Fahr wohl, kleine Alice - Sabrina Pesch - E-Book

Fahr wohl, kleine Alice E-Book

Sabrina Pesch

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Beschreibung

2010 Die 5-jährige Lisa wird in einer Szenerie gefunden, die beunruhigend an Alice im Wunderland erinnert. Ihr Vater, Andreas, wird als Täter verurteilt und in die Psychiatrie eingewiesen. Unermüdlich behauptet er, der »verrückte Hutmacher« sei der wahre Schuldige. 2023 Während der Eröffnung des Whispering Leaves, einem von Andreas' älterer Tochter Julia geführten Teehaus, verschwindet Julias 5-jährige Nichte Noelia. Das Mädchen wird später im Hinterhof des Teehauses tot aufgefunden, und der Tatort erinnert erneut an Szenen aus Alice im Wunderland. Andreas Winter, mittlerweile aus der Psychiatrie entlassen, gerät erneut in Verdacht. Unstimmigkeiten führen dazu, dass die Ermittler Kessler und Wagner sowohl den aktuellen Fall von Noelia als auch den alten Fall von Lisa Winter untersuchen müssen. Wagners Begegnung mit Julia, seiner einstigen großen Liebe, droht die Ermittlungen gefährlich zu beeinflussen. Gleichzeitig geraten seine einstigen Freunde in den Fokus der Ermittlungen, da jeder von ihnen etwas zu verbergen scheint. Kriminaldirektor Horst Wellhausen, ehemaliger Partner von Kessler, hütet ebenfalls ein Geheimnis, das mit den Morden in Verbindung steht. Der zweite Fall für das Ermittlerteam Kessler und Wagner. Titel aus der Reihe Kessler und Wagner: Band 1: In Vollendung – Vom Leben gezeichnet Band 2: Fahr wohl, kleine Alice Band 3: Tödliche Zeilen – Meinen Worten sollst du folgen Es empfiehlt sich, die Serie in der oben genannten Reihenfolge zu lesen.

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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
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Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
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Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Epilog
Danksagung

Fahr wohl, kleine Alice

Sabrina Pesch

 

 

 

Weitere Titel aus der Reihe Kessler und Wagner:

Band 1: In Vollendung – Vom Leben gezeichnet

Band 2: Fahr wohl, kleine Alice

Band 3: Tödliche Zeilen – Meinen Worten sollst du folgen

 

Es empfiehlt sich, die Serie in der oben genannten Reihenfolge zu lesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Über die Autorin:

Sabrina Pesch wurde 1984 in Düsseldorf-Heerdt geboren und absolvierte im Jahr 2018 ihr Studium der Germanistik und Wirtschaftswissenschaften an der Universität in Wuppertal. Sie ist hauptberuflich als selbstständige Fotografin tätig. „Fahr wohl, kleine Alice“ ist der zweite Roman der Autorin. In ihrem Debütroman »In Vollendung« greift sie das Thema ihrer eigenen Fotoserie »Vom Leben gezeichnet« auf, welche sich mit den Empfindungen von „unsichtbaren“ Krankheiten beschäftigt. Sabrina Pesch lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Hilden.

 

Sabrina Pesch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2023 Sabrina Pesch

Homepage: www.sabrina-pesch.de

Instagram: sabrina.pesch_autorin

Facebook: sabrina.pesch.autorin

[email protected]

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Sabrina Pesch, Niedenstraße 58, 40721 Hilden, Germany.

 

Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden.

 

Softcover: 978-3-384-04199-9

Hardcover: 978-3-384-04200-2

 

Lektorat und Korrektorat: Jessika Rinas und Mirca Brenig

Covergrafik / Hintergrund: Dreamweaverchronicle/ lillaby

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Mirca,

die einzig wahre Käthe Karess.

Ohne Dich hätte es dieses Buch in dieser Form nie gegeben.

Danke für Deine Liebe und Deine Freundschaft.

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

Spätsommer 2010

 

Die Farben des Sommers verblichen allmählich, und ein Hauch des Herbstes lag in der Luft. Es roch nach nassem Laub und welkenden Blumen, und die Abendsonne tauchte alles in ein geheimnisvolles Dämmerlicht.

Lisa Winter lehnte regungslos an einem Baum, und ihr blaues Kleid flatterte gespenstisch im schwachen Abendwind. Die bunte Schleife in ihrem Haar wirkte wie ein zarter Farbtupfer inmitten dieser Tragödie, und die Szene erinnerte an eine verstörende Version von Alice im Wunderland.

Vor ihr auf dem Boden lag eine bunte Picknickdecke mit einem Teeservice in verschiedenen Farben und Formen. Sie hielt eine der Tassen in ihrem Schoß fest mit ihren Händen umschlossen. Die Teetassen schienen stille Zeugen eines grausamen Schicksals zu sein. Auf dem Teller lagen Kekse, als wären sie von einer unheilvollen Hand platziert worden, und unter einer der Tassen ragte ein Zettel mit der Aufschrift ›trink mich‹ hervor.

Andreas Winter rannte in einem Anfall wilder Hysterie die Straße entlang. Niemand wagte, sich ihm in den Weg zu stellen. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut und Verzweiflung, seine Augen waren weit aufgerissen. Er schrie immer wieder: »Der Hutmacher hat meine Lisa getötet!« Die Leute warfen ihm besorgte Blicke zu, aber niemand wagte sich, ihn zu beruhigen oder ihm zu widersprechen.

Die Ermittler, darunter auch der leitende Kriminaldirektor Horst Wellhausen und Kriminalkommissar Frank Kessler von der Kripo Mettmann, trafen schnell am Tatort ein und fanden das Bild eines Mannes vor, der scheinbar den Verstand verloren hatte. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen seine Festnahme.

Während der Prozess gegen Andreas Winter voranschritt, wurden Zeugen gehört, die von seinem verstörenden und verwirrten Ausbruch berichteten. Der einst liebevolle Vater war nicht mehr wiederzuerkennen, und es wurde deutlich, dass er von einem dunklen Wahnsinn verschlungen wurde, der ihn fest im Griff hatte.

Die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung stritten unerbittlich darüber, ob Andreas Winter zurechnungsfähig war. Schließlich urteilte das Gericht, dass er nicht ins Gefängnis gehörte, sondern in eine geschlossene Psychiatrie, wo er beobachtet und behandelt werden sollte. Dieses Urteil sorgte für Diskussionen, doch die Richter waren überzeugt, dass es keine angemessene Strafe im Gefängnis für einen Mann gab, der so offensichtlich den Verstand verloren hatte.

Der Vorfall hallte noch lange in den Köpfen der Hildener Bevölkerung wider, und die Frage, was wirklich geschehen war, blieb unbeantwortet. Geteilte Meinungen durchzogen die Gemeinschaft. Manche glaubten, Andreas Winter habe die kleine Lisa eiskalt ermordet. Sie sahen in der Tragödie einen grausamen Akt, der von der Dunkelheit des Mannes selbst ausgelöst worden war. Andere glaubten, er habe schlichtweg den Verstand verloren und sei sich über seine Tat gar nicht im Klaren gewesen. Doch sie alle kamen überein, dass die Geschichte des Vaters, der Hutmacher habe seine Tochter ermordet, vollkommen absurd sei.

Doch egal, welcher Version man Glauben schenkte, eines stand fest: Die Welt der Winters war für immer von einer Schicht Dunkelheit und Geheimnissen überzogen, die niemals ans Licht kommen würden. In dieser vermeintlichen Wunderlandidylle lauerte eine unvorstellbare Finsternis. Die Blumen im Garten wirkten plötzlich weniger farbenfroh, und die vertrauten Wege erschienen nun wie Pfade durch ein geheimnisvolles Labyrinth, in dem die Wahrheit verborgen blieb. Die Menschen sahen den Vater mit anderen Augen, und selbst wenn die Zeit verstrich, blieb das Warum ungelöst und die Vergangenheit in einen Schleier der Dunkelheit gehüllt.

 

Kapitel 1

 

Heute

 

Erik Wagner hätte viel lieber zu Hause auf seinem Sofa gesessen, Chips geknabbert und Netflix geschaut. Stattdessen stand er in einer schummrigen Kneipe in der Nähe der Hildener Innenstadt. Frau Schlüter, die ehemalige Mathematiklehrerin, hatte das Treffen des Mathematikleistungskurses des Abiturjahrgangs von 2011 organisiert, war jedoch selbst nicht anwesend. Es stellte sich heraus, dass viele ehemalige Mitglieder dieses ohnehin nicht sehr großen Kurses abgesagt hatten. Somit war nur der harte Kern anwesend, jene Gruppe, die sowieso all die Jahre über befreundet geblieben war. Das gedämpfte Licht der rustikalen Lampen sorgte für eine gemütliche Atmosphäre. Die Kneipe gehörte einem ehemaligen Mitschüler namens Michael Stahl, der immer noch an Verschwörungstheorien glaubte und diese nun auch online verbreitete. Er nahm nicht wirklich an dem Treffen teil, da er damit beschäftigt war, die Gläser der Gäste zu füllen. Als er Erik sah, winkte er freundlich. Michael Stahl war auffallend attraktiv, mit weichen Gesichtszügen und einer schlanken Statur. In der gedämpften Atmosphäre der Kneipe wirkte er faszinierend. Erik beobachtete ihn und wurde sofort von der scheinbaren Diskrepanz zwischen seiner äußeren Schönheit und seinen geheimen Überzeugungen eingenommen.

Der Geruch von Bier und Speisen durchzog die Luft und vermischte sich mit dem Holzaroma der Einrichtung. Plötzlich blieb sein Blick jedoch an einem Paar grauer Augen hängen – Augen, die ihn schon während seiner Schulzeit fast um den Verstand gebracht hatten. Diese Augen gehörten Julia Winter, die ihn einst verletzt und seine Jugendträume zerstört hatte. Seit sie derzeit mit ihm Schluss gemacht hatte, waren so viele Jahre vergangen, ohne dass ein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde. Seine Unfähigkeit, Mitgefühl für sie zu empfinden, als ihre Schwester ermordet wurde, nagte an ihm. Welch unreifes Arschloch er doch damals gewesen war. Kurz darauf kam sie mit Felix zusammen.

Ein Klopfen auf seiner Schulter holte ihn zurück in die Gegenwart.

»Na, sieh mal einer an, der Herr Wachtmeister gesellt sich endlich dazu!«, schallte die unverkennbare Stimme, und Erinnerungsfetzen tauchten erneut in Eriks Gedanken auf. Es war Christian, ihr Zwillingsbruder. Derjenige, der ihn einst misshandelte, einfach so, weil er konnte und weil er nicht wollte, dass seine Schwester mit einem Jungen ausging, der – jedenfalls damals – einen halben Kopf kleiner war als sie. Erik erinnerte sich, wie Christian ihm damals die Nase gebrochen hatte, und wie er sich in diesem Moment schwach und hilflos gefühlt hatte. Das war der Auslöser dafür, dass er sich in einem Boxclub einschrieb, um sich verteidigen zu können, sollte noch einmal jemand versuchen, ihn zu schikanieren.

Der kräftige, dunkelhaarige Koloss lachte herzlich und meinte: »Es wurde auch höchste Zeit, dass du auftauchst; die anderen sind schon längst hier.« Er geleitete Erik zur Gruppe der Ehemaligen, die in lebhafter Unterhaltung vertieft waren.

Erik setzte sich neben Sonja, einer schlanken Brünetten mit strahlenden Augen und langen, gewellten Haaren. Sie, Anna und Julia waren seit der 5. Klasse die allerbesten Freundinnen und unzertrennlich. Schweigend beobachtete er das bunte Treiben um sich herum.

Jede von ihnen schien sich einen der Jungs aus Christians »Gang« geschnappt zu haben. Christian war mit Anna verheiratet. Während Anna in Teilzeit in einem Supermarkt arbeitete, war Christian inzwischen Meister in einer Fahrzeuglackiererei. Sie war noch immer genauso klein und zierlich wie damals. Trotz ihrer einunddreißig Jahre strahlte sie eine gewisse kindliche Aura aus, als wäre sie überhaupt nicht gealtert. Sonja und Rafael waren seit Jahren liiert, hatten jedoch erst kürzlich geheiratet. Für ihn war die Ehe nur ein veraltetes Überbleibsel aus dem Mittelalter, das nichts mit Liebe zu tun hatte. Sonja hatte es schließlich geschafft, ihn zum Traualtar zu bewegen. Rafael, der damals mit leichtem Übergewicht und Hautunreinheiten zu kämpfen hatte, war inzwischen ein sportlicher Mann mit einem freundlichen Lächeln.

Julia hatte jahrelang als Restauratorin gearbeitet, kündigte aber vor über einem Jahr, um sich einem großen Projekt zu widmen. Mehr verstand Erik aus den Gesprächsfetzen nicht, da sie zu weit von ihm entfernt saß. Sie war nach wie vor mit Felix zusammen und inzwischen sogar mit ihm verheiratet. Sein Gesicht behielt seine markante Schlankheit, jedoch strahlte es nun düster und geheimnisvoll. Sein braunes Haar war sorgfältig nach hinten gekämmt und wirkte perfekt gestylt. Seine Augen hatten eine hypnotische Intensität, und seine Augenbrauen waren scharf definiert, als würde er auf jedes kleine Detail seines Äußeren achten. Kein Wunder, dass Julia nicht von ihm lassen konnte. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass er als Investmentbanker in Düsseldorf unendlich viel Kohle scheffelte.

Aus den Gesprächen am Tisch konnte Erik vernehmen, dass sowohl Christian und Anna als auch Rafael und Sonja jeweils eine Tochter im Kindergartenalter hatten. Sonja arbeitete bei der Stadt Hilden als Verwaltungswirtin. Schräg gegenüber von ihm saß Esther, sie hatte lange, schwarze Haare und trug auffällige Kleidung. Von all seinen Mitschülern war Esther diejenige, die er am wenigsten leiden konnte. Niemand verbreitete Gerüchte so schnell wie sie. Immerhin hatte sie ihr Hobby zum Beruf gemacht und arbeitete inzwischen als freiberufliche Bloggerin, wo sie den neuesten Tratsch rund um Hilden veröffentlichte, und das auch noch verdammt erfolgreich. Sie betonte mehrfach, dass sie ihr Journalismus-Studium als eine der Besten ihres Jahrgangs abgeschlossen hatte und schon für viele hochrangige Zeitungen geschrieben hatte.

Die meisten hatten sich äußerlich verändert, die Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen, doch die Freundschaft zwischen ihnen schien nach wie vor zu bestehen.

Erik fragte sich abermals, wieso er sich den ganzen Zirkus überhaupt antat. Doch je mehr Alkohol floss und die Stimmung lockerer wurde, desto froher war er, dass er sich dazu durchgerungen hatte zu kommen. Es wurde gelacht, Erinnerungen wurden ausgetauscht und Christian entschuldigte sich sogar für die gebrochene Nase. Erik hatte in dieser heiteren Runde gar nicht bemerkt, dass Julia schon eine ganze Weile auf dem Stuhl ihm gegenüber saß und ihn anstarrte. Schließlich trafen sich ihre Blicke, und ein unangenehmes Gefühl breitete sich sogleich in seiner Magengegend aus.

Nervös spielte sie mit den Fingern in ihren langen, blonden Locken und warf immer wieder flüchtig einen Blick hinüber zu ihrem Ehemann. Erik sah ihm an, dass er nicht begeistert davon war, dass Julia nun, nach all den Jahren, den Kontakt zu ihm suchte. War das wirklich ein Anflug von Eifersucht? Nach so vielen Jahren? Natürlich war das Blödsinn. Felix konnte Erik schlicht und ergreifend nicht leiden. Eine andere Erklärung gab es für ihn nicht. Schon damals waren die beiden absolut nicht miteinander ausgekommen. »Hey«, begann Julia zögerlich und leicht lallend. »Ich freu’ mich wirklich, dass du gekommen bist. Ich hab’ damit echt nicht gerechnet. Ich wollt’ dir nur sagen, übermorgen eröffne ich auf der Schwanenstraße, direkt unter unserer Wohnung, mein eigenes Teehaus. Ich nenne es Whispering Leaves. Vielleicht hast du ja Lust, zur Eröffnung zu kommen.« Sie betete diese Einladung runter wie eine Einkaufsliste, und ohne auf seine Antwort zu warten, stand sie auf und setzte sich zurück zu Felix, der Erik einen zornigen Blick zuwarf. Erik hätte fast darauf gewettet, dass er ein leichtes Kopfschütteln wahrnahm. Er zückte sein Handy, um den Termin für die Eröffnung des Ladens zu speichern, obwohl er noch unsicher war, ob er überhaupt hingehen würde. Doch irgendetwas in ihm ließ ihn zögern, als wäre es eine Einladung, die er nicht ignorieren sollte. Dann dämmerte es ihm: Übermorgen, am Tag der Eröffnung, würde Lisas dreizehnter Todestag sein.

Kapitel 2

»Sind Sie absolut sicher, dass wir das verantworten können, Dr. Mendez?«, fragte Professor Dr. Siebert und sah sie über den Rahmen seiner dickglasigen Brille ernst an. »Ich habe Ihr Gutachten gelesen und es scheint wirklich so, dass der Patient in der Lage ist, draußen zurechtzukommen, ohne rückfällig zu werden. Dennoch sagt mir mein Bauchgefühl, dass es nicht richtig ist. Dieser Mann hat seine Tochter nicht nur ermordet, nein, er hat sie zuvor auch noch vergewaltigt. Moralisch empfinde ich seine Entlassung als äußerst fahrlässig.«

Dr. Frieda Mendez lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schlug ihre langen, braungebrannten Beine übereinander und wägte ihre Worte sorgfältig ab. Sie versuchte, den Bedenken von Professor Dr. Siebert im richtigen Maß zu begegnen.

»Ich behandle Herrn Winter seit fast sieben Jahren. In dieser Zeit hat er Strategien entwickelt, um potenzielle Risikosituationen zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Er hat sich sowohl in den Gruppensitzungen als auch in den Einzelgesprächen stets kooperativ gezeigt und einen stabilen Eindruck hinterlassen. Er hat seine Schuld eingestanden und bereut seine Tat aufrichtig. Ebenfalls hat er schon vor vielen Jahren eingesehen, dass ›der Hutmacher‹ nur in seiner Vorstellung existiert hat, weil er die Tatsache, dass er seine Tochter ermordet hat, vor sich selbst geleugnet hat. Die Möglichkeit, Herrn Winter zu entlassen, könnte ihm die Gelegenheit geben, sich erfolgreich in die Gesellschaft zu reintegrieren. Seine positiven Fortschritte und seine persönliche Entwicklung zeigen, dass er motiviert ist, sich zu bessern. Dies könnte auch anderen Insassen als ermutigendes Beispiel dienen. Angesichts der Herausforderungen in psychiatrischen Einrichtungen wie Überbelegung und begrenzte Ressourcen könnte die Entlassung von als rehabilitiert geltenden Patienten dazu beitragen, das System zu entlasten und Raum für schwerwiegendere Fälle zu schaffen. Es ist wichtig, zu betonen, dass Herr Winter nach seiner Entlassung weiterhin regelmäßige Nachsorgetermine und Therapiesitzungen besuchen wird, um seine Fortschritte aufrechtzuerhalten und auf potenzielle Rückfallrisiken angemessen reagieren zu können. Er hat die strikte Auflage, sich von Kindern, insbesondere Spielplätzen, Schulen und Kindergärten fernzuhalten. Außerdem ist für seine Unterkunft und eine kontinuierliche Erreichbarkeit ebenfalls gesorgt.« Dr. Mendez beendete ihre Erklärungen und sah Professor Dr. Siebert mit ruhigem Blick an, in der Hoffnung, dass ihre Darlegungen die Nuancen dieser komplexen Situation verdeutlichten. Sie verschwieg jedoch, dass sie nicht gänzlich von der Schuld von Andreas Winter überzeugt war.

»All diese Ausführungen habe ich natürlich auch in Ihrem Bericht gelesen.« Er schloss die Augen und atmete tief durch. »Wie dem auch sei, fachlich habe ich nichts gegen seine Entlassung hervorzubringen. Ich hoffe nur, dass wir hier keinen Fehler machen. Die Papiere habe ich bereits unterzeichnet, ab morgen ist Herr Winter ein freier Mann.«

Kapitel 3

Trotz sorgfältigster Vorbereitung nagte die Nervosität an Julia. Sie schritt bedächtig durch die verlassenen Gänge des noch verschlossenen Whispering Leaves, um sicherzugehen, dass nichts übersehen worden war. Alles schien perfekt zu sein. Ein tiefer Atemzug erfüllte ihre Lungen, als sie auf ihr Lebenswerk blickte. Sie betrachtete die Möbel und Wände, die sie selbst gestrichen und lackiert hatte. Lisa hätte es zweifelsohne gefallen. Märchen hatten die beiden schon immer miteinander verbunden, obwohl Lisa so viel jünger war als Julia. Sie erinnerte sich an die Abende, als sie ihrer kleinen Schwester vorlas, bis diese sanft entschlummerte. Sie war das Strahlen in ihrem Leben gewesen, und ihre Liebe für sie übertraf alles andere auf dieser Welt. Sie dachte daran, wie sie gemeinsam mit Lisa im Garten gezeltet hatte, fest aneinander gekuschelt, bis in den Morgengrauen. Nur für ihre kleine Schwester hatten Christian und sie tagelang Backrezepte studiert, um für Lisa den perfekten Kuchen zu backen. Am Ende sah dieser Kuchen aus, wie die Grinsekatze, nachdem sie von einem Auto überrollt wurde. Ihr Vater hatte sie und ihren Bruder noch tagelang damit aufgezogen. Sie wünschte sich diese Zeiten zurück, damals, als noch alles so viel einfacher gewesen ist. Plötzlich wurden die friedlichen Erinnerungen von grausamen Bildern überschattet: Lisa leblos unter dem Baum im heimischen Garten. Sie zwang sich, die Augen zu schließen, und begann langsam bis zehn zu zählen, um diesen Albtraum zu vertreiben. Als sie bei sieben angelangt war, durchbrach das Klingeln ihres Smartphones ihre Anstrengungen. Ein Blick auf das Display verriet ihr, dass Anna anrief.

»Hey Süße! Na, bist du schon aufgeregt? Morgen ist dein großer Tag, und ich kann es kaum erwarten, bei der Eröffnung dabei zu sein. Ich freue mich so unheimlich für dich. Du hast das ganze letzte Jahr so unglaublich hart an deinem Traum gearbeitet. Noelia ist auch total aus dem Häuschen, weil sie den ganzen Abend als Prinzessin verbringen darf«, sprudelte Anna vor Begeisterung, und es war offensichtlich, wie sehr sie sich für ihre Freundin freute.

»Hey du«, antwortete Julia müde, die Erinnerung an ihre Schwester hatte sie vollkommen aus der Bahn geworfen. »Natürlich bin ich aufgeregt, aber gerade, als ich nochmal alles durchgehen wollte, überkam mich die Erinnerung an Lisa, also an den Tag, an dem sie gestorben ist. Ich habe mich so wahnsinnig auf die Eröffnung gefreut, aber jetzt habe ich Angst, dass ich es nicht schaffe.«

»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Julia Klötzer, du hörst mir jetzt ganz genau zu: Du gehörst zu den stärksten Menschen, die ich kenne. Du wirst den Shit so hart rocken, dass die Leute im ganzen Kreis Mettmann sich davon erzählen werden. Ich glaube an dich, und ich weiß, dass du im Grunde genommen auch an dich glaubst. Du hast vermutlich nur etwas Lampenfieber. Und ja, natürlich hängt das auch mit dem Tag zusammen, den du gewählt hast. Aber glaub’ mir, Lisa hätte das, was du da auf die Beine stellst, richtig krass gefeiert.« Anna versuchte, Julia mit all ihrer Energie zu stärken, und ihre Worte klangen wie eine Hymne der Zuversicht.

Julia spürte, wie das Gespräch mit Anna langsam aber sicher die Dunkelheit vertrieb, die sich um sie gelegt hatte. Ein zögerliches Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie sagte leise: »Danke, Anna. Ich denke, Lisa würde wollen, dass ich meinen Traum lebe und die Eröffnung zu einem Erfolg mache.«

Anna erwiderte entschlossen: »Genau, Julia. Lisa wird in gewisser Weise bei der Eröffnung dabei sein, und sie wird stolz auf dich sein. Du hast so hart dafür gearbeitet, und du hast so viele Menschen inspiriert. Du wirst sehen, alles wird großartig laufen.«

Julia nickte, obwohl sie wusste, dass Anna das am Telefon ohnehin nicht sehen konnte, und spürte neue Energie in sich aufkommen. »Du hast recht, Anna. Ich darf nicht zulassen, dass die Angst gewinnt. Ich werde mein Bestes geben, versprochen. Außerdem sind meine beiden Seelenschwestern ja auch noch da, wenn es morgen losgeht.«

»Natürlich sind wir das! Und vergiss nicht Felix! Der ist ja auch noch da.«

»Nun, die Sache mit Felix ist etwas kompliziert. Er ist immer noch gegen die Eröffnung, da er befürchtet, dass es mir langfristig schaden könnte. Das war schon immer seine Art – er mied Risiken und wählte stets den bequemsten Weg. Ich glaube, Felix hatte selbst noch nie einen wirklich großen Traum. Zu allem Überfluss ist er, seitdem wir wissen, dass Papa entlassen wird, sehr angespannt. Natürlich war er dagegen, dass Papa vorübergehend zu uns zieht, da die Leute ja reden könnten. Aber wir haben einfach mehr Platz als ihr. Obendrein darf sich Papa ohnehin noch keinem Kind nähern. Das gehört zu seinen Auflagen.«

Julia wählte ihre Worte mit Bedacht. Obwohl Anna immer betont hatte, dass sie nicht daran glaubte, dass Andreas Winter seine Tochter ermordet hatte, wusste Julia aus eigener Erfahrung, dass das, was Menschen sagen, und das, was sie denken, oft voneinander abweichen.

»Und wir sind euch furchtbar dankbar, dass ihr euch trotz des ganzen Trubels auch noch um euren Vater kümmert. Wirklich. Und warte erstmal ab. Felix wird sich schon wieder beruhigen. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Und sobald das Whispering Leaves läuft, wird er sehen, dass das die beste Idee war, die du je hattest. Aber mal was anderes: Habe ich das gestern Abend richtig verstanden, dass du Erik auch zur Eröffnung eingeladen hast?« Sie konnte ihre Neugier nicht verbergen. Damals, als Julia und Erik für einen Sommer zusammen waren, dachte sie, die beiden würden gemeinsam alt werden, weil es einfach kein Paar an der Schule gab, das süßer zusammenpasste. Aber sie wusste auch, dass sie die Erinnerungen an die Schulzeiten oft romantisierte.

»Ja, ich hoffe, er kommt. Es würde mich wirklich wahnsinnig freuen. Und nein, da ist nichts mehr zwischen mir und ihm, den Zahn kann ich dir gleich ziehen. Es ist eher so, dass ich immer noch ein schlechtes Gewissen habe, wie ich damals mit ihm Schluss gemacht habe. Dumm, oder?« Julia seufzte.

»Ach komm, wetten, dass er sich daran gar nicht mehr erinnert? Jungs vergessen solche Dinge viel schneller, während wir Mädels uns bis ans Sterbebett den Kopf über Belanglosigkeiten zerbrechen.«

Beide Frauen lachten herzlich. Dann sagte Anna: »Ich sollte jetzt langsam los, Noelia muss in den Kindergarten. Wir sehen uns spätestens morgen bei der Eröffnung. Lieb’ dich.«

»Lieb’ dich auch! Gib’ ihr einen dicken Kuss von mir.«

Die Worte blieben in der Luft hängen, und endlich spürte sie, wie sie sich innerlich entspannte. Die leeren Gänge des Whispering Leaves dehnten sich vor ihr aus, und in diesem Moment spürte sie, dass alles großartig laufen würde. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie die kleine Noelia durch die Gänge streifen und die Gäste mit ihrem Charme verzaubern würde. Ja, dachte sie und begann zu lächeln, der Tag würde definitiv großartig werden.

Kapitel 4

Erik Wagner betrat das Whispering Leaves, Julias Teehaus, mit gemischten Gefühlen. Ein Hauch von Märchen lag in der Luft, verstärkt durch kunstvolle Beleuchtung, die eine geheimnisvolle Stimmung schuf. Die bequemen Vorhänge und Polstermöbel vermittelten einladende Gemütlichkeit, während die Tische mit kreativen, märchenhaften Dekorationen geschmückt waren. Zwischen den verschiedenen Teesorten standen Zwergen- und Feenfiguren, und ein eindrucksvolles Bücherregal voller Märchenbücher zog Eriks Aufmerksamkeit auf sich.

Der Duft von Tee und frischem Gebäck vermischte sich mit dem Aroma von Blumen, Glockenklingen verbreiteten eine besondere Stimmung. Erik konnte nicht abstreiten, dass ihn die Aufmachung des Teehauses faszinierte. Selten hatte er einen Laden betreten, in dem so viel Liebe fürs Detail steckte. Doch eine undurchdringliche Erinnerung lag in der Luft. Die Verbindung zu Lisa Winter schwebte wie ein Schatten über dem Ort. Eriks ungutes Gefühl verstärkte sich, als er ein kleines blondes Mädchen in einem Prinzessinnen-Kostüm hinter einem Vorhang durch eine Tür in den Hinterhof des Teehauses rennen sah. Ein Schild vor dem Durchgang verkündete ›Kein Durchgang für Gäste‹. Das musste Noelia, die Tochter von Christian und Anna, gewesen sein. Christian hatte ihm ein Foto des Mädchens auf seinem Smartphone gezeigt. Er erinnerte sich, dass Anna erwähnt hatte, dass Noelia vor Kurzem fünf geworden war.

Eriks Augen spiegelten Neugier und Nostalgie wider, während er sich von der Atmosphäre einfangen ließ. Einige Teilnehmer des Klassentreffens hatten sich ebenfalls eingefunden. Die Gesichter von Sonja, Christian, Rafael und Anna schienen aus den Märchenfiguren hervorzuschauen. Lachen und Gekicher drangen in Eriks Ohren, als er sich daran erinnerte, wie betrunken sie alle gewesen waren, als der Abend sich dem Ende zugeneigt hatte. Julia war an einem langen Tisch beschäftigt, verschiedene Teesorten aufzubauen. Felix saß völlig unbeeindruckt daneben. Esther geisterte mit einem Notizblock durch den Laden und notierte sich hin und wieder etwas. Vermutlich suchte sie nach Neuigkeiten für ihren Blog. Die Anwesenheit seiner Mitschüler in dieser Kulisse brachte eine seltsame Intensität mit sich, die Erik unruhig werden ließ. In diesem Ambiente verschmolzen Vergangenheit und Gegenwart auf geheimnisvolle Weise. Während sich das Whispering Leaves füllte, hörte Erik eine vertraute Stimme sagen: »Ach nee, du auch hier? Wieso kann ich nicht mal in meiner Freizeit Ruhe vor dir haben?« Sein Kollege Hauptkommissar Frank Kessler war neben ihm aufgetaucht und schaute sich fasziniert um. Die beiden arbeiteten seit etwas über zwei Jahren zusammen. In dieser kitschigen Umgebung wirkte der sechsundfünfzigjährige, kräftige Mann mit seinem leicht ergrauten Haar und attraktivem, sonnengebräunten Teint vollkommen fehl am Platz.

»Oh Frank, wie es scheint, führt das Schicksal uns immer wieder zusammen. Ich hätte nicht gedacht, dich an so einem kitschigen Ort zu treffen.«

»Das Gleiche kann ich wohl auch von dir behaupten. Was treibt dich denn hierher? Soweit ich weiß, besteht dein Wesen lediglich aus Sarkasmus und Psychopathenkaffee. Ich kann mich nicht daran erinnern, dich auch nur ein einziges Mal Tee trinken gesehen zu haben.«

»Das ist durchaus richtig, aber Julia«, er deutete mit dem Zeigefinger zu dem Tisch, an dem sie gerade damit beschäftigt war, die letzten Teesorten zu arrangieren, »hat mich eingeladen. Wir sind zusammen zur Schule gegangen und uns vorgestern bei einem Klassentreffen wieder über den Weg gelaufen. Eigentlich habe ich ja nichts für solchen Kitsch übrig. Meine Mutter wäre allerdings total aus dem Häuschen. Dennoch wollte ich es mir nicht nehmen lassen, und mir das Ganze mal ansehen. Sowas sieht man ja in Hilden nicht alle Tage. Julia hat sich ganz schön Mühe gegeben. Und wieso bist du hier?«

»Das ist Julia Winter, oder? Tragisch, was dieser Familie zugestoßen ist. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie wir ihren Vater festgenommen haben … von der kleinen Lisa fang’ ich gar nicht erst an. Den Film Alice im Wunderland konnte ich seitdem nicht mehr sehen.« Er schüttelte heftig mit dem Kopf, um die Bilder aus der Vergangenheit zu vertreiben. »Was mich angeht, bin ich einfach abgehauen. Lottie – oder Charlotte, wie sie jetzt genannt werden möchte, da sie ja inzwischen fast erwachsen ist – will ihre Ruhe haben. Hat ’nen Freund namens Alessio«, dabei betonte er den Namen des Jungen, als wäre er eine ansteckende Krankheit. »Ehrlich gesagt, der Kerl geht mir gewaltig auf die Nerven. Drei Jahre älter als Charlotte, pflastert seinen Körper mit Tätowierungen zu, trägt diese prolligen Goldkettchen und braust ständig mit so ’nem E-Scooter herum.«

»Aha, Alessio«, Erik grinste und presste die Lippen aufeinander.

»Sag’ jetzt ausnahmsweise mal nichts! Jedes Mal, wenn ich den Kerl sehe, bekomme ich ein ganz seltsames Kribbeln in meiner Faust«, erwiderte Frank genervt und deutete auf seine rechte Hand. »Jedenfalls dachte ich, hier könnte ich vielleicht ein hübsches Geschenk für Constanze finden.«

Dr. Constanze Levit war die interne Psychologin der Kripo. Nach dem Tod von Kesslers Ehefrau hatten die beiden eine kurze Liaison; gingen sich aber, nachdem sie diese beendet hatten, aus dem Weg, bis sie aufgrund der Zusammenarbeit an einem Fall zu Beginn des Jahres wieder zueinandergefunden hatten.

»Du weißt aber schon, dass du den Tabakladen auf der Mittelstraße findest, oder?«, stichelte Wagner, da Dr. Levit eine leidenschaftliche Kettenraucherin war.

»Sie gewöhnt sich das Rauchen gerade ab. Noch ein Grund, wieso ich schnell von zu Hause wegmusste! Die Frau ist derzeit so aggressiv, dass ich Angst habe, als Nächstes in der Leichenhalle zu landen«, sagte er und war dankbar, als ihre Unterhaltung von einem lauten Glockenklang unterbrochen wurde.

»Herzlich willkommen, liebe Gäste«, begann Julia mit einer freundlichen Stimme. »Im Whispering Leaves erlebt ihr eine besondere Verschmelzung von Märchen und Teesorten. Meine Inspiration waren Geschichten wie Alice im Wunderland und die Märchen der Gebrüder Grimm. Jeder Raum erzählt seine eigene Geschichte und nimmt euch mit auf eine faszinierende Reise. Das Whispering Leaves lädt dazu ein, Erinnerungen zu teilen und in eine wunderbare Märchenwelt einzutauchen.«

Ihr Blick schweifte zu einem gemütlichen Regal mit Märchenbüchern. »Vergesst nicht, hier könnt ihr in Büchern wie Grimms Märchen und Alice im Wunderland stöbern. Wir haben sogar ein kleines Ankleidezimmer eingerichtet, in dem alle, die Spaß am Verkleiden haben, in die Rollen von Prinzen, Prinzessinnen, Hexen, Zauberern oder den Figuren aus Alice im Wunderland schlüpfen können.«

Lächelnd setzte sie den Schlusspunkt. »Dieses Teehaus habe ich bewusst so gestaltet, um meiner geliebten Schwester Lisa zu gedenken, die vor dreizehn Jahren viel zu früh aus unserer Welt gerissen wurde. Lasst uns heute gemeinsam an sie denken und ihre Erinnerung in diesem besonderen Ort am Leben erhalten.« Sie blinzelte ein paar Tränen weg und ihre Worte hingen in der Luft, während die Gäste sich auf die bevorstehende Erfahrung einließen, berührt von Julias aufrichtiger Begrüßungsrede.

Im Teehaus herrschte reges Treiben. Die Gäste unterhielten sich lebhaft und bewunderten die zauberhafte Einrichtung. Die Zeit verging wie im Flug, und es dämmerte bereits, während die Gäste sich von Tasse zu Tasse und von Geschichte zu Geschichte bewegten. Das Teehaus war erfüllt von Lachen, Gesprächen über vergangene Zeiten und einem Hauch von Nostalgie. Erik verfolgte Julias Bewegungen aus der Ferne. Kessler hatte ihn zwar immer wieder abgelenkt, und die Räumlichkeiten waren zwischenzeitlich so überfüllt, dass es schwierig war, sie im Blick zu haben, aber nun fand er endlich einen ruhigen Moment. Julia erteilte gerade Anweisungen an eine Angestellte. Tassen mussten gereinigt und neu ausgeteilt werden, und einige Teesorten mussten aufgefüllt werden. Sie war nach wie vor so schön wie damals. Den Gedanken daran, wie es wohl heute zwischen ihnen wäre, wenn sie nicht Schluss gemacht hätte, zwang er sich jedoch beiseitezuschieben.

Annas besorgtes Rufen durchbrach aus heiterem Himmel die ausgelassene Stimmung. Sie rannte aufgebracht durch das Teehaus, ihre Augen voller Panik. »Noelia? Wo zum Teufel bist du?« Ihre Worte klangen verzweifelt, die anderen Gäste wurden augenblicklich ernst. »Anna, beruhige dich. Vielleicht versteckt sie sich hier irgendwo. Du weißt doch, wie gerne sie das tut«, versuchte Sonja zu beschwichtigen und trat zu ihr.

Die Unruhe wuchs, als Noelia nirgendwo gefunden werden konnte. Die Atmosphäre veränderte sich von fröhlich zu beklemmend.

»Im Märchenzimmer ist sie auch nicht. Ich hab’ auch zwischen den Kostümen gesucht, aber auch dort konnte ich sie nicht entdecken«, sagte Christian, der gerade aus einem der Nebenräume kam und seine Anna umgehend fest an sich drückte.

Inmitten der besorgten Gesichter bemerkte Erik die offen stehende Tür, die in den ruhigen Hinterhof des Teehauses führte, durch die er noch vor wenigen Stunden das Mädchen hatte verschwinden sehen. Der Vorhang war zur Seite gezogen worden und wehte nun unheilvoll in den Raum hinein. Ein kalter Schauer lief allen über den Rücken, als sie hinausgingen und die verstörende Szene erblickten: Noelia saß regungslos an einem Baum, die Augen geschlossen, als würde sie schlafen. Ihre Hände umschlossen eine kleine Teetasse, die in ihrem Schoß ruhte. Der Anblick erinnerte an den grausamen Mord an Lisa Winter.

Ein Entsetzen erfüllte die Luft, als die Gäste die erschütternde Szene im Hinterhof verarbeiteten. In diesem schrecklichen Augenblick erkannten diejenigen, die sich an das Ereignis von damals erinnerten, die unheimlichen Parallelen zur Vergangenheit – eine verstörende Wiederholung der einstigen Tragödie. Doch während sie in die Vergangenheit blickten, bemerkte niemand, dass draußen an der Fensterscheibe ein Mann stand. Andreas Winter starrte mit leerem Blick ins Innere des Teehauses.

Kapitel 5

Ihr Anblick traf mich wie ein funkelnder Blitz. Sie duftete wie eine Mischung aus Blumen, Erdbeershampoo und einem Hauch von süßem Tee. Als ihr blondes Haar meine Hand berührte, spürte ich, wie etwas Magisches in der Luft lag. Doch gleichzeitig tobte ein innerer Kampf in mir. Ich wusste, dass die Menschen meine Gefühle niemals verstehen würden, aber sie waren da, hartnäckig und unauslöschlich. Jahrelang hatte ich versucht, mich gegen sie zu wehren, sie zu verdrängen, doch hier waren sie nun, stärker als je zuvor. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, als ich mich zu ihr neigte. Ich reichte ihr eine Tasse des verzauberten Tees, den ich aus dem Wunderland gebracht hatte, und sie nahm sie dankbar an, trank ihn in hastigen Zügen aus. Ich nahm ihre Hand und führte sie heimlich in meinen verborgenen Kaninchenbau. Dort zog ich sie an mich und spürte ihre sanfte Wärme, als würde ich einen verbotenen Schatz berühren.

Jeder Augenblick schien wie eine Reise durch ein verworrenes Netz von Gefühlen, die mich zwischen kindlicher Begeisterung und erwachsener Leidenschaft hin- und herzogen. Aufgeregt schob ich meine Hand, umhüllt von zarten Handschuhen, unter ihren Rock und berührte ihren geheimnisvollen Garten.

Unsere Welt wurde zu einem entlegenen Ort, weit weg von der Vernunft. Während die Bewohner des Wunderlands ihre Teeparty genossen, erlebten wir unsere eigene, als ich eine weitere Tasse Tee an ihre Lippen führte. Die Intensität meiner Zuneigung zu ihr war überwältigend, meine Gefühle stürzten auf sie nieder wie ein leidenschaftlicher Sturm, und es schien, als erwiderte sie diese auf ähnliche Weise – ein wundervoller Traum, den wir gemeinsam träumten. Ein Funkeln in ihren Augen verriet, dass auch sie diesen Moment der Romantik genoss.

Tränen der Freude schimmerten auf ihren Wangen und enthüllten die Magie dieses Augenblicks. Ich umfing sie fest in meinen Armen: Alice und ihr geliebter Hutmacher, für einen flüchtigen Moment vereint. Mit einem leidenschaftlichen Lächeln drückte ich ihr Gesicht an meine Brust, um ihren freudigen Aufschrei zu ersticken. Und so verweilten wir, während die Zeit auf zauberhafte Weise dahinglitt, und wir uns hingaben, bis sie in einen romantischen Schlummer fiel. Ich ließ sie eine Weile im Kaninchenbau ruhen, in der Hoffnung, dass das weiße Kaninchen kommen und sie in das Wunderland führen würde. Doch als ich später nach ihr sah, lag sie immer noch hier. Vermutlich war dieser Ort nicht geeignet, vielleicht scheute das weiße Kaninchen auch die anderen Gäste der Teeparty. Sanft hob ich sie in meine Arme, brachte sie zurück in den Zaubergarten und lehnte sie behutsam an einen Baum, bewahrend eine unvergessliche Erinnerung.

---ENDE DER LESEPROBE---