge vor ihr milchkaffeebraune Augen und nicht dunkelblaue wie ihr Nicholas. Und auch sein Haar war bei näherer Betrachtung braun und nicht schwarz. Seine Jeans hätte eine Wäsche gut vertragen können.

»Schon gut«, murmelte sie. »War nur so eine Idee.«

Der Typ zögerte, dann zog er eine Hand aus der Tasche und streckte sie ihr hin. »Ich bin Eric.« Seine Hände waren sauberer, als sie vermutet hatte. Seine Fingernägel kurz geschnitten, die Knöchel kräftig und aufgeschürft.

Mila nahm seine Hand und schüttelte sie. »Mila.«

»Komischer Name«, sagte Eric.

»Nur für französische Ohren. Mit vollem Namen heiße ich Émilie Antoinette.«

Warum erzählte sie ihm das? Sie hatte diesen Namen schon immer gehasst. Er passte überhaupt nicht zu ihr, klang viel zu groß für sie. Zu sehr nach langen Röcken, hohen Absätzen und steifen Miedern dafür, dass sie am liebsten Jeans und flache Ballerinas trug.

Diesmal grinste Eric nicht, sondern lächelte schwach. Es ließ seine Züge weicher erscheinen. »Du bist keine Französin«, sagte er ihr auf den Kopf zu.

»Hört man das?«

»Ein bisschen. Aber dein Französisch ist gut. Fehlerfrei.«

»Ich bin Französin«, sagte sie. »Aber ich lebe mit meiner Mutter in Deutschland. Schon seit meiner Geburt.«

Er nickte. »Das erklärt es. Warum bist du hier?«

»Ich bin zu Hause abgehauen.«

Er lachte auf. »Glaube ich nicht!«

Sie verdrängte den Gedanken daran, dass sie mittlerweile vermutlich die zehnte oder zwölfte Nachricht von ihrer Mutter auf dem Handy hatte. Und ihr schlechtes Gewissen deswegen verdrängte sie ebenso. Schließlich hatte sich ihre Mutter das selbst zuzuschreiben.

»Und ich glaube dir nicht, dass du Baudelaire zitieren kannst«, sagte sie zu Eric.

Er nahm die Herausforderung an. Großspurig warf er sich in Positur, spreizte die Beine leicht. Mila musste ein Grinsen unterdrücken. Sosehr Eric sich auch bemühte, cool zu wirken, es schimmerte etwas Verletzliches durch seine Fassade, das sie unerwartet anziehend fand. Er suchte ihren Blick, legte eine Hand an sein Herz und fing an zu deklamieren:

»Herbstende! winter! frühling mit schlammigem eise!

Ihr schläfernden zeiten des jahrs – ich liebe und preise

Was mein gemüt und meine gedanken umgab

Mit dunstigem leintuch und mit verschwommenem grab.

Das ist die erste Strophe.«

Mila starrte ihn an. Sie kannte das Gedicht nicht, aber es hörte sich nicht so an, als ob er bluffte.

Seelen mit Rabenfittichen, flüsterte Odettes Stimme in ihrem Hinterkopf.

Nicholas stand im Schatten eines Marktstandes, der Obst und Süßigkeiten verkaufte, und sah zu, wie dieser Kerl mit Mila sprach. Gesindel, hallten Odettes Worte von eben noch in ihm nach. Seelen mit Rabenfittichen. Er biss die Zähne zusammen.

»Das ist sie also wirklich?«, fragte Luc.

Nicholas hob das Kinn, senkte es wieder. Ein äußerst knappes Nicken.

»Was wirst du jetzt tun?«

Nicholas wandte den Kopf. Sein Freund stand dicht bei ihm und fuhr fort: »Ich meine: Warum sind wir hier? Wir könnten versuchen, einfach von hier zu verschwinden. Dann wäre die Geschichte zu Ende, bevor sie richtig angefangen hat. Warum …«

Bilder flackerten in Nicholas’ Geist auf und ließen Lucs Worte in den Hintergrund treten. Bilder, die sich anfühlten, als wären sie mit einer Nadel auf die Innenseite seines Schädels graviert. Ein schwarzes Notizbuch, nicht das, das sich in seiner Manteltasche befand, aber eines, das genauso aussah. Die Schrift mit dem blauen Leuchten. Der Füllfederhalter, der durch seine Finger rutschte und auf den steinernen Fliesen aufprallte. Seine Beine, die unter ihm nachgaben. Das Kreischen völliger Erschöpfung in seinen Ohren …

»Nicholas?« Lucs Stimme holte ihn zurück auf den Bahnhof.

Er blinzelte, presste Daumen und Ringfinger in die inneren Augenwinkel.

Luc hielt ihn an den Oberarmen gepackt. »Alles okay, Mann? Du warst mindestens eine Minute lang richtig weggetreten.«

Nicholas machte sich los. »Ja. Klar, alles in Ordnung.« Er konnte seinen Blick nicht von Mila lösen, die in der riesigen Bahnhofshalle stand, eingehüllt in das überirdische Leuchten der Sonnenstrahlen.

»Der Kerl da«, sagte Luc. »Er kommt in der Geschichte aber nicht vor, oder?«

Nicholas schüttelte den Kopf, ohne den Typen aus den Augen zu lassen. Er löste sich aus dem Schatten des Obststandes.

Luc ächzte leise. »So viel zum Thema einfach von hier abhauen«, murmelte er.

Nicholas marschierte auf Mila zu und er war nur noch wenige Meter von ihr entfernt, als sie den Kopf wandte und ihn ansah. Mit einem Ruck blieb er stehen. Völlig bewegungsunfähig.

Milas Augen weiteten sich.

Eine Hand legte sich auf Nicholas’ Schulter. Luc. In Milas Augen schimmerte erst Schrecken auf, dann tiefe Verwirrung. Ihre Lippen teilten sich.

»Du?«, wisperte sie.

Nicholas krallte sich an Lucs Arm fest.

»Wer ist der Kerl?« Die Stimme des anderen Jungen. »Sieht aus, als würde er gleich an seiner eigenen Zunge ersticken.«

Mila achtete nicht auf ihn. »Nicholas?« Ihre Stimme war nur ein Hauch.

Nicholas’ Knie begannen zu zittern.

Und dann keuchte er auf, als ein brennender Schmerz sein Handgelenk erfasste. Er riss den Arm hoch. Starrte auf die Stelle direkt über seiner Pulsader. Ein schwaches blaues Leuchten fraß sich von innen an die Oberfläche seiner Haut.

Beim Anblick des Jungen im schwarzen Mantel dachte Mila, sie würde ihren Verstand verlieren. Sie vergaß, dass sie gerade Eric etwas hatte fragen wollen. Vergaß, dass sie eigentlich auf dem Weg zu Isabelle war. Verschwunden waren sämtliche Menschen ringsherum. Verschwunden war auch der Bahnhof, ganz Paris.

Die gesamte Welt.

Es gab nur noch sie und den Jungen im schwarzen Mantel. Groß war er und schlank, genau wie in ihrem Notizbuch. Seine Haare hingen ihm wirr in die Stirn, verdeckten seine Augen. Trotzdem wusste sie, dass er sie anstarrte. Sein Mantel klaffte auf, enthüllte eine teure Jeans und ein schlichtes, aber ebenfalls teuer aussehendes weißes Hemd.

»Nicholas?« Milas Lippen formten den Namen, aber sie spürte nicht, ob sie ihn laut sagte. Sie hörte nichts. Wie in einem riesigen, kalten Vakuum schwebte sie. Ihr Herz zog sich zu einem winzigen Punkt zusammen, sodass sie nicht mehr atmen konnte.

Sein Blick begegnete ihrem und in diesem Moment entstand etwas Namenloses zwischen ihnen, etwas, das ihr enges Herz weitete, mehr, als es sich jemals zuvor geweitet hatte. Plötzlich fühlte sie sich unendlich leicht und gleichzeitig tonnenschwer, alt und doch jung wie nie zuvor.

Sie sah, wie Nicholas sich krümmte, wie er Halt suchte bei seinem Freund, einem breitschultrigen Kerl mit kurzen Beinen und einem Brustkorb wie ein Gewichtheber.

Der Ansturm der starken Gefühle zwang sie fast in die Knie und gerade, als sie wieder ausatmete, wurde Nicholas von seinem Begleiter in Richtung Ausgang weggezerrt.

Weg von ihr.

Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?, hallten die Worte des alten Mannes aus dem Zug in ihr nach.

Eric neben ihr schien etwas zu fragen, doch sie hörte ihn nur undeutlich, als sei sie plötzlich unter Wasser geraten.

Mit klopfendem Herzen starrte sie Nicholas hinterher.

Draußen vor dem Bahnhofsgebäude zwang Luc Nicholas, stehen zu bleiben. »Alter«, stieß er hervor. »Was war das denn?«

Nicholas umklammerte sein Handgelenk. Dann nahm er die Hand fort, blickte auf die schmerzende Stelle. Blaues Leuchten brannte sich durch seine Haut, feine Linien, die Bögen bildeten und Schleifen. Ein Wort.

Mila.

Er schluckte.

»Ach, du Scheiße!« Luc packte Nicholas’ Hand, drehte sie so, dass er einen besseren Blick auf das Phänomen hatte. »Das ist …«

Nicholas entzog sich ihm. Er wusste, was es war. Er hatte es schon einmal erlebt, dass sich blaue Schriftzeichen durch seine Haut gebrannt hatten. Vor ein paar Jahren war es gewesen und seit damals hatte er inständig gehofft, dass er es nie wieder erdulden musste.

Er knirschte mit den Zähnen, um den Schmerz auszuhalten. »Das Mädchen«, sagte er. »Sie ist Mila …«

Luc ließ die Schrift für einen Augenblick Schrift sein. »Quatsch! Das bildest du dir ein.«

»Du möchtest, dass ich mir das einbilde. In Wirklichkeit weißt du ebenso wie ich, dass sie es ist.«

»Es ist nur eine blöde Geschichte, Nicholas! Etwas, das du als Teenager geschrieben hast, weil du deinem Vater eins auswischen …« Luc verstummte, weil sich hinter ihm die schwere Bahnhofstür öffnete.

Heraus trat Mila.

Und etwas in Nicholas kam zum Stillstand.

Mila war dem Jungen im schwarzen Mantel nachgeeilt, ohne auch nur eine Sekunde lang darüber nachzudenken, was sie tat. Als sie die Hand nach dem Griff der schweren Bahnhofstür ausgestreckt hatte, hatte sie danebengefasst, so verwirrt war sie. Und als sie jetzt dem Jungen gegenüberstand, wusste sie weder, was sie sagen, noch, was sie denken oder fühlen sollte.

»Nicholas, nicht wahr?« Die Worte kratzten in ihrer Kehle wie Sandpapier.

Hinter seinen widerspenstigen Haarsträhnen weiteten sich seine Augen. Sie war ihm jetzt nah genug, um zu erkennen, dass seine Iris blau war. Ein Blau so dunkel wie eine mondhelle Nacht. Winzige silbrige Splitter schwammen darin wie Sterne an einem Mitternachtshimmel. Sein Gesicht war schmal und ebenmäßig, die wirren Haare fielen ihm über Stirn und Lider. Es sah aus, als sperre er seinen Blick absichtlich dahinter ein.

Sie legte ihre Fingerspitzen in die Vertiefung ihres Schlüsselbeins und konnte dort ihren Herzschlag trommeln spüren. »Was passiert hier gerade?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. Es war eine verwirrte Geste, keine Ablehnung. Eine Haarsträhne geriet ihm in den Augenwinkel, aber er schien es nicht einmal zu bemerken. Wie ferngesteuert streckte Mila die Hand aus, um sie fortzustreichen. Sein Blick fühlte sich an wie Fingerspitzen, die sanft ihre Wange streichelten. »Wieso siehst du genauso aus wie jemand, über den ich …?« Sie unterbrach sich, weil sie wusste, wie dämlich es geklungen hätte, ihn das zu fragen.

Warum siehst du aus wie jemand, über den ich geschrieben habe?

Seine Augen weiteten sich noch ein wenig mehr, so, als erschreckte ihn ihre Frage, obwohl sie sie gar nicht zu Ende gebracht hatte. Kurz bevor sie ihn berührte, zuckte er zurück, und plötzlich fühlte sich sein Blick an wie eine Ohrfeige.

»Du kennst mich nicht.« Seine Stimme war tief und dunkel und ihr Klang verursachte Mila eine Gänsehaut. Mit einem Mal sah er so aus, als wäre er am liebsten vor ihr fortgelaufen.

Sie blinzelte irritiert. Sie hatte gemerkt, dass auch er von ihrer Begegnung elektrisiert gewesen war. Sie war sich sicher gewesen, dass er bei ihrem Anblick ähnlich empfunden hatte wie sie. Aber genau wie sie schien auch er von der Situation völlig überfordert zu sein. Er atmete viel zu schnell.

»Ich …« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Mehrere Sekunden lang standen sie sich gegenüber, eine halbe Armeslänge voneinander entfernt, und die Luft zwischen ihnen verdichtete sich, bis sie zu knistern schien.

»He! Warum bist du einfach weg…« Eric war plötzlich neben ihr. »Was geht hier vor?«

Nicholas’ Blick ruhte noch einige Sekunden länger auf ihrem Gesicht. Dann senkte er ihn auf sein Handgelenk, über das er den Mantelärmel tief nach unten gezogen hatte. Schließlich trat er von Mila zurück und sah Eric an. »Ihr Portemonnaie«, sagte er. Er klang ganz ruhig und freundlich, aber sie konnte zusehen, wie etwas in seinen Augen aufschimmerte. Eine Härte, die sie frösteln ließ.

Mila drehte sich zur Seite. In Erics Augen blitzte es.

»Und ihr Handy«, fügte Nicholas hinzu.

Als Eric nicht reagierte, trat er einen Schritt vor.

Eric wich zurück, aber nur mit dem Oberkörper.

»Her damit!«, befahl Nicholas und streckte die Hand aus.

Eric kämpfte noch einen Augenblick mit sich, doch dann seufzte er tief. Er fasste in die Tasche seines Hoodys, zog Milas Portemonnaie daraus hervor und gleich darauf auch ihr Handy aus der hinteren Tasche seiner Jeans.

Mila wusste nicht, ob sie verblüfft oder erschrocken sein sollte. Darum also hatte Eric sich zu ihr gesellt? Weil er sie bestehlen wollte? Und sie hatte geglaubt, er habe sich wirklich für sie interessiert. Sie hatte ihn sogar nett und irgendwie anziehend gefunden. Kurz kam sie sich unendlich dämlich vor, doch das Gefühl trat sofort in den Hintergrund, als sich Nicholas’ Blick wieder auf sie richtete.

In seinen Augen erschien ein spöttischer Ausdruck. »Ja«, sagte er mit dieser tiefen Stimme. »Typen wie er suchen sich gern naive, kleine Mädchen aus.«

»Ich bin nicht naiv!«, rutschte es Mila heraus.

Nicholas’ rechter Mundwinkel zuckte schwach, was den Spott in seinen Augen noch verstärkte. »So?« Wortlos nahm er Eric ihr Portemonnaie und das Handy ab. Dann stieß er herausfordernd das Kinn vor. »Verpiss dich!« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und fügte hinzu: »Und halt dich in Zukunft von ihr fern!«

Eric schien sich mittlerweile gefangen zu haben. »Sonst?«, fragte er. Wieder schien die Luft zu knistern, diesmal jedoch zwischen Eric und Nicholas und aus einem ganz anderen Grund.

Eric ballte die Rechte zur Faust. Er sah so aus, als ob er das nicht zum ersten Mal tat.

In Milas Ohren summte es.

»Nicholas!« Die Stimme von Nicholas’ Freund klang warnend. »Komm, lass. Mit dem Typen ist nicht zu spaßen.«

Nicholas winkte ab. Und machte sich ebenfalls kampfbereit. »Was ist?«, forderte er Eric heraus. »Traust du dich nicht, oder was?«

Eric trat drohend einen Schritt vor.

»Leute!«, sagte Mila. »Nicholas! Eric!«

Niemand achtete auf sie. Und dann geschah alles sehr schnell. Erics Faust stieß vor. Nicholas fing den Hieb mit gespannten Bauchmuskeln ab. Dann packte er Erics Hand, tauchte darunter hindurch und stand im nächsten Augenblick hinter seinem Rücken, seinen Arm in einem Haltegriff.

Eric schrie auf und ging in die Knie. Er wehrte sich, aber Nicholas zwang ihn zu Boden, indem er den Druck langsam, aber sicher erhöhte. »Verdammt! Du Drecksack, du brichst mir den Arm!«, zischte Eric und gab schließlich nach.

Über ihn hinweg schaute Nicholas Mila an.

Ihr Herz jagte von diesem kurzen Ausbruch von Gewalt und offenbar sah er den Schrecken, den sie empfand. Für eine Sekunde lang lockerte er den Griff um Erics Handgelenk.

Der wollte die Gelegenheit nutzen und sich aus der Umklammerung winden, aber sofort erhöhte Nicholas den Druck wieder, ganz selbstverständlich und lässig und ohne dabei den Blick von Mila zu nehmen. Langsam, Stück für Stück zwang er Eric tiefer. Bis dessen Gesicht fast den schmutzigen Asphalt berührte.

Erneut schrie Eric.

»Hör auf!« Schrill klang Milas Stimme. »Du brichst ihm den Arm!«

Nicholas sah ihr in die Augen, als dächte er über etwas sehr intensiv nach. Und dann zog er durch.

Erics Handgelenk brach wie ein trockener Zweig. Mila konnte es knacken hören.

Eric schrie auf. »Du Bastard!«, brüllte er.

Mila spürte, wie ihre Knie weich wurden.

Nicholas ließ Eric los, der vornüberfiel und sich gerade noch mit der unverletzten Hand abstützen konnte. Mühsam rappelte er sich auf, hielt die verletzte Hand vor dem Bauch. »Du mieses Arschloch! Du bist ja irre!« Mit dem Kinn deutete er erst auf Nicholas, dann auf Mila und als müsse er sicher sein, dass sie verstanden hatte, wiederholte er: »Der ist irre!« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und suchte das Weite.

Mila starrte ihm nach, aber er war noch nicht weit weg, als ihre Fassungslosigkeit sich in Zorn wandelte. »Was sollte das?!«, fauchte sie Nicholas an. »Das war völlig unnötig!«

Er zuckte nur mit den Schultern. Scharf zog er Luft durch die Zähne, als habe er selbst Schmerzen. Seine Hand umklammerte sein eigenes Handgelenk, dabei waren Erics Knochen gebrochen, nicht seine.

Mila spürte Tränen in sich aufsteigen. Tränen der Enttäuschung. Der Junge, über den sie geschrieben hatte, hätte nie im Leben so etwas getan.

Nicholas rührte sich nicht. Und dann sagte er etwas sehr Sonderbares.

»Wenn es irgendwie in meiner Macht steht, Mila, dann werde ich es verhindern.«

»Was verhindern?« Sie schrie jetzt fast.

Aber er drehte sich einfach um. Und ging weg.

 

4

Die Wüste war blau, der Himmel rot, die Palmen lila. Und die beiden Kamele grasgrün.

Milas Blick wanderte über das großflächige Gemälde, das die Backsteinmauer in der Rue Cortot zierte, in der Isabelle wohnte. Dann warf sie einen Blick auf ihr Smartphone, auf dem sie ein Foto eben dieses Gemäldes geöffnet hatte. Auf dem Foto prangte an einer Stelle direkt unter einem Palmwedel ein dickes schwarzes Kreuz.

»Schlüssel«, hatte ihre Freundin Isabelle an dieses Kreuz geschrieben.

Mila ließ das Handy sinken und suchte die entsprechende Stelle auf der Mauer. Wenn sie sich reckte, kam sie gerade so daran. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und tastete die bezeichnete Stelle ab. Der Ziegelstein darunter war lose. Er ließ sich herausziehen und als Mila es tat, fiel ihr auch schon ein einzelner Sicherheitsschlüssel in die Hände. Ein Schnürsenkel in Neongrün war durch das Loch gezogen und mit sieben nebeneinanderliegenden Knoten verknotet.

Mila steckte den Backstein wieder in das Loch. Dann wandte sie sich der Haustür links neben der Backsteinmauer zu und schloss auf.

Sie betrat die winzige Wohnung im Erdgeschoss und atmete erleichtert auf. Nach den Ereignissen auf dem Bahnhof hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als endlich hier anzukommen und eine Tür hinter all den sonderbaren und schrecklichen Dingen zu schließen, die passiert waren, seit sie aus dem Zug gestiegen war.

Nachdem dieser brutale Kerl verschwunden war, hatte Mila Eric gesucht, weil sie ihm helfen wollte. Aber sie hatte ihn nicht wiedergefunden. Eine ganze Weile war sie durch den Bahnhof gelaufen. Vergeblich. Und auch von der Obdachlosen mit ihren merkwürdigen Sprüchen hatte sie nichts mehr gesehen.

Also hatte sie beschlossen, all diesen Irrsinn hinter sich zu lassen und zu Isabelle zu fahren. Ihre Freundin war nicht nur vier Jahre älter als sie, sondern stand auch mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Schon im Camp damals war sie jemand gewesen, der immer eine Lösung fand – und wenn nicht, der dann wenigstens den ganzen Mist, der manchmal passierte, fröhlich weglachen konnte. Isabelle würde Mila den Kopf zurechtrücken und ihr die Sicherheit zurückgeben, die sie mit ihrer Ankunft in Paris verloren hatte.

Ihr Blick schweifte über eine bunt zusammengewürfelte und ganz offenbar aus dem Sperrmüll stammende Couchgarnitur, ein aus Ziegelsteinen und Brettern gebautes Regal mit alten, zerlesenen Taschenbüchern und einen uralten und ziemlich wackelig aussehenden Esstisch mit unterschiedlich bunt angemalten Stühlen. An jeder Wand hingen Dutzende von abstrakten Bildern und auch auf dem Fußboden standen sie in mehreren Reihen übereinander gegen die Wände gelehnt.

Isabelle lebte von der Unterstützung durch ihre reiche Familie und davon, dass sie Touristen quietschbunte Ansichten von Paris in schrillen Farben verkaufte. Ihr Herz jedoch schlug für ihre eigene Kunst. Sie malte abstrakte Gemälde in düsteren Tönen und mit unheimlich verzerrten Gestalten. Verkauft hatte sie davon bisher nicht ein einziges. Was vermutlich ein Grund dafür war, dass die Bilder jeden Quadratzentimeter ihrer Wände bedeckten.

Der Geruch von frischer Ölfarbe und Firnis hing in der Luft.

Mila zog die Tür hinter sich zu und atmete das erste Mal, seit sie den Bahnhof verlassen hatte, tief durch.

Auf dem Tisch in der Mitte des Raums standen eine Flasche mit Wasser und eine mit Saft bereit. »Mach es dir gemütlich, bin um kurz nach sechs zu Hause«, hatte Isabelle in ihrer unverwechselbaren, kaum leserlichen Handschrift auf einen Zettel gekritzelt. Mila musste lächeln.

Sie streifte sich ihre Schuhe ab, stellte ihr Gepäck neben die Küchenzeile, ließ sich auf die Couch fallen und schloss die Augen.

Sie war erledigt. Und brauchte wirklich eine Pause.

Doch sofort waren die Bilder wieder da. Und mit ihnen auch die Geräusche.

Vor allem das Knacken, mit dem Erics Handgelenk gebrochen war.