Faebound - Saara El-Arifi - E-Book + Hörbuch

Faebound Hörbuch

Saara El-Arifi

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Beschreibung

Entzweit durch Blut. Gefangen im Schicksal. Getrieben von Verlangen. Band 1 der mitreißenden Romantasy-Trilogie voller prickelnder Spannung, magischer Fae und dramatischer Wendungen Yeeran ist die jüngste Colonel ihres Elfenvolkes, doch der erste Einsatz endet in einer Katastrophe. Die Strafe lautet Exil. Der treuergebene Kommandant Rayan folgt Yeeran gemeinsam mit ihrer Schwester Lettle in die Wildnis. Auch wenn Lettle die Kunst der Prophezeiung beherrscht – niemals hätte sie vorhersagen können, dass sie jenseits der Grenzen ihrer Lande auf das Volk der Fae treffen würden. Seit mehr als tausend Jahren gelten sie als ausgestorben und leben nur in Legenden voller Magie und Grausamkeit fort. Nachdem die Schwestern und Rayan gefangen genommen werden, müssen sie feststellen, dass nichts, was sie bisher über die Fae zu wissen glaubten, der Wahrheit entspricht. Eine Anziehung geht von ihnen aus, die die Loyalität der drei auf die Probe stellt. Ebenso wie ihre Herzen … »Du bist das Feuer meines Herzens und der Schlag meiner Trommel. Unter dem Mondlicht bin ich die Deine, bis das Lied verstummt.«   »Dieser Mann hat mein Herz. In der Stille zwischen ihren Atemzügen brannte sich ein Gedanke hell in ihren Geist. Und eines Tages werde ich dich töten.«   »Sie überschritt die Grenze, und in ihrer Brust breitete sich Hoffnung aus. Hoffnung, dass sie ihre Geliebte eines Tages wiedersehen würde. Und die Hoffnung darauf, dass es, wenn es so weit sein würde, nicht auf der anderen Seite des Schlachtfelds wäre.«

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Zeit:12 Std. 38 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Mona Fischer

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Für meine Schwester Sally

Teil 1Die Geschichte des Weizens, der Fledermaus und des Wassers

Am Anfang gab es drei Gottheiten.

Die Gottheit Asase entstand als Weizenkorn. Ein einzelnes Körnchen, das zum Leben erwachte. Während Asase wuchs, wurden die Wurzeln zu Bergen und die Blätter zu Wäldern. Täler bildeten sich in den Lücken zwischen Asases Ästen, und die Astlöcher in der Borke bildeten Schluchten.

Und so wurde die Erde geboren.

Die Gottheit Ewia schwebte mit Schwingen aus Dunkelheit herbei und brachte Tag und Nacht in die Welt. Als Fledermaus mit zwei Köpfen fand sie ihren Platz am Himmel über ihrem Geschwister. Wenn eins ihrer Gesichter zur Erde hinabsah, wurde es Licht. Richtete das andere Gesicht den Blick nach unten, herrschte Dunkelheit.

Und so wurde die Sonne geboren.

Die letzte Gottheit, die im Universum erschien, war Bosome. Sie bahnte sich den Weg zwischen Asases Wurzeln hindurch, wobei sie Flüsse und Meere erschuf. Daraufhin ruhte sie neben Ewia als silberner Wassertropfen am Himmel, der mit den Gezeiten größer und kleiner wurde.

Und so wurde der Mond geboren.

Die drei Gottheiten lebten viele Jahre glücklich zusammen, bis Asase eines Tages verkündete: »Ich wünsche mir ein Kind und werde eines erschaffen.«

Aus den Samen der Erde ließ Asase die Menschen auferstehen. Zweige wurden zu Knochen, und aus Blumen spross das Lächeln.

Als Ewia sah, wie glücklich Asase mit diesen Kindern war, sagte die Gottheit: »Ich wünsche mir ebenfalls ein Kind und werde eines erschaffen.«

Und so schuf Ewia aus der eigenen Haut der Flügel die Fae mit spitzen Zähnen und fledermausartigen Ohren.

Jahrhunderte vergingen, und Bosome beobachtete die beiden Geschwister in ihrem Glück, konnte jedoch die Fehler der Kinder nicht ignorieren. Die Menschen waren zu zerbrechlich, um lange zu überleben, und die Fae zu arrogant, um sich um ihre Eltern zu scheren. Deshalb erschuf Bosome die Elfen aus den Gewässern der Welt und gab ihnen die spitzen Ohren der Fae sowie die bescheidene Art der Menschen.

Eine Zeit lang war alles gut. Aber sosehr sich die Gottheiten auch Frieden wünschten, so hatten sie ihren Kindern doch eines gegeben, das ebendiesen auf ewig verhindern würde.

Einen freien Willen.

1Yeeran

Yeeran wurde auf dem Schlachtfeld geboren, lebte auf dem Schlachtfeld und wusste, dass sie eines Tages auf dem Schlachtfeld sterben würde.

Ihre ersten Atemzüge waren durchdrungen vom Rauch und der Asche der sterbenden Feinde ihrer Mutter. Und als Yeeran schrie, stimmte sie in den Kampfruf ihres Volkes mit ein, das in die Schlacht ritt. Es war nicht ungewöhnlich, dass Soldatinnen an der Front ein Kind bekamen. Wer eine Trommel in den Händen halten konnte, der konnte auch kämpfen.

Trotzdem haben wir noch immer nicht genug Soldatinnen und Soldaten.

Mit einem tiefen Seufzer betrachtete Yeeran die Kriegskarte vor sich. Jedes Tal und jeder Hügel waren von erfahrenen Kartografierenden in die Scheibe Eichenholz gebrannt worden. Dies war ein sehr kostbarer kunsthandwerklicher Gegenstand für eine Schlafkammer, aber Yeerans Geliebte war noch nie bescheiden gewesen.

Das Mondlicht warf silbriges Licht auf die Tischmitte, genau dorthin, wo sich die vier Bezirke der Elfenländer am Blutfeld berührten, das die Front der Schlacht darstellte. Sie ließ den Blick über die vier Quadranten der Karte schweifen: der Abnehmende Mond, der Halbmond, die Mondfinsternis und zu guter Letzt ihr eigenes Elfenvolk des Zunehmenden Mondes.

Dabei krümmte sie die Hand um die Tischkante, und ihre Fingernägel hinterließen Rillen in der Maserung, während sie über die Formation auf dem Schlachtfeld nachdachte. Weiße Steine kennzeichneten die Standorte der Truppen ihrer Armee.

Yeeran konzentrierte sich auf ein Regiment, das neben dem Ostturm der Garnison auf der Lauer lag. Ihres.

»Yeery«, hallte ihr Spitzname durch die Stille. Salawa war leise neben Yeeran getreten. »Komm wieder ins Bett.« Ihr Atem wehte heiß auf die rasierten Seiten von Yeerans Kopf, als Salawa ihre Lippen hinter eines der spitzen Ohren presste.

Yeeran strich mit einer Hand über Salawas Rücken und spielte mit den Fingern an den Spitzen ihrer Zöpfe. Diese hingen ihr schwer über die nackte Haut, da sie mit Perlen und Edelsteinen verziert waren.

»Ich kann nicht schlafen.«

Zuerst erwiderte Salawa nichts. Das mochte Yeeran so an ihrer Geliebten, dass jede Sekunde geschätzt und jeder Gedanke vor dem Aussprechen abgewogen wurde.

»Du hast zwanzig Jahre auf diese Beförderung gewartet. Nur wenige haben damit gerechnet, dass du es vor deinem fünfunddreißigsten Geburtstag schaffst, und doch bist du jetzt die jüngste Kommandantin, die es je in der Armee des Abnehmenden Mondes gegeben hat …«

»Nicht vor morgen.«

Salawa sog scharf die Luft ein. Sie konnte es nicht leiden, unterbrochen zu werden. Yeeran ließ die Hand von Salawas Schlüsselbein zu ihrer Wange wandern. Erst dann war Salawa besänftigt genug, um weiterzusprechen.

»Der Schlaf wird dir diese Errungenschaft nicht nehmen. Dein neues Regiment ist auch morgen früh noch da.«

Salawa schaute durch das Fenster auf die Stadt Gural hinaus, die das Herz im Bezirk des Abnehmendes Mondes darstellte. Yeeran folgte ihrem Blick auf die pulsierenden Viertel.

Schornsteine ragten von Kuppeldächern auf und stießen Rauchwolken zum Himmel empor, der mit Sternen übersät war. Yeeran wusste, dass es in den Tavernen von Soldatinnen und Soldaten wimmeln würde, die sich am gewürzten Rum bedienten. Für die Bäckereien war es derweil nicht mitten in der Nacht, sondern früher Morgen, und der Geruch ihrer Öfen wurde vom leichten Wind herübergetragen.

Yeeran beobachtet, wie sich Salawas sonst so sanfte Miene verhärtete, als ihr Blick weiter zum Blutfeld wanderte. Schlachtfeuer färbten ihre grünen Iriden haselnussbraun, und Yeeran spürte das darin reflektierte Feuer in ihrem eigenen Körper.

»Ich habe was für dich, um deinen neuen Rang zu feiern«, sagte Salawa leise.

Yeeran ließ die Hand von ihrer Wange sinken. Die Geschenke ihrer Geliebten waren immer protzig und bunt. Dabei machte sich Yeeran nichts aus Schmuck oder feinen Kleidern, da sie beides auf dem Schlachtfeld nicht gebrauchen konnte.

Das Einzige, was sie bei sich trug, war ein kleiner Goldring, der in den Saum ihrer Uniform eingenäht war. Er besaß für sie keinerlei sentimentalen Wert, aber er würde rechtmäßig an die Kinder übergehen, die ihren Lebensunterhalt mit dem Plündern der Leichen bestritten. Dieser Ring würde sie ein Jahr lang ernähren können. Yeeran hatte in ihrer Kindheit viele Jahre lang auf einen solchen Segen gehofft.

»Ich glaube, dieses Geschenk wird dir sehr gefallen.« Salawa entfernte sich, um etwas unter ihrem Himmelbett hervorzuziehen.

Yeeran erwiderte Salawas vielsagendes Lächeln zögerlich, als diese ihr ein großes rundes Objekt entgegenhielt, das mit einer Lederschlinge versehen war.

Mit nicht einmal drei Schritten hatte Yeeran den Raum durchquert. Sie nahm Salawa den Gegenstand aus den ausgestreckten Händen und zog das grobporige Leder beiseite, um das darunter verborgene Geschenk zu enthüllen.

Die Trommel war von Meisterhand geschaffen worden. Die Außenhülle bestand aus Mahagoni, das in dunklem Purpurrot schimmerte wie frisches Blut. Die goldenen Spannböcke und -reifen waren mit Saphiren besetzt. Perlen hingen an der Trommel herunter, die jedoch eher zur Zierde als zur Klangverbesserung dienten. Aber das Schönste war das schwarze Fell, mit dem sie bespannt war.

»Von einem Obeahältesten?«, murmelte Yeeran und fuhr mit der Hand über das straffe Leder.

Obeah waren die einzigen magischen Kreaturen des Reiches. Einst wurden sie so häufig angetroffen wie Rehe, während sie in Rudeln durch die Elfenlande streiften. Yeeran stellte sich die Kreaturen vor, wie sie durch den Wald jagten, das Blattwerk mit ihren weißen Hörnern zerfetzten und ihre katzenartigen Leiber so geschmeidig bewegten wie Tinte auf Papier.

Heute jedoch war diese Tinte so gut wie vertrocknet, da sie wegen ihrer Magie beinahe ausgerottet worden waren.

Magie für Waffen wie diese. Yeerans Finger kribbelten dort, wo sie das Fell berührte.

Grinsend verschränkte Salawa die Hände unter dem Kinn.

»Ja, sie wurde aus dem Fell des ältesten Obeah gefertigt, den unsere Jägerinnen und Jäger jemals gefangen haben.«

Im Alter wurde die Fellfarbe der Obeah intensiver, was die Magie dieser Kreaturen wirkungsvoller machte. So eignete sich ihre Haut noch besser zur Herstellung mächtiger Objekte. Bedauerlicherweise waren die Ältesten der Obeah auch weitaus intelligenter und deshalb kaum zu erlegen. Das machte Salawas Geschenk überaus selten und kostbar.

Yeeran spürte deutlich die Magie, die vom Fell ausging. Sie klopfte mit den Fingern darauf und leitete die Magie des Trommelschlags bewusst, knüpfte sie in ihren Gedanken zusammen und schuf auf diese Weise ein kleines Projektil. Aus dem Klang wurde so eine Waffe. Mit dieser unsichtbaren Macht traf sie einen weißen Stein auf der Kartenmitte in gut drei Metern Entfernung.

Sie war schon immer gut in der Beherrschung des Trommelfeuers gewesen. Dabei kam es vor allem auf eine klare Intention an, doch die Reinheit des Tons und die starke Magie im Fell des Obeahältesten machten ihre Fähigkeiten umso mächtiger. Wenn ihre Feinde sie zuvor schon für gefährlich gehalten hatten, würden sie bald feststellen, wie tödlich sie war.

Salawa klatschte in die Hände.

»Jetzt hat die beste Kommandantin der Armee des Abnehmenden Mondes auch die beste Waffe.«

Vorsichtig verstaute Yeeran die Trommel wieder in der Hülle und ging zu Salawa. Sie nahm sie in die Arme und stützte das Kinn auf ihren Scheitel.

»Vielen Dank. Ich werde dieses Geschenk bis ans Ende meines Lebens in Ehren halten.«

»Können wir dann jetzt wieder ins Bett gehen? Der morgige Tag wird noch früh genug anbrechen«, murmelte Salawa.

Yeeran stieß zustimmend die Luft aus und ließ sich zurück zu Salawas Bett führen. Sie schlüpfte unter die Seidenlaken, und Salawa schmiegte sich an Yeerans Körper, legte den Kopf auf die weiche Haut zwischen Yeerans Schulter und Brust und seufzte zufrieden.

Salawas Atmung wurde bald tiefer und ließ erkennen, dass sie eingeschlafen war. Yeeran sah zu, wie die Fraediaperlen in Salawas Haar im Licht der anbrechenden Morgendämmerung sanft glühten. Der Kristall besaß dieselben Eigenschaften wie die Sonne und konnte dazu genutzt werden, Feldfrüchte wachsen zu lassen oder Häuser im Winter zu wärmen.

Sacht strich sie Salawa eine der Perlen aus dem Gesicht, damit die Helligkeit sie nicht weckte. Sie umfasste den Edelstein eine Sekunde lang und staunte über seine Wärme. Dieses kleine Depot konnte eine Pflanze für einen kompletten Lebenszyklus wachsen lassen und so dabei helfen, eine Familie zu ernähren.

Sie ließ die Perle los.

Wenn wir doch nur mehr davon hätten.

Fraedia war die Währung des Krieges.

Unter der mit Leichen gepflasterten Erde des Blutfelds lagen unerschlossene Minen dieses wertvollen Kristalls. Und wo es Reichtümer gab, da gab es auch Macht. Und um Macht brodelte unausweichlich Gewalt.

So war der Ewige Krieg ausgebrochen.

Yeeran fragte sich, wie viele Soldatinnen und Soldaten für eine so kleine Fraediaperle wie diese in Salawas Haar hatten sterben müssen. Der Edelstein tauchte ihre schwarze Haut, die noch dunkler war als Yeerans umbrabrauner Teint, in warmes safranfarbenes Licht.

Auch wenn alle Elfen anders aussahen, war doch der einzig wirklich wichtige Unterschied, welchem Volk man die Treue geschworen hatte. Yeeran gehörte zum Abnehmenden Mond, und der Abnehmende Mond machte Yeeran aus. Nichts konnte sie von ihrem Volk trennen. Zu führen bedeutete, mit dem eigenen Volk zu verschmelzen.

Das hatte Salawa ihr beigebracht.

Bei den Sünden der Sonne, sie ist wunderschön. Schön, während sie träumt, und unerbittlich, während sie wach ist.

Yeeran fand keinen Schlaf, sehnte sich aber auch nicht danach. Stattdessen lag sie da und beobachtete, wie das Licht der Dämmerung auf die Haut ihrer Geliebten fiel, wobei ihre Gedanken erfüllt waren von Ruhm, Macht und Tod.

***

Am nächsten Morgen schlich Yeeran aus Salawas Schlafkammer, während ihre Geliebte noch tief und fest schlief, und eilte durch die Stadt. Der Klang des Krieges wurde lauter, je näher sie dem Blutfeld kam. Der Widerhall des Trommelfeuers wirkte ebenso beruhigend wie aufregend.

Ab heute war sie Kommandantin.

Als sie sich dem Trainingsgelände näherte, hörte sie ein vertrautes Kinderlied.

Eins, zwei, drei, vier: die Elfenstämme

Abnehmend, Zunehmend, Halbmond, Finsternis,

Geschaffen vom Mond, für immer gewiss.

Aus der Ferne könnten die jungen Stimmen leicht mit Kindern auf einem Spielplatz verwechselt werden. Doch Yeeran wusste, dass sie keine Schulkinder antreffen würde, als sie um die Ecke bog.

Drei Götter, drei Völker, waren einst hier,

Jetzt gibt’s nur noch Elfen: eins, zwei, drei, vier.

Nein, diese Soldatinnen und Soldaten waren schon lange keine Kinder mehr. Sie marschierten steif im Takt ihres Gesangs und machten ein grimmiges Gesicht. Yeeran beobachtete den Jungen, der ihr am nächsten stand, wie er auf dem Absatz kehrtmachte. Sein kleiner Kopf rüttelte in dem viel zu großen Helm umher wie eine Eichel in einem Fass.

Er kann nicht älter als neun sein.

»Kommandantin Yeeran Teila.« Der Leutnant, der die Übung beaufsichtigte, hatte sie entdeckt.

Yeeran zuckte zusammen, da sie gehofft hatte, nicht bemerkt zu werden.

»Leutnant Fadel.« Sie erwiderte seinen Gruß.

»Seid Ihr hier, um Euch Euren nächsten Trommelträger auszusuchen?«

Diese Rolle fiel den jüngsten Rekrutinnen oder Rekruten der Armee zu. Yeeran hatte den Titel immer für seltsam gehalten, da sie die Pflege ihrer Trommel nie jemand anderem anvertraut hätte. Sie verbrachte jeden Abend eine Stunde damit, Feindesblut von ihrer Trommel zu entfernen und das Fell sorgfältig einzuölen.

Diese Trommel wird weitaus weniger Aufwand benötigen.

Der Riemen hing ihr jetzt über der Schulter, und mit der Trommel ruhte zugleich die Erinnerung an Salawas Liebe an ihrer Hüfte. Schwer und stets präsent.

»Nein, ich brauche keinen Trommelträger«, entgegnete Yeeran und schüttelte den Kopf.

Fadel runzelte die Stirn, setzte jedoch rasch eine neutrale Miene auf.

»Wie wäre es mit Offizierin Hana? Sie ist die Beste hier.« Er gab ein Signal, woraufhin ein Mädchen vortrat, das etwas größer war als ihre Kameradinnen und Kameraden.

Ihre Uniform hing an ihrem schmalen Körper wie eine Fahne am Flaggenmast. Ihr Bauch hingegen war von der Unterernährung geschwollen, und Yeeran spürte bei der Erinnerung an dieses Gefühl ein Kribbeln in der Magengrube.

Das Kind ballte die schmutzigen Finger zur Faust und schlug sich zum Gruß gegen die ausgezehrte Brust. Je härter der Trommelschlag, desto mehr Respekt erforderte der Gruß, daher legte das Mädchen so viel Kraft in ihren Schlag, dass es sich beinahe die Rippen brach.

Yeeran begab sich auf Augenhöhe des Mädchens und ließ jegliche Formalität hinter sich. Hana warf ihrem Leutnant einen besorgten Blick zu, doch Yeeran ermunterte sie lächelnd dazu, sie anzusehen.

»Keine Sorge.« Yeeran steckte eine Hand in die Tasche und holte eine Goldmünze hervor. »Kauf dir heute Abend eine anständige Mahlzeit statt des Haferschleims, den ihr in der Kaserne bekommt. Hast du verstanden?«

Das Kind stand da wie versteinert und starrte die Goldmünze in seiner Hand staunend an. Dann sagte es etwas völlig Unerwartetes: »Sie haben mich für weniger verkauft.«

Yeeran konnte ein reflexartiges Aufkeuchen nicht unterdrücken.

Einige Jahre zuvor hatte das Oberhaupt des Volkes ein neues Programm etabliert: Kinder konnten für ein halbes Silberstück direkt an die Armee des Abnehmenden Mondes verkauft werden. Dadurch wurde das Kind zum Mündel des Bezirks, die anderen Soldatinnen und Soldaten seine einzige Familie.

Auf diese Weise wurde die Fortpflanzung zu einem lohnenswerten Geschäftsmodell.

»Kriege richten sich nicht nach Regeln. Es gibt nur Kämpfer und Niederlagen«, hatte das Oberhaupt bei der Ankündigung des Programms gesagt.

Als sie Hana jetzt ansah, war sich Yeeran nicht sicher, ob sie dem zustimmen konnte.

Sie erhob sich wieder und entfernte sich von dem Mädchen und Leutnant Fadel, dem der Mund offen stand.

Yeeran redete sich ein, sie würde aus Vorfreude darauf, gleich ihr neues Regiment kennenzulernen, so schnell gehen. Dabei lief sie in Wirklichkeit vor dem Anblick der Kindersoldatinnen und -soldaten und ihren Erinnerungen an den eigenen schmerzhaften Hunger davon, der nie wirklich gestillt worden war.

2Yeeran

Yeeran trieb ihr Kamel in den Galopp, während sie die Frontlinie ihres neuen Regiments in Augenschein nahm. Fünfhundert Infanteristen, dreihundert Kavalleristen und einhundert Bogenschützen. So viele Soldatinnen und Soldaten unterstanden ihrem Befehl.

Das fühlte sich verdammt gut an.

Trotz des milden Wetters lief ihr der Schweiß den Rücken herunter. Die Sonne hatte die morgendliche Feuchtigkeit weggebrannt, sich in nordöstliche Richtung bewegt und einen klaren Himmel und frischen Wind hinterlassen.

Perfektes Wetter, um die Pfeile meiner Bogenschützen ins Ziel zu lenken.

»Kommandantin.« Eine ihrer Oberstinnen hielt neben Yeeran und salutierte im Sattel. »General Motogo wurde an der Westfront gesichtet. They kommt in unsere Richtung.«

Yeeran blickte zur Sonne hinauf, die beinahe im Zenit stand. Sie würden schon bald in die Schlacht ziehen.

»Ich werde them in meinem Kommandozelt empfangen und möchte nicht gestört werden. Bis zu meiner Rückkehr habt Ihr das Kommando über das Regiment.«

Die Oberstin nickte und ritt von dannen, um ihren Untergebenen Befehle zu erteilen.

Yeeran stieg aus dem Sattel und schritt an ihren Truppen vorbei zu ihrem Kommandozelt. Auch wenn es als ›Zelt‹ bezeichnet wurde, befanden sich die Militärlager nun schon so lange auf dem Blutfeld, dass die Völker feste Gebäude errichtet hatten. Die Bronzetür war von leuchtend rosafarbenen Blüten der Drillingsblume umkränzt, die im Bezirk des Abnehmenden Mondes in Hülle und Fülle wuchsen.

»Um den Geruch des Schlachtfelds zu übertünchen«, hatte das Oberhaupt des Volkes gesagt, als die Blumen gepflanzt wurden.

Dabei war es unmöglich, das Aroma eines eintausend Jahre währenden Kriegs zu übertünchen. Es durchdrang die Luft, die Haut, sogar die Tiefen der Erde.

Yeeran betrat den runden Bau und wurde ins Sonnenlicht getaucht, das durch die großen Fenster hereinfiel. Dahinter erstreckte sich das Blutfeld, so weit das Auge reichte.

In der Mitte des Raumes stand Oberst Rayan und betrachtete stirnrunzelnd einen Brief. Als sie eintrat, hob er lächelnd den Kopf.

»Guten Morgen, Kommandantin.« Er betonte den Titel etwas zu ehrerbietig, was ihr wie beabsichtigt ein Lachen entlockte.

Sie kannten einander schon sehr lange. Früher einmal war sie seine Leutnantin gewesen und anschließend schneller befördert worden als er. Doch er hatte sich nie an ihrem Erfolg gestört. Seine Loyalität ihr gegenüber war im Gegenteil nur noch gewachsen und hatte ihre militärischen Positionen durch eine wahre Freundschaft gefestigt.

»Wie läuft’s?«, erkundigte sich Yeeran und versuchte, einen Blick auf den Brief in seinen Händen zu werfen. Er sah fleckig und abgenutzt aus, weil er viel zu oft auseinander- und wieder zusammengefaltet worden war.

Rayan fuhr sich mit einer Hand über den rasierten Kopf.

»Das ist die letzte Nachricht, die ich von meinen Spähern erhalten habe. Sie traf vor vier Tagen ein. Sie hätten gestern ins Lager zurückkehren müssen.«

Yeeran runzelte die Stirn. »Gestern?«

»Ja.«

Es kam nicht selten vor, dass Späher durch unerwartete Feindbewegungen aufgehalten wurden.

»Möglicherweise mussten sie eine andere Route nehmen«, mutmaßte Yeeran.

»Könnte sein.« Rayan klang nicht überzeugt.

»Laut Protokoll müssen sie fünf Tage überfällig sein, bevor wir Truppen losschicken dürfen. Wir geben ihnen noch bis morgen, bevor ich ihr Verschwinden melde.«

Rayan nickte, verzog jedoch besorgt den Mund.

»Kommandantin Yeeran.« General Motogos donnernde Stimme flutete den Raum, noch bevor their Körper folgte. Wie bei vielen Elfen war Motogos Geschlecht so wechselhaft wie das Wetter, wurde wie ein Regenguss akzeptiert, und Änderungen wurden begrüßt wie die Jahreszeiten.

Yeeran bedeutete Rayan zu gehen, was er mit einem dankbaren Blick tat. Motogo war dafür bekannt, andere in lange Unterhaltungen zu verwickeln.

»Wie ergeht es dem Schlachtfeld unter Euren Füßen, General Motogo?«, fragte Yeeran und nutzte die formelle Begrüßung, die für angesehene Älteste vorgesehen war.

»Es ist mit dem Blut meiner Feinde getränkt«, antwortete Motogo, wie es üblich war. They hatte das ergrauende Haar zu kleinen Knoten gebunden, was signalisierte, dass they nur noch selten einen Helm trug.

Yeeran konnte sich nicht vorstellen, das Kämpfen jemals aufzugeben.

»Kommen wir zum Kern der Sache. Ich bin hier, um Eure Befehle zu … Oh, wie ich sehe, habt Ihr eine neue Waffe …« Motogo hatte das schwarze Fell ihrer Trommel bemerkt, die an ihrer Schlinge baumelte.

»Das sieht nach einem prächtigen Exemplar aus, auf das ich gewiss neidisch sein muss«, fuhr they fort und blähte vor Eifersucht die Nasenflügel. »Nicht dass ich noch Trommelfeuer wirken würde. Das überlasse ich lieber den Jüngeren.«

Das Wirken von Trommelfeuer war körperlich nicht anstrengend, wenngleich die dafür benötigte Intention ihren mentalen Tribut forderte. Und Motogo musste mindestens einhundert Jahre alt sein. Yeeran hatte allerdings schon einhundertzwanzigjährige Elfen gesehen, die am Ende der erwarteten Lebensspanne von Elfen standen und dennoch kämpften.

»Ja, die Trommel war ein Geschenk.«

»Sehr schön. Wirklich schön.« Their Blick verharrte auf dem prächtigen Obeahfell.

»Was wolltet Ihr doch gleich über meine Befehle sagen?«

»Ah, ja. Da es Euer erster Tag als Befehlshaberin eines derart großen Trupps ist, wollte ich Eure heutige Position bestätigen. Ihr sollt an der Westseite bis zum Todeshügel im zweiten Quadranten patrouillieren. Unsere Kundschafter haben ein oder zwei Späherzüge des Halbmonds gemeldet. Eliminiert alle Feinde, die Ihr dort antrefft, und kehrt ins Lager zurück. Das dürfte kaum mehr als ein Routineeinsatz werden. Keine Offensive gegen die Hauptlinie, habt Ihr verstanden?«

»Ja, General«, erwiderte Yeeran leicht gereizt. Sie wusste, wie man Befehle befolgte. Andernfalls kam man in der Armee des Abnehmenden Mondes nicht weit.

Motogo nickte, griff in their Tasche und holte eine frisch gebügelte Uniform heraus.

»Es wird Zeit, Eure Oberstinnenuniform abzulegen, Kommandantin.«

Yeeran griff voller Dankbarkeit nach der neuen Kleidung, die in einem dunkleren Blau gehalten war als ihre bisherige Uniform. Die Farbe erinnerte an einen sturmumwölkten Himmel.

»Viel Glück da draußen«, fuhr Motogo fort. »Mögen Euch die drei Gottheiten beschützen.«

They rief die Gottheiten an, ohne dass es eine Bedeutung hatte. Abgesehen von Wahrsagenden wie Yeerans Schwester glaubte niemand mehr an sie. Dennoch honorierte sie den freundlichen Wunsch.

»Und Euch, General.«

Yeeran sah them beim Hinausgehen hinterher, bevor sie geräuschvoll ausatmete.

Solche Befehle hatten ihr für ihren ersten Tag als Kommandantin nicht vorgeschwebt. Derartige Patrouillen waren nichts Außergewöhnliches, und sie konnte von Glück reden, wenn sie überhaupt auf Mitglieder des Halbmondvolkes traf. Leicht wehmütig fuhr sie mit dem Daumen über die Hülle ihrer Trommel. Sie konnte kaum erwarten, damit erstmals Blut zu vergießen.

Am Fenster ertönte plötzlich ein Geräusch, und ein Schatten bewegte sich. Yeeran zog die Trommel routiniert aus der Schlinge. Vielleicht bekam sie doch schneller als gedacht die Gelegenheit, ihre neue Waffe einzusetzen.

Finger wurden durch das offene Fenster geschoben und suchten Halt am Rahmen.

Die eindringende Person atmete schwer, als sie durch die Öffnung kletterte. »Bei der Gnade des Mondes«, fluchte sie dann und landete polternd auf dem Boden.

Yeeran schwang die Trommel an der Schlinge zurück auf ihren Rücken und rieb sich die Stirn.

»Was willst du hier, Lettle?«

Die Augen ihrer Schwester blitzten erbost auf. »Ich komme dich besuchen, das ist doch offensichtlich.«

Sie rappelte sich auf und positionierte sich dann in der majestätischen Haltung eines Oberhaupts vor ihr. Ihr fliederfarbenes Kleid hatte sich um ihre Beine gewickelt, doch auch als sie es richtete, verlor sie nicht einen Hauch von Würde.

»Hättest du nicht einfach durch die Tür kommen können?«, fragte Yeeran.

Lettle schaute ihr fest in die Augen. Die Haut an ihrer Stirn wurde straff gespannt von den Cornrows, die sich über ihren ganzen Kopf zogen und bis zu ihrer Hüfte reichten.

»Selbstverständlich hätte ich einfach durch die Tür kommen können, Yeeran, aber dieser Esel am Eingang sagte, du willst nicht gestört werden. Er wollte mich nicht reinlassen.«

Yeeran war stolz auf die Tatsache, dass es an der Loyalität ihrer Obersten nichts auszusetzen gab.

»Und darum kletterst du einfach durchs Fenster.«

»Ganz genau.« Lettle verschränkte die Arme vor der Brust und wartete auf Yeerans Erwiderung.

Yeeran betrachtete ihre jüngere Schwester einen Moment lang und fing dann an, zu lachen. »Du setzt wirklich immer deinen Willen durch.«

Ein unerwartetes Lächeln erhellte Lettles Gesicht, als würde die Sonne hinter Regenwolken hervorlugen. »Allerdings.«

Yeeran drehte sich zum Saftkrug auf ihrem Schreibtisch um und bot Lettle ein Glas an, doch ihre Schwester schüttelte den Kopf.

Also wartete Yeeran. Lettle besuchte sie nie ohne guten Grund.

»Ich war heute früh beim Schlachthaus.«

Es fiel Yeeran schwer, ihr Stöhnen zu unterdrücken. Lettle erlernte die Kunst des Wahrsagens nun schon seit Jahren. Dafür wurden die Eingeweide eines Obeah benötigt, um die darin gesammelte Magie zu deuten. Ein Besuch im Schlachthaus bedeutete im Allgemeinen, dass Lettle das Geld ausgegangen war. Wieder einmal.

»Ich lasse dir später von einem Boten ein paar Taler bringen, Lettle.«

Lettles Augen loderten wie weiße Kohlen. »Ich brauche kein Geld«, stieß sie angespannt hervor.

Yeeran wusste, wie sehr es Lettle ärgerte, von ihr abhängig zu sein.

Lettle arbeitete nicht mehr. Als sie nach Vaters Tod nach Gural gekommen war, hatte sie den vorgeschriebenen zweijährigen Wehrdienst absolviert. Aber anders als Yeeran war sie nicht dabeigeblieben, um in den Rängen der Armee aufzusteigen. Ihre Leidenschaft lag in der Wahrsagerei, einer belanglosen Kunst des Weissagens, die bei den Elfen kaum noch Verwendung fand. Was auch bedeutete, dass man damit kaum Geld verdienen konnte.

»Was willst du dann?«

Lettles Zorn verrauchte so schnell, wie er aufgekommen war. »Bei der heutigen Prophezeiung ging es um dich.«

Yeeran sah zur Uhr an der Wand hinüber. Ihr blieben nur noch wenige Minuten, bis sie mit ihrem Regiment aufbrechen musste. Was sie Lettle gerade mitteilen wollte, als sie der ernste Blick ihrer Schwester innehalten ließ. Es war Lettle ernst.

Yeeran wandte sich der neuen Uniform zu, die Motogo ihr gegeben hatte.

»Erzähl mir davon, während ich mich umziehe.«

Lettle grinste kurz und setzte zu ihrer Geschichte an. »Wie ich bereits sagte, war ich heute früh beim Schlachthaus, bevor sie die Kreaturen gehäutet hatten. Es waren auch noch andere Wahrsagende dort, die auf die Eingeweide gewetteifert haben. Aber ich wusste, dass dies dein erster Tag als Kommandantin deines Regiments ist, also habe ich am meisten geboten. Trotzdem bekam ich nur fünf Minuten mit der Kreatur. Und, Yeeran«, sie sprach das ›N‹ am Ende ihres Namens kaum aus, als wäre ihr der Buchstabe lästig, »du hättest sehen sollen, wie furchtbar es dort ist. Wir müssen den Arbeiterinnen und Arbeitern unbedingt etwas Geld schicken …«

Yeeran nickte geistesabwesend. »Ich werde das in die Wege leiten. Hilf mir bitte mal mit der Schnalle.« Anders als ihre Oberstinnenuniform hatte Yeerans Kommandantinnenmantel einen Besatz aus dickerem Obeahfell. Zwar war die Haut der mächtigste Teil eines Obeah, aber die schwarze Mähne der Kreatur gab zudem magische Impulse ab, die Yeeran bei Bedarf nutzen konnte.

Das Jackett war steif und hatte einen breiten Kragen sowie Epauletten in der Form des Abnehmenden Mondes, das Symbol ihres Volkes. Auf dem Rücken prangte eine weitere Erinnerung an ihre Herkunft: die Stickerei dreier Abnehmender Monde.

Die Wiederholung machte Yeeran nichts aus. Sie trug das Siegel ihres Volkes nur zu gern zur Schau.

Lettle gab ein leises, genervtes Geräusch von sich und murmelte: »Keine Kundin würde eine Wahrsagerin bitten, ihr während einer Lesung beim Ankleiden zu helfen.«

Yeeran hätte beinahe erwidert, dass ihre Kundschaft sie darum nicht bitten konnte, weil sie gar keine hatte. Doch diese Worte würden Lettle mehr Schmerz zufügen, als dass sie Yeeran Freude bereiteten. Außerdem half ihre Schwester ihr ja trotz allem.

»So, erledigt. Wenn du mal nicht schnittig aussiehst«, sagte Lettle.

Yeeran warf einen Blick in den vergoldeten Spiegel an der Wand. Mit ihren breiten Schultern und einer Größe von über einem Meter zweiundachtzig wirkte ihr Körper kantig, während ihr Gesicht Weichheit ausstrahlte. Sie hatte eine breite Nase und volle lilafarbene Lippen unter tiefliegenden Augen. Ihre violetten Iriden sahen vor Müdigkeit ganz glasig aus. Ihre bei Elfen seltene Augenfarbe sorgte dafür, dass man sie auf Anhieb erkannte.

Kommandantin Yeeran Teila von der Armee des Abnehmenden Mondes, dachte sie, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen.

Lettle zog einen Schmollmund. »Jetzt aber zu deiner Prophezeiung. Das Schicksal ist eindeutig, Yeeran: Dein Ruhm liegt im Osten.«

Yeerans Mundwinkel zuckten, aber sie verkniff sich das Lachen, als sie Lettles ernste Miene bemerkte. Die Wahrsagerei war keine präzise Kunst. Doch Yeeran wusste, dass Lettle dazu ausgebildet wurde, eines Tages die Nachfolgerin des Anführers ihrer Sekte zu werden. Deshalb beschloss sie, die Talente ihrer Schwester ernster zu nehmen.

»Danke für die Prophezeiung, Lettle«, sagte sie so aufrichtig, wie sie nur konnte. »Ich werde heute auf dem Schlachtfeld gewiss nicht den Kopf verlieren. Das Halbmondvolk hat die Hälfte seiner Infanterie von der Westfront verlegt. Daher werden wir nur noch auf versprengte Truppenteile treffen, was uns die Sache erleichtern dürfte.«

Lettle trat näher, umklammerte Yeerans Handgelenke und bohrte die Fingernägel in ihre Haut.

»Vergiss nicht: Suche deinen Ruhm im Osten.«

Lettle war gute dreißig Zentimeter kleiner als Yeeran. Ihr linker Arm war kürzer, der Außenmuskel von den Schwindpocken verkümmert. Die Krankheit hatte ihr Dorf heimgesucht, und sie waren zu arm gewesen, um sich die Medizin für Lettles Behandlung leisten zu können. Immer wenn sie einander so nahe waren, bekam Yeeran deswegen Schuldgefühle.

Als sie endlich genug Geld zusammen hatten, um Lettle bei einem Arzt untersuchen zu lassen, wurde ihnen nur bestätigt, dass Lettles geringe Größe und ihr lädierter Arm Nachwirkungen der Pocken waren. Yeeran hätte mehr arbeiten müssen, um genug Geld für die Behandlung zu verdienen.

Sie legte ihre Hand auf Lettles. »Vater wäre sehr stolz darauf, wie viel Mühe du in deine Weissagungen steckst.«

Lettle entzog sich der Berührung und wandte sich ab.

Sie sprachen nur selten von Vater. Auch wenn er nicht derjenige war, der Yeeran gezeugt hatte – ihr leiblicher Vater war auf dem Schlachtfeld gefallen, als sie noch ein Baby gewesen war –, hatte sie nie einen anderen als ihn gekannt. Sechs Jahre nachdem ihre Mutter ihn geheiratet hatte, war Lettle geboren worden.

Dann hatte ein Pfeil ins Herz ihnen auch die Mutter genommen, und ihre Töchter waren zu jung gewesen, um viele Erinnerungen an sie zu haben.

Die Erinnerungen an Vater hingegen waren nach wie vor lebendig. Obwohl sie selten von ihm sprachen, war in jedem angedeuteten Lächeln, das sie einander schenkten, und in jedem leise ausgesprochenen Kompliment deutlich zu erkennen, dass er in ihren Köpfen weiterlebte wie ein Held aus einem geliebten Märchen.

Allerdings waren solche Helden niemals Diebe.

Nachdem er seine Frau an den Blutrausch auf dem Schlachtfeld verloren hatte, war ihr Vater aus der Armee ausgeschieden und hatte sich zum Obeahjäger ausbilden lassen. Doch je älter er wurde, desto schwerer fiel es ihm, die körperlichen Anstrengungen der Jagd zu ertragen. Insbesondere da es immer weniger Obeah gab. Schon bald hatte sich ihr Vater als Taschendieb und Plünderer durchschlagen müssen.

»Er wäre auch stolz auf dich, Yeeran.« Lettle sah Yeeran nicht an, da die Lüge sonst aufgeflogen wäre.

Sie wussten beide, dass Vater ganz und gar nicht stolz auf Yeerans Leistungen gewesen wäre. Seine Trauer hatte seine Meinung über den Krieg getrübt, und er hatte jede Teilnahme daran verdammt. Als Yeeran ihm erzählt hatte, dass sie nach Gural reisen und sich der Armee des Abnehmenden Mondes anschließen wolle, waren sie im Streit auseinandergegangen. Danach hatten sie nie wieder miteinander gesprochen, da Vater kurz darauf gestorben war.

»Ich sollte gehen«, sagte Yeeran.

»Viel Glück da draußen.« Lettle nahm ihre Hand und drückte sie.

Yeeran schloss die Augen und fand Trost in der Unterstützung ihrer Schwester. Trotz ihrer Unterschiede hatten sie sich der Welt stets gemeinsam gestellt. Das war auch heute nicht anders. Obwohl Yeeran aufs Schlachtfeld ging, während Lettle zu ihren Büchern zurückkehrte, würde ihre Schwester bei ihr sein. Immer.

Die Narben ihres Lebens hatten sie zusammengeschweißt.

Lettle nickte, als wüsste sie, was Yeeran dachte. Ihre violetten Augen ähnelten Yeerans, doch sie waren von einer anderen Tiefgründigkeit. Als würde Lettle die Welt in ihrer Gänze wahrnehmen, während Yeeran nur einen Teil davon sah.

Sie schenkte Yeeran ein leises Lächeln.

»Dein Regiment wartet. Denk an meine Worte.«

3Yeeran

Die Infanterie marschierte mittig in der Formation, während die Kavallerie die Flanken schützte und die Bogenschützen die Nachhut bildeten. Yeeran und ihre vier Obersten ritten vorweg. Die Offiziere und die Kavallerie waren als einzige Soldatinnen und Soldaten mit Trommelfeuer ausgestattet, denn Obeahtrommeln waren nur schwer zu beschaffen.

Obeahjäger verdienten in den Elfenländern gut. Wenn Yeerans Vater seinen Beruf nicht aufgegeben hätte, wären sie vielleicht nie mit der quälenden Unterernährung und dem drohenden Hungertod in Kontakt gekommen.

Yeeran trieb ihr Kamel in den Galopp. Der Boden war von Hufabdrücken und Kampfspuren gezeichnet. Rote Blutpfützen von vergangenen Schlachten tränkten die Erde und hatten feuchte dunkle Flecken hinterlassen.

Nach einer Weile erreichten sie den Todeshügel, dessen Name auf das Abschlachten von einhundert Zivilisten durch die Hand des Tyrannen mit den zwei Klingen zurückging. Diesen Spitznamen hatte er bei diesem Massaker erhalten. Zuvor war er als Oberhaupt Akomido des Halbmondvolkes bekannt gewesen.

Während die Hufe ihres Kamels über die feuchte Erde donnerten, wurde Yeeran an die Reichtümer erinnert, die darunter verborgen lagen: eine derart große Fraediamine, dass niemand mehr in Armut leben müsste. Ein einziger Kristall würde ausreichen, um einen Haushalt ein Jahr lang mit Nahrung zu versorgen und zu wärmen, wenn nicht noch länger.

Sie mussten sich nur diese Mine sichern, und kein Kind würde mehr Hunger leiden.

Yeeran dachte an die Trommelträgerin Hana und begriff auf einmal, warum der Anblick des Mädchens sie derart geschmerzt hatte.

Sie erinnert mich an Lettle als Kind. Der aufgeblähte Bauch, die schrecklich dünnen Ärmchen, diese gespenstische Hilflosigkeit in ihren Augen. Als Yeeran dieses Bild aus ihren Gedanken verdrängen wollte, ging ein Schauer durch ihren Körper.

»Sie sind weg. Kein Halbmondsoldat zu sehen«, murmelte Rayan, der zu ihr aufgeschlossen hatte, und holte sie so aus ihren Gedanken. In seinen braunen Augen blitzte etwas auf, das noch heißer brannte als Zorn – die Unzufriedenheit darüber, dass sich der erhoffte Kampf nicht einstellen würde.

Er hatte recht. Von diesem erhöhten Standpunkt aus konnte Yeeran den ganzen ersten Quadranten überblicken und nicht eine Halbmondsoldatin oder einen Halbmondsoldaten ausmachen.

Sie spürte, wie ihr vor Enttäuschung bittere Galle die Kehle hinaufstieg.

»Kommandantin? Sollen wir fortfahren?«, fragte Rayan.

»Wie denn? Die Truppen sind inzwischen bestimmt zurück an der feindlichen Front, und wir können es als einzelnes Regiment wohl kaum mit der ganzen Macht des Halbmondvolkes aufnehmen.«

Was für ein großartiger erster Tag, dachte Yeeran voller Enttäuschung.

»Wir könnten auf dem Rückweg einen Bogen gen Osten schlagen, um herauszufinden, ob sie vom Weg abgewichen sind«, schlug Rayan vor.

Yeeran schüttelte den Kopf. »Damit würden wir gegen unsere Befehle verstoßen.«

Rayan zuckte mit den Achseln. »Aber es wäre durchaus möglich, dass der Feind die Front noch nicht erreicht hat. In diesem Fall könnten wir doch die Gelegenheit nutzen und zuschlagen …« Seine Kampfeslust war ebenso groß wie ihre.

»Das können wir nicht machen, Oberst.«

Zwar mahlte Rayan mit dem Kiefer, doch er gab Ruhe. Auch wenn seine Miene Bände sprach. Er wurde nie ungehorsam, sagte jedoch immer seine Meinung, wenn sie ihn danach fragte. Das mochte sie am meisten an ihm.

Yeeran wollte ihr Kamel schon zurück zum Lager lenken, als ihr Lettles Weissagung in den Kopf schoss: Suche deinen Ruhm im Osten.

Diese Worte hatte ihre Schwester in den Eingeweiden eines Obeah gelesen.

Sie zögerte. Manchmal wurden Lettles Prophezeiungen durchaus wahr. Einmal hatte sie vorhergesagt, dass Yeerans Dach durch einen heftigen Regenguss einstürzen würde. Diese Weissagung war erst nach einem Jahr eingetreten, doch als es dann endlich geschah, hatte Yeeran längst alles besorgt, was sie für die Reparatur benötigte.

Wahrscheinlich wünschte sich Yeeran in diesem Fall bloß, dass Lettles Prophezeiung zuträfe, und maß ihr deshalb mehr Bedeutung bei.

Sie nickte langsam.

»Ja, vielleicht treffen wir im Osten in der Tat auf einige Feinde.« Yeeran hob die Stimme, damit die anderen Obersten sie hören konnten. »Gebt Euren Trupps Bescheid. Wir brechen in fünf Minuten zur Ostgrenze auf.«

Dies war das erste Mal, dass Yeeran einen Befehl missachtete. Allerdings sah sie es nicht direkt als Ungehorsam an, vielmehr dehnte sie ihre Befugnisse ein wenig aus. Yeeran hatte Informationen erhalten, dass sich im Osten feindliche Soldatinnen und Soldaten aufhielten. Nur weil diese Informationen aus einer Weissagung stammten, waren sie nicht weniger relevant.

Oder?

Jetzt ist es ohnehin zu spät. Sie verzog das Gesicht.

Sie bewegten sich über das Blutfeld, und die Sonne schien ihnen heiß auf den Rücken. Yeerans neues Jackett war bald schweißgetränkt, was sie nicht einmal zur Kenntnis nahm. Die Vorfreude auf den Kampf ließ ihr Blut pulsieren.

Als sie den zweiten Quadranten im Osten ihres zugewiesenen Schlachtfelds fast erreicht hatten, rief Rayan: »Leichen voraus, Kommandantin!«

Das hätte er ihr nicht sagen müssen, da sie die Körper längst riechen konnte. Es waren insgesamt zwölf, die faulend und aufgebläht in der Nachmittagssonne lagen.

»Der Spähtrupp.« Rayans Stimme klang aufgebracht durch seinen Helm.

Yeeran gab der nachrückenden Infanterie ein Zeichen.

Die Schritte verhallten nach und nach.

Das muss schneller gehen, aber das bringe ich ihnen schon bei.

Rayan sprang von seinem Kamel und näherte sich den Toten. Sie trugen das Zeichen des Abnehmenden Mondes auf dem Rücken ihrer Uniformen.

»Das sind eindeutig unsere Späher«, bestätigte Rayan angespannt.

Yeeran schwang ein Bein über den Sattel und stieg ab. Ihr Kamel schnaubte, und sie tätschelte es zärtlich. Dabei konnte sie sich nicht einmal an seinen Namen erinnern … Baul? Boro? Brado?

Sie zog es vor, sich nicht an ihre Reittiere zu gewöhnen, da diese selten lange überlebten.

Yeeran ging auf die Leichen zu, die mit dem Gesicht nach unten dalagen. Ihre anderen Obersten folgten ihr, wobei einige aufgrund des Gestanks ein wenig ins Wanken gerieten.

Sie waren den Verwesungsgeruch nicht gewohnt und kannten nur den Geruch von Blut, Schweiß und Urin – nach Eisen, Salz und Ammoniak. Sie wussten nichts über Leichen, die tagelang im Freien herumgelegen hatten, oder vom widerlichen Gestank verflüssigter Organe.

Yeeran kannte das alles hingegen nur zu gut. Sie wusste, wie es sich anfühlte, die Jacke einer aufgeblähten Leiche zu durchsuchen, aus der an mehreren Stellen Gas entwich. Sie hatte sich beim Plündern von Gesäßtaschen durch fremden Kot gewühlt. Oder Ohrringe von Ohren gezupft, die anderthalb Meter von den Köpfen entfernt lagen. Als Kind hatte sie getan, was notwendig gewesen war, um zu überleben. Dieser Anblick war für sie nichts Neues.

Sie kniete sich neben Rayan.

»Sie müssen vom Halbmondtrupp ermordet worden sein«, sagte er.

»Ja, von diesen Nachzüglern, hinter denen wir her sind. Was ist das?«

Rayan folgte Yeerans Blick.

Ein Stück entfernt lag ein Teil des Obeahfellkragens eines Spähers. Es war an sich nicht ungewöhnlich, einen zerfetzten Kragen zu finden – im Kampf wurden noch weitaus schlimmere Dinge abgerissen. Allerdings sah es so aus, als wäre der Kragenfetzen in die entgegengesetzte Richtung des Spähers durch den Dreck geschleift worden.

Abermals betrachtete Yeeran die Leiche. Die Halbmondtruppen hatten mit ihren Klingen das Fleisch des Soldaten durchstoßen und klaffende Wunden hinterlassen. Die Verfärbung des Bodens deutete jedoch darauf hin, dass der Späher einige Zeit darauf am Blutverlust gestorben war. Der Kopf des Toten war zur Seite geneigt, und seine gebrochenen Augen fixierten konzentriert das Fellstück.

Nein, nicht konzentriert, voller Intention. Der Späher hatte die im Obeahfell verbliebenen Magiereste genutzt, um den Kragen über den Boden zu schieben. Um einen Gegenstand zu bewegen, der derart wenig Magie aufwies, war ein beeindruckendes, beinahe unmögliches Ausmaß an Geisteskraft erforderlich.

Der Späher musste außerordentlich entschlossen gewesen sein.

Yeeran legte den Kopf schief. Aber warum?

Sie spähte in die Richtung, in die er den Kragen bewegt hatte.

Einige Bäume schwankten in etwa zwei Kilometern Entfernung im Wind.

Einer der Äste bewegte sich.

»Sieht das für Euch auch wie ein Pfeil aus, als würde das Fell auf etwas zeigen?«, fragte Rayan hinter ihr.

Doch Yeeran hörte gar nicht mehr hin. Denn das ist gar kein Ast!

»Hinterhalt!«, schrie sie. »Formation drei, Formation drei!«

Der Kragen hatte auf die verborgenen Halbmondtruppen hinweisen wollen. Eine Warnung, die Yeeran zu spät erkannte.

Das Blutfeld bebte unter dem Geräusch zahlreicher Füße, als das feindliche Volk auf sie zugerannt kam.

Yeeran schwang sich in den Sattel. Das Kamel stand rasch auf und spannte die Muskeln an, als würde es die nahende Gefahr spüren, scheute aber nicht.

Der Feind rückte mit jedem Wimpernschlag näher. Es mussten über zweitausend Soldatinnen und Soldaten sein, mehr als doppelt so viele wie in Yeerans Regiment.

»Wir müssen uns zurückziehen und eine höhere Position einnehmen!«, rief Rayan.

»Nein.« Yeeran würde an ihrem ersten Tag als Kommandantin nicht den Rückzug antreten. Sie würde nicht scheitern. Während sie den Blick über das Schlachtfeld schweifen ließ, strich sie mit dem Daumen über den Rand ihrer Trommel.

Dann atmete sie erleichtert auf. Der Feind hatte keine Bogenschützen, sie jedoch schon. Ihr Regiment würde wenigstens ein Drittel der nahenden Gegner mit Pfeilen ausschalten können.

»Bogenschützen, Feuer!« Ihr Befehl wurde von einer Geste begleitet. Einige Sekunden später regnete es Pfeile vom Himmel herab.

Lächelnd nahm Yeeran den Anblick in sich auf. Das war die Droge, für die sie lebte. Diese Gewissheit tief in ihrem Inneren, dass sie überleben würde. Möglicherweise verstärkt von dem Wissen, dass es eines Tages anders sein würde.

Die Pfeile fielen jenseits der feindlichen Linien vom Himmel, und Yeeran hielt den Atem an, während sie darauf wartete, dass nun auch die Soldatinnen und Soldaten zu Boden gingen.

Was nicht geschah.

»Was? Das ergibt keinen Sinn …« Rayan verstummte abrupt. Wie Yeeran konnte auch er nicht begreifen, was gerade passierte.

Keine einzige Halbmondsoldatin und kein einziger Soldat waren gefallen. Es war, als hätten die Pfeile eine unsichtbare Barriere getroffen, die sich über den Elfen befand. Eine solche Magie hatte Yeeran noch nie zuvor gesehen. Die Magie der Intention trieb nur physikalische Kräfte an, während die Magie der Prophezeiung auf der Deutung des Schicksals basierte. Keine dieser Magieformen konnte so etwas bewirken, und erst recht nicht in diesem Ausmaß.

»Was machen wir jetzt, Kommandantin?«, fragte Rayan. »Kontakt in hundert Metern … neunzig Metern …«

Yeeran kannte die Antwort. Der magische Schild machte diesen Kampf zu einer unmöglichen Aufgabe.

Sie schluckte, bevor sie die Worte herausbrachte. »Rückzug. Wir ziehen uns zurück.«

Doch für einen erfolgreichen Rückzug war es zu spät. Die feindliche Infanterie war ihnen bereits zu nah. Sie war so nah, dass Yeeran die Blutgier in ihren Augen sehen konnte.

Ihre Untergebenen verließen ihre Formationen vor lauter Angst, als sie das Signal zum Rückzug vernahmen.

Sie brauchten mehr Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen.

Yeeran zog an ihrer Trommelschlinge und klemmte die Waffe zwischen ihre Oberschenkel.

»Was macht Ihr da, Kommandantin? Wir müssen verschwinden, und zwar sofort! Yeeran!«

Dann fing Yeeran an, zu trommeln.

Das Chaos um sie herum verblasste, als ihre Finger über das schwarze Fell strichen. Magie raste durch ihre Knochen in ihre Ellbogen, ein Gefühl, das eher an Schmerz als an Vergnügen grenzte. Sie begann mit einem tiefen Basston, den sie mit der flachen Handfläche in der Trommelmitte erzeugte. Es fiel ihr leichter, ihre Intention auf diesen Klang zu richten. Zwar war der Ton weniger präzise und die Schwingung der Magie weiter als bei einem hohen Ton, doch die ausgedehnten Stränge der Magie ließen sich so leichter formen.

Was sie auch tat. Jede Magieaufwallung wurde zu einem tödlichen Geschoss, während sie die Trommel schneller und schneller schlug. Sie blickte nicht einmal über die Schulter, um den Rückzug ihres Regiments zu verfolgen. Sie konzentrierte sich allein auf diesen Moment und nutzte das Trommelfeuer, um den bevorstehenden Angriff aufzuhalten, so gut es ihr möglich war.

Dum-bara-dum-bara-dum …

Genau wie die Pfeile konnte auch das Trommelfeuer den magischen Schild nicht durchdringen, der die Halbmondelfen schützte. Daher richtete sie die magischen Projektile stattdessen auf den Boden vor ihren Füßen, ließ Staub aufsteigen und bewirkte, dass die vordersten Reihen ins Stolpern gerieten.

Dennoch rückte der Feind näher.

»Sechzig Meter, fünfzig Meter!«, schrie Rayan neben ihr. »Kommt, Yeeran, wir müssen von hier verschwinden!«

Aber Yeeran war noch nicht fertig. Sie musste ihren Untergebenen mehr Zeit verschaffen.

Sie rutschte im Sattel nach hinten, als sich starke Arme um ihre Taille schlangen. Rayan war zu ihr aufs Kamel gestiegen und griff nach den Zügeln.

Dum-bara-dum-bara-dum …

Dann wurde sie nach links geschleudert. Ihr Trommelfeuer löste sich auf, weil ihre Intention ins Stocken geriet. Sie hatte das feindliche Vorrücken um vielleicht ein oder zwei Minuten verzögert. Das war bei weitem nicht genug.

Rayan trieb das Kamel in rasenden Galopp und brachte sie immer weiter vom Schlachtfeld weg. Aber auch weiter weg von ihrer Infanterie, die noch immer um ihr Leben rannte.

4Yeeran

»Dreihundertsechsundsiebzig Tote.«

Die Zahl wurde einem Todesurteil gleich verkündet und legte sich wie eine Schlinge um Yeerans Hals. Es gelang ihr nicht, dem Oberhaupt in die Augen zu sehen. Stattdessen straffte sie die Schultern und starrte den Wandteppich neben dem Thron an.

Die Ränder waren ausgefranst und die Farben zu dumpfem Grau verblasst, dennoch ließ sich das Motiv deutlich erkennen. Drei Wesen waren darauf abgebildet: Mensch, Fae und Elf. Die Fae, die eindeutig an ihren spitzen Eckzähnen zu erkennen war, biss dem Menschen soeben in die Kehle. Der Mensch mit seinen runden Ohren und einem Mund, der zu einem lautlosen Schrei aufgerissen war, streckte eine Hand nach dem Elf aus, der in der hintersten Ecke des Wandteppichs zu sehen war. Der Elf hielt ein rot verfärbtes Schwert in der Hand, wobei unklar blieb, ob Fae- oder Menschenblut daran klebte.

Der Wandteppich hatte die Gräueltaten der Fae auf ewig festgehalten, die, ebenso wie die Menschen, nur noch in der Geschichte existierten. Doch selbst die Überlieferung war derart lückenhaft, dass lediglich Mythen und Legenden existierten. Schließlich war es über ein Jahrtausend her, dass es auf der Erde Fae und Menschen gegeben hatte. Einige Märchen behaupteten, die Fae hätten alle Menschen umgebracht und seien von den Göttern verflucht worden. Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass beide Völker einfach von einer Seuche ausgerottet worden waren. In jedem Fall hatte sich Yeeran nie sonderlich für Geschichten über die bestialischen Fae interessiert.

In diesem Moment fragte sie sich, ob das daran lag, dass sie selbst eine Bestie war.

Yeeran richtete den Blick wieder auf den Thron, der aus poliertem weißem Obeahhorn bestand. Es enthielt genug Magie, um Yeeran auf der Stelle niederzustrecken, sollte ihre Anführerin das denn entscheiden. Das Oberhaupt saß im Schneidersitz auf dem Thron und hatte einen Arm auf die Lehne gestützt.

Als sie spürte, dass Yeeran sie ansah, setzte sie sich auf, wobei die Fraediaperlen in ihren Zöpfen klimperten.

»Ihr habt Befehle missachtet, Kommandantin Yeeran. Ich gehe davon aus, dass Euch die Strafe für Gehorsamsverweigerung bekannt ist?«

»Entlassung aus der Armee.« Yeeran war erleichtert, dass ihre Stimme nicht zitterte.

»So ist es. Allerdings ist Gehorsamsverweigerung nur eines Eurer Vergehen. Da wäre noch der Tod von dreihundertsechsundsiebzig Soldatinnen und Soldaten, die unter Eurem Befehl standen. Auch dafür müsst Ihr zur Rechenschaft gezogen werden. Zwar übernimmt Oberst Rayan in seiner Aussage eine Teilschuld …«

»Es war mein Befehl und meine Entscheidung. Ganz allein meine«, fiel Yeeran ihr ins Wort.

Dies führte zu einem scharfen Einatmen. Niemand unterbrach das Oberhaupt.

»Gehorsamsverweigerung scheint bei Euch die Regel zu sein«, kommentierte das Oberhaupt trocken.

Yeeran hörte General Motogo hinter sich schnauben, drehte sich aber nicht um. Their Missfallen war deutlich genug spürbar, auch ohne dass sie in their verächtliche Miene blickte.

Wahrscheinlich ähnelte sie stark der des Oberhaupts.

»Würdet Ihr uns kurz allein lassen? Ich möchte mich unter vier Augen mit der Kommandantin unterhalten.«

Schritte erklangen, als alle hochrangigen Anwesenden, die zu Yeerans Verurteilung herbeizitiert worden waren, den Raum verließen. Yeeran hielt den Kopf gesenkt, als das Oberhaupt auf sie zukam. Einen Schritt von Yeeran entfernt blieb sie stehen, legte ihr sanft einen Finger unter das Kinn und hob ihren Kopf an.

Yeeran blickte in die traurigen Augen ihrer Geliebten.

»Salawa.« Der Name schmeckte bitter auf ihren Lippen.

»Oh, Yeery.«

Dann lag Yeeran in ihren Armen. Keine von ihnen weinte, doch sie umklammerten einander fest.

»Du musst meinen Exekutionsbefehl unterzeichnen«, sagte Yeeran gedämpft, da sie die Lippen gegen Salawas Haar presste.

»Nein.«

»Du musst es tun. Wäre jemand anderes an meiner Stelle, würdest du nicht zögern. Du kannst mir nicht länger vertrauen.«

Salawa löste sich aus Yeerans Armen und bedachte sie mit einem kritischen Blick. »Ach nein?«

»Du darfst zumindest nicht den Anschein erwecken, dies zu tun. Keine Gefallen, keine Sonderbehandlung. Das haben wir einander vor all den Jahren versprochen.«

Ihre erste Begegnung lag beinahe fünfzehn Jahre zurück. Yeerans Augenlider flatterten, und sie sah die Erinnerung deutlich vor sich, als wäre sie auf ihre Netzhaut eingeprägt worden. Yeeran hatte vor den plätschernden Brunnen auf dem Platz von Gural gestanden. Ihre Hände steckten in den Taschen, wobei sie mit einer Hand an einem Klappmesser herumspielte und mit der anderen einen Brief umklammerte.

»Alles in Ordnung?« Salawas Stimme war schon immer voller Autorität gewesen, selbst damals.

Durch einen Tränenschleier hatte Yeeran die Frau angesehen. Sie trug die Kleidung einer Zivilistin und hatte einen Stapel Flugblätter in den Händen.

»Ich … ich … Mein Vater ist gestorben.« Yeeran hatte die Nachricht eben erst von Lettle erhalten, die auf dem Weg nach Gural war.

Yeeran hatte sich noch nie so mutlos gefühlt, so wund und vom Leben losgelöst. Ihr Vater hatte nicht immer die richtigen Entscheidungen getroffen, aber stets versucht, für sie zu sorgen, selbst wenn er deswegen zum Dieb werden musste. Sie wiederum hatte zur Waffe gegriffen und für die Armee des Abnehmenden Mondes gekämpft, um Geld nach Hause schicken zu können. Da Lettle nun auf dem Weg in die Stadt war, um sich selbst Arbeit zu suchen, sah sie sich plötzlich ihrer Aufgabe beraubt.

Salawa gab ein mitfühlendes Geräusch von sich. Sie zögerte nicht, eine Fremde zu trösten, sondern nahm Yeeran in ihre kräftigen Arme und zwang sie auf diese Weise dazu, das Messer in ihrer Tasche loszulassen – und mit ihm die schrecklichen Gedanken, die sich in ihr einzunisten drohten.

Die Flugblätter, die Salawa in den Händen gehalten hatte, fielen zu Boden, und Yeeran konnte einige Worte auf dem politischen Manifest ausmachen.

Ein Ende der Armut. Ein Ende des Krieges. Wir kämpfen für Lebensmittel und Frieden.

Die Parole war ein wenig rudimentär, und Salawa würde im Laufe der kommenden Jahre noch daran feilen. Doch in diesem Augenblick war diese Aussage alles, was Yeeran brauchte.

Unverhofft hatte sie ein neues Ziel, für das sie kämpfen konnte.

Dadurch erhielt Salawa Yeerans Loyalität. Die Liebe kam später.

Nicht einmal Lettle wusste, wie nahe Yeeran an diesem Tag davor gewesen war, unter ihrer Trauer zusammenzubrechen. Als Yeeran Salawa in diesem Moment anblickte, sah sie all die Arten, auf die das Oberhaupt sie bereits gerettet hatte.

Doch heute konnte Salawa sie nicht retten.

»Nein. Das werde ich nicht tun«, erklärte Salawa und ballte die Hände in ihrem Samtkleid zu Fäusten. Der Stoff breitete sich um ihre Füße aus wie eine blaue Pfütze. Der Saum war mit abnehmenden silbernen Monden bestickt. Yeeran sah, wie die Monde schimmerten, als Salawa zitterte.

»Was hast du denn für andere Optionen? Meinetwegen sind über dreihundert Soldatinnen und Soldaten gestorben.«

»Du hast einen Fehler gemacht.«

»Einen gewaltigen Fehler.«

Salawa sah Yeeran in die Augen und nickte traurig.

»Du darfst nicht zulassen, dass deine Gefühle für mich beeinflussen, was richtig und gerecht ist. Gesetz ist Gesetz«, stieß Yeeran hervor und presste die Lippen aufeinander. Lippen, die sie lieber auf Salawas drücken würde und mit denen sie lieber um ihr Leben flehen würde.

Doch ihr Stolz war ihr im Angesicht des nahenden Todes noch wichtiger als im Leben. Ihr Stolz war ihr Vermächtnis.

»Gesetz ist Gesetz«, flüsterte Salawa. Etwas flackerte in ihren Augen auf. Etwas Hartes und Unnachgiebiges. Sie trat zurück und setzte sich wieder auf ihren Thron. Aus dieser Position konnte sie auf Yeeran hinabblicken.

In Salawa existierten zwei Personen: das Oberhaupt und ihre Geliebte. Eine war hart, die andere sanft. In diesem Moment musste Yeeran zusehen, wie ihre Geliebte verschwand.

»Mir wurde berichtet, dass du eine Trommelträgerin verweigert hast«, sagte Salawa.

Yeeran stieß die Luft aus. »Ja.«

Salawas Miene wurde undurchdringlich. »Warum?«

Es dauerte eine Weile, bis Yeeran antwortete. Das Oberhaupt wusste, dass Yeeran mit ihrer Politik in Bezug auf Kindersoldatinnen und -soldaten nicht einverstanden war. Sie hatten sich deswegen über Wochen hinweg erbittert gestritten.

Sie fragte sich, ob Salawa diese Narbe jetzt wieder aufriss, um ihre Entschlossenheit in Bezug auf das, was sie tun musste, zu stärken.

Aber Yeeran würde nicht zulassen, dass sie sich in Bitterkeit voneinander trennten.

»Hast du meine Aussage über das Halbmondvolk gelesen, Salawa? Über die Magie, die sie anscheinend einsetzen?« Die Frage sollte Salawa ablenken, doch Yeeran merkte, dass sie die alte Wunde längst aufgekratzt hatte und ihrem Zorn freien Lauf ließ.

»Wir werden uns darum kümmern.« Geistesabwesend strich Salawa über die Perlen, die ihr in die Stirn fielen. »Die Trommelträgerin … Sie hat die Armee verlassen und ist mit der Goldmünze, die du ihr gegeben hast, weggelaufen.«

Yeeran war schon immer bewusst gewesen, dass Salawa Spione in ihre Reihen eingeschleust hatte, auch wenn sie es nie zugeben wollte.

Sie ballte die Fäuste, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen. »Das Mädchen war unterernährt. Du gibst den Kindern nicht genug zu essen.«

Yeeran bereute diese Worte, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Schließlich kämpfte Salawa seit dem Tag ihrer Thronbesteigung für Kinder wie Hana – und Lettle.

Aber war es genug? Sie verdrängte diesen Gedanken, doch es war zu spät. Salawa hatte ihn ihr bereits angesehen. Eine Art höhnisches Grinsen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.

»Das ist exakt der Grund, aus dem wir mehr Land auf dem Blutfeld erobern müssen. Wir brauchen diese Fraediaminen, um die Truppen zu ernähren.«

Salawa hatte immer gesagt, dass sie mit diesem Krieg zwei Dinge bezwecke: Sie wollte jene befreien, die von Herrschern wie dem Tyrannen mit den zwei Klingen des Halbmondvolkes unterdrückt wurden. Und sie wollte die Armut beenden.

Deshalb hatte Yeeran ihr absolute Treue geschworen.

»Aber jetzt habe ich noch eine Soldatin weniger«, fuhr Salawa fort.

Yeeran sprach nicht aus, was ihr auf der Zunge lag – dass das Mädchen im Kampf kaum einen Unterschied gemacht hätte und nur als weitere Leiche und Geierfutter geendet wäre.

Stattdessen erwiderte sie: »Es tut mir leid.« Dabei stimmte das kein bisschen.

Salawa machte ein kehliges Geräusch, das nicht wirklich ein Lachen war. »Im Krieg gibt es keine Regeln, sondern nur Kämpfende und Verlierende«, erklärte sie.

Den darauffolgenden Satz ließ sie unausgesprochen: Und heute hast du dich als Verliererin erwiesen.

Yeeran ließ schuldbewusst den Kopf hängen.

Salawa stieß einen langen Seufzer aus. »Es hat ganz den Anschein, als hättest du im Laufe der Jahre vielen geholfen. Vor den Toren meiner Wohnstätte stehen regelrechte Massen, die deinen Namen rufen und mich anflehen, dein Leben zu verschonen. Selbst eine Gruppe von Wahrsagenden hat sich in dem Versuch, deine Freiheit zu erzwingen, aneinandergekettet.«

Lettle. Yeeran kämpfte gegen ein Schluchzen an.

»Mein Vergehen erfordert meine Exekution«, wisperte Yeeran. Sie hatte ihr Schicksal akzeptiert und hoffte nun nur noch, dass sie Lettle vor ihrem Tod ein letztes Mal sehen durfte.

Salawa tippte mit ihren lackierten Fingernägeln auf den Elfenbeinthron. »Aber ich kann keinen Aufstand gebrauchen. Du bist bei der Zivilbevölkerung beliebter, als mir bewusst war … Wie viele Goldmünzen hast du ihnen im Laufe der Jahre gegeben?«

Hunderte. Tausende. Jedes bisschen Geld, das nicht an Lettle ging, bekamen die Hungrigen und Obdachlosen.

Salawas Lider flatterten, die Strenge des Oberhaupts verschwand, und die Sanftheit von Yeerans Geliebter kehrte zurück. »Komm her.«

Yeeran trat vor und kniete sich vor den Thron zu ihren Füßen. Die Magie des Obeahhorns ließ ihre Haut kribbeln und ähnelte dem Gefühl, das sie in Salawas Nähe überkam. Ihre Liebe zu Salawa war mächtig und allumfassend.

Salawa stand auf und kniete sich nun ebenfalls hin, um die Stirn an die von Yeeran zu pressen. Yeeran atmete ihren Duft ein, der nach Lavendel und einem Hauch von Metall roch, und prägte ihn sich ein, bevor sie diese Welt verlassen würde.

»Eines darfst du nie vergessen«, sagte Salawa. »Du bist das Feuer meines Herzens und der Schlag meiner Trommel. Unter dem Mondlicht bin ich die Deine, bis das Lied verstummt.«

Dann küsste sie sie lange und zärtlich. Yeeran zog sie beide auf die Beine, damit sie mit den Händen über Salawas Körper fahren und den Kuss vertiefen konnte.

Salawa löste sich früher von ihr, als Yeeran lieb war. Allerdings bekam Yeeran sowieso nie genug von ihr.

Das Oberhaupt drehte sich um und läutete eine kleine Glocke, die neben ihren bloßen Füßen auf einem Kissen lag.

»Salawa …«

Doch ihre Geliebte war wieder fort. Der Blick, mit dem sie Yeeran bedachte, war durch und durch der des Oberhaupts. Yeeran wusste in diesem Moment, dass sie das Gesicht ihrer Geliebten nie wiedersehen würde.

Der Beraterstab des Oberhaupts trat abermals ein, angeführt vom General. Viele von ihnen grinsten selbstgefällig. Yeeran war angesichts ihrer Beziehung zu Salawa schon lange von den hochrangigen Offizieren beneidet worden.

»Ich habe eine Entscheidung getroffen.« Das Oberhaupt sah Yeeran nicht an, als sie ihr Urteil verkündete. Angst breitete sich in Yeerans Magengrube aus. »Yeeran Teila wird hiermit wegen Gehorsamsverweigerung aus der Armee entlassen. Darüber hinaus muss sie für die auf dem Schlachtfeld verlorenen Seelen büßen. Sie wird ins Exil geschickt und darf die Elfenländer nie wieder betreten. Alle Völker werden per Schriftrolle darüber in Kenntnis gesetzt.«

Yeerans Knie sackten auf den Marmorboden. Exil?

Wer war sie denn ohne eine Armee und ohne ihr Volk überhaupt noch?

Dieses Urteil war schlimmer als der Tod.

5Lettle

»Schwester, Freundin, Verbündete, Nachbarin. Lasst Kommandantin Yeeran Teila frei! Schwester, Freundin, Verbündete, Nachbarin. Lasst Kommandantin Yeeran Teila frei!«, rief Lettle zusammen mit dem Rest der versammelten Elfen.

Der Protest gegen Yeerans Verhaftung hatte schon vor Lettles Eintreffen angefangen. Ihre Schwester war in der Gemeinde sehr beliebt, da sie sich im Laufe als überaus großzügig erwiesen, ihren Wohlstand und Einfluss eingesetzt und alle unterstützt hatte, die es brauchten.

Doch je größer die Menge wurde, desto mehr Truppen trafen ein. Als sie versuchten, die Leute zu vertreiben, wurde Lettle bewusst, dass sie mehr tun musste, um die Aufmerksamkeit des Oberhauptes zu erregen. Daher kettete sie sich an die Palastmauern.

Und ich gehe hier erst weg, wenn sie meine Schwester freigelassen haben.

Lettle hatte nicht damit gerechnet, dass ihr die anderen Wahrsagenden Gurals zur Seite stehen würden. Es waren insgesamt zwanzig. Schamanin Namana hatte sich ihr als Erste angeschlossen und neben sie angekettet. Lettle freute sich sehr darüber. Als Schamanin war Namana die Anführerin aller Wahrsagenden in Gural, und sie hatte Lettle alles beigebracht, was sie wissen musste, um eines Tages ihre Nachfolge antreten zu können. Ihre Ruhe und Kraft halfen Lettle dabei, angesichts des Undenkbaren – dass Yeeran hingerichtet würde – trotzdem die Nerven zu behalten.

Lettle ließ ihre Ketten am Tor rasseln, um die Kakofonie noch weiter anzufeuern. Die Fesseln hatten ihr zwar schon die oberste Hautschicht abgeschürft, doch sie merkte nicht einmal, dass ihre Hände blutüberströmt waren.

Schließlich war Lettle ständige Schmerzen gewohnt. Ihr linker Arm tat an mehreren Stellen weh, an denen die Muskeln durch die Schwindpocken verkümmert waren. Auch die Beweglichkeit ihrer Schulter war stark eingeschränkt, dennoch zog sie die Ketten so energisch über die Gitterstäbe, wie sie nur konnte.

Ich lasse nicht zu, dass sie sie mir wegnehmen.

Immer mehr Soldatinnen und Soldaten umringten die Gruppe, redeten auf sie ein und hatten sich bereits die Trommeln vor die Brust geschwungen, um auf mögliche Gewaltausbrüche mit Trommelfeuer zu reagieren.

Lettles Ruf wurde von den Umstehenden übernommen und immer lauter, je mehr Elfen sich für Yeerans Freiheit einsetzten.

»Schwester, Freundin, Verbündete, Nachbarin. Lasst Kommandantin Yeeran Teila frei! Schwester, Freundin, Verbündete, Nachbarin. Lasst Kommandantin Yeeran Teila frei!«

Rechts von Lettle fing ein Mann an, mit ebenso großer Inbrunst wie sie zu schreien. Sie hätte ihn ignoriert, wäre ihr nicht seine Oberstuniform ins Auge gefallen. Das Blau hob sich wie eine alte Prellung von der Menge ab.

»Wer seid Ihr?«, wollte Lettle wissen und musterte ihn misstrauisch.

Der Mann drehte sich zu ihr um und hatte die weichen Lippen bereits zum Ruf geöffnet. Er musste gute dreißig Zentimeter größer als sie sein und hatte ein markantes Kinn, auf dem sich ein Bartschatten abzeichnete. Seine Nase war leicht schief, was vermutlich von einem Kampf herrührte, und er betrachtete sie mit vor Emotionen glasigen Augen.

»Sie ist meine Kommandantin.«

Falls er geglaubt hatte, diese Antwort würde ihr ausreichen, so hatte er sich geirrt.

»Dann gebührt Eure Treue Eurer Kommandantin und nicht Eurem Oberhaupt?«

»Ich war an ihrer Seite … als wir den Rückzug antreten mussten … Es war nicht ihre Schuld. Ich habe sie sogar gedrängt, dass wir uns an der Ostfront umsehen sollten. Doch der General wollte mich nicht einmal anhören.«

Lettle konnte die in seiner Stimme mitschwingenden Schuldgefühle hören. Wenn er die Wahrheit sagte, trug er eine ebenso große Schuld an Yeerans misslicher Lage wie sie.

Suche deinen Ruhm im Osten.

Stirnrunzelnd verdrängte sie die Prophezeiung und wandte sich vom Oberst ab.

»Zerrt an den Toren! Vielleicht gelangen wir so auf den Hof!«, rief Lettle der kleinen Gruppe aus Wahrsagenden zu.

»Fester!« So langsam wurde Lettle heiser. Aber das Tor bewegte sich nicht. Es war dafür gebaut worden, Leute wie sie draußen zu halten.