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“Man trägt die Revolution nicht auf den Lippen, um davon zu reden, sondern im Herzen, um dafür zu sterben.” 2049: Deutschland ist auf dem Weg in eine grüne, saubere Zukunft - oder in eine Ökodiktatur. Je nachdem, wen man fragt. Ein Jahr nach dem Tod von Elons Schwester ist da noch immer diese Mischung aus Trauer und Wut. Elon hat keinen Bock mehr auf die Schule, seinen ehemaligen besten Freund, und das ganze System. Er bringt seinen Alltag möglichst schnell hinter sich und spielt so oft wie möglich allein Gitarre... bis er June kennenlernt. Sie ist mutig, selbstbewusst und nimmt Elon mit zu politischen Veranstaltungen, bei denen die Leute dieselbe Wut in sich haben wie Elon selbst. Diese Menschen sind offen und cool – und glauben, dass Gesetze etwas für Feiglinge sind. Schnell ist Elon bei geheimen Treffen, Demos und kleineren Diebestouren dabei. Er gerät in den Sog der rechtsalternativen Gruppe, die für eine andere Gesellschaft kämpft... Eine Geschichte über Radikalisierung und Liebe.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Fahrtwind
Impressum:
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© 2024 Roxane Dorchas
Friedländerweg 48, 37085 Göttingen
Instagram: roxane.dorchas_autorin
Für die Wütenden
Heute
Im Nachhinein hätte Elon nicht mehr sagen können, wo es begann. Wo der Moment, an dem die Steine ins Rollen - oder ins Fliegen - kamen und die Geschehnisse unausweichlich wurden. Vielleicht war es ihre erste Begegnung an jenem kalten Oktoberabend gewesen, vielleicht auch erst die Meldung in den Nachrichten einige Wochen später, eins von Falkos Zitaten oder eine dieser leuchtenden Nächte, an die Elon sich wahrscheinlich noch im Altersheim erinnern würde – falls er so lang lebte. Oder vielleicht war es auch nur ihr Lächeln, wenn sie ihn ansah. Ihr Lächeln und dazu dieser Blick aus sturmgrauen Augen. Vielleicht war es das, was alles auslöste, von wo an Rauch, Geschrei, Schüsse und Sirenen nur noch die logische Folge waren.
3. November
+++ Waffenstillstand in Somalia beschlossen – Einigung für Wassernutzung in Sicht +++ Erfolg in der Impfstoff-Entwicklung gegen das neuartige Mers-Virus +++ Achtung: Flutwarnung für das Rheinland +++
Als Elon sie sah, war es schon zu spät. Drei Gestalten lehnten an einer dieser Urban-Gardening-Holzkisten. Im Sommer bauten hier übereifrige Studentinnen ihren Rosenkohl an, aber jetzt stand auf der nackten Erde nur eine Musikbox, aus der irgendein Neoprogressive-Pop schepperte. Die Bierflaschen der Typen glänzten im Licht der Straßenlaterne.
„He, ist das nicht Elon?!“, rief einer der drei viel zu laut.
Elon hätte sich am liebsten die Hand vor die Stirn geschlagen. Wie viel Pech konnte man den haben? Als wäre es nicht schlimm genug, von irgendwelchen betrunkenen Jugendlichen angepöbelt zu werden. Er kannte diese Jungs. Gino Mateen – besser bekannt als Gepard Gino – und seine Kumpels. Niemand hatte Gepard rechtzeitig gesagt, was das für ein bescheuerter Spitzname war, und inzwischen nannten ihn sogar die Lehrer so, aber das war nicht das Hauptproblem mit Gepard. Stellt euch einen Typen vor, der an einer amerikanischen Highschool als Runningback im Football-Team spielt und in seiner Freizeit Mittelstufenschüler drangsaliert. Genauso so ein Typ war Gepard. Herausragender Basketballer, knapp zwei Meter groß, launisch und mit deutlich zu viel Ego ausgestattet. Und aus irgendeinem Grund hatte er es auf Elon abgesehen.
Elon warf einen schnellen Blick über die Schulter. Die Straße lag verlassen da. Die Vorhänge der Wohnblocks waren zugezogen und erst zwei Straßen weiter hörte er das Summen eines vorbeifahrenden Busses. Verdammt, warum hatte nicht auf die Zeit geachtet? Warum musste er immer bleiben, bis es so dunkel war, dass die Schatten die Inschriften auf den Steinen verschluckten?
Sollte er rennen? Es waren nur noch zwei Blocks bis nach Hause, vielleicht könnte er ... Nein, nicht mit dem sperrigen Gitarrenkoffer auf dem Rücken. Außerdem würde er sich damit zum Gespött der ganzen Schule machen, wenn die Ferien in ein paar Tagen vorbei waren.
Elon atmete tief die kühle Herbstluft ein, straffte die Schultern und ergab sich in sein Schicksal. „Hey, Gepard!“, erwiderte er in einem Ton, als würde er sich freuen, ihn hier zu treffen. „Wie geht’s?“
„Bestens!“, entgegnete Gepard und seine Freunde lachten auf eine Weise, die verriet, dass sie schon eine Menge Bier getrunken hatten. Sie lösten sich von der Hauswand und traten auf die regennasse Straße, sodass sie Elon den Weg versperrten. „Und selbst? Was macht die Familie?“ Sein Grinsen war so breit, dass Elon den abgebrochenen Eckzahn sehen konnte, den Gepard sich in irgendeiner Prügelei verdient hatte. Gepard wusste genau, in welche Wunden er Salz streuen musste.
Elon ballte die Hände in den Jackentaschen zu Fäusten. Sein Herz begann, schneller gegen seine Rippen zu schlagen. Atmen, Elon, erinnerte er sich selbst. Einatmen, den Geruch des Regens auf Asphalt wahrnehmen, innehalten, ausatmen. Einfach nur atmen, Elon, du kannst das.
„He, hat es dir die Sprache verschlagen, oder was starrst du wie ein toter Fisch in die Gegend?“ Gepard stieß Elon gegen die Schulter, fest genug, dass Elon einen Schritt zurück stolperte.
„Lasst mich in Ruhe“, sagte er und kämpfte darum, seine Stimme ruhig zu halten. „Ich will nur nach Hause.“ Seine Brust war mit einem Mal so eng. Wie ging das nochmal mit dem normalen Atmen?
„Dann wollen wir natürlich nicht stören.“ Mit einem demonstrativen Schulterzucken trat Gepard zurück, sodass der Weg frei wurde. „Geh ruhig und verkriech dich unter deiner warmen Bettdecke. Entschuldige, ich hatte vergessen, was du für eine empfindliche Seele bist.“
Ein stechender, blaugrauer Schmerz schoss Elon ins Herz. Bevor er darüber nachdenken konnte, rammte er Gepard die Faust gegen das Kinn. Das dumpfe Geräusch hallte zwischen den Häusern wider.
Gepard stieß einen erstickten Laut aus. Für einen kurzen, großartigen Moment genoss Elon den Anblick und dass Pochen seiner aufgeschürften Knöchel. Dann kehrte das Grinsen auf Gepards Gesicht zurück. Er hatte bekommen, was er wollte. Noch bevor Elon reagieren konnte, schubste der Ältere ihn mit der Kraft eines Verteidigungsspielers zurück.
Elon taumelte und landete unsanft in den Armen eines anderen Typen. Ein Fausthieb krachte auf seine Wange nieder. Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen und eine heiße Ladung Adrenalin schoss durch seinen Körper. Das Pochen in seinen Ohren war fast lauter als Gepards anfeuernde Rufe und das Gelächter der anderen beiden. Elon musste hier weg. Er war ein unglaublich schlechter Boxer, das vergaß er nur immer im entscheidenden Moment.
Seine ganze Welt schwankte, als er versuchte, sich aufzurichten. Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet, schubsten ihn johlend hin und her. Endlich ein Zeitvertreib für diesen trüben Abend. Hoffentlich passiert der Gitarre nichts, schoss es Elon durch den Kopf. Er bekam einen Tritt in die Kniekehle ab und stolperte. Im nächsten Moment landete er auf dem nassen Asphalt. Sein Herz raste, sein Körper war erschöpft. Er war zu müde, um sich noch groß zu wehren. Schützend hielt er sich die Arme vor das Gesicht. Ein Tritt in die Rippen presste sämtliche Luft aus seinen Lungen. Für ein paar Sekunden verschwamm der Asphalt mit den Lichtkegeln der Laternen, während Elon nach Atem rang.
Plötzlich durchbrach das Quietschen von Fahrradbremsen das Rauschen in Elons Ohren. „Aufhören! Was glaubt ihr, was ihr hier tut?“, schnitt eine laute Stimme durch die regennasse Luft. Die Worte klangen so bestimmt, dass sich alle zu dem Mädchen umdrehten, das gerade vor ihnen zum Stehen gekommen war. Elon blinzelte ein paar Mal, um klar sehen zu können, und rappelte sich auf. Sie musste in seinem Alter sein, vielleicht 17 oder 18 Jahre. Eine viel zu weite Jacke verdeckte ihre schmale Gestalt und sie funkelte Gepard aus dunklen Augen an.
„Was geht es dich an?“ Gepard wischte das Blut von seiner Lippe und musterte sie. „Und wer zur Hölle bist du?“
„June“, antwortete sie knapp. „Ihr solltet besser verschwinden, bevor die Polizei hier auftaucht. Ich hab gerade um die Ecke einen Streifenwagen gesehen.“
Einen Moment zögerten sie noch, dann verzogen sich Gepard und seine Gang grummelnd. Elon blieb allein zurück und hielt sich die Rippen. Er holte tief Luft und wartete darauf, dass die Welt zu schwanken aufhörte.
„Bist du okay?“, fragte das Mädchen, June, und stieg vom Fahrad ab.
Elon brachte ein zittriges Nicken zustande. „Mir geht’s gut. Danke.“ Sein Körper bebte, aber es lag nicht nur an der Kälte. Er fühlte sich wie betäubt, als wäre sein Gehirn in Nebel gehüllt, und das Einzige, was er spürte, war das Pochen seines Herzens.
June schaltete die Taschenlampen-Funktion ihres Nexoa-Armbands ein und leuchtete ihm damit übers Gesicht. „Ein paar fiese Schrammen, aber nichts Ernstes“, stellte sie in einem Ton fest, als hätte sie so deutlich zu oft den Schweregrad von Verletzungen beurteilt. „Du wirst wahrscheinlich ein paar neugierige Fragen beantworten müssen in den nächsten Tagen.“
Seine Lippen verzogen sich zu einem gequälten Lächeln. „Mein Ruf in dieser Stadt ist sowieso ruiniert.“
Ihre Augen weiteten sich neugierig, aber bevor sie nachfragen konnte, vibrierte ihr Nexo-Armband. „Ich muss los“, murmelte sie mit einem Blick auf das Display.
„Danke, dass du dazwischen gegangen bist“, rief Elon ihr hinterher, als sie sich schon wieder aus Fahrrad schwang.
Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. „Immer“, entgegnete sie mit einem Lächeln. Dann verschwand ihr rotes Rücklicht im Nieselregen und die Dunkelheit verschluckte sie.
Elon begutachtete den Gitarrenkoffer. Alles in Ordnung, keine eingedrückten Stellen. Inzwischen hatte der Schock nachgelassen, und die körperlichen Schmerzen traten stärker in den Vordergrund. Eine pochende Stelle an seinem Kiefer erinnerte ihn an Gepards Faust, sein Unterlippe fühlte sich geschwollen an, sein Brustkorb stach bei jedem Atemzug, und der Wind drang erbarmungslos durch seine dünne Jacke. Er fühlte sich schrecklich müde. Was für ein Mist! In wenigen Tagen waren die Ferien vorbei, und wenn er so weitermachte, würde das letzte halbe Jahr Schule zur reinen Katastrophe werden.
8. November
+++ Hochwasser in Mannheim und Straßburg: Bundestag debattiert über Notfallhilfen +++ Trockenheit in Kenia hält weiter an +++ Ausschreitungen bei Wahlkampfveranstaltungen in Großbritannien – rechte Gruppen verhindern Pressekonferenz +++
Die Luft im Bus roch nach nassem Hund. Elon ließ sich auf einen Sitz am Fenster fallen und rieb sich die kältetauben Finger. Draußen lag die Straße schon wieder im Dunkeln und Regen tropfte die Scheibe hinunter. Seine Muskeln waren schwer und sein Kopf angenehm müde. Morgen würde der Muskelkater ihn vermutlich umbringen, aber es hatte sich gut angefühlt. Als würde er einen Kampf gegen die Geräte im Gym führen und ihn gewinnen. Sein Nexo-Armband vibrierte. Eine Nachricht von Djamal. „Bist du noch im Gym? Hab jetzt Zeit“
„Wir waren vor 1,5 Stunden verabredet“, tippte Elon zurück. „Wo warst du?“
„Mach gerade so einen Wiederholungskurs Geschichte, wegen Journalismus Studium, hat länger gedauert, sorry.“
„Schon gut“, schrieb Elon, „wollen wir uns noch auf ein Bier treffen?“ Bevor er die Nachricht abschickte, zögerte er. Früher waren sie oft abends in den Kneipen unterwegs gewesen, zusammen mit Djamals anderen Kumpels. Aber früher war das Schweigen auch noch nicht dagewesen. Dieses Schweigen, das entstand, wenn man nach unverfänglichen Gesprächsthemen suchte. Als würde man zögerlich den nächsten Schritt über ein Minenfeld machen. Es war eine laute Art von Schweigen, bei der die unausgesprochenen Gedanken durch die Luft zischten.
Elon löschte den zweiten Teil der Nachricht wieder und drückte auf „Senden“. Djamal las es, schrieb etwas, dann war er wieder offline, ohne geantwortet zu haben. Vielleicht war er mit seinen Schulsachen beschäftigt, vielleicht hatte er auch genauso viel Angst, etwas Falsches zu sagen, wie Elon. Das Schweigen war sogar da, wenn man nicht im selben Raum war.
Elon machte Musik über die Kopfhörer an und lehnte den Kopf an die Scheibe. Die Straße, auf der sie fahren, war einmal vierspurig gewesen, jetzt jedoch waren die beiden äußeren Spuren wieder 'den Menschen gewidmet', wie die Regierung es ausgedrückt hätte. Regenschirmträger*innen flanierten an Gemüsebeeten und Spielplätzen vorbei. Das Laub der Laub war schon gelb im Scheinwerferlicht, in wenigen Wochen würde die ganze Stadt so grau sein, wie sie es angeblich vor der Begrünung der Innenstädte gewesen war.
Wann war das nur alles so kompliziert geworden?, fragte sich Elon. Er wusste die Antwort natürlich. Vor fast einem Jahr, am 20. November 2049. Nur ein paar Zahlen, aber seine Brust zog sich schon bei dem Datum zusammen. Würde das je aufhören?, fragte er sich. Oder gehörte dieses Gefühl jetzt genauso zu ihm wie die blaugrünen Augen und die angeborene Abneigung gegen Tiefkühlgemüse?
Denk nicht drüber nach, Elon. Schnell wechselte er den Song und stellte die Musik lauter, bis der Bass von A Single Stranger seinen Kopf ausfüllte.
Zwanzig Minuten später schloss Elon die Wohnungstür auf und rief „Hallo“ in den leeren Flur. Mist, das passierte ihm ständig. Irgendwie ging es nicht in seinen Kopf, dass seine Mutter ausgezogen war. In der Wohnung roch es noch immer nach ihren Cannabispflanzen, nach halbtrockener Wäsche und irgendwie angebrannt, vermutlich von Elons Toast heute Morgen. Er sollte wirklich öfter lüften.
Schnell ging er an dem Zimmer vorbei in die Küche. Das Zimmer, so nannte er es immer. Nicht ‚Lils Zimmer‘, nicht ‚das Zimmer meiner nervtötenden Schwester‘, wie er es früher vielleicht getan hätte. Es war „Das Zimmer, dessen Name nicht genannt werden darf“, Sperrgebiet. Elon hatte die Tür seit einem Jahr nicht mehr geöffnet und machte immer einen Bogen darum, als würde eine Bombe explodieren, wenn er die Klinke berührte.
Er stellte die Musik leiser, die er über Kopfhörer hörte, und brühte Fertignudeln auf. Mit dem Teller ging er in sein Zimmer, kickte ein paar schmutzige T-Shirts aus dem Weg und ließ sich auf sein Bett fallen. An der Wand gegenüber vom Bett hing ein uraltes Poster von einem Jazzmusiker, eingequetscht zwischen dem Schrank und Elons Gitarre. Elon hatte das kleinste Zimmer der Wohnung. Jetzt waren die anderen beiden meistens leer, wenn er vernünftig wäre, könnte er problemlos mitbenutzen. Aber nun ja, er war nicht vernünftig.
Elon drehte ein paar Nudeln auf die Gabel und betrachtete sie. Langfristig sollte er sich irgendwas zum Thema Ernährung überlegen. Wenn er so weitermachte, würde er mit 45 an Zusatzstoff-Vergiftung sterben, und dann vermutlich in die Hölle kommen. Gesunde Umwelt – gesunder Körper, lautete schließlich das Motto, mit dem die KSP alles besteuerte, was gut schmeckte; Zucker, Alkohol, Glutamat.
Wie auf’s Stichwort klingelte sein Nexo-Armband. Seine Mutter, richtig, sie hatte sich heute melden wollen. Er schaltete laut und gleich darauf ertönte die blecherne Stimme seiner Mutter aus dem Lautsprecher. „Hallo? Elon?“
„Hi Mama.“ Elon schob sich die Gabel Nudeln in den Mund.
„Hi mein Schatz, wie gehts’s dir? Wie kommst du in der Schule zurecht?“, fragte sie und ihre Stimme klang etwas angestrengt.
„Ich hab noch ein paar Tage Ferien.“
„Oh, schön. Dann verbringst du Zeit mit Djamal und deinen anderen Freunden?“ Ihre Stimme wurde noch etwas angestrengter, er konnte das angespannte Lächeln hören.
Er zuckte mit den Schultern. Welche anderen Freunde?, dachte er und sagte: „Klar, wir haben viel Spaß miteinander.“
Sie atmete erleichtert aus. „Das ist schön, das freut mich. Hier bei der Arbeit ist es auch sehr nett.“ Sie erzählte eine Anekdote von ihrem neuen Job, in der es um eine Kollegin namens Hilja und einen neuen Insektenburger-Imbiss in der Innenstadt ging. Elon lachte an den richtigen Stellen und stellte irgendwelche Fragen, damit sie die Stille mit Belanglosigkeiten füllen konnten. Manche Leute hielten Smalltalk für eine Zeitverschwendung, aber Elon wusste, dass das nicht stimmte. Smalltalk war eine Rettungsleine. Ein Seil, an dem man sich über dem Abgrund aus schweren Themen entlanghangeln konnte.
Aber irgendwann gab es nichts mehr dazu zu sagen und das Schweigen breitete sich wieder zwischen ihnen aus. Es war wie grauer Nebel, den sie versuchten beiseitezuschieben, doch er kam immer wieder, dichter und erdrückender als zuvor.
„Gut, dann...“, sagte seine Mutter langgezogen und im Hintergrund klapperte irgendwas.
„Hmhm...“, machte Elon.
„Ich muss jetzt langsam mal auflegen. Mein Bauch grummelt schon die ganze Zeit vor Hunger.“ Ihr Lachen klang aufgesetzt, ihre Worte zu leicht. „Ich hab dich lieb.“
Er holte tief Luft. „Ich dich auch, Mama.“
Gleich darauf ertönte das Freizeichen. Elon schnappte sich sein Kopfkissen und vergrub das Gesicht darin.
9. November
+++ Weltraumforschung: Sonde entdeckt Planeten mit erdähnlicher Atmosphäre +++ Zulassung des neuen MERS-Impfstoffs verzögert sich +++ Gedenken an Reichspogromnacht – Bundespräsidentin erinnert an historische Verantwortung und spricht sich mit Blick auf sg. Wohlstandsterrorismus gegen ‚jede Art von ideologiegetriebener Gewalt‘ aus +++
In der Luft hing noch Nebel, als Elon aus dem Bus stieg. Erster Schultag nach den Ferien. Das klang wie der Beginn einer Highschoolromanze, aber Elon spürte partout keine nervöse Vorfreude. In einer halben Stunde würde der Unterricht beginnen, und davor wollte er noch ein paar Minuten Ruhe haben. „Nur noch ein halbes Jahr“, murmelte er und trat gegen eine Blechdose, die über den Asphalt klapperte. In sechs Monaten würde er sein Abitur in der Tasche haben und diesen ganzen Mist hinter sich lassen.
Der kleine Friedhof lag nur zwei Straßen von der Schule entfernt. An dem Eisentor hing ein Schild mit der Aufschrift: „Wasser verschwenden verboten“, als wäre es nötig, die Menschen an die allgegenwärtige Krise zu erinnern. Dennoch wurde es Elon bei dem Anblick etwas leichter ums Herz. Das Tor begrüßte ihn quietschend wie einen alten Freund und Elon nahm einen tiefen Atemzug von der feuchterdigen Friedhofsluft.
Die moosigen Grabsteine waren alt. Sie stammten aus der Zeit, in der Menschen noch vergraben wurden, statt eingeäschert und ‚dem natürlichen Kreislauf zugeführt‘, sprich kompostiert zu werden. Elon war der einzige Lebende, der regelmäßig herkam, und so hielt er überrascht inne, als er ein Geräusch hörte.
Es war ein scharfes Zischen, das von der Ostmauer herüberwehte. Er folgte dem Geräusch über die schmalen, grasüberwachsenen Wege, bis er sie schließlich entdeckte. An der Ostseite grenzte der Friedhof an ein Wohnhaus, dessen Mauer schon diversen Graffitikünstler*innen als Leinwand gedient hatte. Davor stand ein Mädchen in einem weiten Kapuzenpulli und schüttelte die Spraydose in ihrer Hand. Ihr schulterlanges Haar war unordentlich geschnitten und sah aus, als hätte sie es in den letzten drei Monaten erst lila, dann grün, dann blau gefärbt, was sich nun mit den nachwachsenden braunen Haaren vermischte. Erst nach einem Moment erkannte Elon sie. Das Mädchen, das ihn vor ein paar Tagen vor Gepard und seinen Freunden gerettet hatte.
„Hey“, sagte Elon vorsichtig und vergrub die Hände in den Jackentaschen.
Sie zuckte zusammen und fuhr zu ihm herum. Als sie ihn erkannte, verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln. „Hey“, erwiderte sie und setzte die Spraydose ab. „Warum treffe ich dich immer an düsteren, leicht unheimlichen Orten?“
Elon trat näher an die Mauer heran. „Muss etwas mit meinem Hang zum Dramatischen zu tun haben. Außerdem treffe ich dich auch an diesen Orten.“ Ihr Kunstwerk schien nur aus grauen, schwarzen und roten Formen zu bestehen, die eine eigenartige Aggressivität ausstrahlten. Erst auf den zweiten Blick entdeckte Elon die Buchstaben dazwischen. ICH SCH', las er.
„Das ist wahr...“ Sie zögerte kurz, als wolle sie noch mehr sagen, doch dann strich sie sich nur eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sprühte ein E hinter das H.
„Ich bin übrigens Elon“, stellte er sich vor. „Nur, falls wir uns noch öfter begegnen sollten.“
Sie reichte ihm ihre farbbespritzte Hand. „Juniper, kurz June. Freut mich, dich kennen zu lernen.“ Dann kniff sie nachdenklich die Augen zusammen. „Elon... hieß so nicht dieser amerikanische Milliardär?“
„Elon Musk war gebürtiger Südafrikaner, aber ja. Mein Vater hat ihn für seinem Unternehmergeist bewundert, behauptet zumindest meine Mutter.“
„Sympatisch“, erwiderte sie und Elon war nicht sicher, ob es ironisch gemeint war. „Hast du ihn nicht selbst gefragt?“
Er schüttelte den Kopf. „Er war schon länger nicht mehr in Deutschland. Macht gerade irgendwas mit Agroforst in Ghana.“
„Klingt, als wäre er genauso besessen von der Ökogischen Transformation wie meine Eltern. Sie waren so überzeugt von Grünzeug, dass sie mich nach einem Busch benannt haben und mein Bruder heißt mit Zweitnamen Lavender.“ Ein verschwörerisches Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Aber sprich ihn nicht darauf an, wenn du ihn triffst. Unsere Mutter hat ihn immer so genannt und er hasst es.“
Elon spürte, wie sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. „Ich werd’s mir merken.“
Das Läuten der Schulglocke schallte dumpf zu ihnen herüber und Elon fiel siedend heiß ein, dass er die Zeit vergessen hatte.
„Ach, verdammt!“ June warf einen Blick auf ihr Nexo-Armband. „Ich werde schon am ersten Schultag meinen guten Ruf verlieren.“ Sie warf die Spraydosen in ihren Rucksack. „Und ich weiß nichtmal, wo ich Unterricht hätte.“
„Was hast du denn jetzt?“
„Leistungskurs Geschichte, Jahrgang 13.“
Ein Lächeln huschte über Elons Gesicht. „Dann kann ich dich mitnehmen.“
Wie nicht anders zu erwarten, richteten sich sämtliche Blicke auf sie, als sie den Unterrichtsraum betraten. Djamal saß am Fenster und zog interessiert die Augenbrauen hoch, als er sah, dass Elon nicht allein war.
Frau Brahm blinzelte sie einen Moment durch ihre große Brille an. Mit den hohen Stiefel und den gefärbten Haaren war June auffällig genug, um sie kurz aus dem Konzept zu bringen. "Du bist neu auf der Schule, nicht wahr?" Sie blickte auf die Klassenliste auf ihrem Tablet hinunter. "Juniper Arianna Steel? Wie ich sehe, hast du schon Freunde gefunden." Sie hatte ihre Professionalität wiedergefunden und lächelte June an, als wäre diese eine schüchterne Neuntklässlerin. "Sucht euch schnell Plätze, dann können wir anfangen."
"Wer ist das denn?", flüsterte Djamal, als Elon sich auf den freigehaltenen Platz neben ihm fallen ließ.
Elon kramte in seinem Rucksack nach dem Collegeblock. "Habe ich in einer düsteren Seitengasse kennengelernt."
„Alles klar“, sagte Djamal langgezogen. Er warf einen Blick über die Schulter. June hatte sich inzwischen in die letzte Reihe gesetzt und klappte einen Laptop auf, der vollständig mit Stickern beklebt war. „Wahrscheinlich sollte ich mich auch mal in diesen Seitengassen umschauen.“
Elon schüttelte wortlos den Kopf und kritzelte mit seinem Kugelschreiber am Seitenrand, bis der letzte Reste Farbe aus der Miene kam. Ja, June war hübsch mit ihren dunklen Augen und den hohen Wangenknochen, aber auf eine ziemlich düstere Art. Auf Partys war sie wahrscheinlich diejenige, die auf dem Balkon über Gott und den Tod philosophierte, oder mit einem volltrunkenen Typen über das Patriarchat diskutierte. Nicht die Art lockeres, unkompliziertes Mädchen, auf die Djamal eigentlich stand.
Frau Brahm rückte ihre Brille zurecht und warf Djamal einen mahnenden Blick zu. „Wie ihr sicherlich wisst, wurde die Klimaschutzpartei in den späten Zwanzigerjahren gegründet“, begann sie ihren Vortrag. Auf der Tafel hinter ihr erschien eine Aufnahme der KSP-Vorsitzenden bei einem Wahlkampfauftritt. „Für Deutschland. Für die Welt. Für die Zukunft“, stand auf dem Wahlplakat im Hintergrund und die Vorsitzende trug ein dazu passendes selbstgefälliges Lächeln.
Elon schaltete innerlich ab. Seine Finger begannen einen Rhythmus auf sein Bein zu trommeln, während Frau Brahm von den ersten Ausläufern der Klimakatastrophe erzählte. Ab Mitte der Zwanzigerjahre waren Dürren und Überflutungen beinahe alltäglich geworden. Hunderttausende mussten ihre Heimat verlassen, weil ihr Land verbrannte oder weggespült wurde, und kamen nach Europa.
Elon warf einen Blick auf die Uhr. Es waren gerade einmal zehn Minuten vergangen.
„Die Menschen wussten schon dreißig Jahre zuvor, was der Klimawandel ist“, erklärte Frau Brahms mit unheilvoller Stimme. „Aber kaum jemand ahnte, was er bedeutete. Dass er alles veränderte.“ Beinahe hätte Elon die Augen verdreht. Wie oft hatte er das schon gehört? Ja, der Klimawandel war bestimmt eine ganz schlimme neue Erfahrung, aber langsam könnte man auch man darüber hinwegkommen.
Jedenfalls war in Folge der Umweltkatastrophen eine neue Partei aus dem Sumpf unterhalb der 5-Prozent-Hürde aufgetaucht und in rasantem Tempo zur beherrschenden Kraft in der Politik geworden. Bei der Klimaschutzpartei war der Name Programm. Sie wollte Deutschland 2030 klimaneutral machen und leitete dafür drastische Maßnahmen ein, sobald sie das erste Mal Regierungsverantwortung hatte.
"2025 war das erste Jahr, in dem Deutschland seine Klimaziele erreicht hat", erklärte Frau Brahm so stolz, als hätte sie persönlich die Inlandsflüge verboten. Auf der Tafel erschien ein Video von den Silvesterfeiern, wo Politiker*innen mit Wissenschaftler*innen auf den gemeinsamen Erfolg anstießen. Es wurde Champagner getrunken und man bestätigte sich gegenseitig, was für eine großartige Leistung man zusammen vollbracht habe. Für Deutschland. Für die Welt. Für die Zukunft.
"Aber wie konnte man so schnell die Grundrechte der Menschen aussetzen?", fragte Kira und warf sich die langen Braids über die Schulter. Wie immer hatte sie an Frau Brahms Lippen gehangen und witterte jetzt eine Gelegenheit, ihren Politik-Leistungskurs raushängen zu lassen. "Ich meine, damals haben sie Leute einfach enteignet, die zu klimaschädlich gelebt haben."
Die Lehrerin lächelte breit. „Sehr gute Frage, Kira. Aber sie wurden nicht ausgesetzt, nur zweitweilig eingeschränkt. Das ist mit den Notstandsgesetzen absolut verfassungskonform.“ Manchmal fragte sich Elon, ob Frau Brahm ihr Wohnzimmer mit KSP-Wahlplakaten dekoriert hatte. Wie konnte man so viel Begeisterung für eine Partei aufbringen, die das Leben in Deutschland einfach schlechter gemacht hatte? "Außerdem haben die Gerichte damals schon eingesehen, dass diese Einschränkung notwendig ist, um spätere Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden", fuhr sie fort. „Es war eine breite Allianz aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wenn die Menschen damals nicht so vernünftig gehandelt hätten, sähe die Welt jetzt wohl anders aus.“ Einen Moment sah Frau Brahm versonnen aus dem Fenster in den grauen Tag.
Elon fing einen Blick von June auf. Sie legte sich theatralisch eine Hand aufs Herz und nickte mit staatsmännischer Miene, als wollte sie sagen: „Gott bewahre. Gut, dass wir Deutschen so vernünftig sind.“ Er unterdrückte ein Grinsen. Immerhin war er nicht der Einzige, der dieses ganze KSP-Gehabe bescheuert fand.
11. November
+++ MERS-Virus breitet sich aus +++ Somalia: Schüsse in Mogadischu +++ Handelsschiff ‚Santa Clara‘ rettet 217 Geflüchtete aus dem Mittelmeer +++ Warnung: Starkregen in Brandenburg +++
Manche Farben machten einen unsichtbar. Jetzt, wo die bunten Sommerkleider mit der Sonne verschwunden waren, trugen die Schüler*innen auf dem Schulhof Grau und Blau. Kleine Grüppchen, die das Ende der Pause abwarteten und von Weitem aussahen wie dunkle Farbflecken. Grau wie der Asphalt und der Beton des Schulgebäudes, dessen Blumenkästen und Kletterpflanzen längst abgestorben waren. Grau wie der Himmel, von dem leichter Dauerregen heruntertropfte und auf Elons Kapuze trommelte. Und Blau, wie die Stille, wie das gedämpfte Gemurmel, das nur hin und wieder von einem Ruf oder plötzlichem Auflachen unterbrochen wurde. Das Licht war mit dem letzten Herbstlaub abhandengekommen und zurück blieb blaue Melancholie. Manchmal dachte Elon, dass für ihn die Zeit stehengeblieben war. Für ihn war seit einem Jahr November. Grau-blauer November.
Es war seltsam, dass ihn die Farben nicht unsichtbar machten, nicht mehr. Früher war er in diesem Meer untergetaucht, als einer von ihnen, einer von vielen, auf die niemand achtete. Unauffällig, sodass man kaum seinen Namen im Gedächtnis behielt und es keine lustigen Geschichten gab, die man hinter seinem Rücken erzählte. Er war einfach ein Freund von Djamal, ein stiller Junge, der meistens Musik hörte und zu viel Zeit in Bibliotheken verbrachte. Aber jetzt war es anders. Vielleicht hatte er die dunklen Farben so sehr in sich aufgenommen, dass sie ihn nicht mehr schützen konnten. Jetzt kannte ihn jeder hier. Er war der Typ mit der toten Schwester. Der Typ, der manchmal ausrastete.
Die Blicke folgten ihm, als er die Hände in den Jackentaschen vergrub und Richtung Schullabor schlenderte. Elon suchte Boulevard of Broken Dreams und drehte die Musik auf. „I walk a lonely road, the only one that I have ever known. Don’t know where it goes, but it’s home to me, and I walk alone ...“, begann Billie Joe Armstrong und Elon versuchte, alles außer der Melodie auszublenden. Trotzdem merkte er, wie eine Gruppe Zehntklässlerinnen abrupt verstummte, als er an ihnen vorbeikam.
„Elon, warte!“ Er pausierte das Lied und entdeckte June in der Raucherecke, zusammen mit einem Jungen, den Elon flüchtig aus Erdkunde kannte. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, hatte eine punkige Frisur und machte den Eindruck, dass man sich eine fangen könnte, wenn man es wagte, ihn anzusprechen. Jetzt hielt er June am Ärmel zurück und murmelte ihr etwas ins Ohr.
Sie grinste, wuschelte ihm kurz durch die blondierten Haare und kam dann zu Elon gelaufen. „Du musst mir noch zeigen, wo wir Politik haben“, sagte sie leicht außer Atem und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Strähne war auch blau, aber es war ein tieferes, weiteres Ozeanblau.
„Du könntest auch in deinen Stundenplan schauen.“ Elon spürte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Wahrscheinlich das Erste an diesem Tag.
„Könnte ich auch“, stimmte sie zu und hakte sich bei ihm ein. Ihre Berührung war warm und ihr Geruch nach Salbei und Rauch vertrieb Elons düstere Gedanken. „Darf ich fragen, was du für Musik hörst?“
Elons Finger spielten mit dem Reißverschluss seiner Jacke und zögerte. Dramatischer Nullerjahre-Rock war nicht gerade die angesagteste Musikrichtung zurzeit. „Boulevard of Broken Dreams ist gerade mein Lieblingslied“, antwortete er schließlich doch und beobachtete aus dem Augenwinkel ihre Reaktion.
Wenn sie ihn für zu melancholisch hielt, zeigte sie es nicht. Ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. „Das ist schön. Auf eine traurige Art schön. Passt zu dir.“
„Ach ja?“ Elon zog eine Augenbraue hoch. Eine Fähigkeit, auf die er sehr stolz war. „Kannst du das beurteilen?“
In ihren grauen Augen blitzte etwas und ihr Lächeln wurde breiter. „Du prügelst dich mit stärkeren Jungs, treibst dich auf Friedhöfen herum und meidest andere Menschen wie der Teufel das Weihwasser. Zu deinem Dasein als Mysterium passt traurigschöne Musik definitiv.“ Elon machte den Mund auf, um zu widersprechen, aber ihm fiel nichts ein. Sie kannte ich kaum, aber sie hatte Recht. Sie wandte den Blick ab und sah auf ihr Nexo-Armband. „Und jetzt kommen wir schon wieder zu spät zum Unterricht, mein Freund. Wenn das mit dem Abi was werden soll, müssen wir eventuell unsere Strategie überdenken.“
Im Klassenzimmer roch es nach Frau Gardeners Tulpenparfüm. Elon rutschte neben June in die letzte Reihe und Frau Gardener warf ihnen einen tadelnden Blick zu.
"Einen zauberschönen guten Morgen!", sagte sie dann und entlockte damit den meisten zumindest ein müdes Lächeln. „Wie schön, euch alle wieder hier zu sehen!“ Sie war beinahe die einzige Lehrerin, die Elon mochte. Etwas zu lieb vielleicht, aber sie war eine der wenigen gewesen, die Elon damals in Ruhe gelassen hatten. Die keine überforderten Gesprächsversuche machten oder erwarteten, dass er sich im Unterricht beteiligte, als ob nichts gewesen wäre.
Sie klickte ein paar Mal und auf der Leinwand erschien eine Bildcollage. Die brennenden Twintowers, Männer mit Maschienengewehren, eine schwarz-rot-weiße Fahne, daneben aber auch die geballte Faust vom Logo der Climate-Justice-Aktivisten und das Porträt von Henry Georges, dem ersten sogenannten „Wohlstandsterroristen“.
"Wie ihr sicherlich erraten habt, ist unser neues Semesterthema Terrorismus", erklärte Frau Gardener. "Was bedeutet Terrorismus für euch? Lasst uns mal ein paar Stichworte sammeln."
Die Hände der üblichen Verdächtigen schossen in die Höhe.
"Gewalt, die von einer politisch motivierten, nicht staatlichen Gruppe ausgeht", streberte Kira.
"Anschläge. Wenn jemand Leute in die Luft sprengt."
„Wenn man die Stabilität eines Landes zerstören will.“
Elons Blick blieb an Henry Georges hängen. Er war jung und wirkte wie das Klischee eines mittelmäßigen amerikanischen College-Studenten, der zu viel zockte und zu wenig rausging. Aber in seinem Blick lag Feuer. Dieser Mann hatte eine Mission, die viel wichtiger war als die fettigen Haare und das zerknitterte T-Shirt.
"Juniper?"
Elon merkte erst jetzt, dass June sich ebenfalls gemeldet hatte, so desinteressiert wirkte sie am Unterrichtsgeschehen, wie sie zurückgelehnt dasaß und sich nebenbei in ihren Computer einloggte. Jetzt sah sie auf. "Die indirekte Androhung von Gewalt, um die Leute gefügig zu machen, bis diese sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen."
Es wurde still in dem Raum. Kira drehte sich mit gerunzelter Stirn zu ihr um und sogar die Handyspieler sahen auf.
"Was meinst du damit?", fragte Frau Gardener.
June lächelte ein Lächeln, das deutlich machte, das sie genau wusste, was sie gerade tat. „Ich meine, dass der Staat von den Reichen und Mächtigen beherrscht wird und das Demokratie nennt. Und zugleich hat diese ‚Demokratie‘ einen Polizeiapparat, der jeden einsperrt, der auch nur minimal vom Kurs abweicht.“
Einen Moment sah die Lehrerin sie nur an. Und ging dann darüber hinweg, als wäre nichts geschehen. Wie damals, als Elon bei einer Diskussion über KI in den sozialen Medien plötzlich in Tränen ausgebrochen war. "Wenn ihr in den Kursordner schaut, findet ihr eine Definition von Terrorismus, besprecht mit eurem Sitznachbarn, ob ihr dieser zustimmt."
Elon öffnete pflichtbewusst die Datei, aber es stand nicht viel Überraschendes darin. Er spähte zu Junes Bildschirm hinüber. Sie arbeitete konzentriert an einem Text, in dem Elon aus dem Augenwinkel die Worte "Klassengesellschaft" und "Egalité" lesen konnte. "Und was ist das?", erkundigte er sich. „Sieht nicht nach einer Terrorismus-Definition aus.“
Sie grinste, was Grübchen auf ihren Wangen zum Vorschein kommen ließ. "Doch, so ähnlich. Es ist ein Haufen unzusammenhängender Sätze, aber es soll ein Aufschrei der unterdrückten Massen gegen die herrschende Klasse werden, die ihnen Kaffee und Currywurst vorenthält, um sie an ihre Opportunisten zu verteilen..." Sie hielt inne und fügte dann hinzu: "So oder so ähnlich hätte es ein schon lange toter Philosoph ausgedrückt."
Elon war irgendwo bei den unterdrückten Massen ausgestiegen. "Alles klar."
„Das wird eine Rede für die Demo am 2.11“, erklärte sie und tippte auf ihrer Tastatur herum. „Um die Stimmung ein wenig anzuheizen“
"Was für eine Demo?" Elon hatte sich nie sonderlich für Politik interessiert, aber so wie Junes Augen bei dem Gedanken daran leuchteten, musste da was dran sein.
"Na, die Demo für die unterdrückten Massen..." Wieder kamen ihre Grübchen zum Vorschein. "Wir planen gerade eine Kundgebung gegen die Verschärfung der Fleischgesetze und allgemein für Freiheit und Gleichheit."
Elon hätte gern weiter gefragt, aber Frau Gardener beendete die Partnerarbeitsphase und Kira meldete sich, um eine opportune Antwort auf die Frage, was Terrorismus sei, zu geben, während June sich wieder dem Kampf für die Verdammten dieser Erde widmete. Oder so ähnlich.
13. November
+++ Lotto am Sonntag: Superzahl ist die 7 +++ Experte zu Planetenentdeckung: Kolonialisierung ist keine realistische Option +++ Regen in Brandenburg hält an +++
Die Astern blühten noch immer tapfer gegen das schlechte Wetter an. Elon hatte sie gepflanzt, weil Lil die Idee gemocht hätte, dass hier von Februar bis Dezember etwas blühte. Wahrscheinlich standen in dem Zimmer noch immer Töpfe mit vertrockneten Pflanzen, die sie für die Wildbienen und Schmetterlinge gesät hatte.
Elon wischte ein paar Blätter von dem Stein. ‚Lilith Steigenfeld‘, stand dort. ‚3. März 2031 – 20. November 2049‘. Das Todesdatum war geraten – niemand wusste genau, wann Lil nach der Katastrophe gestorben war. Es war nur der Tag, an dem sie in der Liste von den „Vermissten“ zu den „Todesopfern“ gewandert war.
Elon breitete eine Plastiktüte auf dem nassen Gras aus und setzte sich darauf. Das glattpolierte Holz der Gitarre schimmerte ihm entgegen, als er den Koffer aufklappte. Es war eine dreißigjährige Konzertgitarre, die er auf dem Flohmarkt gefunden und dann selbst repariert hatte. Ein neues Instrument wäre bei seinem knappen Taschengeld niemals drin gewesen. Dafür wusste er jetzt einiges über Saitenstärken, Schallkörper und Klangfarben. Seine Finger strichen über die eingeritzten Buchstaben, JX-T2, der Name der Zwei-Personen-Band, die er vor langer Zeit mit Lil gegründet hatte. Der Name hatte eine Entstehungsgeschichte, die inzwischen nur noch peinlich war, aber er klang auch nach einer Zeit, in der alles gut gewesen war.
Seine Gitarre hatte sich schon wieder verstimmt, die Feuchtigkeit war nicht gut für das Holz. Er sollte aufhören, sie ständig mit nach draußen zu nehmen, dachte er. Aber er wusste, dass er nicht aufhören würde. Solange es nicht regnete oder schneite, war er beinahe jeden Tag im letzten Jahr hiergewesen.
Schon in dem Moment, wo sich seine Finger um das Griffbrett schlossen, merkte er, wie seine Laune stieg. Bei den ersten Fingerübungen schüttete sein Gehirn Glückshormone aus. Musik. E-Moll, A-Moll, das Gefühl der schwingenden Seiten. Er spielte die ersten Töne von Here Comes the Sun, Lils Lieblingslied. „Little darling, it’s been a cold, long, lonely winter...“
Hätte Lil entscheiden können, in welcher Zeit sie leben wollte, hätte sie sich für die 1970er Jahre entschieden. Sie hatte die Musik stundenlang gehört, bis es sogar Elons Mutter auf die Nerven gegangen war. Die Musik, die Aufbruchsstimmung, die großen Träume von Frieden, von Liebe, von einer Welt, die gut war. Bei Lil war es immer um die Welt gegangen, nie nur um sie selbst, immer musste sie...
Elon merkte, wie seine Stimme schwankte, und holte tief Luft. San Francisco, Elon, konzentrier dich. „... be sure to wear some flowers in your hear. If you come to San Francisco, Summertime will be a love-in there...“
„Das ist schön.“
Die Melodie riss ab, als Elon zusammenzuckte und herumfuhr. Ein Mädchen in Leggings und zu weiter Regenjacke stand ein Stück den Weg hinunter und spielte an ihrem Ärmel herum. Bei ihrem Anblick beruhigte sich Elons laut schlagendes Herz. Irgendwie überraschte es ihn nicht, June hier zu treffen.
„Tut mir leid, ich wollte nicht stören“, sagte June und kam zögernd ein paar Schritte näher.
„Du störst nicht“, antwortete Elon und merkte, dass es stimmte. Mit jedem anderen hätte er sich unwohl gefühlt, als wäre jemand in ein Reich aus Moos, Granit und Musik eingedrungen, das nur Elon gehörte. Aber mit June ... es war anders. „Manchmal ist es besser, unterbrochen zu werden.“
Ihr Blick wanderte zu dem Grabstein, den eingemeißelten Buchstaben, dann wieder zu Elon. „Deine Freundin?“
„Meine Schwester“, antwortete er und nahm einen tiefen Atemzug. Sein Brustkorb schien sich zusammengezogen zu haben. Ertrinken musste sich ähnlich wie vermissen anfühlen, dachte er. Man bekam einfach nicht mehr genug Luft.
„Tut mir leid“, sagte June und vergrub die Hände in den Jackentaschen. Ihre Stimme klang schlicht und aufrichtig. Nicht mitleidig wie die Verwandten, die Lil kaum gekannt hatten, aber nach der Beerdigung Elons Arm tätschelten, und murmelten: ‚Ach, du armer Junge, ihr standet euch sehr nah, nicht?‘. Auch nicht hilflos wie seine Mitschüler, die sich nicht trauten, in anzusprechen und nur hinter seinem Rücken tuschelten. Elon schmeckte die erdige, feuchte Luft und merkte, dass er wieder atmen konnte.
„Soll ich dich allein lassen?“ June trat einen Schritt zurück und hielt dann inne. „Oder kommst du mit zur Mauer?“
Als Elon aufstand, merkte er, dass er schon ganz steif war. Wie lange hatte er hier gesessen? Inzwischen waren graue Regenwolken aufgezogen und in wenigen Stunden würde die Sonne untergehen. Er folgte June zur Mauer und beobachtete eine Weile, wie sie Farbdosen schüttelte und kleine Markierungen auf die Wand malte. Der Ärmel ihres Hoodies rutschte hoch, als sie den Arm über den Kopf hob, um noch ein Blümchen zu ihrer Botschaft zu zeichnen. Darunter kam ein schwarzes Tattoo zum Vorschein. 'petrichor', stand dort in verwaschenen Buchstaben, die aussahen, als würden sie verlaufen und wie Tinte ihren Unterarm hinunterfließen.
Sie schwieg und Elon hatte auch keine Lust, zu reden. Er setzte sich auf die Mauer und klimperte noch ein bisschen auf der Gitarre herum. Keine richtigen Lieder, nur Tonfolgen. Manchmal stieß er so auf etwas brauchbares für seine eigenen Songs.
Junes Spraydosen zischte, als sie ihr Werk vervollständigte. 'SCHEISS AUF ZUKUNFT', sprühte sie in roter Farbe auf die Mauer und Elon musste unwillkürlich lächeln. Die Erwachsenen sagten immer, man müsse an die Zukunft denken, die kommenden Generationen, den Planeten, bla bla bla, aber die Erwachsenen hatten auch keine Ahnung vom Leben. Es konnte so schnell vorbei sein, dass die Zukunft egal war. Jetzt war das Einzige, was es gab.
Irgendwann begann es zu regnen. Eine Weile taten sie beide so, als würde der Regen aufhören, wenn man ihn lange genug ignorierte, aber dann landeten immer mehr Tropfen auf Elons Gitarre und er hatte Angst, sie kaputt zu machen.
„Wir sehen uns morgen in der Schule?“ June setzte sich die Kapuze auf und warf die Spraydosen in ihren Rucksack.
Elon nickte. „Ich hab letztes Jahr so viel gefehlt, noch mehr Abwesenheit kann ich mir echt nicht leisten.“
„Dann komme ich morgen auch.“ Sie lächelte ihm zu und verschwand zwischen den Bäumen, die den Friedhof überschatteten.
Elon verstaute die Gitarre und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Der Regen pladderte in großen Tropfen von den Bäumen und den Dächern. Es war Art von Regen, bei der seine Mutter immer seufzte: Das wäre früher als Schnee heruntergekommen. Elon war sicher, dass es auch in der Kindheit seiner Mutter in den 2000ern nicht im November geschneit hatte, und wenn die Welt vor der Klimakatastrophe noch so idyllisch gewesen war. Wie auf’s Stichwort vibrierte Elons Nexo-Armband und zeigte eine Nachricht von seiner Mutter. Ein grinsendes Selfie aus einem Café, vor sich ein Stück zuckerfreier Vollkorn-Obstkuchen. Dazu der Text: „Total nettes Café gefunden *Smiley* hoffe du lässt es dir auch gutgehen!“ Er musste seiner Mutter wirklich sagen, dass Smileys nicht mehr cool waren, dachte er und wischte die Nachricht weg.
Der Bus hielt mit quietschenden Reifen und Elon suchte sich einen Platz zwischen ein paar aufgeregten Vorschulkindern, die jedes Ruckeln und Summen des Fahrzeugs mit Gequietsche begleiteten. Seine Kopfhörer dämpften den Lärm etwas und er ließ sich von den Klängen von I predict a Riot davontragen, während er die Regentropfen beobachtete, die in schmalen Bächen die Fensterscheibe herunterrannen. „And if there’s anybody left in here,
that doesn’t want to be out there...“ Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zurück zu June. Sie schien von innen heraus zu leuchten. So sehr, dass es bis auf Elon abstrahlte und seine Traurigkeit etwas verblassen ließ, sodass er frei atmen, manchmal sogar lächeln konnte. In ihrer Gegenwart war die Welt einfach ein bisschen weniger Scheiße.
14. November
+++ Hochwasser im Rheinland: 21 Tote, 63 Menschen werden vermisst +++ Klima: Neue Studie belegt, dass der CO2-Gehalt in der Atmosphäre im vergangenen Jahr erstmalig nicht gestiegen ist +++ MERS-Hotspot in Lübeck – Beachten Sie die Quarantäne-Vorschriften +++
"Hast du mitkommen, dass Heidi seit Neuestem wieder mit Jill geht? Neulich auf Timos Party, das hättest du sehen sollen...", erzählte Djamal und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Wie jeden Montag war in der Mensa überfüllt und die Luft vibrierte vor Geschirrklappern, Stühlerücken und zu lauten Unterhaltungen. Zu allem Überfluss summte auch noch die Hydrokultur-Anlage an der Wand, in der Salat, Tomaten und Kräuter angebaut wurden.
Djamal hatte unbedingt in die Mensa gewollt, schließlich war Veggie-Day und es gab sogar etwas Käse zu der regionalen Kürbispfanne. Elon fand es trotzdem zu laut und zu voll. Er schob sich eine Gabel in den Mund und kaute auf der orangefarbenen Pampe herum. Er hatte June den ganzen Tag noch nicht gesehen und es aus irgendeinem Grund verschlechterte das seine Laune drastisch.
"Elon?" Er schreckte aus seinen Gedanken hoch und stellte fest, dass sein Freund ihn ungeduldig ansah. "Weißt du, was wir in Deutsch aufhatten?"
"Äh... die ersten paar Kapitel von diesem neuen Buch lesen, glaube ich."
"Stimmt ja! Das ist bestimmt genauso langweilig wie das letzte, aber ich brauche bessere Noten als letztes Jahr, sonst wird das nichts mit Journalistik in Berlin...", fuhr Djamal in seinem Monolog fort. Obwohl Elon nur gelegentlich geistesabwesend nickte, schaffte er es, alleine ein Gespräch aufrecht zu erhalten, sodass sich das Schweigen nicht zwischen ihnen ausbreiten konnte. Smalltalk war eine seiner großen Stärken. Früher hatte Elons sich manchmal darüber geärgert, dass man mit Djamal kaum über tiefere Themen reden konnte und er wie eine wandelnde Buschtrommel jede Neuigkeit sofort in der ganzen Schule verbreitete. Aber heute war es Elon ganz recht, dass er schweigend seinen Kürbis essen und die Leute beobachten konnte.
Ein blauer Haarschopf tauchte am Eingang auf und Elons Herz machte einen Satz.
June blickte suchend über die Köpfe der essenden Schüler*innen und fand dann seinen Blick. Ohne Umschweife kam sie herüber und legte ihre Umhängetasche auf den freien Stuhl neben ihm. "Ich hol' mir kurz was zu essen." Damit verschwand sie wieder im Gewusel.
Djamal sah ihr mehr als nur ein wenig irritiert nach. "Ist das nicht diese Neue aus Geschichte? Was will die denn hier?"
Elon antwortete nicht, sondern versuchte, sein Lächeln in seinem Wasserglas zu ertränken. Einen Moment später kam June wieder, den Teller bis an die Grenzen seiner Tragfähigkeit gefüllt. "Ich hab so Hunger! Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal was gegessen habe." Sie schob sich eine Gabel in den Mund und fragte dann nuschelnd: "Glaubst du eigentlich, dass der Kampf für die höhere Sache den Einsatz von Gewalt rechtfertigt?"
Elon blinzelte einmal. "Das ist der seltsamste Gesprächseinstieg, den ich seit Langem gehört habe. Willst du nicht lieber fragen, ob mir das Essen schmeckt, oder was die Geschichtshausaufgaben waren?"
"Das wäre ein sehr langweiliges Gespräch." Sie spießte ein Stück Hokkaido auf.
Djamal sah zwischen ihnen beiden hin und her. "Ich glaub, ich lass euch mal allein. Muss noch was mit Timo besprechen." Er stand auf und warf Elon im Gehen einen bedeutungsvollen Blick zu. Später würde Djamal ihn garantiert mit Fragen bombardieren.
"Also?" June sah ihn auffordernd an, bevor sie sich eine weitere Gabel in den Mund schob. "Das ist übrigens ausgezeichnet. Hast du keinen Hunger?"
"Nein. Und beim Einsatz von Gewalt kommt es, glaube ich, auf das höhere Ziel an. Es wäre in Ordnung, sich gegen eine Diktatur zu wehren."
June nickte und strich die Haare aus der Stirn. "Okay. Nehmen wir als Ziel mal die Rettung des Planeten. Kann man Menschen dazu zwingen, sich klimafreundlich zu verhalten?"
Elon betrachtete sie einen Moment aus zusammengekniffenen Augen. "Ist das eine theoretische oder eine konkrete Frage?"
Sie lächelte und ihre Augen blitzten. "Darauf kommt es nicht an."
"Ja, ich finde, man kann Menschen zwingen, sich so zu verhalten, dass es anderen nicht schadet. Ansonsten dürfte man ja auch Mörder nicht einsperren."
Jemand ließ seinen Teller fallen und sie zuckten beide zusammen. Eine Küchenhilfe eilte herbei, um die Scherben aufzufegen. Elon hörte, wie sie murmelnd über die Lebensmittelverschwendung schimpfte.
June riss den Blick von der Szene los und deutete mit der Gabel auf Elon. "Guter Punkt. Aber was ist, wenn das höhere Ziel nicht so eindeutig ist? Wenn der Planet gar nicht wirklich in Gefahr ist, sondern das einfach eine recht bequeme Erzählung ist? Ist es dann auch in Ordnung, Menschen zu zwingen, sich so zu verhalten, wie man es richtig findet?"
"Natürlich nicht. Aber worauf willst du hinaus?"
Sie spießte einen Fetawürfel auf. "Kommt jetzt: Wenn also das höhere Ziel der Regierung nicht so eindeutig ist, ist das dann eine Diktatur? Wäre es dann sinnvoll, sich gegen diese willkürliche Staatsgewalt zu wehren?"
"Willst du damit sagen, dass es denn Klimawandel nicht gibt?" Die Frage klang kritischer, als sie gemeint war. Elons Mutter regte sich immer über die Klimawandelleugner auf, aber Elon war es recht egal. In seiner Welt gab es wichtigere Dinge als Politik.
„Wir wissen es nicht, oder?“, fragte June und sah ihn direkt an. Ihre Augen waren dunkler geworden, als wären Sturmwolken aufgezogen. „Wir kennen nur das, was uns die offiziellen Nachrichten mitteilen, theoretisch könnte alles ganz anders sein. Vielleicht ist das 1,5-Grad-Ziel längst erreicht, aber sie füttern uns trotzdem mit Katastrophenmeldungen, um alles mit ihrem Mantra der Alternativlosigkeit versehen zu können.“
Elon musste an seine Mutter denken, die bei dieser Aussage bestimmt an die Decke gegangen wäre. Er merkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Konnte das sein? Konnten sie in einer Diktatur leben, ohne es zu merken?
Bevor sie etwas sagen konnte, tauchte der Typ auf, mit dem June öfter in der Raucherecke stand. Seine Haare waren an den Seiten frisch abrasiert und oben zu einer igelähnlichen Frisur gegelt. Mit der schwarzen Jeansjacke und den Springerstiefeln sah er aus, als wäre er den 1990er Jahren entsprungen. Er legte von hinten die Arme um June und gab ihr einen Kuss auf den Hals.
Sie lehnte sich zurück und lächelte zu ihm hoch. „Bonjour, hätte nicht gedacht, dass du heute in die Schule kommst, nach dem Abend gestern.“
„Ich bin nicht freiwillig hier. Lenny hat mich rausgeschmissen, Anwesenheitspflicht und so.“ Seine Finger spielten mit ein paar von ihren blauen Strähnen.
June schüttelte seine Hand ab und drehte sich zu Elon um. „Elon, darf ich vorstellen, das ist Falko. Falko, Elon.“
„... deine neue Flamme?“, fragte Falko und musterte Elon von oben bis unten.
„Falko!“ Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm und er wich lachend zurück.
„Ist ja gut. Kommst du mit raus? Ich brauch dringend was gegen die Kopfschmerzen.“
Sie zögerte kurz und warf Elon einen Blick zu, doch dann nickte sie und räumte ihre Teller zusammen. „Bis morgen“, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln. Falko tippte sich salutierend an die Stirn, dann waren sie verschwunden.
Elon schaltete die Reality-Show ab, die er sich über eine VR-Brille angesehen hatte. Seine Beine zitterten leicht, als er vom Crosstrainer stieg und sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn wischte. Er löste die Dioden, die seine Vitalfunktionen gemessen hatte. „Du hast im letzten Monat 2% Muskelmasse zugelegt!“, lobte ihn seine Fitness-App. Denk daran, genug zu trinken und ausreichend pflanzliche Proteine zu konsumieren.
Elon schob die Nachricht beiseite und stellte sich unter die Dusche. Er war schon wieder allein beim Sport gewesen, Djamal hatte keine Zeit, Hausaufgaben, Klausurvorbereitung und so. Entweder nahm er das mit dem Lernen viel zu ernst, oder er ging Elon aus dem Weg. Elon könnte es verstehen, er hielt die Anspannung zwischen ihnen selbst kaum aus. Das lauwarme Wasser kühlte seine Muskeln etwas ab und er schloss die Augen. Es wäre ziemlich leicht, in der heutigen Welt eine Diktatur aufzubauen, dachte er, während das Wasser auf seine Kopfhaut prasselte. Jede unserer Bewegungen wird aufgezeichnet, jede Information, die wir bekommen, kriegen wir über das Internet. Wenn die Regierung will, könnte sie uns vollständig überwachen und manipulieren. Es war ein erschreckender Gedanke, aber zugleich auch elektrisierend. Elons Hand bebte leicht, als er nach dem Seifenstück griff und seine Haare einschäumte. June hatte Recht, sie wussten es nicht. Es gab keinen Beweis dafür, dass die KSP sie nicht seit Jahren verarschte.
Ein paar Minuten später glitt die Tür des Fitnessstudios hinter ihm. Elon zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hoch und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle Marinel-Ubaldo-Allee. Sie war nach einer philippinischen Klimaaktivistin benannt, was etwas ironisch war, weil die Allee jetzt aus Klimaschutzgründen gesperrt war. Ein mit Flatterband umwickelter Bauzaun stand direkt neben der Haltestelle. Die zunehmend überwucherte Straße dahinter gehörte zum Villenviertel der Stadt. Das Jahnviertel war vor einigen Jahren enteignet worden und stand jetzt leer, bis man Zeit fand, die Villen in ökologische Kleinwohnungen umzubauen. Das sagte zumindest die Regierung.
Er sollte wirklich aufhören, über dieses Diktatur-Ding nachzudenken. Auf seinem Nexo-Armband suchte Elon nach einem halbwegs interessanten Podcast, stieß aber nur auf eine Sportsendung. "Hey Leute, ich bin Marko. Es ist wieder Donnerstag, also Zeit, sich mit Ernährung zu beschäftigen", schnurrte es ihm aus den Ohrstöpseln entgegen. "Heute geht um Mehlwürmer. Wie werden sie gezüchtet, wie hoch ist der Eiweißanteil und natürlich: Kann man sie frittieren?" Elon lehnte sich an die Glaswand der Bushaltestelle und rieb sich die Hände gegen die Kälte. Ein paar Vögel pickten rote Beeren von einem Strauch und irgendwo unterhielten sich Leute auf Arabisch. Ein selbstfahrendes Auto summte vorbei, dann war die Straße wieder leer.
Elon drehte das Nexo-Armband wieder zu sich und suchte nach einem anderen Podcast. So spannend waren Mehlwürmer auch wieder nicht.
"Hey, du schon wieder." Elons Herz erkannte die Stimme noch vor seinen Gedanken und machte einen Satz. Als er aufsah, kam June auf ihn zu und nahm lächelnd die Kopfhörer ab. „Man könnte meinen, das hier wäre ein Dorf, so oft wie du mir über den Weg läufst.“
„Die Romantiker würden sagen ‚Schicksal‘.“ Ihr Lächeln war ansteckend. „Was treibst du hier beim Jahnviertel?“ So nah am Sperrgebiet gab es nach Elons Kenntnis eigentlich nur das Fitnessstudio, eine marode Skaterbahn und ein paar Wohnblocks. Und Gepard Gino hauste hier auch irgendwo, aber das war nicht gerade eine Zierde für die Gegend.
„Wohne in der Nähe.“ Sie drehte sich um und pfiff auf durch die Zähne. Einen Moment später tauchte ein schmutzigweißer Hund hinter einer Hecke auf. Schwanzwedelnd und mit wallender Mähne trabte er zu June und ließ sich von durch das lange Fell streichen. June leinte ihn an und sah dann zu Elon auf. "Vielleicht ist es wirklich Schicksal, ich wollte dich was fragen." Ein Funkeln trat ihn ihre Augen. "Ich treffe mich morgen Abend mit ein paar Leuten, die auch über die Klimapolitik der Regierung nachdenken. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust..."
Elon überschlug im Kopf seine Pläne für die nächsten Tage. Seine Mutter wollte demnächst aus München zu Besuch kommen, aber ansonsten würde er wahrscheinlich einfach allein zuhause oder auf dem Friedhof sitzen und traurige Songs auf seiner Gitarre spielen. „Klar, warum nicht“, meinte er und versuchte, sich seine Freude nicht zu sehr anmerken zu lassen. „Wo soll das Ganze denn stattfinden?“
Sie antwortete nicht sofort, sondern wischte sich eine feuchte, dunkelblaue Strähne aus dem Gesicht. "Hm... kannst du das für dich behalten?"
Er zog fragend eine Augenbraue hoch, nickte aber. "Ich bin nicht so der Typ, der Geheimnisse ausplaudert." Elon war insgesamt nicht so der Typ, der viel plauderte.
Sie wickelte sich die Strähne um den Finger. "Dachte ich mir fast. Es wäre gut, wenn weder der Treffpunkt, noch die Teilnehmenden bekannt werden. Einige Kameraden werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Kriegst du das hin?"
"Klar." Sein Herz begann schneller zu klopfen und ein Kribbeln ging durch seinen Körper. Verfassungsschutz, ein geheimes Treffen. Die Wörter klangen nach Abenteuer und Rebellion. Nach etwas, das weit besser war, als über näherrückende Prüfungen und Novembergefühle nachzudenken.
June lächelte wieder, was ihre Grübchen zum Vorschein kommen ließ. "Luisa-Neubauer-Allee 36, aber wir können uns auch am Sprengerpark treffen und zusammen hingehen." Sie wandte den Kopf, weil der Bus in diesem Moment um die Ecke bog.
Elons Blick wanderte zu dem Bauzaun, an dem das Absperrband im Wind flatterte. "Liegt die Neubauer-Allee nicht in der Sperrzone?" Der Bus machte schon eine scharfe Bremsung vor ihnen und die Tür glitt auf.
"Richtig, beim Sprenger-Park kommt man aber gut rein." Irgendwie wurde das mit dem Abenteuer gerade ziemlich konkret. Das Sperrgebiet galt als einsturzgefährdet, deshalb musste man mit einem Busgeld rechnen, wenn man sich jenseits des Zauns erwischen ließ. Wahrscheinlich wollte die Regierung damit verhindern, dass sich Obdachlose in den Villen einquartierten. Obdachlose oder Widerstandsgruppen. In Elons Kopf schwirrten viel zu viele Fragen umher, die er gerne noch gestellt hätte, aber die Busfahrerin beugte sich schon vor und brummte: „Wolln’se jetzt mitfahren? Ansonsten hab ich auch noch belebtere Haltestellen zu bedienen.“
„Dann sehen wir uns morgen“, verabschiedete er sich schnell von June und sprang in den Bus, bevor die Fahrerin die Geduld verlor.
„18 Uhr, komm nicht zu spät“, rief sie ihm hinterher und setzte die Kopfhörer wieder auf. Durch die dreckige Glasscheibe wechselten sie noch einen verschwörerischen Blick, dann verschwand sie aus Elons Sichtfeld.
Sein Herz schlug noch immer schnell und leicht wie ein flatternder Vogel in seiner Brust. Seine Finger trommelten eine stumme Melodie auf die Armlehne, dem grauen Wetter und den missmutigen Gesichtern der Fußgänger draußen zum Trotz. Erst als er sein Spiegelbild in der Scheibe sah, merkte Elon, dass er lächelte.
15. November
+++ Rheinland: Gelder für Wiederaufbau gefordert +++ Studie zum Klimawandel: Kanzlerin Litvinov spricht von einem ‚großartigen‘ Zeichen und sieht sich auf dem ‚richtigen Weg‘ +++ Starkregen: Bauernverband befürchtet Bodenverluste +++
Der Wind pfiff scharf um die Ecke des Wartehäuschens und zerrte an Elons Jacke, während er noch einmal auf sein Nexo-Armband schaute. Sie waren vor zwanzig Minuten verabredet gewesen, aber jetzt gab es nicht einmal eine Nachricht von June.
Das Tor zum Sprengerpark war schon abgeschlossen. Durch die Gitterstäbe erahnte Elon die Umrisse von Bänken und dem Springbrunnen, an dem sie als Kinder geplanscht hatten. Lil und er hatten immer abwechselnd eine Hand auf die Wasserdüsen gepresst, sodass das Wasser zwischen ihren Fingern hervorspritzte, bis sie beide klatschnass waren und ihre Mutter sie zu Hause in warme Decken einwickelte und ihnen Milch mit Honig machte.
Jetzt waren der Park und die Straße gespenstisch leer und die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet. Im schwachen Schein seiner Handytaschenlampe sah Elon das Absperrband an der Ecke des Parks flattern. Er spähte die Straße dahinter entlang, obwohl er nicht glaubte, dass June noch auftauchen würde, und warf noch einen Blick auf das Nexo-Armband. Nichts, verdammt. Er hatte sich schon den ganzen Tag Gedanken über dieses Treffen gemacht, aber dass June einfach nicht auftauchte, war nicht vorgesehen. Und jetzt?
Fahr nach Hause, Elon, sagte seine innere Stimme. Das Ganze war von Anfang an eine schlechte Idee. Du musst dich auf die Schule konzentrieren, nicht auf Klimawandelmystiker und Geheimtreffen im Villenviertel. Fahr nach Hause, lies endlich dieses Buch für Deutsch und schlag dir diesen Unsinn aus dem Kopf.
Elon rieb sich die Hände und blieb an dem verschlossenen Tor stehen. Vielleicht lag es an dem Ort, aber er musste schon wieder an Lil denken. Wie ihre Augen geleuchtet hatten, als sie sich für das Entwicklungsprojekt in Brasilien beworben hatte. Das Leben ist zu kurz für irgendwann, hatte sie gesagt und an dem Orangensaft genippt, den sie zur Feier des Tages gekauft hatte. Man erstarrt, wenn man vorsichtig und vernünftig ist, und dann ist es zu spät. Elon holte tief Luft und schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. Sie hatte so recht gehabt, auf eine seltsame, verdrehte, brutale Weise.
Ach, fuck it, Lil. Ohne noch länger darüber nachzudenken, setzten sich seine Füße in Bewegung. Es war so leicht, unter dem Flatterband hindurch zu schlüpfen. Nur einmal ducken, dann drang er in das verbotene Gebiet ein.
Die Straßen lagen verlassen da. Seit der Polizeireform gab es ohnehin nur noch wenige Gesetzeshüter und niemand machte sich die Mühe, sie in verlassenen Villenvierteln patrouillieren zu lassen.