Facetten der Einheit - A.H. Almaas - E-Book

Facetten der Einheit E-Book

A. H. Almaas

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Beschreibung

In Facetten der Einheit präsentiert A.H. Almaas das Enneagramm der Heiligen Ideen als kristallklares Fenster zur wahren Realität, so, wie sie ein erwachtes Bewusstsein erfährt.Dieses Buch behandelt nicht die psychologischen Typen des Enneagramms, sondern die höheren spirituellen Realitäten, die von ihnen gespiegelt werden. Wir entdecken, dass die Entwicklung unserer jeweiligen psychologischen Fixierungen auf der Tatsache beruht, dass wir von den Heiligen Ideen abgetrennt sind. Auf diese Weise können wir den tieferen Kern eines jeden Enneatyps erkennen. Diesen Kern zu verstehen, hilft uns, die jeweilige Heilige Idee zu einem Schlüssel werden zu lassen, der die dazugehörige Fixierung aufschließt und uns von ihren Begrenzungen befreit.

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Seitenzahl: 540

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Titel der Originalausgabe:

FACETS OF UNITY –

THE ENNEAGRAM OF HOLY IDEAS

Herausgegeben von:

Diamond Books / Almaas Publications, Berkeley, CA, 1998

Copyright © 1998 A-Hameed Ali

© Deutsche Ausgabe:

Lektorat: Chandravali D. Schang

J. Kamphausen Verlag &

Typografie/Satz: Wilfried Klei

Distribution GmbH, Bielefeld 2004

Umschlaggestaltung:

[email protected]

Shivananda Heinz Ackermann

www.weltinnenraum.de

Druck & Verarbeitung:

Übersetzung: Christine Bolam

KN Digital Printforce GmbH, Stuttgart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eISBN 978-3-933496-85-0

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und

sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe

sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

A. H. Almaas

Facettender Einheit

Das Enneagrammder Heiligen Ideen

Deutsch von Christine Bolam

Danksagungen

Vorwort von Oskar Ichazo

Einführung

Teil Eins: Die Perspektive

1

Kapitel 1:Eine kurze Geschichte des Enneagramms

Kapitel 2:Überblick über die Heiligen Ideen

Kapitel 3:Der Diamond Approach und die Heiligen Ideen

Teil Zwei: Lebendiges Tageslicht und Urvertrauen

2

Kapitel 4:Urvertrauen

Kapitel 5:Lebendiges Tageslicht

Kapitel 6:Die haltende Umwelt

Kapitel 7:Liebevolles Licht und das Biest

Kapitel 8:Die wirkliche Welt

Kapitel 9:Die Heiligen Ideen und das Urvertrauen

Teil Drei: Mit den Heiligen Ideen arbeiten

3

Kapitel 10: Ausrichtung auf die Heiligen Ideen

Kapitel 11: Heilige Wahrheit

Kapitel 12: Heiliges Allwissen, Heilige Transparenz

Kapitel 13: Heiliger Wille, Heilige Freiheit

Kapitel 14: Heilige Vollkommenheit

Kapitel 15: Heilige Weisheit, Heilige Arbeit, Heiliger Plan

Kapitel 16: Heiliger Ursprung

Kapitel 17: Heilige Liebe

Kapitel 18: Heilige Kraft, Heiliger Glaube

Kapitel 19: Heilige Harmonie, Heiliges Gesetz, Heilige Hoffnung

Zum Abschluss

Quellen

Meine Liebe und Dankbarkeit giltDr. Claudio Naranjofür seine Einführung in die spirituelle Arbeit unddie Vermittlung des Enneagrammwissens.Seiner bahnbrechenden Intergrationvon psychologischem Verständnisund spiritueller Praxisverdanke ich mein Interesse an beiden.

Danksagungen

Ohne den unschätzbaren und engagierten Einsatz der folgenden Menschen wäre dieses Buch nie entstanden:

Mit Hingabe und Intelligenz haben Sandra Maitri, Alia Johnson und Byron Brown es vermocht, die Manuskripte von Vorlesungen, die ich vor einigen Jahren gehalten habe, in ein lesbares und verständliches Buch zu verwandeln. Für diesen unschätzbaren Beitrag bin ich ihnen sehr dankbar.

Außerdem danke ich Sue Clarry für ihre wesentliche Unterstützung bei der Erstbearbeitung, Sheri Harms für ihre kompetenten und notwendigen Korrekturen, Byron Brown für Organisation und Layout und der Produktionsmanagerin von Diamond Books, Sara Norwood Hurley, für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Unterstützung des Projekts sowie aller beteiligten Mitarbeiter.

Schließlich danke ich Claudio Naranjo für seine Vermittlung des tradierten Enneagrammwissens und Oscar Ichazo, der als Quelle dieser Überlieferung die Großzügigkeit besaß, ein Vorwort für das Buch zu schreiben.

A. H. ALMAAS

Vorwort

A. H. Almaas präsentiert in diesem knappen, wohlformulierten Buch eine weitere Studie zum wichtigsten Thema seiner Erforschungen, das er sehr zutreffend den Diamond Approach nennt. Der Diamond Approach besteht im Wesentlichen darin, die Gesamheit des Geistes (Mind) auf seiner Reise zum transzendenten Zustand des reinen Geistes, dem Diamond Mind, wie er besonders im Diamond Sutra dargestellt wird, zu erforschen. Dieselbe Untersuchung und Entdeckung ist auch auf der Ebene des Sechsten Patriarchen und in der platonischen, stoischen und neoplatonischen Lehre von der Anamnesis (gr.) oder „Lehre von der Erinnerung der ewigen Ideen oder Formen“ zu finden. Mystischer und transzendenter Kernpunkt dieser Lehre ist die Tatsache, dass wir schon vor der Geburt um die ewigen Ideen wissen und diese nur wiederentdecken können, indem wir unseren Geist bis zu seinem natürlichen Ursprung zurückverfolgen, der ungeboren ist und dessen höchste Eigenschaft in seiner Fähigkeit besteht, sich selbst in den ewigen Ideen oder Platonischen Formen zu reflektieren.

Almaas war einst Schüler von Claudio Naranjo, der bei mir in Chile studierte – 1969 in Santiago und 1970 in Arica. Naranjo ist einer der besten Theoretiker unsere Zeit und hat seine Fähigkeiten, seine akademische Darstellung und seine intellektuelle Integrität vielfach unter Beweis gestellt, indem er seinen Studenten eine exakte Wiedergabe meiner Lehren zur Verfügung stellte und genau aufzeichnete, welche logische, metaphysische, psychologische und allgemein spirituelle Struktur sie besaßen. Diese spirituelle Struktur dient dem gesamten Zyklus unserer Erfahrungen, die den Reichtum unseres psychischen Lebens ausmachen, als Stützgerüst. Zu jenem Zeitpunkt im Jahre 1969 stellte ich die geistige Struktur als Leiter mit sieben unterschiedlichen Stufen dar, von denen jede ein Verhaltensmuster hervorbringt, das mit den anderen wie in einer Gangschaltung verbunden ist und so ein organisches System bildet, in dem die niedere Ebene in der jeweils höheren enthalten ist und durch sie erklärt wird. Dabei handelt es sich natürlich um reinen Platonismus, doch wie all meine Schüler wissen, bildete die siebenstufige Leiter nur einen Teil einer weitaus größeren Struktur innerhalb meiner Theorien, die ich mit dem Codenamen Scarab bezeichne: eine weitere Leiter mit siebzehn unterschiedlichen, miteinander verbundenen Stufen. Vom Inhalt her habe ich diese größere Skala zusammen mit der synthetisierten siebenfachen Skala als integralen Teil meiner Theorie entwickelt, die auf der Behauptung basiert, dass jede Ebene mit allem, was sie enthält, Teil einer Struktur ist, welche die Basis aller Dinge erklärt und mit den inhärenten Gesetzen der siebenfachen Leiter (dem „Gesetz der Sieben“ aus Platos Timaeus, den Chaldäischen Orakeln und der Hermetica) übereinstimmt. Aufgrund ihrer gegenseitigen Vernetzung sind die Ebenen des Scarab direkt miteinander verbunden und üben einen direkten Einfluss aufeinander aus, so wie es in der pythagoräischen „Lehre harmonischer Klänge“ beschrieben wird: Wenn ein bestimmter Ton erklingt, führt das zu einer unmittelbaren Reaktion bei demselben Ton in anderen Oktaven. Diesen größeren Zusammenhang stelle ich in einem Buch vor, das kurz vor seiner Vollendung steht. Ich muss nachdrücklich darauf hinweisen, dass die siebenfältige Struktur in sich vollkommen ist und die Gesamtheit des Systems in kondensierter Form darstellt. In den Jahren 1969 und 1970 war es wichtig, das System in konzentrierter Form zu formulieren, um dem Bedürfnis meiner Studenten nach einer schnellen und klaren Assimilation der Methode und ihrer sofortigen praktischen Anwendung Rechnung zu tragen – schließlich muss die gesamte Lehre praktisch umgesetzt werden, bevor sie als „lebendige Philosophie“ verstanden und verkörpert werden kann. Eine noch tiefer gehende Verkörperung geschieht im Rahmen von Gruppenprozessen, eigenem Unterrichten und dem Weitergeben der analytischen Methode an andere. Da die Lehren logisch und rhetorisch gut fundiert sind, können sie direkt postuliert und mit wissenschaftlicher Klarheit erklärt werden.

In der Nachfolge von Plato fassten die Neoplatoniker die Struktur der Psyche zu zehn auf den pythagoräischen Zahlen basierenden Prinzipien zusammen, die als universale Prinzipien – oder in meinem System als die Zehn Göttlichen Heiligen Ideen – interpretiert werden, wobei die zehnte Idee für die Einheit der göttlichen Fülle des Einen steht. Proclus analysiert die zehn pythagoräischen Zahlen in seiner „Platonischen Theologie“, die in der Tat die höchste und bedeutendste Theologie aller Theologien von damals bis zur jetzigen Zeit darstellt. Und Plotinus verdanken wir als Ausarbeitung von Platos „Lehre des Einen“: die „Lehre der totalen Transzendenz des Geistes in seiner reinen und absoluten Transzendenz des Einen“. Außerdem würdigen wir seine höchst bedeutsame „Lehre der Trinität“, in der alle Monaden eine Manifestation ihrer eigenen inneren Einheit in Form einer vernetzten und in sich abhängigen Triade in sich tragen – und da nur Monaden existieren, ist die gesamte Realität eine Auswirkung der inneren Bewegung einer Triade (s. das „Gesetz der Drei“ in Platos Timaeus, den Chaldäischen Orakeln und der Hermetica). In meinem System wird die Lehre der Trinität, wie in den Trialectics vorgeschlagen, auf logische Weise anhand der Logik des Raums, der Zeit und der Zyklen analysiert. Auf dieser Grundlage können die verschiedenen Ebenen des Systems sowie seine Struktur abgeleitet werden.

Wie schon angemerkt, gab Naranjo die siebenfache, von mir postulierte Struktur an seine Studenten weiter und verfolgte direkt im Anschluss an unsere gemeinsame Arbeit seine Untersuchungen über die Psychologie des Systems anhand der Prinzipien der Gestaltpsychologie, Tiefenpsychologie und Kognitiven Psychologie. Naranjo arbeitete hauptsächlich mit dem Enneagramm der Leidenschaften, das natürlich die psychologische Ebene des Modells darstellt. Er kam zu hervorragenden psychologischen Erkenntnissen über die Leidenschaften und die Fixierungen sowie deren Beziehung zur gesamten Psyche. Auf diese Weise gab er seine weiteren Erforschungen der neun psychologischen Typen oder Enneatypen – wie er sie passenderweise nannte – einen absolut gültigen Rahmen. Naranjo hat das System auch als Wissenstheorie oder Epistemologie untersucht. Außerdem hat er die wahre Bedeutung der Namen der Heiligen Ideen aus semantischer Sicht erforscht und deutet eine auf ihnen basierende Ontologie an. Tatsächlich beruht auch meine ontologische Erklärung des Problems des Seins an sich und des Seins, welches instabil und in ständigem Werden begriffen ist, auf den Ausführungen zu den neun Heiligen Ideen, welche die innewohnende Kraft besitzen, unser gesamtes Selbst mithilfe der Meditation oder Kontemplation – oder auf dem Wege des „Lebens der Theorie“ oder kontemplativen Lebens und seiner Verwirklichung in der Entelechie oder primären Kraft gemäß dem Buche Lambda (XII) aus Aristoteles’ Metaphysik – zu transformieren und umzuwandeln. In meinem System verleihe ich der transformativen Kraft der Heiligen Ideen den technischen Namen Psycho-Katalysatoren, die auf die gleiche Weise funktionieren wie einfache chemische Elemente oder Katalysatoren, die durch ihre Präsenz chemische Veränderungen auslösen, ohne selbst verändert zu werden. Man muss sich die Heiligen Ideen als neun Strahlen vorstellen, die vom göttlichen Einen und dem Heiligen Geist (Mind) ausgestrahlt werden: Wenn sie alle gleichermaßen gegenwärtig sind, wird das göttliche Ganze hervorgebracht und ihr ursprünglicher, ungeborener und unsterblicher Zustand wird enthüllt und verwirklicht. Das führt uns direkt zur Theologie oder Theogonie, d.h. zum Ursprung des Göttlichen, sowie zur philosophischen Anthropologie mit ihrer Frage: „Was ist der Mensch?“, die mit der These beantwortet wird, der Mensch sei nur im erleuchteten und selbstverwirklichten Zustand in sich vollkommen – ein Zustand, der durch die Arbeit mit den neun Heiligen Ideen erreicht werden kann.

Und nun präsentiert Almaas in diesem Buch eine ontologische Analyse der Heiligen Ideen, indem er sich anhand der Methodik des Diamond Approach auf die Suche nach tieferen Antworten und Ausblicken durch die Heiligen Ideen macht. Während Naranjo das System aus dem Blickwinkel der Psychologie betrachtete, liefert Almaas uns mit derselben Stichhaltigkeit ein Buch akademischer Erforschung aus der Sichtweise der Ontologie und verliert dabei nie das höchste Ziel aus dem Auge, nämlich dass jede Heilige Idee einen direkten und vollkommenen Weg zur Erkenntnis und – noch wichtiger – zur Wiedererinnerung (anamnesis) bietet, der die drei metaphysischen Anteile Selbst-Erinnerung, Selbst-Entdeckung und Selbstverwirklichung beinhaltet. Almaas präsentiert seine stichhaltigen Erforschungen des Enneagramms der neun Heiligen Ideen auf elegante und kompetente Weise und sein analytischer und praktischer Ansatz trägt mit Sicherheit zum leichteren und tieferen Verständnis des transzendenten Wesens der Heiligen Ideen bei. Dieses Buch richtet sich mit Sicherheit an eine große Leserschaft, die zunehmend ein Interesse daran bekundet, mit dem System der Enneagramme zu arbeiten. Die Leser dieses Werkes werden in der Tat Gewinn und Erkenntnis daraus ziehen, wenn sie sich der Führung von Almaas’ hermeneutischer Interpretation und Erforschungsmethode anvertrauen, welche die existenzielle Erfahrung der Göttlichen Heiligen Ideen unterstützen und fördern.

OSCAR ICHAZO

SEPTEMBER 1998

Einführung

Viele von uns glauben, spirituelle Verwirklichung habe damit zu tun, glücklicher, freier und edler zu werden und gleichzeitig die grundlegenden Formen und Erfahrungskategorien unserer vertrauten Realitätssicht beizubehalten. Dieser Haltung liegt die weit verbreitete Überzeugung zugrunde, dass „Wachstumsarbeit“ wie auch psychologische Entwicklungsarbeit zur spirituellen Transformation führen können. Diese Überzeugung reflektiert ein unzureichendes Verständnis der Tatsache, dass die grundlegenden Paradigmen unserer Weltsicht, die unsere Alltagserfahrung prägen, ein wesentlicher Teil des Gewebes aus Unwissenheit sind, das uns fest an die ichbezogene Erfahrung bindet.

Bevor wir die spirituelle Transformation direkt erfahren, verstehen wir nicht wirklich, dass diese Transformation unsere Erfahrung unserer selbst und der Welt so massiv verändert, dass es nicht darum gehen kann, ein transformiertes Individuum zu werden. Stattdessen erkennen wir, dass die Realität, die verwirklicht wird, sich nicht auf Begriffe wie „Individuum“ oder „Welt“ eingrenzen lässt. Die Erfahrungsprinzipien und -kategorien, die wir für unverrückbare Wahrheiten hielten, verändern sich, und insbesondere unsere Vorstellung davon, was wirklich existiert und wie es existiert, macht eine radikale Verwandlung durch. Mit anderen Worten: Spirituelle Befreiung hat damit zu tun, dass sich Erfahrung und Wahrnehmung in eine andere Existenzdimension verschieben, die ihre eigene Perspektive mit sich bringt und die zum Zentrum und zur Basis aller Erfahrung wird.

Unser Ich-Gefühl wird verwandelt, wenn es sein essenzielles Wesen verwirklicht – die ontologische Präsenz, die reines Sein ist. Keine noch so umfangreiche psychologische Wachstumsarbeit kann das leisten. Die psychologische Ebene, die wir aufgrund unserer üblichen Erfahrungen kennen, stellt eine verzerrte und unvollständige Erfahrung unserer Innenwelt dar, da sie nicht in Kontakt mit dem Sein ist. Psychologische Beobachtungen und Prozesse sind notwendiger Teil der inneren Arbeit der Transformation, doch wenn diese Transformation wirklich eine spirituelle sein soll, benötigen wir den Zugang zur Dimension des Seins.

Der Mensch lebt normalerweise in einem Zustand gehemmter Entwicklung, in dem die psychologische Sphäre das Bewusstsein beherrscht. Um unser Potenzial vollständig zu realisieren, müssen wir unsere Entwicklung wieder aufnehmen. Das führt uns jenseits der psychologischen Sphäre zum Bereich des Seins oder des Geistes (spirit). Reisende auf diesem Pfad erleben, dass psychologisches Verständnis und spirituelle Erfahrungen derart verbunden und miteinander verwoben sind, dass man sie am ehesten als ein Kontinuum menschlicher Erfahrungsbereiche betrachten kann.

Dieses Verständnis lag meinem Entschluss zugrunde, mit dem vorliegenden Buch eine Studie der Enneagrammtypen aus der Perspektive der Heiligen Ideen zu veröffentlichen. Diese Ideen sind objektive Sichtweisen der Realität, und sie zu verwirklichen bedeutet, Freiheit von der verzerrten Sicht des Ego und somit von dem Bereich der Fixierungen zu erlangen. Diese Umgehensweise mit dem Enneagramm der Heiligen Ideen basiert auf der Perspektive und Methodik spiritueller Entwicklung, die ich den Diamond Approach nenne.

Neulinge bei der inneren Arbeit spiritueller Transformation werden dieses Buch als Öffnung sehen, die es ihnen erlaubt, bislang unbekannte Bereiche wahrzunehmen und vielleicht zu erfahren. Alle, die mit Hilfe des Enneagramms schon intensiv an sich gearbeitet und die wichtigsten Merkmale ihres psychologischen Charakters identifiziert haben, werden sehen, dass dieses Werk es ihnen ermöglicht, mit dem in Kontakt zu treten, was jenseits der fixierten Struktur liegt. Und jene, die sich schon länger ernsthaft mit der inneren Arbeit spiritueller Transformation befasst und einige tiefe Erfahrungen ihrer wahren Natur gemacht haben, werden einen Wissensschatz entdecken, der ihnen den Zugang zu den verschiedenen Seinsdimensionen erleichtert.

Das in diesem Buch enthaltene Wissen kommt besonders jenen zugute, die ausführlich studiert, Selbstbeobachtung praktiziert und viele Manifestationen des Seins erlebt haben. In diesem Buch spreche ich über das Übergangsstadium zwischen der persönlichen und der grenzenlosen Realisation des Seins. Die persönliche Ebene betrifft die Verwirklichung des Seins als Essenz der individuellen Seele, während die grenzenlose Ebene damit zu tun hat, das Sein als wahre Natur des Kosmos als Ganzem zu erkennen. Dieser Übergang entspricht der Verschiebung der Identität vom Persönlichen zum Universalen.

Das vorliegende Werk bietet eine tief greifende Darstellung meiner Sichtweise der Wahrheit des Kosmos, der Wahrheit des Menschen und der Beziehung zwischen beiden. Es untersucht den Bezug des spirituellen Weges zu Gott, der Welt und der Seele – den drei Hauptelementen jeder spirituellen Lehre. Die objektive oder erleuchtete Sicht des Kosmos kann mithilfe der verschiedensten Systeme und Terminologien erforscht werden, wie dem Sufisystem der heiligen Namen oder dem buddhistischen System der Buddhafamilien und -eigenschaften. Ich werde diese Sicht hier anhand des Systems des Enneagramms vertiefen, insbesondere des Enneagramms der Heiligen Ideen.*

*Die Definition der Heiligen Ideen stammt aus „The Arica Training“ von John C. Lilly und Joseph E. Hart, in Transpersonal Psychology von Charles T. Tart, 1977. S. 335-336.

TEIL 1

DIE PERSPEKTIVE

Kapitel 1

Eine kurze Geschichte des Enneagramms

Um zu verstehen, was das Enneagramm ist, muss man etwas über seine Geschichte wissen. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erschien das neuneckige Symbol des Enneagramms zum ersten Mal in der modernen westlichen Welt, als der armenische Mystiker G. I. Gurdjieff es als Teil seiner Lehre vorstellte. Er selbst hatte es anscheinend in einer Geheimschule des Mittleren Ostens kennengelernt, die auf eine mindestens zweitausend Jahre alte spirituellen Tradition zurückschaut. Unseres Wissens unterrichtete er nicht das derzeit bekannteste Enneagramm der Persönlichkeitsfixierungen. Dieses Enneagramm, das in den letzten Jahren große Popularität erlangt hat, stammt hauptsächlich von Claudio Naranjo, einem chilenischen Psychiater und Lehrer, der es von dem südamerikanischen spirituellen Lehrer Oscar Ichazo gelernt hat. Es ist nicht klar ersichtlich, welche Anteile dieser Enneagrammlehre von Ichazo stammen und welche später von Naranjo im Rahmen seiner umfassenden tiefenpsychologischen Kenntnisse erweitert oder hinzugefügt wurden. Naranjo, dem ich mein Wissen über das Enneagramm verdanke, brachte es mit der Schule im Mittleren Osten in Verbindung, der Gurdjieff angehörte, stellte aber auch klar, dass er sein Grundwissen über das Enneagramm von Oscar Ichazo gelernt hatte.

Naranjo zufolge geht die Vorstellung, dass das Enneagramm eine objektive Landkarte der Realität in ihren vielfältigen Manifestationen und Dimensionen darstellt, auf jene Schule zurück. Mit dem Enneagramm als Landkarte kann man ein detailliertes Wissen über jede Dimension menschlicher Erfahrung erlangen. Zwei Kategorien des Enneagramms behandeln innere Erfahrungen: Das Enneagramm der Fixierungen und Leidenschaften bezieht sich auf egoische Erfahrungen (die das grundlegende spirituelle Unwissen spiegeln), das Enneagramm der Tugenden oder der Heiligen Ideen auf essenzielle Erfahrungen (die spirituelle Erleuchtung spiegeln). So wie es innere Verbindungen innerhalb eines jeden Enneagramms gibt, existieren auch ganz spezifische Beziehungen zwischen den verschiedenen Enneagrammen.

In den vergangenen Jahren sind mehrere Bücher über das Enneagramm erschienen, die hauptsächlich das Enneagramm der Fixierungen oder Ego-Typen behandeln. Die Ideen in diesen Büchern beruhen auf Naranjos Lehren der frühen siebziger Jahre. Die meisten dieser Publikationen stellen das Enneagreamm als ein hauptsächlich psychologisches Modell vor und benutzen es vorwiegend als eine Methode zur Typenlehre. Zwar bietet das Enneagramm eine sehr brauchbare Methode zur Identifizierung und Einordnung psychologischer Funktionen, doch seine Möglichkeiten überschreiten diese begrenzte Anwendung bei weitem.

Die in diesem Buch dargestellte Sicht der höheren Anwendungsbereiche des Enneagramms steht im Einklang mit der Sichtweise von Ichazo und Naranjo. In seinem Buch Ennea-type Structures (Naranjo, 1990) präsentiert Naranjo das Enneagramm als Mittel zur Selbstbeobachtung und zum Studium bei der übergeordneten Arbeit der spirituellen Verwirklichung. Er macht klar, dass die Persönlichkeitsmerkmale der neun Egotypen (die Naranjo „Enneatypen“ * nennt) Ausdruck unseres Kontaktverlustes mit dem Sein, unserem essenziellen Wesen sind, und zeigt damit, dass der wahre Wert dieses Wissens darin liegt, uns dabei zu helfen, diesen Kontakt wieder herzustellen. So erklärt Naranjo bei der Beschreibung der Leidenschaften oder emotionalen Grundlagen eines jeden Enneatyps beispielsweise, dass sie sich „… vor dem Hintergrund ontischer Verdunklung erheben; dass der Verlust eines Gefühls von ‚Ich bin‘ zu einem anhaltenden ‚Verlangen zu sein‘ führt, das sich in den verschiedenen Formen der neun Emotionen des Ego manifestiert.“ (Naranjo, 1990, S. 30). Die Sichtweise, dass sich die fixierten Leidenschaften eines jeden Enneatyps auf den Kontaktverlust mit dem Sein beziehen, reflektiert die Perspektive des durch das Enneagramm übertragenen Wissensschatzes. So sagt Ichazo: „Jede Person entwickelt einen Stil, um den Mangel, die ontologische Leere im Zentrum des Ego zu kompensieren. Wir sagen, dass es neun grundlegende Stile oder Punkte der Fixierung des Ego gibt.“ (Bleibreu, 1982, S. 13). Obwohl auch Ichazo diese Sichtweise teilt, stellen Naranjos Studien den ersten veröffentlichten Überblick über die Art und Weise dar, wie sich jeder Charaktertyp auf den Kontaktverlust mit dem Sein bezieht. Naranjos Werk ermöglicht es uns ebenso wie Helen Palmers Werk, in dem sie die Enneatypen mit verschiedenen Arten der Intuition in Verbindung setzt, sowie Don Risos und Robert Hudsons Unterscheidung der Typen aufgrund ihrer Persönlichkeitsstrukturen (Palmer,1988; Riso and Hudson, 1996), diese Studie des höheren Enneagramms vorzustellen, ohne zusätzlich eine Lehre des Enneagramms der Persönlichkeitstypen zu vermitteln.

Im Laufe der Entwicklung des Diamond Approach haben wir beobachtet, dass man sich mit Hilfe des Enneagramms einfach und systematisch selbst verstehen kann. Das hat es uns ermöglicht, einige der Enneagramme auf neue und manchmal tiefere Weise zu verstehen und zusätzlich neue Enneagramme zu erstellen. Unser Verständnis des Enneagramms beruht daher auf unserer empirischen, größtenteils von Naranjo gelernten Integration des allgemein anerkannten Wissensschatzes des Enneagramms, sowie unseren eigenen Entdeckungen.

In der tradierten Sicht ist das Enneagrammwissen ein objektives Wissen über die Wirklichkeit. Wir betrachten das als wahr. In unserem Verständnis bedeutet die Objektivität des Enneagramms unter anderem, dass es von jedem, der die nötigen Fähigkeiten besitzt und tatsächlich die Natur der Relität erforscht, direkt wahrgenommen werden kann. Und da es ein wahres Modell der Wirklichkeit ist, kann niemand sein Wissen ausschöpfen. Das Wissen über die Wirklichkeit ist unbegrenzt und unerschöpflich: Jede Lehre beschreibt die Wirklichkeit auf spezifische Weise, und keine dieser Beschreibungen umfasst alle uns möglichen Erfahrungen. Das Enneagramm ist eine Struktur, die es uns ermöglicht, die Wahrheit über das Sein und über die Menschen als Teil dieses Seins zu enthüllen. Wir betrachten das vorliegende Buch als neuen Beitrag zum Wissen über das Enneagramm.

*Ein enneagrammatischer Typus bezieht sich nicht nur auf eine bestimmte Fixierung oder einen bestimmten Satz von Verhaltensmustern, sondern auch auf die dazugehörige Leidenschaft, den idealisierten essenziellen Aspekt, die Tugend und so weiter. Aus diesem Grund erscheint mir „Enneatyp“ ein besserer Ausdruck zu sein als der traditionelle Begriff „Ego-Typ“ oder „Fixierung“, da er diese Vieldimensionalität ausdrückt; ich werde ihn deshalb in diesem Buch benutzen.

Kapitel 2

Überblick über die Heiligen Ideen

Jede Heilige Idee repräsentiert eine bestimmte direkte Wahrnehmung der Realität in Form einer spezifischen Eigenschaft oder Facette der ungetrübten Wahrnehmung dessen, was ist. Die neun Ideen stellen uns also einen Gesamtüberblick der objektiven Realität zur Verfügung. In der tradierten Sicht des Enneagramms wird jede enneatypische Fixierung als Ausdruck einer begrenzten mentalen Realitätsperspektive betrachtet, und jede der neun egoischen Perspektiven als direkte Auswirkung des Verlustes oder der Abwesenheit der erleuchteten Wahrnehmung einer der Heiligen Ideen. Das Enneagramm der Fixierungen spiegelt die trügerische oder egoische Realitätssicht, welche den Verlust jener erleuchteten Sichtweise ausdrückt, die im Enneagramm der Heiligen Ideen dargestellt wird.

Die Vorstellung, dass jede Fixierung aus dem Verlust einer bestimmten, nicht konditionierten Wahrnehmung des Seins resultiert, beinhaltet, dass die letztendliche Freiheit von dieser Fixierung nur durch die empirische Erkenntnis der jeweiligen Heiligen Idee erlangt werden kann. Das entspricht Naranjos Definition der Heiligen Ideen als „Aspekte der Realität, welche die Fähigkeit besitzen, die Fixierung oder den impliziten kognitiven Irrtum des Individuums aufzulösen.“ (Naranjo, 1990, S.1). Die Lehre, dass die Fixierungen als Folge des Verlustes der Heiligen Ideen auftauchen, reicht viel tiefer als das konventionelle psychodynamische Verständnis, das psychologische Muster auf frühe prägende Erfahrungen zurückführt. Wenn wir mit dem Enneagramm nur auf der psychologischen Ebene arbeiten, bleiben wir auf der psychologischen Ebene stecken. Arbeiten wir aber mit dem Enneagramm als Teil einer größeren spirituellen Arbeit, führt es zu einer viel tieferen Erkenntnis der Wahrheit und somit zu einer Freiheit von Persönlichkeitsmustern, die aus der Perspektive des Ego wirklich unvorstellbar ist.

Ichazo betrachtet die Arbeit am Enneagramm der Heiligen Ideen als notwendig, um Freiheit von den Fixierungen zu erlangen. Er nennt die Heiligen Ideen die „Psychokatalysatoren“, die für das Werk der „Psycho-Alchemie“ erforderlich sind. Er glaubt, dass das Ego aufgrund des Kontaktverlustes zum Sein entsteht: „Wenn wir uns von unserer primären Vollkommenheit, unserer Vollständigkeit, unserer Einheit mit der Welt und Gott abwenden, erschaffen wir die Illusion, etwas außerhalb unserer selbst zu brauchen, um vollständig zu sein. Auf dieser Abhängigkeit von dem, was außen ist, beruht das menschliche Ego.“ (Bleibreu, 1982, S. 9 – 10).

Der Verlust des Seins und die Heiligen Ideen

Naranjo beschäftigt sich nicht aus der Perspektive der Heiligen Ideen mit der Sichtweise, dass die Enneatypen unseren Kontaktverlust mit dem Sein spiegeln. In seiner Abhandlung der Beziehungen zwischen den Enneatypen und dem Kontaktverlust mit dem Sein konzentriert er sich auf das Enneagramm der Leidenschaften und erklärt, wie die spezifische, den jeweiligen Enneatyp regierende Leidenschaft den Kontaktverlust mit dem Sein reflektiert und aufrechterhält. Das ist eine bedeutungsvolle und nützliche Lehre, die die Sichtweise anderer Veröffentlichungen über das Enneagramm, welche die Beziehung des Ego zum Kontaktverlust mit dem Sein nicht betonen, spirituell gesehen bei weitem überflügelt. Doch Naranjos Sichtweise der Beziehung der Enneatypen zum Sein bleibt eher allgemein. Sie zeigt nicht auf, warum und wo die Unterschiede zwischen den Enneatypen ihren Ursprung haben. Naranjo benutzt das Konzept des Seins oder der Essenz auf allgemeine Weise, ohne Bezug zu den verschiedenen objektiven Möglichkeiten – wie z.B. dem Enneagramm der Heiligen Ideen –, diese auch zu erfahren.

Wir kennen keine veröffentlichte Studie, die im Detail aufzeigt, wie und warum die Enneatypen und ihre mentalen Fixierungen sich auf eine Art und Weise entwickeln, bei der sich die Faktoren menschlicher Entwicklung mit dem Verlust der Heiligen Ideen verbinden. Uns ist bekannt, dass Ichazo ein Verständnis dieses Prozesses besitzt oder eine Theorie über ihn hat, die er jedoch nie veröffentlicht hat. Wir haben aus verschiedenen Quellen nur einige begrenzte und allgemeine Fragmente seiner Sichtweise in Erfahrung bringen können.

In diesem Buch erforschen wir, wie der Kontakt mit dem Sein verloren geht und wie sich diese Tatsache im Verlust der Perspektive der Heiligen Ideen reflektiert. Im Zentrum dieser Studie steht die oben besprochene, tradierte Sichtweise, dass die Fixierungen Reflektionen des Verlustes der Heiligen Ideen sind. Wir besprechen jede der Heiligen Ideen im Detail und betrachten, wie der Verlust einer jeden Idee zur Entwicklung der entsprechenden Fixierung führt. Jeder Verlust manifestiert sich als Entwicklung einer bestimmten Verblendung, als falsche Sicht der Realität und somit als das Zentrum dessen, was Naranjo „impliziten kognitiven Irrtum“ nennt.

Eine Heilige Idee ist ein bestimmtes, nicht konditioniertes und daher objektives, auf Erfahrung beruhendes Verständnis der Realität. So wird die Realität aus der Perspektive einer der Heiligen Ideen als nichtduale Einheit des Seins erfahren, und der Verlust oder die Abwesenheit dieser Idee führt zur Verblendung der Dualität, die sich in der Überzeugung ausdrückt, dass in der Realität letzten Endes einzelne, getrennte Objekte existieren. Es gibt neun spezifische Verblendungen, die den Verlust oder die Abwesenheit der neun Heiligen Ideen reflektieren. Diese Verblendungen wirken als die primären Prinzipien egoischer Existenz. Jede Verblendung bildet das Zentrum eines psychologischen Komplexes, den wir als Kern der jeweiligen Fixierung betrachten.

C. G. Jungs Auffassung von den Komplexen als psychologische Konstellationen mit einem Archetyp in ihrem Zentrum, gleicht unserer Vorstellung vom Kern einer jeden Fixierung. Der jungsche Analytiker Nathan Schwarz-Salant hat C. G. Jungs Auffassung klar definiert: „Komplex: Eine emotional geladene Gruppe von Ideen oder Bildern. Im ‚Zentrum’ eines Komplexes befindet sich ein Archetyp oder ein archetypisches Bild.“ (Schwarz-Salant, 1982, S. 180). Die Heilige Idee kann als der Archetyp im Zentrum eines jeden Enneatyps betrachtet werden. Jung hat die Heiligen Ideen natürlich nicht als Archetypen angeführt, aber seine Definition der Archetypen würde die Heiligen Ideen mit einschließen:

… stellt der Archetypus das eigentliche Element des Geistes dar; aber eines Geistes, welcher nicht mit dem Verstande des Menschen identisch ist, sondern eher dessen spiritus rector darstellt. Der wesentliche Inhalt aller Mythologien und aller Religionen und aller –ismen ist archetypischer Natur. (C. G. Jung, 1998, S. 48)

An anderer Stelle führt Jung aus:

Bei Augustinus findet sich zwar der Begriff nicht, wohl aber die Idee, so „De diversis questionaebus“: „Ideen, die selbst nicht geformt sind … die enthalten sind im göttlichen Wissen“. „Archetypus“ ist eine erklärende Umschreibung des platonischen Eidos. Für unsere Zwecke ist diese Bezeichnung treffend und hilfreich, denn sie besagt, dass es sich bei den kollektiv-unbewussten Inhalten um altertümliche – oder besser noch – um urtümliche Typen, das heißt, seit alters vorhandene allgemeine Bilder handelt. (C. G. Jung, 1998, S. 78)

Ob wir den Kern der Fixierungen als Komplexe und die Heiligen Ideen als Archetypen ansehen oder nicht – der Kern eines jeden Enneatyps wirkt als dessen zentrale psychologische Konstellation und bildet somit den Kern der Fixierung. Die verschiedenen Charakteristika eines jeden Enneatyps sind einfach nur die natürlicherweise auftauchenden Manifestationen dieser Kernkomplexe, die sich aus verschiedenen Selbstbildern, Objektbeziehungen, Abwehrmechanismen des Ego, psychologischen Mustern, Verhaltens- und Wahrnehmungsmodalitäten und so weiter zusammensetzen. Diese Kerne bestimmen also die unterschiedlichen Charakteristika, die jeden Enneatyp letztendlich qualitativ von den anderen trennen. * Genauer gesagt reflektieren die Charakteristika eines jeden Enneatyps dessen inneren Kern, und die verschiedenen Charakteristika der neun Typen reflektieren die verschiedenen Komplexe der Kerne. Und da das den jeweiligen Kern bestimmende Zentrum eine bestimmte Verblendung ist, die den Verlust der entsprechenden Heiligen Idee auf einzigartige Weise reflektiert, wird klar, dass die Heiligen Ideen letztendlich für die Unterschiede zwischen den Enneatypen verantwortlich sind.

*Um die Charakteristika des äußeren Anteils der Fixierung – deren Schale – tiefer zu verstehen, kann man die bestimmenden Einflüsse eines weiteren höheren Enneagramms erforschen, das wir im Diamond Approach benutzen. Dieses Enneagramm reflektiert die Heiligen Ideen auf der Ebene der essenziellen Aspekte.

Kapitel 3

Der Diamond Approach und die Heiligen Ideen

Wie schon bemerkt, baut das vorliegende Werk auf dem Verständnis der Heiligen Ideen auf, das sich im Kontext der Entwicklung des Diamond Approach entfaltet hat. Gleichzeitig bietet die Perspektive der Heiligen Ideen einen Rahmen für das Verständnis dessen, was die Basis des Diamond Approach als Methode innerer Arbeit ausmacht. Der Diamond Approach hat sich in einem Kontext entwickelt, in dem das Enneagramm als Landkarte der Wirklichkeit und als heilige Psychologie verstanden wurde.

Die Wirklichkeit als Einheit

Die Heiligen Ideen stellen eine Landkarte der Sicht der Wirklichkeit als Einheit dar. Jede Heilige Idee entspricht einer Sicht der Wirklichkeit, in der sich ein Verständnis der Ganzheit und Einheit der Welt und des Universums, der Menschen und des Wirkens der Realität spiegelt. Das Verständnis der Einheit – die Nichtdualität der verschiedenen Elemente und Dimensionen der Existenz und der Manifestation – ist ein Element jedes traditionellen spirituellen Verständnisses. Sowohl östliche als auch westliche Lehren, die eine Methode innerer Arbeit zur Erkenntnis der Wirklichkeit beinhalten, führen zwangsläufig zu der Wahrnehmung, dass Mensch und Welt, physische Welt und Bewusstsein, göttlich und weltlich nicht getrennt sind. Viele dieser Lehren sehen im Unwissen über diese Wahrheit, das heißt, in der Trennung oder in der Entfremdung vom Gewahrsein des Heiligen oder Wirklichen, die Ursache menschlichen Leidens.

Im Diamond Approach finden wir mehrere Dimensionen des Seins, die mit einer Wahrnehmung der Nichtdualität einhergehen. Viele Suchende, die sich dem Verständnis der Einheit oder des Nicht-Getrenntseins annähern oder darüber lesen, verbinden ihre Vorstellung der Einheit mit einer Art Homogenität. So sieht der Suchende auf einer bestimmten Wahrnehmungsebene zum Beispiel direkt, dass die gesamte Manifestation aus ein und demselben Stoff besteht. In dieser Wahrnehmung liegt die Betonung auf dem Gewahrsein, dass alles aus einem Etwas, einer Substanz besteht. Die Unterscheidung verschiedener Aspekte der Manifestation ist nicht Teil dieser Erfahrung. Das ist es, was wir Einheit (unity) nennen. Eine weitere, mit der Wahrnehmung der Nichtdualität einhergehende Ebene, ist das Nichtbegriffliche, das heißt, ein direktes Gewahrsein der Realität, das grundlegender ist als das begriffliche Denken oder das diesem vorausgeht. Auch hier herrscht das Empfinden, dass es „ein Ding“ gibt, das die gesamte Realität ausmacht, und aus dieser Perspektive ist klar, dass es keine separaten Objekte gibt. Die Wirklichkeit kann auf dieser Ebene als ein solider „Block“ erscheinen, der nicht einmal begrifflich getrennt werden kann.

Eine weitere, das Gewahrsein der Nichtdualität mit einschließende Ebene der Wahrnehmung nennen wir Einssein (oneness). In dieser Wahrnehmung herrscht ein klares Gewahrsein von Nicht-Getrenntheit, doch innerhalb dieser ganzen, einheitlichen Realität ist dennoch Unterscheidung gegenwärtig. Man sieht die verschiedenen Farben, Formen und Bewegungen innerhalb der Manifestation, ohne dass einem diese Unterschiede als trennende Grenzen erscheinen. Es ist klar, dass das gesamte Universum eine lebende, harmonische Manifestation ist. Unterschiedene Formen und Bewegungen werden als Erscheinungen eines Ganzen gesehen, nicht als Bewegungen separater Teile.

Ein besonderer Beitrag des Verständnisses der Heiligen Ideen zum Prozess innerer Arbeit ist die Auffassung, dass die Prinzipien oder Gesetze, die die Schöpfung regieren, verstanden werden können und man durch dieses Verständnis zur Erkenntnis der Einheit geführt werden kann. Alle Ebenen der Manifestation unterliegen einer bestimmten, spezifischen Ordnung und es gibt eine Kontinuität zwischen dem, was Ichazo als kosmische Ordnung oder kosmische Gesetze bezeichnet, und allen Ebenen der Realität, auch der physischen und psychologischen. Die Heiligen Ideen betreffen das objektive Verständnis der Beziehung zwischen dem Individuum und dem größeren Ganzen. Mithilfe des Wissens des Diamond Approach entwickeln wir eine bestimmte Einsicht darin, wie sich die Beziehung der Heiligen Ideen zu den Fixierungen verhalten, indem wir die für jeden Enneatyp spezifischen Auswirkungen des Kontaktverlustes mit dem Gewahrsein der Einheit untersuchen. Den Kontakt mit der Einheit zu verlieren, bedeutet, das Gefühl zu verlieren, Teil des Seins – der Manifestation und des Flusses der gesamten Schöpfung – zu sein. Mit anderen Worten, die Täuschung der Trennung vom Ganzen nimmt neun Formen an, durch die sich der Verlust der neun Heiligen Ideen ausdrückt.

Im Verlauf dieses Buches wird klar werden, dass sich die Methode des Diamond Approach von Anfang an auf die von den Heiligen Ideen enthüllte Perspektive der Einheit stützt. Doch gleichzeitig wird von den Schülern des Diamond Approach zu Beginn nicht erwartet, diese Sichtweise zu verstehen oder zu schätzen, im Gegenteil: Am Anfang arbeiten die Studenten mit ihren schon existierenden, begrenzten egoischen Identifikationen. Wahrhaftigkeit und Offenheit angesichts der Begrenzungen des verblendeten Egozustandes sind essenziell für die Methode. So werden die Schüler zum Beispiel beim Erforschen ihres Charakters zu einer Grundhaltung des Erlaubens ermutigt, mit anderen Worten dazu, zu versuchen, eine nicht urteilende, nicht kontrollierende Position in Bezug auf alles einzunehmen, was in ihrer inneren Erfahrung auftaucht. Die Sichtweise dieser Praxis reflektiert damit zwei Heilige Ideen: die Heilige Arbeit und den Heiligen Willen. Das Verständnis der Heiligen Arbeit beinhaltet, dass das Egoselbst nicht weiß, was geschehen soll, und man an der Heiligen Arbeit des Ganzen nur teilhaben kann, indem man sich dem widmet, was im gegenwärtigen Augenblick wahr ist. Das Verständnis des Heiligen Willens beinhaltet, dass sich das Wirken der gesamten Realität in unserem eigenen Entfaltungsprozess äußert und dass der leichteste Weg darin besteht, seine persönlichen Bemühungen oder seinen persönlichen Willen an dieses Wirken hinzugeben. Darüber hinaus spiegelt sich die Perspektive der Heiligen Ideen auch durch die systematische Untersuchung der jeweiligen Muster, die den eigenen egoischen Charakter regieren, in der Methode des Diamond Approach. Diese Methode steht im Kontrast zu vielen anderen, die den Schüler ermutigen, direkt über den Urgrund des Seins oder des Gewahrseins zu meditieren und dabei die störenden Inhalte der Gedanken und Gefühle, die als relativ irreal angesehen werden, beiseite zu lassen. Der Diamond Approach unterscheidet sich auch von Methoden, die versuchen, eine bestimmte Überzeugung oder einen Charakterzug des Schülers auf spezifische Weise zu verändern.

Es ist nicht einfach zu verstehen, in welchem Ausmaß unser tägliches Handeln und unsere Bemühungen, auf die Erkenntnis der Wahrheit hinzuarbeiten, von der Verblendung einer getrennten Existenz des Selbst regiert werden. Diese Verblendung verhindert völlig, dass sich die Sicht unserer selbst und der Welt verwandelt, da an der Wurzel des Ego-Leidens genau dieses Gefühl des Getrenntseins liegt. Die Arbeit mit der Perspektive der Heiligen Ideen und den spezifischen Themen und Schwierigkeiten, die aus dem Verlust der Einheit resultieren, ist ein machtvolles Werkzeug, das uns wahre Transformation jenseits der kühnsten Vorstellungen von psychologischer Arbeit oder der Arbeit menschlicher Entwicklung ermöglicht.

Die frühe Entwicklung verstehen

Indem wir jeden Kern im Detail betrachten und beschreiben, wie er auf dem Kontaktverlust mit einer bestimmten Heiligen Idee beruht, werden wir auch die Art und Weise erforschen, in der frühe Kindheitserfahrungen diesen Verlust verursachen. Die Kapitel im zweiten Teil konzentrieren sich auf die frühen Lebensumstände, die dazu führen, dass das Individuum sich von der Dimension des Seins abwendet oder von ihr abgeschnitten wird. Wir untersuchen die Arbeit von D. W. Winnicott über die Einflüsse der frühen haltenden Umgebung auf die Ichentwicklung (Winnicott, 1965) und erweitern sein Verständnis, um die Dimension der Essenz oder des Seins mit einzuschließen. Wir klären, welche Ausdrucksformen des Seins oder essenziellen Dimensionen bei den frühen Entwicklungsstadien des Kindes notwendig sind, um die Erfahrung des Selbst oder der Seele so zu halten, dass die kindliche Entwicklung zu einer „Kontinuität des Seins“ wird, wie Winnicott sagen würde. Wir sehen, wie eine Umwelt, die das Sein nicht auf diese Weise zum Ausdruck bringt, die Seele zu Reaktionen veranlasst, die den Kontaktverlust mit ihrem So-Sein (beingness), ihrem essenziellen Kern und ihrem Wesen verursachen. Jede Unzulänglichkeit der haltenden Umwelt führt nicht nur ganz allgemein zum Kontaktverlust mit dem Sein, sondern insbesondere auch zum Verlust der eigenen, spezifischen Heiligen Idee.

Die übermittelte Theorie des Enneagramms beinhaltet unter anderem, dass jeder Mensch mit der Fähigkeit geboren wird, alle Heiligen Ideen zu erkennen, er für eine von ihnen jedoch beonders stark sensibilisiert ist. Das ist die Heilige Idee, auf die sich die Unzulänglichkeiten der frühen Erfahrungen besonders stark auswirken. Das bedeutet, dass der Enneatyp eines Menschen schon zum Zeitpunkt der Geburt feststeht und nicht von den frühen Lebensumständen abhängig ist – mit Sicherheit eine kontroverse Sichtweise. Wir besitzen keine Daten, die das beweisen oder widerlegen, und für unser Verständnis ist diese Tatsache nicht besonders wichtig. Unser Verständnis wäre nicht anders, wenn wir annähmen, dass die frühen Erfahrungen bestimmen, welche Heilige Idee am stärksten beeinflusst wird. Es würde nur weitere Fragen aufwerfen, wie zum Beispiel, welche Art von frühkindlicher Umwelt zum Verlust einer bestimmten Heiligen Idee führt. Doch eine solche Fragestellung ist für diese Untersuchung nicht von Belang.

Die Unzulänglichkeit der frühkindlichen Umwelt führt nicht nur zum Kontaktverlust mit dem Sein, wie er sich im Verlust einer bestimmten Heiligen Idee spiegelt. Er führt auch zum Verlust des Urvertrauens (basic trust), des angeborenen, unanzweifelbaren und präverbalen Vertrauens in die Realität. Dieser Verlust führt zu bestimmten misstrauischen Reaktionen, die nicht allein auf der Unzulänglichkeit der haltenden Umwelt beruhen, sondern auf der spezifischen aus dem Verlust der jeweiligen Heiligen Idee resultierenden Verblendung. Die spezifische Verblendung, die spezifische Reaktion des Misstrauens und die jeweilige Art und Weise, auf welche das Ich die Unzulänglichkeiten der haltenden Umwelt erfährt (die spezifische Schwierigkeit, die wiederum qualitativ von der jeweiligen Verblendung bestimmt wird), bilden die Elemente im Kern einer jeden Fixierung. Diese drei Elemente entwickeln sich simultan als Auswirkung des Seinsverlustes, der – zumindest teilweise – aus der Unzulänglichkeit der frühen haltenden Umwelt resultiert.

Im zweiten Teil dieses Buches werden wir über das Urvertrauen, die frühe haltende Umwelt und die spezifischen Seinsmanifestationen, die mit einer angemessen haltenden Umwelt verbunden sind – kurz: über das das Lebendige Tageslicht (Living Daylight) – sprechen. Der dritte Teil umfasst eine detaillierte Betrachtung der Heiligen Ideen sowie der Entwicklung der Fixierungen, die stattfindet, wenn die Ideen verloren gehen.

Die Integration des Enneagramms in den Diamond Approach

An dieser Stelle möchten wir einige Punkte klären, die den Wissensschatz in den Kapiteln über die Heiligen Ideen betreffen. Zunächst erheben wir nicht den Anspruch, dass unser Verständnis das einzig wahre ist. Wir erheben nicht den Aspruch, dass es Teil des übermittelten Enneagrammwissens ist – weder von Naranjo, noch von Ichazo, noch von einer der esoterischen Schulen des Mittleren Ostens. Wir haben diesen Ausführungen die übermittelte Prämisse vorangestellt, dass der Verlust der Heiligen Ideen verantwortlich für die Entwicklung der Fixierungen ist, und haben außerdem die Namen der Heiligen Ideen und ihre Definitionen von Ichazo übernommen. Das detaillierte Verständnis einer jeden Idee und ihrer Beziehung zu den entsprechenden Enneatypen entspringt jedoch der Lehre und den persönlichen Erfahrungen des Autors. Am Anfang eines jeden Kapitels beziehen wir uns auf Ichazos Definition, wie sie 1972 im Arica Institute vorgestellt wurde. Unser Verständnis der Heiligen Ideen begann mit diesen Definitionen, doch inzwischen haben wir unser eigenes Verständnis der Ideen entwickelt, das sich Ichazos Sicht zwar manchmal annähert, manchmal aber auch nicht. Wir behaupten nicht, dass unsere Perspektive Ichazos Sichtweise reflektiert, da uns seine Sichtweise über die jeweiligen Definitionen hinaus nicht bekannt ist. Die hier vorgestellte Sicht, wie der Verlust des Seins und der Verlust des Kontakts zu den Heiligen Ideen in Abhängigkeit von der frühen haltenden Umwelt entstehen, entspringt ebenso unserem eigenen Verständnis, wie die daraus resultierenden spezifischen Täuschungen und die Elemente, aus denen sich die neun Kerne zusammensetzen. Das heißt nicht, dass es keine ähnlichen oder vergleichbaren Darstellungen an anderer Stelle gibt – doch sollte es sie geben, sind sie uns nicht bekannt.

Wir betonen diese Sachlage, um klarzustellen, dass die Informationen dieses Buches unsere Integration von Teilen des Enneagramms in unsere eigene Perpektive, den Diamond Approach, spiegeln. Bei dieser Herangehensweise benutzen wir Theorien und Konzepte verschiedener spiritueller und psychologischer Schulen und entwickeln sie in Wechselwirkung mit unseren eigenen Erfahrungen. Unsere Integration von Elementen des Enneagrammwissens in die Perspektive des Diamond Approach gleicht daher unserer Integration von Margaret Mahlers Trennungs-Individuationstheorie, bei der wir ihre Theorie – wie wir es in unserem Buch The Pearl Beyond Price, Integration of Personality into Being: An Object Relations Approch (Almaas, 1998) beschreiben – erweitern, um den essenziellen Bereich mit einzuschließen. Sie gleicht auch unserer Integration des Wissens der Sufis über die Lataif, die inneren feinstofflichen Ebenen, sowie der fünf Gewahrseinsebenen des Buddha aus dem Mahayana-Buddhismus.

Beim Lesen dieses Buches ist es wichtig, im Sinn zu behalten, dass wir das Enneagramm aus einer bestimmten Perpektive betrachten, die sich von anderen Perspektiven und selbst von den Quellen des übermittelten Enneagrammwissens unterscheiden mag. Insbesondere die Arica-Lehre von Oscar Ichazo betrachtet das Enneagramm im Rahmen seines eigenen Systems. Seine Beschreibungen von dessen Anwendung, dessen Bedeutung und dessen Beziehung zu dem umfassenderen Thema spiritueller Arbeit entsprechen seiner spezifischen Sichtweise und scheinen sich von unserer Sicht stark zu unterscheiden. Viele der Bücher über das Enneagramm, die derzeit im Umlauf sind, benutzen es als ein System zur Typisierung und bestenfalls als Werkzeug für psychologische Beobachtungen und Prozesse. Helen Palmer konzentriert sich auf den Gebrauch des Enneagramms als Werkzeug zur Entwicklung der Intuition oder der inneren Weisheit, während Dr. Naranjo es anscheinend als Werkzeug für psychologische Beobachtungen und Prozesse als Teil der inneren Arbeit spiritueller Transformation betrachtet. Don Risos Bücher ergänzen das Enneagrammwissen um vielfältige Unterscheidungen der Enneagrammtypen und ihrer psychologischen Quellen und Manifestationen.

Wir benutzen das Enneagramm als ein Werkzeug an den verschiedenen Wegkreuzungen der inneren Arbeit spiritueller Entfaltung. Zu Beginn dient es uns als psychologische Landkarte zur Unterstützung der Selbstbeobachtung und –untersuchung. Außerdem arbeiten die Schüler mit unserer Theorie der Löcher (s. Essenz, Almaas, 1997), in der wir den Verlust der Essenz und die darauf basierende Entwicklung der Persönlichkeit beschreiben. Darauf folgt die Arbeit der Aufdeckung der essenziellen Aspekte. Die Theorien der Tiefenpsychologie über die Objektbeziehungen, den Narzissmus und ähnliche stellen einen Großteil der Werkzeuge dar, die wir benutzen, um Zugang zu den verschiedenen essenziellen Dimensionen zu gewinnen. An gewissen Punkten benutzen wir dann das Enneagramm als Landkarte bestimmter Realitätsebenen, um spirituelle Transformation zu ermöglichen. Zum Beispiel unterstützt die Arbeit mit den Leidenschaften und Tugenden die Schüler beim Reinigungsprozess der Seele. Und wie schon angemerkt ist das Enneagramm der Heiligen Ideen von großer Bedeutung an der Schnittstelle zwischen der persönlichen und der kosmischen Realisation des Seins.

Unser Ansatz nutzt das Enneagramm, wie auch andere Konzepte verschiedener Schulen, zum Ziele des direkten, auf Erfahrung basierenden Verständnisses. Wir benutzen es weder für psychologische Beobachtungen und Einordnungen noch zur reinen Begleitung verschiedener spiritueller Methoden, sondern spezifisch zur begleitenden und unterstützenden offenen Erforschung der eigenen Erfahrung. Eine solche Führung und Unterstützung offener, intelligenter Erforschung ist die Hauptabsicht des vorliegenden Buches.

Freiheit von den Fixierungen

Obwohl es nützlich ist, den eigenen Enneatyp zu kennen und erforscht zu haben, ist das nicht das grundlegende Anliegen dieser Studie. Wir tendieren dazu, die neun Heiligen Ideen als Repräsentationen einer Realität zu verstehen, wobei jede von ihnen jeweils eine andere Facette der direkten Wahrnehmung dieser Realität beleuchtet. Die neun Verblendungen sind Prinzipien, die allen egoischen Strukturen innewohnen; sie bilden die Basis der Gesamtheit der egoischen Existenz. Die in der eigenen Erfahrung enthaltenen Verblendungen zu verstehen ist nicht nur nützlich, um die eigenen Fixierungen zu durchdringen und zu verstehen. Wichtiger ist, dass es uns hilft, die Prinzipien an der Basis jeder egoischen Erfahrung zu verstehen. Unabhängig vom eigenen Enneatyp ist es wichtig, alle neun Kernzentren innerhalb der eigenen Erfahrung zu beobachten, und alle neun Verblendungen, die die eigene egoische Existenz aufrechterhalten, zu erleben und zu durchdringen. Das ist unserer Erfahrung gemäß wichtiger, als die eigene Verblendung zu erkennen: Je tiefer wir durchschauen, was unser Erleben bestimmt, desto besser können wir die universalen Prinzipien und die Barrieren, die ihre Realisation verhindern, in ihrer Gesamtheit erkennen. An diesem Punkt verliert der eigene Enneatyp an Wichtigkeit.

Alle neun Verblendungen bilden die Basis der verdunkelten oder konditionierten Erfahrung egoischer Existenz und alle müssen erkannt und durchschaut werden, wenn man diese Existenz transzendieren will. Die innere Arbeit an sich selbst muss schließlich den Zugang zum Bereich des Seins eröffnen, denn in der Entfremdung vom Sein liegt die Ursache jeder egoischen Erfahrung. Die psychologische Prozessarbeit stellt zwar einen wichtigen Teil der inneren Arbeit dar – doch auch noch so viele psychologische Prozesse vermögen es nicht, die Seele aus der Egofixierung zu befreien. Letzten Endes muss Essenz auftauchen und das Bewusstsein transformieren. Aus diesem Grunde kann die Arbeit an den Enneagrammen der egoischen Dimensionen, der Fixierungen oder der Leidenschaften nicht vollendet werden, solange man nicht zu den zugrunde liegenden Täuschungen durchgedrungen ist, und diese Täuschungen können erst anhand der direkten Erfahrung der Heiligen Ideen durchdrungen werden. Nur eine direkte Erfahrung der Seinsdimension und deren Integration auf eine Weise, bei der die Verblendungen als Verblendungen – nicht als unabänderliche Wahrheit – beleuchtet werden, kann die Seele letzten Endes von ihren Fixierungen befreien.

Wir müssen darauf achten, dass die ursprüngliche Begeisterung, die wir beim Lernen der Enneagramme der Fixierungen und der Leidenschaften erleben, und die Klarheit, die dieses Wissen unseren Erfahrungen verleiht, uns nicht dazu verführen, zu übersehen, dass die Freiheit von den Fixierungen und den Leidenschaften keine leichte Sache ist. Es reicht nicht, die eigenen psychologischen Muster zu sehen, um frei von ihnen zu sein, und zudem ist es ohne die Erfahrung des Seins nicht möglich, sich selbst vollständig und akkurat wahrzunehmen. Es genügt nicht, die Landkarte des Enneagramms der Fixierungen zu kennen, ganz gleich wie tief und detailliert dieses Wissen auch sein mag, um Transformation – und schon gar nicht Befreiung – zu erreichen.

Die Arbeit an den Kernzentren und den mit ihnen verbundenen zentralen Täuschungen ist schwer, und wer sich selbst vormacht, diese Arbeit sei leicht zu bewerkstelligen, wird nur frustriert werden. Sie erfordert eine große Erfahrungstiefe, einen gewissen Grad spiritueller Transformation und wahrscheinlich eine präzise Begleitung. Es geht um die direkte, auf Erfahrung begründete Verwirklichung der Heiligen Ideen, und das ist keine einfache Aufgabe. Man kann sie nicht erfüllen, indem man locker irgendeinem Pfad folgt, der bequem scheint und die eigene Vorstellung von der Wirklichkeit nicht bedroht. Echte Verpflichtung, vollständige Hingabe und eine sich ständig erweiternde Offenheit für alles, was sich zeigen kann – das sind einige der Voraussetzungen, die wir brauchen, wenn uns unser Weg in die Transformation führen soll.

Hoffentlich vermittelt uns dies ein Gefühl für die gewaltige Aufgabe wahrer spiritueller Realisation – sonst bleibt unsere Idee von der Befreiung nichts als ein Tagtraum. In diesem Sinn hoffen wir, dass dieses Buch ein wenig die Bemühungen all jener fördern möge, die sich ernsthaft ihrer spirituellen Transformation verpflichtet haben oder die Transformation anderer unterstützen.

TEIL 2

LEBENDIGES TAGESLICHT UND URVERTRAUEN

Kapitel 4

Urvertrauen

Wir werden unsere Untersuchung der Heiligen Ideen damit beginnen, dass wir einen bestimmten Zustand oder eine Orientierung der Seele erforschen, die ihnen als Grundlage dient. Die relative Gegenwart oder Abwesenheit dieser Gegebenheit in unserem individuellen Bewusstsein, unserer Seele, wirkt sich einschneidend darauf aus, ob wir auf das Sein hin oder von ihm weg ausgerichtet sind. Ist dieser Zustand gegenwärtig, bewegt sich die Entwicklung der Seele auf das Sein hin. Ist er relativ abwesend, entwickelt sich die Seele mehr auf das Ego zu. Aufgrund der Natur der kindlichen Hilflosigkeit, der physischen Verkörperung und der begrifflichen Entwicklung (s. Kapitel 22 in The Pearl Beyond Price, Almaas, 1998) bildet die Seele immer ein Ego und eine Identifikation mit ihm. Das Ausmaß an Fixiertheit und die Vollständigkeit der Identifikation hängen allerdings in starkem Maße davon ab, wieweit der oben genannte Zustand vorhanden ist. Wenn wir das verstehen, können wir sehen, warum die spirituelle Entwicklung für manche Menschen relativ einfach und für andere schwieriger zu sein scheint, und warum diese Entwicklung bei einigen Wenigen anscheinend von selbst, bei den meisten aber überhaupt nicht geschieht. Das Ausmaß an An- oder Abwesenheit der obigen Qualität erklärt diese Unterschiede bei der Entwicklung nicht erschöpfend, ist aber ein sehr entscheidender Faktor.

Um die Bedeutung dieser Voraussetzung zu verstehen, müssen wir begreifen, was beim Prozess spiritueller Transformation passiert. Das Ich ist eine psychische Struktur, die auf kristallisierten Überzeugungen darüber beruht, wer wir sind und was die Welt ist. Wir erfahren uns selbst und die Welt durch den Filter dieser Struktur. Spirituelles Erwachen beinhaltet, dass wir uns wieder mit den Erfahrungsdimensionen verbinden, die von der Ichstruktur verdunkelt werden. In unserer Arbeit, dem Diamond Approach, entspricht diese Entwicklung einem graduellen Prozess, bei dem wir uns durch die verschiedenen Facetten dieser Ichstruktur bewegen – durch bestimmte Überzeugungen und Bilder, mit denen wir uns identifiziert haben und die wir für uns selbst halten.

Die Wichtigkeit des Urvertrauens

Der erste Schritt im Umgang mit jedem Bereich des Ich besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil beinhaltet, sich der jeweiligen Überzeugung oder Identifikation, aus der die Struktur besteht, bewusst zu werden und sie tatsächlich wahrzunehmen und zu erfahren. Der zweite Teil beinhaltet die Auflösung dieser Facette der Ichstruktur. Er ist im Transformationsprozess der schwierigere, da er von uns verlangt, einen Teil der eigenen Identität loszulassen, und dieses Abgeben kann als Auflösung, Zerstörung, Fragmentierung oder ein Gefühl des Zerfalls erfahren werden. Dieser Moment kann sehr schmerzhaft oder beängstigend sein, weil das alte Identitätsgefühl zerbröselt und abfällt, ohne das man weiß, was – oder ob überhaupt etwas – an seine Stelle treten wird. Was man festgehalten hatte, kam einem real vor, und jetzt lässt man es gehen und steuert auf etwas zu, das sich unbekannt und wie ein unerforschtes Gebiet anfühlt. Es ist, als spränge man in einen Abgrund, und das kann schrecklich sein.

Wenn einem der Sprung in den Abgrund leicht fällt, ist die eigene Transformation meistens einfach. Fällt einem das Loslassen vergangener Identitäten aber schwer, ist es sehr schmerzhaft oder mit extremer Angst besetzt, wird man dazu neigen, das Alte festzuhalten und auf das Ich ausgerichtet zu bleiben. Was den Unterschied macht, ist die Präsenz einer bestimmten Form von Vertrauen, die wir Urvertrauen (basic trust) nennen. Das ist ein unausgesprochenes, bedingungsloses Vertrauen, dass das Beste geschehen wird; ein Gefühl, dass alles, was immer auch geschehen mag, zum Guten sein wird. Es ist die Zuversicht, dass die Realität im Grunde gut ist und dass die Natur, das Universum und alles, was existiert, von seinem Wesen her gut und vertrauenswürdig ist – dass das, was geschieht, das Beste ist, was geschehen kann. Urvertrauen ist eine nichtbegriffliche Gewissheit, dass das Universum gut ist, ein nicht hinterfragtes, bedingungsloses Vertrauen, dass das Universum, die menschliche Natur und das Leben etwas besitzen, das von sich aus grundlegend gut und liebevoll ist und uns das Beste wünscht. Dieses angeborene, innere, unausgesprochene Vertrauen in das Leben und die Wirklichkeit drückt sich als die Bereitschaft aus, den Sprung in den Abgrund zu wagen.

Wenn dieses Vertrauen wirklich tief ist, äußert es sich nicht unbedingt in dem, was man fühlt oder denkt, sondern darin, wie man sein Leben lebt. Das Urvertrauen wird als ein unzweifelhaftes Gefühl der Sicherheit erlebt, als wesentlicher Teil der eigenen Handlungs- und Lebensweise. Ist es zutiefst gegenwärtig, dann ist dieses Vertrauen so stark mit dem Stoff unserer Seele verwoben, dass wir nicht darüber nachdenken – es ist präkonzeptionell, präverbal, vor jeder Differenzierung. Darüber hinaus ist es so grundlegend, dass die Ereignisse und Umstände unseres Lebens es nicht erschüttern können.

Aus diesem Grund unterscheidet sich das Urvertrauen von unserem üblichen psychologischen Gefühl von Vertrauen. Unser gewöhnliches Vertrauen in Menschen und Gegebenheiten ist extrem bedingt und von Vertrautheit und Zuverlässigkeit abhängig. Schmerzhafte Erfahrungen oder persönlicher Verrat können unser Vertrauen in die äußeren und inneren Elemente unseres Lebens leicht erschüttern. Da diese Elemente ständigem Wechsel unterworfen sind, hat das gewöhnliche Vertrauen nur geringen Wert, wenn es darum geht, sich auf das Unbekannte einzulassen.

Das Urvertrauen dagegen ist kein Vertrauen in irgendein Ding, eine Person oder eine Situation und kann daher von den Lebensumständen nicht so leicht getrübt werden. Stattdessen schenkt es uns eine vorbehaltlose Einstellung, die es uns erlaubt, mit allen Lebensumständen zu entspannen und anwesend zu sein. Man fühlt instinktiv, dass alles in Ordnung für einen ist und sein wird, selbst wenn die augenblicklichen Umstände enttäuschend, schmerzhaft oder sogar völlig katastrophal sind. Daher lebt man sein Leben auf eine Weise, die es einem erlaubt, ganz natürlich in den Abgrund zu springen, ohne vorher speziell daran zu denken, dass alles klappen wird, denn man hat das selbtverständliche Gefühl, dass sich das Universum schon um einen kümmert. Das Leben selbst wird zu einer spirituellen Reise und man weiß, dass alles gut wird und sich zum Besten wendet, wenn man nicht länger versucht, sich zu bemühen, zu greifen und an Menschen, Dingen und Überzeugungen festzuhalten. Das bedeutet nicht, dass es sich unbedingt angenehm anfühlt, loszulassen oder Strukturen sich auflösen zu lassen – das ist es nicht, worauf man vertraut. Selbst wenn es sich nicht angenehm anfühlt, selbst wenn man sich fürchtet, weiß man irgendwie, dass diese Auflösung in Ordnung sein wird. Die Fähigkeit eines Menschen, die schwierigste Phase spiritueller Transformation – die Auflösung vertrauter Strukturen und Identitäten – anzunehmen, basiert auf diesem angeborenen, inneren Gefühl von Sicherheit.

Urvertrauen kann man nur schwer in Worte fassen, weil man damit etwas grundlegend Implizites explizit macht. Wer es besitzt, denkt nie darüber nach oder hinterfragt es – er weiß nicht einmal, dass so etwas existiert. Wenn er jemanden sieht, der es nicht besitzt, wundert er sich, warum derjenige solche Schwierigkeiten hat, warum er nicht weiß, dass alles gut gehen wird. Alle, die das Urvertrauen nie verloren haben, besitzen eine Art Unschuld. Erst wer es verloren hat und sich aufmacht, es bewusst wieder zu entwickeln, versteht, wie es ist, ohne es zu sein.

Anwesenheit oder Abwesenheit von Urvertrauen

Mit dem Urvertrauen stimmt sich die Seele auf ein grundlegendes Gesetz der Realität ein: darauf, dass unser Gefühl, als separate und isolierte Wesenheit zu existieren, falsch ist und dass unsere Ego-Erfahrung von Isolation und Hilflosigkeit eine Illusion ist, die auf der Identifikation mit der Welt physischer Manifestationen beruht. Zu wissen, dass wir alle Teile einer Realität sind, bedeutet, dass unser wahres Wesen nicht von der Ego-Erfahrung oder dem physischen Körper bestimmt wird und im Grunde nicht verletzt oder zerstört werden kann. Wenn die individuelle Seele mit dieser Realität des Nichtgetrenntseins in Berührung ist, dann wird dieses Wissen in all ihren Aktivitäten zum Ausdruck kommen. Hat ein Mensch den Kontakt zum Nichtgetrenntsein jedoch verloren, wird ihm ein von solchem Vertrauen getragenes Handlungen ungerechtfertigt erscheinen – und sogar dem Ersteren werden seine Handlungen bei bewusster Betrachtung mysteriös erscheinen, wenn er mit der Erfahrung des Nichtgetrenntseins nicht mehr in Kontakt ist. Aus diesem Grund kann er nur spüren, dass er einfach darauf vertraut, dass alles gut gehen wird, doch sein Vertrauen ist so selbstverständlich, dass er fast das Gefühl hat, es zu wissen. Wenn die Seele bewusst die Erfahrung macht, ein getrenntes Individuum zu sein, kann sie den Kontakt mit dem ureigenen Nichtgetrenntsein nur als Gefühl für das Wohlwollen des Lebens, als Urvertrauen erfahren.

Die meisten Menschen besitzen nicht viel Urvertrauen; sie haben das Gefühl, in manchen Situationen vertrauen zu können und in anderen nicht. Bestimmte Umstände müssen herrschen, damit sie vertrauen können. Das ist kein tief verwurzeltes Vertrauen in das Leben, sondern ein Vertrauen, das von Bedingungen abhängig ist. Wenn das Urvertrauen überwiegt, wirkt sich das durchgehend auf das ganze Leben eines Menschen aus.

Jeder von uns besitzt ein gewisses Maß an Urvertrauen – das ist nicht etwas, das man entweder hat oder nicht hat. Ohne dieses Urvertrauen könnten wir nicht zurechtkommen. Im täglichen Leben äußert es sich darin, dass man seinem Körper aufgrund der physischen Naturgesetze vertraut. Wenn man also nicht blind ist, vertraut man darauf, dass die Augen, solange sie offen sind, funktionieren und sehen werden. Diese Haltung ist so grundlegend, dass man sie kaum Vertrauen nennen kann. Man hält sie schlicht für selbstverständlich. Wenn man nachts schlafen geht, nimmt man selbstverständlich an, dass man am nächsten Morgen wieder aufwachen wird. Man braucht sich nicht zu sagen: „Ich vertraue darauf, dass es in Ordnung ist, einzuschlafen“, sondern man schließt einfach die Augen und schläft ein. Dass man die innere Arbeit spiritueller Transformation überhaupt beginnt, deutet darauf hin, dass man ein Maß an Urvertrauen besitzt, welches das Vertrauen in die Körperfunktionen weit überschreitet, und wenn man die innere Arbeit dann praktiziert, vertieft sich dieses Vertrauen und wird immer mehr integriert.

Das Urvertrauen verleiht einem die Fähigkeit zur Hingabe, die Fähigkeit loszulassen, die Fähigkeit, ins Unbekannte zu springen. Wenn es vorhanden ist, braucht man keine Zusicherung, dass alles gut gehen wird – man weiß von vorneherein, dass alles gut gehen wird. Das ist kein Vertrauen in irgendetwas Bestimmtes, denn es ist präkonzeptuell – es ist schon da, bevor man sich differenzierte Vorstellungen darüber macht, in was man vertrauen könnte. Das Urvertrauen übersteigt also sogar das Gottvertrauen, denn das Gefühl, in Gott zu vertrauen, bedeutet, dass man schon eine Vorstellung von Gott hat.

Urvertrauen bekundet sich darin, dass man von Natur aus das Gefühl hat, das Leben meine es gut mit einem, und dieses Wohlwollen existiere unabhängig von einem selbst und dem, was man tut. Ein Mensch besitzt dieses Gefühl in dem Maße, wie seine Verwurzelung im Universum nicht erschüttert worden ist. Die relative Präsenz oder Abwesenheit des Urvertrauens ist etwas, das man im Bauch spürt – etwas, in dem das ganze Wesen eines Menschen verankert ist oder nicht. Die Trübung des Urvertrauens ist ein Grundfaktor der Entwicklung des Ego, weil die Perspektive des Ego in völligem Gegensatz zum Gefühl des Urvertrauens steht. Die Perspektive des Ego entsteht, weil es an diesem Vertrauen mangelt. Sie basiert auf Misstrauen, Paranoia, Angst und der Überzeugung, dass nicht ausreichend für uns gesorgt werden wird und dass das Universum nicht da ist, um uns so zu halten und zu versorgen, wie wir es brauchen. Diese Überzeugung führt zu dem Glauben, dass man alle möglichen Manipulationen und Spiele veranstalten muss, um seine Bedürfnisse befriedigt zu bekommen und die Dinge zum Guten zu wenden.

Die Entfaltung der Seele

Nun können wir sehen, warum die Präsenz oder die Abwesenheit des Urvertrauens von essenzieller Bedeutung für den ersten Schritt des Transformationsprozesses eines jeden Bereichs des Ego ist. Dieser Schritt wird erst vollendet, wenn man die jeweilige Struktur, an der man festgehalten hat, aufgibt. Das Urvertrauen verleiht einem die Fähigkeit und die Bereitschaft, alle Bilder, Identifikationen, Strukturen, Überzeugungen, Vorstellungen und Konzepte aufzugeben – die Überbleibsel der Vergangenheit, aus denen sich das Ego zusammensetzt.

Der zweite Schritt ist schon im ersten enthalten: Wenn man fähig ist, sich hinzugeben, dann ist man auch bereit, zu sein. Man ist bereit, die Dinge nicht mehr zu ändern, manipulieren und forcieren zu wollen. Man ist bereit, einfach nur gegenwärtig zu sein – auch das ist eine Art Realisation. An erster Stelle steht also der Tod des Alten, an zweiter Stelle die Realisation des Seins. Wer kein Urvertrauen besitzt, reagiert auf alles, was auftaucht, gemäß seiner Konditionierung und will, dass die Dinge für ihn einen ganz bestimmten Verlauf nehmen. Er lässt nicht zu, einfach nur gegenwärtig zu sein; er ist angespannt und kontrahiert. Wir brauchen also Urvertrauen, um fähig zu sein, das Ego sterben zu lassen und auch um bereit zu sein, einfach nur zu sein ohne zu reagieren.

Auch der dritte Transformationsschritt braucht Urvertrauen. Beim dritten Schritt geht es darum, zuzulassen, dass sich die Dinge spontan und natürlich entwickeln, so, wie sie sich entwickeln wollen, ohne dass man versucht, sie in Bahnen zu leiten, die man für die richtigen hält. Das bedeutet, dass man nicht versucht, den Verlauf der eigenen Entwicklung zu ermitteln oder ihn in die eine oder andere Richtung zu zwingen. Wenn man also Urvertrauen in seinen Prozess besitzt, ist man nicht nur bereit, in den Abgrund zu springen, und man ist nicht nur fähig, mit allem zu verweilen, was erscheint, sondern man vertraut auch darauf, dass es – egal in welche Umstände einen das Leben bringt – so in Ordnung ist. Das ermöglicht die natürliche Entfaltung der Seele, die Öffnung zum eigenen innersten Wesen.

Ist also Urvertrauen vorhanden, kann die Seele die alten Strukturen leichter loslassen. Sie kann sich leichter dahin entspannen, einfach zu sein, und lässt zu, dass sich ihre Prozesse ohne Einmischung entfalten, was natürlicherweise zur essenziellen Entwicklung führt. Ohne Urvertrauen steht die Einstellung des Ego im Vordergrund und der Seele mangelt es an vorbehaltlosem Vertrauen in ihr Leben und ihre Prozesse. Dann versucht das Ego, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und zu manipulieren, indem es sie in diese oder jene Richtung zwingt, und das verstärkt nur seine Isolierung und Verschanzung.