Falkenreiter - Flucht aus Luma - Angie Sage - E-Book

Falkenreiter - Flucht aus Luma E-Book

Angie Sage

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Beschreibung

Fantasy-Fans aufgepasst: Falken, Freundschaft und ein unvergessliches magisches Abenteuer

Alex weiß nicht viel über ihre Eltern, aber sie hat ein paar Zauberkarten von ihnen geerbt. Sobald sie die Hand darüber bewegt, kann Alex in die Vergangenheit sehen, aber auch in die Zukunft. Das tut sie natürlich nur heimlich, denn in Luma ist Magie streng verboten. Als ihr Geheimnis auffliegt, flieht Alex aus ihrer Heimat. Doch ein Falkenreiter des Königs ist längst hinter ihr her. Wird Alex‘ Magie stark genug sein, um allen Gefahren zu trotzen und ihre Eltern zu finden?

Von einer der erfolgreichsten Kinderbuchautorinnen: Die Bücher von Angie Sage haben sich weltweit über 3,5 Millionen Mal verkauft und wurden in 33 Sprachen übersetzt!

»Das ist ein richtig spannendes Fantasy-Abenteuer voller Überraschungen.« Gabriela Grunwald, Deutschlandfunk Kultur Kakadu, 24.10.2021

»Und wieder mal hat Angie Sage eine großartige magische Welt voller Phantasie erschaffen. […] wunderbar!« Katharine Mahrenholtz, NDR Mikado, 04.02.2022

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Seitenzahl: 347

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Bisher erschienen: Maximilian Flügelschlag

Deutsche Erstausgabe © 2021 Schneiderbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten

© 2020 by Angie Sage Originaltitel: »Enchanter’s Child, Book One: Twilight Hauntings« Erschienen bei Katherine Tegen Books, an imprint of HarperCollins Publishers, New York Vignetten von Melanie Korte Covergestaltung: Melanie Grunge Coverabbildung: Grunge Frame, Wind, Falke / shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783505144387

www.schneiderbuch.de Facebook: facebook.de/schneiderbuch Instagram: @schneiderbuchverlag

Widmung

Für Hannah-Grace Strover, in Liebe

Prolog

Prolog

Es ist fünf Minuten vor Mitternacht. Der letzte Zug aus der Festungsstadt Rekadom ist zum Bersten voll mit Magiern, Beschwörern, Blendern und deren Familien, und noch immer versuchen die Leute verzweifelt, sich in einen der überfüllten Waggons zu quetschen.

Mitten im Gewimmel am Bahnsteig steht der Magier des Königs, Hagos RavenStarr. Er trägt seine kleine Tochter auf dem Arm, und auch er und seine Frau Pearl versuchen, in den Zug zu kommen. Sie haben es fast geschafft, als der Ruf eines Torwächters über den Bahnsteig hallt: »Hagos RavenStarr! Pearl RavenStarr! Halt! Auf Befehl von König Belamus dem Großen!«

Schweigen legt sich über die Menge. Hastig zieht Hagos ein kleines blaues Etui hervor, dessen Inhalt er um jeden Preis vor den Häschern des Königs bewahren muss. Er schiebt es tief in die Wolljacke seiner kleinen Tochter und flüstert ihr zu: »Papa wird dich finden, mein Schatz. Versprochen.« Dann sagt er zu seiner Frau: »Wir müssen sie jemandem im Zug geben. Es ist besser so.«

Pearl weiß, dass er recht hat. Die letzte Nacht, die sie vor Kälte zitternd in einem dunklen Kerker voller Ratten verbracht haben, hat ihrer Tochter schon genug Angst gemacht. Das will sie ihr nicht noch einmal antun.

Als zwei Wachen nach Hagos greifen, hält er seine Tochter weit von sich. Sie schreit das einzige Wort, das sie kann, »Papa!«, doch sie sieht nur, wie die Hände ihres Vaters sie regelrecht von sich werfen, während ihre Mutter sie von hinten nimmt und an ein offenes Zugfenster hebt, aus dem sich eine Frau mit zwei kleinen Mädchen beugt.

Mit tränenüberströmtem Gesicht drückt Pearl der Frau ihre Tochter in die Arme und ruft in ihrer Sprache aus dem Land hinter den Blauen Bergen: »Haah-leks! Haah-leks!« Das heißt: »Nimm sie! Nimm sie!«

Die Frau starrt das brüllende Bündel entsetzt an. »Nein!«, schreit sie. »Nein!« Doch da wird Pearl schon von den Wachen weggezerrt.

Die Lokomotive pfeift, der Waggon verschwindet im rußigen Qualm, und Abschiedsrufe schallen durch die Luft. Während Hagos und Pearl durch die eisernen Tore zurück in die Stadt gezerrt werden, setzt sich der letzte Zug von Rekadom in Bewegung. Ihre kleine Tochter brüllt vor Verzweiflung und beißt in den Arm, der sie hält.

Kein guter Anfang.

Zehn Jahre später

1. Kapitel

1. Kapitel

Die Karten

»Ein Monster«, sagte Alex, während ihre Finger wie die Flügel eines Vogels über das schimmernde Sechseck flatterten, das vor ihr auf dem staubigen Boden lag. Alex – mager und klein für ihr Alter, mit dunkel blitzenden Augen und einer Menge dichter, schwarzer Locken, die von einem grünen Stoffband zusammengehalten wurden – kauerte neben der niedrigen Mauer, die den Marktplatz der Klippenstadt Luma umgab. Sie war gut versteckt hinter dem Stand einer Gewürzhändlerin, einer dicken Frau in leuchtend gelber Jacke und weitem, fliederfarbenem Rock. Freundlicherweise warnte sie Alex jedes Mal vor den Schildwachen, wenn diese sich näherten. Zum Dank legte Alex ihr manchmal die Karten, deren Vorhersagen unheimlich genau waren.

Neben Alex kniete ein Junge mit kurzen, braunen Haaren. Fasziniert starrte er das Sechseck an – so etwas hatte er noch nie gesehen. »Warum sagst du Monster?«, fragte er vorwurfsvoll. Er kam sich etwas betrogen vor.

Alex zuckte mit den Schultern, schnippte mit den Fingern, und das Schimmern erlosch. Das große Sechseck verschwand und hinterließ sieben winzige Sechsecke, die gerade so groß waren, dass sie in ihre Hand passten. Sie lagen im Staub, oblatendünne Plättchen aus magischem Perlmutt, von denen jedes in einer anderen Farbe glänzte, die über ihre Oberfläche waberte wie Öl auf Wasser. Alex klaubte sie auf und schob sie zu einem flachen Stapel zusammen. »Ich habe etwas Riesengroßes gesehen – bestimmt ein Monster. Es war in einer Höhle, mit Menschen. Wahrscheinlich wollte es sie fressen.«

»Fressen?« Der Junge sah sie entsetzt an.

Alex zuckte mit den Schultern. »Warum sollte ein Monster sonst Menschen in seine Höhle bringen?«

Der Junge atmete auf. »Du hast also nicht gesehen, dass das Monster die Menschen gefressen hat?«

Alex schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich nicht. Und jetzt muss ich los. Bin spät dran.«

Der Junge hob eine Hand. »Kannst du es noch mal versuchen? Bitte. Nur noch einmal«, bat er und wollte Alex einen weiteren Silberpfennig zustecken.

Alex schob die Münze weg. »Es wird nichts ändern«, sagte sie. »Das tut es nie.«

»Bitte!«, flehte der Junge. »Es ist wichtig. Bitte.«

Alex seufzte. »Na schön, aber du musst dich konzentrieren. Denk an deine Frage und sonst nichts.«

»Mach ich. Versprochen.« Der Junge legte sich die Hände an die Schläfen und drückte dagegen, als könnte er so seine Gedanken sammeln.

Flink legte Alex sechs Sechsecke zu einem Kreis, so, dass sie einander berührten. In die Mitte des Kreises legte sie das letzte, in dem, wie der Junge bemerkte, die Ziffer sieben zu schwimmen schien. Wieder ließ sie die Finger darüber flattern, und der Junge sah gebannt zu, wie die Ränder der kleinen Plättchen verschwanden und zu einem großen, glänzenden Sechseck wurden, über dessen Oberfläche regenbogenbunte Farben flirrten.

Alex begann, ihren Zeigefinger zu drehen, und die Farben folgten ihrer Fingerspitze und wirbelten herum wie eine Spirale. In der Mitte des Strudels tauchte ein dunkler Fleck auf, der rasch größer wurde, er sah aus wie eine sich weitende Pupille in einer bunten Iris. Alex hörte auf zu rühren und stützte die Hände auf den Boden. Es half ihr, das Gefühl abzuschwächen, in einen Abgrund zu stürzen – ein Gefühl, das sie immer überkam, wenn sie in die Dunkelheit in der Mitte des Kreises blickte.

Der Junge beobachtete sie genau, die Hände noch immer an die Schläfen gepresst, und hielt vor Konzentration den Atem an. »Was siehst du?«, fragte er.

»Dasselbe wie eben. Eine Art … Monster.«

»Was für eins?«, fragte der Junge. Er beugte sich vor und blickte in die Karten, um es mit eigenen Augen zu sehen. Doch er sah nichts als die sanft kreiselnde Spirale mit dem dunklen Punkt in der Mitte, und Enttäuschung stieg in ihm auf. »Das ist doch nur ein Trick«, sagte er verärgert. »Irgendwie bringst du die Farben dazu, sich zu bewegen, und dann tust du so, als würdest du etwas darin sehen.«

»Wenn du das glaubst, dann verzieh dich«, zischte Alex. »Ich lege meine Karten nicht für Leute, die mich eine Trickserin nennen.«

Der Junge rührte sich nicht. Er blieb auf den Knien und starrte weiter in den Farbenwirbel. »Tut mir leid«, murmelte er. »War nicht so gemeint. Bitte sag mir, was du gesehen hast.«

Alex seufzte. Sie konnte seine Reaktion ja verstehen. Sie wäre auch besorgt und verärgert, wenn sie nach ihrem Bruder gefragt und nur das Wort »Monster« zur Antwort bekommen hätte. Rasch warf sie einen Blick über die Mauer und hielt nach den auffälligen orangefarbenen Umhängen der Schildwachen Ausschau. Es war früher Abend, und das Markttreiben legte sich, sodass ihr nun weniger Menschen Deckung verschafften. Mit voller Konzentration starrte sie noch einmal in die schwarze Tiefe. »Das Monster ist kalt. Es rührt sich nicht. Seine Gelenke tun weh. Sein Herz steht still.«

»Oh.« Der Junge klang enttäuscht. »Wird das so bleiben? Kannst du sehen, ob es immer kalt sein wird? Werden seine Gelenke immer wehtun? Wird sein Herz immer stillstehen? Kannst du es mir sagen? Bitte?«

Alex schaute nicht gern in die Zukunft, doch die Hartnäckigkeit des Jungen weckte ihre Neugier. Wieder stützte sie die Hände zu beiden Seiten des Sechsecks auf den Boden, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und blickte so tief in die Dunkelheit, dass ihr schwindlig wurde. »Feuer. Es frisst Feuer. Sein Herz schlägt. Ich fühle es.« Sie ließ sich zurück auf die Fersen sinken und hatte das Gefühl, dass sich alles um sie drehte.

»Das war’s«, sagte sie. »Noch mal schaue ich nicht nach.«

Der Junge strahlte. »Danke! Danke, das ist großartig! Jay – mein Bruder – wird überglücklich sein.«

Die Menschen sind schon komisch, dachte Alex. Warum ein Monster, das irgendwann Feuer fressen und zum Leben erwachen würde, besser war als ein totes Monster, war ihr schleierhaft. Ein scharfes Zischen der Gewürzhändlerin holte sie in die Wirklichkeit zurück. »Achtung! Schildwache!«

Alex sammelte hastig ihre Karten ein und steckte sie in das kleine, sechseckige Etui, das sie unter ihre grüne Schärpe schob.

Der Junge schien nichts mitzukriegen. »Das Monster, das du gesehen hast«, sagte er, »war es …«

»Pssst!«, machte Alex. »Wenn du noch nicht genug von Monstern hast – genau hinter dir steht eins!«

Der Junge fuhr herum, und Alex packte ihn am Arm. »Nicht umdrehen, du Trottel! Da drüben ist eine Schildwache. Hast du die Frau mit dem orangenen Umhang nicht gesehen? Weissagen ist verboten, weißt du das denn nicht?«

Die Augen des Jungen weiteten sich vor Schreck.

»Du solltest besser verschwinden«, sagte Alex.

»Nein«, erwiderte der Junge entschlossen. »Du sollst keine Schwierigkeiten kriegen, nur weil ich so viel gefragt habe. Außerdem sieht es verdächtig aus, wenn ich jetzt wegrenne, oder?«

»Na gut, dann unterhalten wir uns eben. Wie Freunde.«

Der Junge nickte und schluckte mühsam. »Also, äh … bist du … öfter hier?«

Alex lachte. »Wie Freunde, du Dummkopf. Lass mich mal machen. Hör einfach zu.« Sie redete lauter. »Ich muss bis Sonnenuntergang zu Hause sein. Ich habe versprochen, heute Abend auf Louie aufzupassen.«

»Wer ist Louie?«, fragte der Junge.

»He, wenn wir Freunde sind, solltest du das wissen. Er ist mein kleiner Bruder. Na ja, oder so ähnlich.«

»So ähnlich?«

»Pflegebruder. Er ist süß. Oh, verdammt, sie kommt rüber. Wie heißt du? Manchmal testen sie einen. Ich bin Alex.«

»Benn.«

Alex atmete auf und grinste. »Glück gehabt, Benn. Sie hat sich umgedreht. Scheint an den Würsten da drüben was auszusetzen zu haben.«

Benn stieß einen leisen Pfiff aus. »Gruselig«, sagte er dann.

»Nur, wenn wir erwischt worden wären«, entgegnete Alex. »Sind wir aber nicht.« Dann griff sie mit einem schnellen »Danke!« an die Gewürzhändlerin nach ihrem Bündel und warf es sich über die Schulter.

»He!«, rief Benn ihr nach. »Warte!« Doch Alex verschmolz mit ihrer kurzen, dunkelblauen Jacke und der ausgeblichenen, schwarzen Hose mühelos mit den Schatten.

Benn musterte die kaninchenbauartigen Gassen, die vom Marktplatz abzweigten, und fragte sich, welche Alex wohl genommen hatte und wie sie so schnell hatte verschwinden können. Er seufzte. Er war durcheinander, als stünde plötzlich alles auf dem Kopf. Nicht wegen des Monsters, das sie gesehen hatte, sondern weil er aus irgendeinem Grund wirklich Alex’ Freund sein wollte, nicht nur ihr gespielter Freund, um die Wache zu täuschen. Doch Alex war fort, und weil er ein Händler von außerhalb war, musste er nun gehen, bevor die Tore der Stadt bei Sonnenuntergang geschlossen wurden.

Benns Hand legte sich um seine Einnahmen des Tages – ein Vermögen aus neunundvierzig Silberpfennigen (einen hatte Alex bekommen, aber der war gut angelegt) für eine Wagenladung Zitronen. Das war der Lohn für den mühsamen Weg den steilen Berg hinauf mit einem unwilligen Esel, den er am frühen Morgen zurückgelegt hatte. Er stieg über die Mauer und gab einen weiteren Silberpfennig für ein Säckchen Chiliflocken aus, als Dank an die Gewürzhändlerin, die sie gerettet hatte. »Sei vorsichtig«, sagte sie, nachdem er das Wechselgeld ausgeschlagen und sie die Münze dankbar verstaut hatte. »Die Wachen sehen mehr, als du denkst.«

Ihre Warnung machte ihm Angst. Er hatte nicht gewusst, dass Luma so ein gefährlicher Ort war. Er dachte an Alex, und ihm wurde klar, wie mutig sie sein musste – oder auch dumm, ganz sicher war er da nicht –, ein solches Risiko einzugehen.

Benn eilte zu seinem Wagen und seinem griesgrämigen Esel namens Howard. Er tätschelte Howard die Nase, gab ihm eine Handvoll Hafer und sprang auf den Fahrersitz. Der Hafer und die Aussicht, nach Hause zu kommen, hoben Howards Stimmung beträchtlich, und der Esel lief beinahe beschwingt über den sich leerenden Marktplatz, vorbei an einer lärmenden Musikantengruppe, die auf einer Bühne Trommeln aufstellte, zum Torhaus der Schildwachen, dem einzigen Weg in die Stadt hinein oder aus ihr hinaus.

Beim Näherkommen konnte Benn nicht anders, als am Turm hinaufzublicken. Ob eine der Wachen ihr Fernglas auf ihn gerichtet hielt? Doch der schmale Fensterspalt sah leer aus. Den Blick auf das starke Eisengitter gerichtet, das man quietschend vorschieben würde, sobald die Abendglocke ertönte, wartete Benn im Schatten des Torhauses, um seinen Händlerausweis vorzuzeigen. Sein Herz schlug schneller. Vielleicht würden sie ihm ansehen, dass er sich die Karten hatte legen lassen. Vielleicht würde er nie wieder aus dieser heißen, staubigen Stadt hinauskommen. Nie wieder.

Jetzt war er an der Reihe. Mit zitternden Fingern zeigte er seinen Ausweis vor. Die Schildwache, ein älterer Mann in orangefarbenem Umhang mit dunkelblauen Blitzen am Arm, winkte ihn durch, ohne ihn überhaupt anzusehen, und Benn und Howard waren frei. Howard verfiel in seinen zuckelnden Gang und trabte den Lumasteig hinunter – den steilen, gewundenen Pfad, der sie bis an den Fuß des Steilhangs bringen würde, von wo aus sie auf ihren Hof weit unten im Herzen des Zitronentals zurückkehren würden. Während Howard vergnügt durch die engen Haarnadelkurven schlitterte und seine Hufe einen munteren Rhythmus klapperten, dachte Benn an Alex und ihre sonderbaren Karten. Die Karten waren echt. Und Alex war es auch.

2. Kapitel

2. Kapitel

Der Pokkel

Die versilberten Spitzdächer von Luma glänzten in den letzten Strahlen der Abendsonne, und die Gassen, die sich zwischen den Häusern hindurchwanden wie träge Schlangen, lagen bereits in Dunkelheit. Doch Alex kannte jede Ecke und jeden Winkel, und sie schoss um die scharfen Kurven, durch den Duft würziger Speisen, die fürs Abendessen auf den Feuern köchelten, und durch den Lärm der spielenden Kinder, die nach Hause gerufen wurden. Aus den Krähennestern hoch oben auf den Zinnen der höchsten Dächer erklangen die schwermütigen Töne der Flötenspieler, die die Sonne auf ihrem Weg hinter den Horizont begleiteten. Das geschäftige Markttreiben und der Junge mit dem feuerfressenden Monster waren vergessen. Alex rannte nach Hause, zurück in die Realität – und vermutlich in Teufels Küche. Sie war viel zu spät dran. Dabei wollten ihre Pflegemutter und ihre zwei Pflegeschwestern ausgehen, und sie hatte ihnen versprochen, pünktlich zu kommen.

Jeder Laternenpfahl in Luma trug eine andere Gravur, damit sich die Menschen im Wirrwarr der Gassen besser zurechtfinden konnten, und endlich erreichte Alex die wohlbekannte Laterne, um deren Pfahl sich ein Salamander wand. Sie bog ab und rannte durch einen langen, hallenden Gang zwischen zwei hohen Gebäuden bis zu einer Tür, durch deren kreisrundes Fenster eine Lichtpfütze auf den Boden fiel. Gerade als sie die Tür erreichte – die einen Türklopfer in Form einer Elfe trug –, sprang sie auf.

Mirram D’Arbo, ihre Pflegemutter, nahm sie barsch in Empfang. »Du bist zu spät.«

Alex kam schlitternd zum Stehen und musterte das Durcheinander an Farben, das sie vor sich sah. Ihre Pflegemutter war in fließende blaue und grüne Seide gekleidet, die am Oberkörper mit silbernen Kordeln im Zickzack exakt so geschnürt war wie die billigen Würste auf dem Markt (es hieß, sie seien aus Katzenfleisch). Ganz oben auf der Wurst saß ein kleines gereiztes Gesicht mit einer Krone aus dunklen Haaren obendrauf, die mit einem Stirnband voll funkelnder Steine zurückgehalten wurden.

Bei ihrem Anblick musste Alex unwillkürlich grinsen, was Mirram glücklicherweise als Bewunderung deutete. »Entschuldige«, keuchte Alex. »Aber ich habe alles bekommen, was auf der Liste stand. Sogar die Honigrosinen.« Und bevor Mirram etwas erwidern konnte, schob sie sich an ihr vorbei in die dämmrige Stube.

Plötzlich ertönte über ihrem Kopf ein raues Krächzen: »Verflixtes Mädchen! Zu spät, immer zu spät!«

Alex hob den Blick zu den Holzbalken unter der Decke. Der Pokkel durfte im Haus frei herumfliegen, aber meistens war er in der Stube und saß auf einem der kleinen Holzpodeste, die Mirram hier und da an die Deckenbalken gehämmert hatte. Ein Rascheln verriet Alex, dass der Pokkel wirklich dort war. Sie verabscheute das Tier. Pokkel waren eine Mischung aus Papagei und Gecko – ein beliebtes Haustier in Luma, und dieser Pokkel war Mirrams ganzer Stolz. Er war etwa so groß wie eine Katze und sah aus wie ein bunt gefiederter Salamander. Er trug eine Federkrone auf dem Kopf, laut Mirram die prächtigste der ganzen Stadt, und hatte kurze Flügelstummel. Wie die meisten Pokkel besaß er die Fähigkeit, je nach Laune die Farbe zu wechseln, doch im Gegensatz zu den meisten Pokkeln war er nicht stumm. Mirrams Pokkel konnte sprechen wie ein Papagei und hatte die unheimliche Gabe, Wörter zu wiederholen, die gerade gesagt worden waren. Alex hatte keinen Zweifel daran, von wem er den letzten Satz aufgeschnappt hatte.

Mirram eilte zu der schmalen Treppe, die ins obere Stockwerk führte. »Zerra! Francina!«, rief sie. »Es ist Zeit!«

Alex hörte die Füße ihrer Pflegeschwestern die Treppe hinuntertrappeln und kam höflich aus der Küche, um sich zu verabschieden. Die Schwestern leuchteten in ihren bunten Seidengewändern, eins rot, eins gelb, auf die gleiche Weise geschnürt wie das ihrer Mutter. Francinas dünne, glatte Haare waren mit Glitzerstaub gepudert, Zerras wilde, dunkle Locken mit blauen Schleifen garniert. Mit ihren juwelenbesetzten Sandalen und den passenden rosa-glänzenden Stirnbändern erinnerten sie Alex an die Paradiesvögel, die auf den frühen Morgenwinden über den Dächern kreisten und den Sonnenaufgang mit ihrem lärmenden Krächzen begrüßten.

»Katzenwürste! Katzenwürste!«, ertönte zu Mirrams Empörung ein Schrei über ihren Köpfen. Alex musste grinsen – manchmal traf der Pokkel genau ins Schwarze.

Die Schwestern ignorierten Alex und rauschten nach draußen, wo sie stehen blieben und ungeduldig mit ihren bunt lackierten Fingernägeln gegen den Türrahmen trommelten. »Komm schon, Ma!«, rief Zerra, die Jüngere, aber – zu Francinas Ärger – Größere der beiden.

Doch Mirram war noch dabei, Alex Anweisungen zu erteilen. »Gib Louie sein Abendessen und bring ihn dann gleich ins Bett, keine Gutenachtgeschichte, er war heute sehr ungezogen. Dann fütterst du den Pokkel und backst zwei Gewürzbrote. Und feg die Teppiche, aber diesmal ordentlich, verstanden?«

Alex nickte. »Schönen Abend«, sagte sie.

»Was davon noch übrig ist«, erwiderte Mirram säuerlich, bevor sie aus dem Haus eilte.

Alex blickte den drei schimmernden Gestalten nach, bis sie das Ende des schmalen Durchgangs erreicht hatten, kurz im Licht der Laterne aufleuchteten und verschwanden. Dann schloss sie die Tür und seufzte erleichtert auf. Jetzt hatten Louie und sie das Haus ein paar Stunden für sich. Zumindest, wenn man den Pokkel nicht mitzählte.

3. Kapitel

3. Kapitel

Die Anzeige

Alex’ Pflegeschwestern eilten hinter ihrer Mutter durch die engen Gassen, wobei ihre Sandalen gegen die festgetretene Erde schlappten. Zerra und Francina waren voller Vorfreude auf diesen Abend – Trommler und gebratenes Wildschwein auf dem Marktplatz! –, und sie hatten vor, sich so schnell wie möglich davonzuschleichen. Doch zuerst musste Zerra ihrer Mutter etwas sagen.

Ihre Mutter schritt wie immer voran und erwartete, dass sie ihr folgten. Nicht weit vor ihnen lag eine Brücke zwischen zwei Häusern, und dahinter war schon die breite Straße, die zum Marktplatz führte. Zerra konnte sehen, dass sich dort bereits ein lebhafter Strom festlich gekleideter Menschen bewegte, die sich auf einen schönen Abend freuten. Sie warf Francina einen bedeutungsvollen Blick zu – wenn sie jetzt nicht mit ihrer Mutter redeten, würden sie heute keine Gelegenheit mehr haben. Francina nickte ihr zu. Dann schlossen Zerra und sie zu Mirram auf und drängten sich neben sie.

»Was soll das?«, fragte Mirram gereizt. »Es ist zu eng für uns drei.«

Zerra begann ihre vorbereitete Rede: »Ma, es geht um Alex. Wir haben ein schlechtes Gefühl.«

»Ich gebe dir gleich ein schlechtes Gefühl, Zerra, wenn du weiter auf meinem Kleid herumtrampelst!«

Zerra fuhr hastig fort: »Ma, Alex gehört nicht zu uns. Sie sollte uns dankbar sein, aber sie ist es nicht. Und jetzt bringt sie uns alle in Gefahr.«

Mirram blieb verärgert stehen. Sie war schon lange nicht mehr ausgegangen, und über die zunehmende Sonderbarkeit ihrer Pflegetochter nachzudenken, war das Letzte, was sie jetzt wollte. »Was um alles in der Welt soll das heißen – Gefahr?«, fragte Mirram, obwohl sie das ungute Gefühl hatte, genau zu wissen, was Zerra meinte.

Zerra vergewisserte sich mit einem Blick, dass niemand in der Nähe war. »Alex macht Weissagungen«, sagte sie dann. »Mit ihren Karten. Du solltest sie anzeigen, Ma.«

»Alex anzeigen?«, wiederholte Mirram entsetzt. In Luma einen Menschen anzuzeigen, war schrecklich – es hieß, ihn den Schildwachen zu übergeben. Man würde Alex gefangen nehmen und in den berüchtigten Gewölbekellern unter der Stadt einsperren. Die meisten der Angezeigten sahen nie wieder das Tageslicht.

Diese Aussicht schien Zerra jedoch nicht zu stören. »Ja, Ma. Du solltest Alex anzeigen, bevor sie erwischt wird und wir alle Schwierigkeiten bekommen.«

Mirram blickte sehnsüchtig auf den hellen Menschenstrom in der Straße vor ihnen. Sie konnte die Trommler vom Marktplatz hören und den Beifall der Zuschauer. Abscheu stieg in ihr auf. Warum waren ihre Töchter nur so kleinlich? Warum konnten sie nicht einfach über gewisse Dinge hinwegsehen, so wie sie? Und warum mussten sie ihr ausgerechnet jetzt damit kommen und einen vergnüglichen Abend ruinieren? Es war wirklich nicht fair. »Mal angenommen, ich zeige Alex an«, fauchte sie. »Was meint ihr, wer dann einkauft, kocht, wäscht, putzt und auf Louie aufpasst. Na?«

»Du?«, erwiderte Francina schwach.

Mirram schnaubte wie ein verärgertes Kamel. Ihre Töchter sahen schweigend zu, wie sie auf ihren kleinen, blauseidenen Pfennigabsätzen herumwirbelte, ohne ein weiteres Wort über die Brücke zur großen Straße marschierte und im schimmernden Menschenstrom untertauchte, der dem Klang der Trommler entgegenfloss.

Im Schatten der Brücke blickten die Schwestern einander an. »Ich hab doch gesagt, dass sie nicht auf uns hören wird«, raunte Francina.

»Dann müssen wir eben jemand anderen finden, der auf uns hört«, gab Zerra zurück. Und ohne auf eine Antwort zu warten, tauchte auch sie ein in den Menschenstrom.

Francina eilte ihr nach und gelangte mithilfe einiger fester Ellbogenstöße wieder an ihre Seite. »Wie meinst du das?«, fragte sie und hielt Zerra am Ärmel fest. »Du willst Alex doch nicht selbst anzeigen, oder?«

»Ich lasse mich jedenfalls nicht ins Gewölbe einsperren, nur weil Ma sich nicht um die Gesetze schert. Lass mich los.«

Doch Francina zog weiter. »Zerra, das kannst du nicht machen. Zerra, bitte!«

Zerra schüttelte ihre Schwester wütend ab. »Entweder sie oder wir, Francina. So einfach ist das.«

Francina hatte plötzlich das Gefühl, sie hätte einen Felsbrocken im Magen. Benommen ließ sie sich hinter Zerra von der Menge treiben, bis sie am Marktplatz wieder ausgespuckt wurden.

Der Marktplatz summte vor Aufregung. Oben auf der Bühne tanzten und sangen drei Trommler, während drei Flötenspieler sich wie Schlangen wanden und mit ihren hohen Tönen das tiefe, rhythmische Brummen eines Basses durchbrachen. Es sah wild und sorglos aus, doch der Anblick täuschte, denn oben im Torhaus stand eine Schildwache mit einem Fernglas und hielt nach Personen Ausschau, die sich verdächtig verhielten und möglicherweise heimlich Zauberei praktizierten.

Zerra steuerte auf das Torhaus zu, und Francina eilte ihr nach. »Zerra, bitte! Lass uns noch mal drüber nachdenken«, flehte sie.

»Da gibt es nichts nachzudenken«, entgegnete Zerra knapp. Sie blieb stehen und drehte sich zu ihrer Schwester um. »Es sei denn, du willst darüber nachdenken, in welchem Käfig du im Gewölbe hängen möchtest.« Damit wirbelte sie herum und marschierte weiter.

Francina fühlte sich, als hätte Zerra ihr eine Ohrfeige verpasst. Sprachlos blickte sie ihrer Schwester hinterher, die im Schatten des Torhauses verschwand, dann eilte sie ihr nach, während ihr hoch oben die blitzenden Linsen eines Fernglases folgten. Erst vor der orangefarbenen Tür mit der Aufschrift Zutritt nur für Schildwachen holte sie ihre Schwester ein. Zerra hatte bereits die kleine Luke neben der Tür geöffnet, in der sich die Glocke befand. Francina machte einen Satz und knallte die Luke wieder zu. »Zerra, bitte. Denk an Ma! Sie werden in ihr eine Mittäterin sehen.«

Zerra blickte ihre Schwester kühl an. »Tja, sie ist ja auch eine, oder etwa nicht? Sie hat eine Kartenzauberin in ihrem Haus aufgenommen.«

»Aber das wusste sie doch nicht«, wandte Francina ein, die unter dem Blick ihrer Schwester langsam der Mut verließ. Zerras dunkle Augen waren kalt und Furcht einflößend.

»Ach, wirklich?«, gab Zerra zurück. »Und warum hat Alex die Karten? Weil Ma ihr erlaubt hat, sie zu behalten. Ich sage dir, Francina, Ma hat es die ganze Zeit gewusst, seit Alex bei uns ist. Und da du die Ältere bist, hat sie dir bestimmt von diesen komischen Karten erzählt, und du hast es auch gewusst!«

»Nein!« Jetzt wurde Francina panisch. »Nein, Zerra! Ich habe nichts gewusst, ich schwöre!«

Statt einer Antwort klappte Zerra die Luke in der Wand wieder auf und zog an der Informantenglocke. Hoch oben im Turm hörte sie das leise Bing, das ihr Leben für immer verändern sollte. Francina hörte nichts – sie hielt sich ängstlich die Ohren zu.

Die Antwort kam augenblicklich. Die orangefarbene Tür öffnete sich, und dahinter erschien eine Schildwache: ein Mann mit strenger Miene und zurückgekämmtem Haar, einem Schreibbrett und einem Stift in der Hand. Francinas Kehle wurde eng. Er hat hinter der Tür gelauscht. Er hat gehört, wie ich Ma verteidigt habe, dachte sie. Leise, wie aus weiter Ferne, hörte Francina die Schildwache fragen: »Wie viele?«

»Drei«, erwiderte Zerra mit starrem Blick. »Ich möchte drei Personen anzeigen.«

Bei diesen Worten übergab sich Francina auf Zerras glänzende Schuhe.

4. Kapitel

4. Kapitel

Ein Klopfen an der Tür

In der kleinen Küche an der Rückseite des Hauses knetete Alex den Teig für das Gewürzbrot, während Louie die Schüssel mit den Fingern auskratzte und sie geräuschvoll abschleckte. Louie liebte es, mit Alex allein zu sein, ohne seine Schwestern und ihre boshaften Bemerkungen und ohne seine Mutter, die ihn wegen jeder Kleinigkeit ausschimpfte. Wenn er mit Alex allein war, war die Welt viel fröhlicher. Er sah zu, wie sie die Brotlaibe auf den tönernen Ofen legte, und fragte dann: »Können wir wieder mit den bunten Zauberkarten spielen?«

»Pssst!«, zischte Alex und zeigte zum vorderen Zimmer.

Louie schlug eine Hand vor den Mund. Tut mir leid, sagte er mit tonlosen Lippenbewegungen. Ich hole den Pokkelsack.

Alex grinste und zeigte ihm den erhobenen Daumen. Während Louie im Schrank unter der Spüle kramte, nahm Alex eine Handvoll Honigrosinen aus dem Glas, ging in die Stube und legte eine Spur bis zu dem Lehnstuhl, hinter dem Louie sich immer mit dem Pokkelsack versteckte. Es war eine eingespielte Routine, und sie funktionierte immer. Der Pokkel konnte Honigrosinen einfach nicht widerstehen, obwohl er wusste, dass er den Genuss mit ein paar Stunden in einem Sack bezahlen musste. Was allerdings nicht so schlimm war, da im Sack weitere Rosinen auf ihn warteten.

Alex ließ drei Rosinen in den Pokkelsack fallen – ein fester, mit Schafwolle ausgekleideter Beutel, um Geräusche zu dämpfen. Unter dem wachsamen Blick des Pokkels huschte Louie hinter den Stuhl, während Alex auf seinen Triumphschrei wartete. Er ließ nicht lange auf sich warten, da der Pokkel den ganzen Tag noch nichts zu fressen bekommen hatte.

Vorsichtig verstaute Alex den Sack samt Inhalt unter der Spüle, und dann gingen Louie und sie in die Stube und setzten sich auf den Teppich neben dem niedrigen Tischchen. Louie schaute aufmerksam zu, wie Alex die Karten aus ihrem Etui nahm und sie mischte. Das hatte sie schon viele Male mit Louie getan, doch heute fühlte es sich irgendwie anders an. Als die kleinen Sechsecke in ihrer Hand warm wurden, sprang sie auf und lief durch den Raum. Sie fühlte sich unsicher, als liefe sie über Sand, der unter ihren Füßen wegrutschte. »Louie«, sagte sie, so ernst sie nur konnte, »du weißt, dass diese Karten ein richtig großes Geheimnis sind, ja?«

Louie nickte. Er begriff sehr gut, dass Alex’ Karten ein Geheimnis waren, und er hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal Peg, seinem Stoffelefanten. Louie liebte Geheimnisse. Er sammelte sie, wie andere Kinder Glaskiesel sammelten, die sie in den Ritzen von Felsen gefunden hatten. Alex’ Geheimnis war das aufregendste seiner Geheimnisse, und er fand es sehr schade, dass er es jetzt mit Zerra teilen musste. Vor ein paar Tagen – Alex wusch sich gerade die Haare – hatte er Zerra dabei erwischt, wie sie die Karten betrachtete. Aber er hatte Zerra versprechen müssen, Alex nichts davon zu sagen, und jetzt hatte er sogar zwei Geheimnisse, die mit den Karten zusammenhingen. Er war fest entschlossen, sie beide gut zu bewahren.

Mit glänzenden Augen schaute Louie zu, wie Alex sechs Karten zu einem Sechseck zusammenlegte. Sein versunkener Blick folgte der siebten Karte: Sie legte sie in die Mitte und ließ dann ihre Finger darüber flattern wie ein Vogel. Kaum hatte sie damit begonnen, kam es Louie so vor, als würden die Karten lebendig werden. Schimmernde Farben liefen über ihre Oberflächen wie Ölschlieren über Wasser, und ihre Ränder verschwammen, sodass die Karten ein einziges großes Sechseck bildeten.

»Darf ich die Farben rühren?«, bat er.

»Meinetwegen«, erwiderte Alex. Louie streckte den Zeigefinger aus, und Alex nahm seine klebrige, kleine Hand, legte ihren Zeigefinger neben seinen und begann eine langsame Kreisbewegung.

»Es klappt! Es klappt!«, japste Louie. »Schau mal!«

Und wirklich, unter ihren Fingern entstand ein Strudel aus Regenbogenfarben. »Schneller, schneller!«, rief Louie aufgeregt. »Es soll richtig kreiseln!« Während Louie vor Freude quietschte, drehten Alex und er die Hände immer schneller, bis die Farben zu strahlendem Weiß verschwammen. »Heiß!«, sagte Louie. Es stimmte – die Karten strömten tatsächlich Hitze aus.

Alex zuckte zurück. Das war noch nie passiert. Die Karten lagen auf Mirrams Tischchen und glühten so hell, dass es wehtat, sie anzusehen. Alex hoffte, dass sie nicht das polierte Rosenholz ansengten. Wie sollte sie ihrer Pflegemutter einen großen, sechseckigen Brandfleck auf ihrem Beistelltisch erklären? Doch dann sah sie in dem gleißenden Weiß ein Bild, und ihr wurde klar, dass sie bald größere Probleme als ein verbranntes Tischchen haben würde.

»Guck mal, Schildwachen«, flüsterte Louie. »Wie ein Bild, aber es bewegt sich.«

Alex starrte die drei Schildwachen an, die eine Gasse entlangmarschierten und vor einem Laternenpfahl mit einem Salamander anhielten. »Wart mal kurz, Louie!«, befahl sie, rannte zur Haustür und spähte durch das Guckloch.

Das winzige Fischauge zeigte den engen Weg mit den hohen Mauern zu beiden Seiten, der sich durch die Dunkelheit bis zum Lichtkreis am anderen Ende erstreckte. In der Mitte des Kreises standen drei Schildwachen, ihre orangefarbenen Mäntel schimmerten im Licht. Sie wandten sich zur Seite und kamen im Gleichschritt hintereinander den Weg entlangmarschiert.

»Was ist los?«, flüsterte Louie.

Alex fuhr herum. »Das Bild ist wahr geworden. Die Schildwachen wollen uns holen. Wir müssen uns verstecken. Schnell!«

Louies Augen weiteten sich angstvoll. »Wirst du wieder verschwinden?«, fragte er. »Ohne mich?«

Alex beugte sich zu ihm und griff nach seiner Hand. »Was soll das heißen? Wir müssen beide verschwinden.«

»Aber ich will nicht!«, jammerte Louie.

»Sei nicht albern, Louie«, zischte Alex, während sie panisch versuchte, ihre Möglichkeiten durchzugehen. Viele waren es nicht. »Wir verstecken uns auf dem Dachboden«, entschied sie.

Louie wich zurück. »Nein. Alle verstecken sich auf dem Dachboden. Da werden sie zuerst nach uns suchen. Wir müssen richtig abhauen.«

Alex wusste, dass Louie recht hatte, aber wohin sollten sie gehen? Das Haus stand am Rand einer Klippe. »Wohin dann, Louie?«

»Hier lang, Alex. Hier!« Louie zog Alex in die Küche, stieg auf einen Stuhl und stieß das Fenster auf, unter dem ein Abgrund von bestimmt hundert Metern lag der felsige Steilhang von Luma, der bis hinab ins Zitronental reichte. Ein kalter Windstoß wehte herein.

»Nein, Louie, das geht nicht! Der Abhang ist zu steil.«

»Doch, das geht. Ich hab es schon öfter gemacht. Hier ist Mamas geheimes Seil. Sie hat es festgemacht, falls sie kommen würden«, sagte Louie und kletterte vom Stuhl.

»Mir hat sie nichts von dem Seil gesagt«, murmelte Alex.

»Mir auch nicht. Ich weiß es vom Pokkel«, erwiderte Louie und tauchte unter die Spüle.

Alex lehnte sich aus dem Fenster, und tatsächlich hing dort ein dickes Seil, das unter dem Fensterbrett befestigt war. Beim Anblick des tiefen Abgrunds wurde ihr schwindlig, und sie wandte sich schnell ab. Sie konnte nicht glauben, was hier passierte. In der Küche wirkte alles so tröstlich normal – der Teig für das Gewürzbrot, jetzt ein großer, runder Ball unter dem karierten Tuch, und die Schüssel mit den Spuren von Louies Fingern. Vielleicht hatte sie sich die Schildwachen nur eingebildet? Vielleicht hatten die Karten ihr einen Streich gespielt? Doch dann hörte sie das Klirren metallbesohlter Stiefel vor der Tür, und sie wusste, dass es stimmte. Die Einzigen, die in Luma metallbesohlte Stiefel tragen durften, waren Schildwachen.

Louie kam mit dem Pokkelsack unter der Spüle hervor. »Wir müssen den Pokkel mitnehmen«, sagte er.

»Auf keinen Fall!«

»Wenn wir ihn hierlassen, verrät er uns«, sagte Louie und warf sich den Sack über die Schulter.

»Er ist im Sack, Louie. Er hat nichts gehört.«

Louie schüttelte den Kopf. »Manchmal hört er doch was. Ich weiß es. Er erzählt Mama immer alles.«

In diesem Augenblick machte es an der Tür Ratta-tatta-tatt. Es klang beinahe zaghaft, da Mirrams elfenförmiger Türklopfer ein zerbrechliches Ding war, doch es war das schrecklichste Geräusch, das Alex je gehört hatte.

Louie kletterte aus dem Fenster und hielt sich wacklig am Fensterbrett fest, ohne sich um den Abgrund zu kümmern. Dann machte er eine Drehung, bei der Alex fast das Herz stehen blieb. Er stützte sich mit den Ellbogen auf die Fensterbank und sah so entspannt aus, als wäre er auf ein Schwätzchen vorbeigekommen.

»Louie, pass auf!«, flüsterte sie.

»Keine Sorge. Ich hab das schon tausendmal gemacht, wenn ich nicht in die Schule wollte.«

Alex beugte sich vor und sah, dass Louies Füße auf einem dicken Knoten im Seil standen.

Als sie eine plötzliche Reihe schneller Schläge an der Tür vernahm – eindeutig von einer behandschuhten Faust –, schob Alex ihre Einwände beiseite. »Na schön, dann los!«, sagte sie.

»Kommst du auch?«, fragte Louie.

»Was denkst du denn?«, gab Alex zurück.

Louie sah erleichtert aus. »Wir sehen uns in der Höhle.«

»Welche Höhle?«, rief Alex ihm nach, doch Louie ließ sich bereits am Seil hinunter und verschwand in der Dunkelheit.

»Aufmachen!«, ertönte eine Stimme auf der anderen Seite der Tür. »Wir wissen, dass du dadrin bist!«

Alex setzte sich in Bewegung. Sie zog sich ihre Wolljacke über und stopfte Louies Mantel, die Honigrosinen, ein altes Brot und eine Flasche Wasser in ihren Rucksack. Dann schwang sie sich über die Fensterbank, griff nach dem Seil und ließ sich vorsichtig daran nach unten. Es war nicht so schwer, wie sie befürchtet hatte, da Mirram das gesamte Seil mit Knoten als Fußstützen versehen hatte. Gerade als sie die Stelle erreichte, wo das Fundament des Hauses auf der Klippe stand, hörte sie von oben einen ohrenbetäubenden Knall, gefolgt von dem Splittern von Holz. Das, dachte sie, war die Tür.

Sie blickte nach oben und sah das offene Fenster. Ihr Mut sank. Die Schildwachen waren nicht dumm. Sie würden schnell begreifen, was passiert war, und dann würde es für Louie und sie kein Entkommen geben – nur einen langen Sturz in die Tiefe, wenn die Schildwachen das Seil durchtrennt hatten. All ihren Mut zusammennehmend, kletterte sie noch einmal nach oben, streckte den Arm aus und schob das Fenster zu.

Dann begann der Abstieg ins Unbekannte.

5. Kapitel

5. Kapitel

Der Sturz

Alex war froh, dass es dunkel war – so konnte sie den Abgrund wenigstens nicht sehen. Doch trotz der Dunkelheit konnte sie ihn fühlen. Die Leere unter ihr ließ ihre Arme und Beine weich werden, und ihre Hände waren trotz der Kälte heiß und verschwitzt. Dennoch rutschte sie weiter – wenn Louie das konnte, konnte sie es auch.

Langsam kletterte sie abwärts, froh über die in regelmäßigen Abständen geknüpften Knoten. Sie stellte sich vor, wie Mirram sie sorgfältig gebunden hatte, und fragte sich, warum ihre Pflegemutter ein Fluchtseil gebraucht hatte. Was versteckte Mirram? Da erst begriff sie: Mirram versteckte sie! Genauer gesagt, ihre Karten. Alex hatte nie darüber nachgedacht, dabei gab es keine Zweifel. Natürlich wusste Mirram von den Karten. Alex konnte sich nicht daran erinnern, sie je nicht gehabt zu haben, und als kleines Kind hätte sie so etwas nicht vor Mirram geheim halten können. Mirram hatte also von den Karten gewusst, doch trotz des Risikos hatte sie Alex die Karten behalten lassen. Warum nur?

Während sie weiter in die Tiefe glitt, drangen von oben das Gepolter und die Rufe der suchenden Schildwachen zu ihr herab. Sie betete im Stillen, dass keiner von ihnen das Küchenfenster öffnete und das Seil entdeckte. Oder, wenn doch, dass Louie und sie dann schon nicht mehr daran hingen. Ein plötzlicher Windstoß brachte das Seil zum Schwingen und ihr Herz zum Rasen. Konzentrier dich, Alex, ermahnte sie sich. Vergiss, was oben ist. Vergiss, was unten ist. Denk nur daran, was hier ist. Jetzt.

Ein Triumphschrei zerschlug ihre Gedanken. »Ein Seil! Da ist ein Seil! Sie ist geflohen!«

Alex fühlte ein unheilvolles Rucken. »Bitte nicht«, flüsterte sie. »Nein, nein, nein.«

»Ja! Ja, ja, ja!«, rief wie zur Antwort die Stimme über ihr. »Da sind Verdächtige am Seil!«

»Zieh es hoch«, ertönte eine andere Stimme.

»Nee«, widersprach eine dritte. »Durchschneiden.«

Alex erstarrte und lauschte angespannt den Stimmen, die über Louies und ihr Schicksal entschieden. Doch als ihre Hände die Vibration einer Säge spürten, dachte sie nicht länger nach. Alle Vorsicht in den Wind schlagend, sauste sie das Seil hinunter wie eine Trapezkünstlerin, so schnell, dass ihre Handflächen brannten und ihre Füße in schneller Abfolge gegen die Knoten stießen. Sie würde Louie einholen und festhalten, wenn sie fielen, und vielleicht, es wäre ja möglich, würden sie weich landen.

Doch Alex wusste, dass das nicht passieren würde. Unter ihnen waren nur Felsen. Spitze, gnadenlose Felsen. Das Sägen ging unerbittlich weiter, und das Seil fühlte sich jetzt anders an, schwächer. Jeden Moment würde sie fallen. Fallen. Und fallen.

Plötzlich gab das Seil nach, und im selben Moment packte jemand ihren Knöchel. »Pssst! Alex. Hier rein!« Es war Louie. Louie war im Steilhang.

Es ging ganz schnell. Alex warf sich in die Richtung, aus der Louies Stimme gekommen war. Gerade als sie gegen einen Vorsprung stieß und sich daran festklammerte, fiel das Seil von oben herunter. Es schlug gegen ihren Rucksack und hätte sie beinahe mitgerissen, doch Louie packte ihre Jacke, und Alex zog sich in eine niedrige Höhle, wo sie einen Moment einfach nur am Boden lag, zu panisch, um sich zu rühren, und auf die Stimmen von oben lauschte.

»Gut gemacht, Leute! Für heute gute Arbeit.« Alex hörte, wie das Küchenfenster zugeschlagen wurde, dann herrschte Stille.

Unter Louies Anweisungen kroch Alex tiefer in die Höhle, die zwar niedrig war, dafür aber weit in den Fels hineinging. Am Ende ertasteten ihre überraschten Finger eine weiche Decke. »Mein Geheimversteck«, erklärte Louie stolz. »Das kennt nicht mal der Pokkel.«

»Jetzt schon«, sagte Alex und musste vor Erleichterung lachen.

»Hm. Stimmt. Er wird es Mama sagen, und dann kriege ich einen Riesenärger«, stellte Louie traurig fest.

Alex schwieg. Wie sollte sie Louie erklären, dass der geschwätzige Pokkel die geringste ihrer Sorgen war? Wenn die Schildwachen hinter ihr her waren – einer von ihnen hatte sie wohl doch auf dem Markt gesehen –, würden sie auch nach Mirram suchen. Vielleicht sogar nach Louie und seinen Schwestern. »Das Verstecken von Betrügern, Weissagern und Magiern« war ein schweres Verbrechen, für das man ohne Prozess schuldig gesprochen wurde.

Doch Louie, dem all das nicht klar war, schnatterte fröhlich weiter. »Ich bin so gerne hier. Tagsüber kann man meilenweit sehen. Und keiner weiß, wo ich bin. Hier komme ich immer her, wenn Mama früh auf den Markt geht. Sie weiß von nichts.«

»Was ist mit der Schule?«, fragte Alex. »Sagen sie nicht Bescheid, wenn du nicht da bist?«

Louie kicherte. »Sie denken, ich bin nur ein Teilzeitkind.«

»Teilzeitkind, Teilzeitsuperheld«, erwiderte Alex und umarmte Louie fest. »Du hast mir das Leben gerettet, Louie. Du bist unglaublich.«

Sie konnte sein stolzes Lächeln in der Dunkelheit regelrecht hören. Eine Weile saßen sie schweigend da, bis Louie sagte: »Ich habe eine Laterne. Meinst du, es ist gefährlich, wenn wir sie anzünden?«

Er begreift die Gefahr also doch, dachte Alex. »Lassen wir sie lieber aus«, sagte sie. »Jemand könnte das Licht sehen.«

Es war kalt in der Höhle. Alex gab Louie seine Jacke und öffnete dann zu seiner Freude das Glas mit den Honigrosinen. Sie saßen in die Decke gewickelt nebeneinander, und Louie bestand darauf, den Pokkel aus seinem Sack zu lassen und die Rosinen mit ihm zu teilen. »Aber nicht zu viele«, sagte Alex. »Sonst bekommt er wieder Magengrimmen.«

Irgendwann schlief Louie ein, den Kopf auf Alex’ Schoß gebettet. Alex selbst war zu aufgewühlt, um zu schlafen. Sie saß in der Dunkelheit, umgeben von der Kälte der Felsen, und konnte nur eines denken: Wir sind auf halber Höhe an einem steilen Felshang. Es gibt keinen Weg nach oben und es gibt keinen Weg nach unten. Was sollen wir nur tun?

6. Kapitel

6. Kapitel

Nachwuchs-Schildwache

Während Alex schlaflos und sorgenvoll in der Höhle lag, hatte hundert Meter über ihr die stolze Trägerin einer blau-orangefarbenen Nachwuchs-Schildwachenjacke das Haus in Besitz genommen, aus dem Louie und sie gerade erst geflohen waren. Zerra D’Arbo saß im Lehnstuhl ihrer Mutter, hatte die Füße auf den Rosenholztisch gelegt, der eine komische sechseckige Brandmarke trug, und verleibte sich genüsslich den geheimen Zuckermandelvorrat ihrer Mutter ein. Ein Stockwerk höher lag ihre Schwester auf dem Bett und weinte lautlos vor sich hin.