TodHunter Moon - SandReiter - Angie Sage - E-Book

TodHunter Moon - SandReiter E-Book

Angie Sage

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Beschreibung

Todi ist zum Außergewöhnlichen Lehrling des großen Zauberers Septimus Heap geworden. Doch ihrem Gegner, dem bösen Hexer Oraton-Marr, ist es gelungen, das Orm-Ei zu stehlen. Er setzt alles daran, es auszubrüten und das schlüpfende Orm-Baby an sich zu binden. Das wäre eine Katastrophe, denn damit wäre alle Zauberkraft gegenüber der schwarzen Magie machtlos. Todi und ihren Freunden Oskar und Ferdie bleibt nicht mehr viel Zeit, das Ei zu finden. Die Fantasy-Abenteuer der jungen FährtenFinderin Todi gehen weiter: Lesevergnügen pur!

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Über das Buch

Alice TodHunter Moon, genannt Todi, ist zum Außergewöhnlichen Lehrling des großen Zauberers Septimus Heap geworden. Ihr Gegner ist der böse Hexer Oraton-Marr, dem es gelungen ist, das Orm-Ei zu stehlen. Er setzt alles daran, es auszubrüten und das schlüpfende Orm-Baby an sich zu binden. Damit wäre alle Zauberkraft der Burg gegenüber der schwarzen Magie machtlos. Todi und ihren Freunden Oskar und Ferdie bleibt nicht viel Zeit, das Ei zu finden

Angie Sage

TodHunter Moon

SandReiter

Aus dem Englischen von Reiner Pfleiderer

Mit Illustrationen von Mark Zug

Carl Hanser Verlag

Für Benjy Wishart

Marwicks Karte der Alten Wege

Inhalt

TEIL 1

Die grüne Möwe · Der Countdown beginnt

TEIL 2

Drachenwache · Kaznim Na-Draa · Schildkrötenjagd · Die Grube der Singenden Sande · Das Zelt der Apothekerin · Ptolemy · Marwick und Sam · Nach Hause

TEIL 3

Rumgeeier · Ein Dschinn macht Zirkus · Schatten auf dem Siegel · In die Felswand · Die Apotheker-Schildkröte

TEIL 4

Die Schatulle · Jo-Jo · Ein heimlicher Blick · Karten auf den Tisch

TEIL 5

Eine unzufriedene Besucherin · Auf der Flucht · Eine Quetsche machen · Unsichtbar · Ärger mit Tiger · Darius Wrenn · Der Manuskriptorium-Weg

TEIL 6

Geständnisse · Die Eieruhr · Der Schlittenschuppen · Tigeraugen · Der Bund der Drei · Auf dem Startplatz · Das Lehrlingsrennen · Aufhebungszauber

TEIL 7

Beetle und Hokus · Der Wendronhexenzirkel · Schnee-Elfen · Marissa in der Schlucht · Die Spionin der Königin · Der Mond über der Eiche · Tiger, Hexe und rote Robe

TEIL 8

Galens Baumhaus · Der Hexensucher · Im Nachtwald · Eine Fremde im Wald · Davongeschlichen · Der Alte Waldweg

TEIL 9

Ein schadenfroher Geist · Eine Kraftprobe · Verriegelt

TEIL 10

Die Rote Stadt · Zurückgetrommelt · Die Rote Königin · Grenzen · Der Dunkelpfeil · Die Gefangene im Turm · Die kleine Spinne · Mitternacht im Hof · Ein Pfiff in der Nacht · Suche sie!

TEIL 11

Die Stadt der Freien · Die gelbe Eule · An der Weggabelung · Sandlöwen · Transport-Zauber · Tempo

TEIL 12

Der Drache auf der Düne · Die Verschollene kehrt zurück · Eine Orm wird geboren · Die Orm wird geprägt · Eine Andeutung · Neue Familien

~ Teil 1 ~

Die grüne Möwe

Ein grüner Drache flog tief über dem Meer. Wie eine riesige, lästige Möwe folgte der Drache einem schönen blau-goldenen Schiff namens Tristan. Obwohl vom Schiff allerlei Geschosse nach ihm geschleudert wurden – darunter auch eine stattliche Anzahl schwarzmagischer Feuerblitze –, hatte der Drache seine Beute keine Sekunde aus den Augen gelassen.

Nach langen Wochen auf See lief die Tristan in einen kleinen Hafen am Rande einer großen Wüste ein. Der Drache stieß herab und landete – sehr zum Schrecken des Hafenmeisters – auf dem Dach des größten Hauses am Kai. Obwohl er mit weiteren Wurfgeschossen attackiert wurde, diesmal vom Hafenmeister, rührte der Drache sich nicht mehr vom Fleck. Er hockte auf dem Dach der Hafenmeisterei und beobachtete die Tristan mit großem Interesse.

»Worauf lauert er denn?«, fragte der Hafenmeister jeden, der sich in die Nähe traute. Keiner wusste es. Später erzählte jemand dem Hafenmeister, dass man einen Drachen nur bei seinem Namen rufen müsste, dann würde er alles tun, was man von ihm verlangte. Darauf fragte der Hafenmeister: »Und wie heißt er?« Doch das wusste niemand.

Der Drache hieß Feuerspei und lauerte auf ein Orm-Ei. Genauer gesagt, auf das letzte Ei der mittlerweile toten Großen Orm. Und das war kein gewöhnliches Ei. Es war so groß, dass man es auf beiden Armen tragen musste wie ein Baby, und so schwer, dass auch die stärksten Arme bald erlahmten. Außerdem war es in eine lederartige Haut gehüllt, die mit leuchtend blauem Lapislazuli durchzogen war. Im Inneren barg es einen Orm-Embryo. Er war der letzte seiner Art und vom Zauberer Oraton-Marr aus seinem Nest in den Östlichen Schnee-Ebenen gestohlen worden. Feuerspei wusste, dass sich das Orm-Ei an Bord der Tristan befand, und er war fest entschlossen, ihm überallhin zu folgen.

Im Moment lag das Orm-Ei auf einem weichen blauen Kissen in der besten Kabine der Tristan. Und auf dem Deck darüber ging Oraton-Marr, ein kleiner Mann mit kurzem eisengrauen Haar, unter Feuerspeis unerbittlichem Blick auf und ab. Bei ihm war seine Schwester, eine wohlbeleibte, in glänzende blaue Seide gekleidete Frau, die von allen nur »die Lady« genannt wurde und trotz ihrer stattlichen Körperfülle geschmeidig übers Deck glitt, als würde sie auf Rädern rollen. Ihr Haar war in ein blaues Tuch gehüllt, das sie viele Male um ihren Kopf geschlungen hatte, und auf ihrer Hand saß ein verängstigtes Vögelchen, dessen Bein mit einer dünnen Silberkette ans Handgelenk der Lady gefesselt war. Wie ein düsterer Schatten folgte der Lady eine rundliche Frau mit dem Watschelgang einer übergewichtigen Ente. Ihr Name war Mitza Draddenmora Draa. Sie wahrte respektvollen Abstand, aber ihren zusammengekniffenen Augen entging nichts.

Die Lady war größer als ihr Bruder, was diesen sehr ärgerte. Deshalb trug der Zauberer normalerweise Sprungfedern an den Füßen, mit denen er seine Schwester überragte. Doch nach mehreren peinlichen Stürzen hatte er sich gezwungen gesehen, an Bord des Schiffes darauf zu verzichten. Und so war es Oraton-Marr der Kürzere, der gerade mit der Lady darüber sprach, wie sie das Orm-Ei von Bord schaffen konnten, ohne dass Feuerspei es ihnen wegschnappte. Die Lady war in einen herrischen Ton verfallen – wie immer, wenn ihr Bruder in seiner natürlichen Größe vor ihr stand –, aber an diesem Nachmittag achtete der Zauberer nicht darauf. Er kniff seine dunkelgrünen Augen zusammen und spähte zu dem Drachen hinauf, der ihnen wie ein Schatten durch tosende Stürme, glühend heiße Tage und sternenklare Nächte gefolgt war. »Ich werde ihm eine Falle stellen«, sagte er. »Dieser Drache wird eine böse Überraschung erleben.«

Am nächsten Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, schickte Oraton-Marr ein halbes Dutzend Matrosen mit dem Auftrag los, sich im Schatten des Schiffs auf der Kaimauer zu verstecken. Alle schwangen Netze und Feuerstäbe: lange, schwarzmagische Speere mit Widerhaken aus mattrotem Metall an den Spitzen – eine Waffe, die der Zauberer an Bord der Tristan perfektioniert hatte. Die Widerhaken der Feuerstäbe waren rasierklingenscharf und so konstruiert, dass sie durch Drachenhaut drangen wie ein heißes Messer durch Butter. Außerdem, und darauf war Oraton-Marr ganz besonders stolz, fingen ihre klebrigen schwarzen Spitzen sofort Feuer, wenn sie mit Drachenblut in Berührung kamen. Der Zauberer blickte zu Feuerspei hinauf und grinste. Der Drache würde von innen heraus in Brand gesetzt werden und in Flammen aufgehen. Darauf freute sich der Schwarzmagier schon jetzt.

Als die Tristan in der Morgensonne erstrahlte, erspähte der Drache vom Dach des Hafenmeisters aus – das sich jetzt bedenklich nach unten durchbog – ein glänzendes lapislazuliblaues Ei, das zwei Matrosen in Gala-Uniform auf einem blauen Kissen an Deck brachten. Feuerspeis scharfes Drachenauge bemerkte auch eine Bewegung im Schatten unter dem Schiff und das mattrote Schimmern von etwas Spitzem. Er legte den Kopf schief und beobachtete nachdenklich, wie das Kissen mitsamt seiner Fracht feierlich die Landungsbrücke heruntergetragen wurde. Feuerspei schnaubte verächtlich und richtete seinen Blick wieder auf die Tristan. Ein leeres Ei aus Pappmaschee interessierte ihn nicht.

Das falsche Ei wurde dreimal um den Kai herumgetragen, aber Feuerspei rührte sich nicht vom Fleck. Da erkannte Oraton-Marr, dass sein Plan fehlgeschlagen war. Er bekam einen Schreianfall und musste von seiner Schwester beruhigt werden. Das Kissen mit dem Ei wurde mitten auf dem Kai abgelegt und erfreute sich bei den Möwen bald großer Beliebtheit als Sitzplatz.

Ein paar Tage später, bei Dunkelmond, probierte es Oraton-Marr mit einem anderen Trick. Mitten in der Nacht trugen drei Matrosen ein zusammengerolltes Segel die Landungsbrücke hinunter. Feuerspei sah von seinem Ausguck aus gespannt zu – er witterte das Ei. Vor Aufregung machte er einen Hopser, und das Dach der Hafenmeisterei stürzte endgültig ein. Die drei Seeleute bekamen einen gehörigen Schrecken, als die Balken barsten und Dachziegel auf sie herunterprasselten. Sie ließen das Segel fallen, und heraus kullerte, was Feuerspei vermutet hatte: das echte Orm-Ei.

Zum Entsetzen des Zollinspektors bezog Feuerspei nun auf dem Dach des Zollhauses Posten.

Oraton-Marr beschloss, diesmal keinen Schreianfall zu bekommen. Drache hin oder her, er wollte keine Sekunde mehr verlieren. Der Zauberer schickte nach einem Kamel, und kurz vor Sonnenaufgang am nächsten Morgen stopfte er das Orm-Ei kurzerhand in einen Sack und den Sack in eine der beiden Satteltaschen des Kamels. In die andere Satteltasche verfrachtete er Subhan-Subhan, den Schiffsjungen. Dann erklomm er das Kamel, winkte seiner Schwester und ihrer plattfüßigen Begleiterin zum Abschied und ritt, gefolgt von seinem Diener Drone und drei mit Feuerstäben bewaffneten Matrosen, davon.

Zur großen Erleichterung des Zollinspektors hob Feuerspei von seinem Dach ab.

Oraton-Marr ritt aus dem Hafen hinaus. Aber er folgte nicht der langen geraden Straße zu der Roten Stadt, die schwach am Horizont zu erkennen war, sondern schlug den Weg in die Wildnis der großen Wüste der Singenden Sande ein. Sein Navigator zeigte den Weg zu einer kleinen Oase und einem sternenübersäten Zelt an, in dem eine Apothekerin mit ihren beiden Töchtern wohnte.

Feuerspei flog ihnen nach, hoch genug, um außer Reichweite der Feuerstäbe zu sein, aber tief genug, um sie zu ärgern.

Als Oraton-Marr spät in der Nacht an dem sternenübersäten Zelt ankam, schmutzig und wund geritten, wollte er nie wieder einen Drachen oder ein Kamel sehen. Auch den quengelnden Schiffsjungen und das Ei konnte er nicht mehr sehen. Ebenso wenig die drei stöhnenden Matrosen. Oder Drone, diesen Jammerlappen. Aber er war nicht zum Spaß so weit geritten. Kurzerhand nahm er das Baby der Apothekerin als Geisel und erklärte der Apothekerin, was sie zu tun hatte, wenn sie das Kind wiedersehen wollte. Noch vor Sonnenaufgang ritt er wieder fort, ohne das Ei, den Schiffsjungen, die Seeleute und, wie er erleichtert feststellte, auch ohne den Drachen. Dafür hatte er jetzt zusätzlich zu Drone und dem Kamel einen brüllenden Säugling am Hals.

Feuerspei ließ sich auf einer langen Sanddüne nieder. Er befand sich oberhalb des sternenübersäten Zeltes und des kleinen Lagers, das darum herum entstanden war. Sobald Oraton-Marr außer Sicht war, ging der Drache zum Angriff über. Er sauste im Sturzflug zu den Zelten hinab, und als ihm Feuerstäbe entgegenflogen, spie er Feuer und setzte sie in Brand. Doch an das Ei heranzukommen war nicht so einfach. Subhan-Subhan war seinem Meister treu ergeben. Er warf sich über das Ei und benutzte seinen Körper als Schutzschild, sodass Feuerspei die Beute nicht packen konnte, ohne den Jungen zu verletzen.

Der Drache zog sich auf den Kamm der Düne zurück und wartete ab.

Noch am selben Abend, bei Sonnenuntergang, kam die Apothekerin die Düne heraufgeklettert und flehte den Drachen an, das Ei nicht zu holen. Der Zauberer wollte in zwölf Wochen wiederkommen. Und wenn bis dahin das Ei nicht ausgebrütet wäre – oder gar kein Ei mehr zum Ausbrüten vorhanden –, würde ihr Töchterchen sterben.

Geschlagen senkte Feuerspei den Kopf. Aber er harrte auf seinem Posten aus. Seine Stunde würde kommen.

Der Countdown beginnt

Oraton-Marr taumelte die Landungsbrücke der Tristan hinauf, mit Drone im Schlepptau, der das erschöpfte Baby im Arm trug. Er befahl dem Diener, die Geisel seiner Schwester zu übergeben, und ging unter Deck in seine Kabine. Dort sank der Zauberer auf den Kapitänsstuhl und zog ein Perlmuttkästchen aus einer Schublade des Schreibtischs. Es enthielt allerlei Origami-Figuren: Vögel, Tiere, Schiffe und Sterne, alle hellblau. Lächelnd nahm er eine Papierblume heraus, faltete sie auseinander und strich das Papier glatt.

Bei einem seiner vielen Spaziergänge um den Hafenplatz, auf denen er darüber nachgedacht hatte, wie er den Drachen loswerden konnte, hatte er gesehen, wie hellblaue Papierbögen im Wind über die Pflastersteine flatterten. Er hatte sie eingesammelt, denn das Papier hatte die ideale Stärke für sein Origami-Hobby, und gutes Papier war schwer zu bekommen. Er hatte sich über die Qualität des schönen blauen Papiers sehr gefreut, aber noch mehr hatte er sich gefreut, als er gesehen hatte, was darauf geschrieben stand.

Zum wiederholten Male las Oraton-Marr jetzt langsam die Worte und ließ sich jedes einzelne auf der Zunge zergehen:

Magisches Manuskriptorium und Zauberprüfstelle, Zaubererallee 13, Burg.

Als führende Berater des berühmten Zaubererturms sind wir stolz darauf, unsere Dienste nun weltweit anbieten zu können.

Wir verfügen über jahrtausendelange Erfahrung.

Wir können die meisten Bedarfsgegenstände beschaffen.

Wir bieten eine Riesenauswahl an Charms, Runen und Zauberbüchern, können aber auch Ihre eigenen restaurieren.

Günstig gelegen am Alten Wegenetz und daher von überall auf der Welt leicht zu erreichen.

Beim Gedanken an den »berühmten Zaubererturm« umspielte ein Lächeln Oraton-Marrs schmale Lippen. Er nahm seinen Almanach zur Hand, blätterte nach hinten zum Kartenteil und fuhr mit einem langen spitzen Finger die Wege entlang, die zum Zaubererturm führten. Oraton-Marr glaubte an Zeichen und war überzeugt, dass dieses schöne blaue Papier genau das Zeichen war, auf das er gewartet hatte – der Zaubererturm war seine Bestimmung.

Aber Oraton-Marr war kein geduldiger Mann. Mit den Fingern auf den Schreibtisch trommelnd, beschloss er, den Stein so bald wie möglich ins Rollen zu bringen. Was er dazu brauchte, war ein Lehrling aus dem Zaubererturm. Am besten einen Lehrling, der alle Geheimnisse und kniffligen Losungsworte des Turmes kannte. Der Zauberer schmunzelte. Es dauerte noch zwölf lange Wochen, bis das Orm-Ei ausgebrütet war, aber er würde diese Zeit nutzen. Er würde einen kleinen Ausflug in die Burg unternehmen und sich einen Lehrling schnappen, damit alles glattging, wenn er bereit war, dort die Macht zu übernehmen. Oraton-Marr seufzte. Er hatte schon genug Ärger gehabt. Sein Einzug in den Zaubererturm sollte möglichst reibungslos vonstattengehen.

Er schloss die Augen, und ein seltsamer Ausdruck kam ihm in den Sinn – Außergewöhnlicher Zauberer. Er setzte sich auf und war mit einem Mal hellwach. Genau. Das war der Titel des obersten Zauberers im Zaubererturm. Er lächelte. Der Titel passte zu ihm, keine Frage: Oraton-Marr, Außergewöhnlicher Zauberer. Ja, das gefiel ihm. Sein Gesicht verzog sich zu einer selbstgefälligen Grimasse.

Hätte die Lady – die vom Gebrüll ihrer kleinen Geisel mit den Nerven am Ende war – ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, dass die Uhr auf Mitternacht zuging, hätte Oraton-Marr glatt die magische Stunde verpasst. Fluchend eilte er nach oben an Deck und schoss eine leuchtend grüne Signalrakete in den Himmel.

Weit entfernt auf seiner Düne bemerkte Feuerspei ein grünes Leuchten am Horizont über dem Meer. Ebenfalls auf der Düne saß – in sicherer Entfernung zu dem Drachen, wie er hoffte – Subhan-Subhan, der Schiffsjunge. Feuerspei betrachtete die grüne Leuchtspur am Himmel teilnahmslos, doch der Junge sprang auf und rannte, Sand aufwirbelnd, nach unten ins Lager. Am Fuß der Düne angekommen, warf Subhan-Subhan das Orm-Ei in ein loderndes Feuer, um die Bebrütung einzuleiten. Sobald das Ei in den Flammen lag, zog er eine goldene Schatulle aus der Tasche und entnahm ihr eine kleine goldene Eieruhr, deren eine Hälfte mit winzigen Silberkörnern gefüllt war. Subhan-Subhan drückte mit dem Daumen oben auf die Eieruhr und sah zu, wie das erste Silberkörnchen nach unten fiel.

An Bord der Tristan setzte Oraton-Marr eine Eieruhr in Gang, die ganz genauso aussah. Der Countdown hatte begonnen.

~ Teil 2 ~

Sechsundneunzig Stunden bis zum Schlüpfen

Drachenwache

Kurz vor Tagesanbruch wurde Feuerspei nervös. Der Drache wusste aus Erfahrung, dass dies die Zeit war, in der Menschen ihren dunklen Machenschaften nachgingen. Vom Kamm seiner Düne hatte er einen herrlichen Blick. Im Westen zog ein Dreiviertelmond über den nachtblauen Sternenhimmel und sank langsam zum Horizont hinab, dem weiß schimmernden Band des Ozeans entgegen. Davor war die gedrungene, eckige Silhouette des Hafens zu sehen, wo der Drache vor ungefähr zwölf Wochen an Land gegangen war.

Im Osten erstreckte sich die dunkle Weite der unbewohnten Wüste. Feuerspei wusste, dass gleich hinter dem Horizont eine große Stadt aus rotem Stein lag, denn er hatte sie auf seinem Flug zum Hafen gesehen. Von ihr stieg ein fahles Leuchten auf, das zu dieser nächtlichen Stunde leicht für den Sonnenaufgang gehalten werden konnte.

Aber Feuerspei saß nicht auf der Düne, um die Aussicht zu genießen. Er war hier, um über das Orm-Ei zu wachen – jenes Ei, bei dessen Verfolgung sein Drachenmeister Septimus Heap bedauerlicherweise von einem Dunkelpfeil niedergestreckt worden war. Feuerspei zweifelte nicht daran, dass Septimus die Verfolgung des Eis irgendwann wieder aufnehmen würde, und dann würde der Drache zur Stelle sein und ihn erwarten. In den langen Wochen des Beobachtens war Feuerspei allmählich in einen tranceähnlichen Zustand verfallen. Er bewegte sich nicht mehr, er aß und trank nicht mehr. Seine Schuppen waren so von der Sonne ausgetrocknet und so mit Sand verklebt, dass man unten im Lager inzwischen sogar glaubte, Oraton-Marr hätte ihn in Stein verwandelt. Aber das war Feuerspei nur recht. Er würde sich erst wieder rühren, wenn seine Stunde kam – und nicht früher. Es belustigte ihn, reglos dazusitzen, wenn sich gelegentlich ein Besucher zu ihm heraufwagte, ihn anglotzte oder sogar seine sandigen Schuppen betatschte. Weniger lustig hatte er es gefunden, als ein Matrose ihn mit einem Stock in den Bauch piekte, aber er hatte sich beherrscht. Nur seine rot umränderten smaragdgrünen Augen bewegten sich – und auch nur dann, wenn er sicher war, dass ihn niemand beobachtete.

Jetzt schweiften die smaragdgrünen Augen über das Lager, das am Fuß der Düne im Mondschatten lag. Seine Bewohnerschaft bestand aus ein paar guten Menschen, ein paar schlechten und einigen, die sich noch unschlüssig waren, was sie sein wollten. Sie schliefen in Zelten ganz unterschiedlicher Art. In der Mitte stand ein großes Rundzelt, dessen verblasstes Blau mit silbernen Sternen gesprenkelt war. Wie Planeten um eine Sonne scharten sich darum verschiedene kleinere Zelte, die alle dunkler gefärbt waren bis auf eines, das so weiß und rund war wie der Mond. Ein ausgetretener Pfad führte von den Zelten zu einem dunklen Teich, der von einer Quelle im Gestein tief darunter gespeist wurde und in dessen schwarzem Wasser sich die silbrig funkelnden Sterne spiegelten. An den Teich grenzten ein kleines Gemüsebeet, zwei Olivenbäume, wasserspeichernde Pflanzen und eine breite Felsplatte, auf der Wäsche zum Trocknen ausgebreitet war.

Feuerspeis Blick wanderte zu dem Mondzelt, in dem sich, wie er wusste, das Orm-Ei befand, bewacht von Mysor, dem Apothekerlehrling, und Subhan-Subhan, den alle nur den Eierjungen nannten. Tagsüber lag das Ei im heißen Sand und wurde jede Stunde von diesem Eierjungen gedreht. Nachts wurde das weiße Zelt über dem Ei errichtet, und Subhan-Subhan wickelte es in Felle und schlief daneben, damit es nicht auskühlte. Er wachte mit seinem Leben über das Ei – und mithilfe von Mysor, der ihn alle drei Stunden weckte, damit er es drehte, was er bis zum Schlüpftag tun musste. Wann dieser Tag sein würde, wussten nur der Eierjunge und Oraton-Marr dank ihrer genau aufeinander abgestimmten Eieruhren. Nicht einmal der Bewohner des Eies war sich ganz sicher, obwohl er bereits eine seltsame Unruhe verspürte.

In dieser Nacht hatte der Orm-Embryo nach dem Drehen um Mitternacht in seinem flachen kleinen Gehirn eine weitere Falte ausgebildet und spürte nun ein Jucken an der Spitze seiner Stummelschnauze, wo sich der Eizahn durch die Haut bohrte. Nun würde es nicht mehr lange dauern.

Draußen hielt die Wüstenluft den Atem an, und Feuerspei setzte reglos, wie zu Stein erstarrt, die Beobachtung fort.

Kaznim Na-Draa

Im Innern des Sternenzeltes regte sich nichts bis auf das sanfte Auf und Ab des Fellhaufens, unter dem Karamander Draa, die Apothekerin, schlief. Die einzige andere Bewohnerin, Kaznim Na-Draa, die ältere Tochter der Apothekerin, lag hellwach da. Ihr Blick wanderte durch den gemütlichen Raum, der ihr Zuhause war. Eine einzelne Kerze brannte in einem Teller mit parfümiertem Wasser, der mitten auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden stand. Ihr sanftes Licht beschien Bücher, die sich an den Zeltwänden türmten, und Kissen, die um einen niedrigen Tisch herumlagen, der bereits mit einer Schüssel Datteln und einem Krug fürs Frühstück gedeckt war. Die blauen und grünen Medizinfläschchen, die in ordentlich gestapelten Kästen neben dem Eingang verwahrt waren, funkelten wie Edelsteine im Schein der gleichmäßigen Flamme und sahen genauso aus wie die Geleebonbons aus der Roten Stadt, die Kaznim so mochte. Sie lauschte noch eine Weile den ruhigen Atemzügen ihrer Mutter, vermied es aber, zu dem leeren Gitterbett zu blicken, das am Fußende des Betts ihrer Mutter stand. Wenn sie an ihre Halbschwester Bubba dachte, hatte sie immer das Gefühl, als hätte sie einen Kaktus verschluckt. Es tat sehr weh.

Nach ein paar Minuten nahm Kaznim ihren Mut zusammen, setzte sich auf und schlüpfte leise in ihre Kleider. Dabei schielte sie mehrmals zu ihrer Mutter hinüber, um sich zu vergewissern, dass sie noch schlief.

Gerade blinzelte eine orangerote Sonne über den fernen Horizont, da bemerkte Feuerspei eine Bewegung am Sternenzelt. Ein kleines, dunkelhaariges Mädchen in einem langen roten Mantel schlüpfte durch die Eingangsklappe und zog sich, immer auf einem Bein hüpfend, ein Paar Ledersandalen an. Dann huschte sie zum Eierzelt, blieb davor stehen und neigte nachdenklich den Kopf, ehe sie die Sandalen wieder auszog und zum Erstaunen des Drachen plötzlich verschwunden war. Feuerspei blinzelte und fragte sich, ob er nur geträumt hatte. Aber die Sandalen vor dem Zelt belehrten ihn eines Besseren.

Kaznim hielt den Unsichtbarkeits-Charm fest umklammert. Sie hatte ihn von dem Zauberer bekommen, der das Ei gebracht und ihre kleine Schwester gestohlen hatte. Es handelte sich um einen magischen Opalstein, der in einen schönen hellblauen Origami-Vogel eingepackt war, dessen dicken kleinen Bauch er bildete. Kaznim liebte den Vogel fast noch mehr als den Charm, obwohl sie wusste, dass der Zauberer ihn mit seinen langen dünnen Fingern und seinen scharfen spitzen Fingernägeln selbst gefaltet hatte. Und dass er ihr den Charm nur gegeben hatte, damit sie ihre Mutter bespitzelte. Aber natürlich würde sie so etwas niemals tun. Sie hatte den Charm nur angenommen, weil ihr der kleine blaue Vogel so gefiel. Der Zauberer hatte ihn ihr mit den Worten gegeben: »Für dich, mein Kind. Damit kannst du dich vor jedem verstecken – außer vor mir.« Sie hatte den Vogel genommen und tief in ihrer Tasche verschwinden lassen, wo ihn ihre Mutter niemals finden würde.

Jetzt war Kaznim auf der Suche nach ihrem Schildkröterich. Der Eierjunge hatte ihn gestohlen – davon war sie überzeugt. Sie machte sich zwar keine großen Hoffnungen, den Schildkröterich im Eizelt zu finden, aber nachsehen musste sie trotzdem. Unsichtbar stand sie im stillen Halbdunkel des Zeltes und lauschte dem Schnaufen des Eierjungen und dem ruhigen Atem des Apothekerlehrlings. Sie war noch nie im Eizelt gewesen. Subhan-Subhan hatte gespottet, dass Mädchen in einem Brutzelt nur Unglück brächten. Und ihre verängstigte Mutter hatte ihr ausdrücklich verboten, es zu betreten.

Jetzt, wo sie darin stand, verstand Kaznim nicht, was der ganze Wirbel sollte. Im Zelt war es heiß und stickig, damit das Ei auch in der kalten Wüstennacht warm blieb. Sehen konnte sie nur, dass es mit einem schwarzen Fell zugedeckt war und dass der Eierjunge wie eine weiße Made um das Ei herumlag. Mysor, der Lehrling ihrer Mutter – der die undankbare Aufgabe hatte, den Eierjungen alle drei Stunden zu wecken und vorn und hinten zu bedienen –, schlief unter einem Berg dicker Decken neben dem Eingang. Kaznim schlich auf Zehenspitzen an ihm vorbei und spähte zu dem Fell, das das Ei bedeckte. Wie gern sie es angehoben und die schöne, mit goldenen Streifen durchzogene blaue Lapislazulihaut des Eies betrachtet hätte, aber sie traute sich nicht. Außerdem war sie wegen ihres Schildkröterichs hier, wegen sonst nichts.

Sie ließ sich auf alle viere hinab, kroch über die Teppiche und tastete sie vorsichtig ab, um festzustellen, ob irgendwo eine schildkrötenförmige Ausbuchtung war. Aber sie fand keine, genau wie sie es erwartet hatte. Langsam stand sie wieder auf und schaute auf den schlafenden Eierjungen hinab. Niemand würde vermuten, wie gehässig er sein konnte, wenn er wach war. Als hätte er gespürt, dass er beobachtet wurde, regte sich der Junge, und Kaznim trat erschrocken einen Schritt zurück – und spürte etwas Hartes. Beinahe hätte sie aufgeschrien – sie war auf ihren Schildkröterich getreten.

Mit einem Plumps fiel sie auf die Knie, und Subhan-Subhan schlug die Augen auf. Sie erstarrte. Hoffentlich funktionierte ihr Unsichtbarkeitszauber noch. Subhan-Subhan sah sie direkt an, reagierte aber nicht. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Es war ein komisches Gefühl, wenn jemand durch einen hindurchschaute. Sie wartete, bis Subhan-Subhan die Augen wieder schloss, dann schob sie vorsichtig die Hand unter den Teppich in Richtung der Ausbuchtung, die beängstigend flach war. Ihr graute davor, eine zerquetschte Schildkröte zu ertasten. Ihre Finger schlossen sich um etwas Kaltes und Scharfkantiges. Sie zog es heraus – und atmete erleichtert auf. Es war keine zerquetschte Schildkröte, sondern ein wunderschönes goldenes Kästchen. Der Eierjunge murmelte etwas im Schlaf. Kaznim steckte das Kästchen hastig in ihre Manteltasche und schlüpfte aus dem Zelt. Das geschah dem Eierjungen ganz recht, dachte sie. Sie wusste genau, dass er ihren Schildkröterich gestohlen hatte, und dafür nahm sie sein kostbares Kästchen.

Feuerspei sah, wie etwas Goldenes und Viereckiges aus dem Zelt geschwebt kam, und dann, wie eine der Sandalen in die Luft stieg und gleich darauf die andere, und wie dann beide Sandalen davontappten, als wären sie es leid auf ihren Besitzer zu warten. Das goldene Kästchen schwebte über ihnen durch die Luft. Der Drache schloss für ein paar Sekunden die Augen, und als er sie öffnete, war das Mädchen wieder da. Die Sandalen saßen an ihren Füßen, und das goldene Kästchen steckte unsichtbar in einer Tasche ihres langen roten Mantels. Feuerspei beobachtete, wie die kleine schmächtige Gestalt das Lager verließ und in die leere Wüste hinauseilte, dem Sonnenaufgang entgegen.

Schildkrötenjagd

Im Gehen hielt Kaznim nach verräterischen Sandhaufen Ausschau, die in der tief stehenden Sonne lange Schatten warfen und deshalb gut zu erkennen waren. »Ptolemy…«, rief sie leise, wobei sie den Namen ihres Schildkröterichs wie Tollemy aussprach. »Ptolemy, wo bist du?« Kaznim wusste, dass sie sehr wachsam sein musste, wenn sie eine Chance haben wollte, den Schildkröterich zu finden. Ptolemy war nicht groß – er passte bequem in zwei hohle Hände –, und er konnte schnell laufen. Sobald die Sonne den Sand erwärmt hätte, würde er aufwachen und seine Wanderschaft fortsetzen. Bis zum Abend konnte er kilometerweit entfernt und für immer verloren sein.

Kaznim hatte ihn schon den ganzen gestrigen Nachmittag gesucht, und als sie am Abend ohne ihn zurückgekehrt war, hatte der Eierjunge, der gerade das Nachtzelt für das Ei aufstellte, nur gegrinst. Da hatte sie gewusst, dass er hinter Ptolemys Verschwinden steckte. Als sie ihn beschuldigt hatte, den Schildkröterich gestohlen zu haben, hatte er entgegnet, er habe ihn draußen bei der »singenden Grube« gesehen. Ihr war sofort klar gewesen: Wenn sich Ptolemy tatsächlich an einem so entlegenen und gefährlichen Ort befand, dann konnte es dafür nur eine Erklärung geben: Subhan-Subhan hatte ihn selbst dort hingebracht. Oder wollte der Eierjunge sie hinters Licht führen? War es womöglich nur eine List, um sie in den Treibsand der Grube der Singenden Sande zu locken? So oder so, an dem Abend konnte sie ohnehin nichts mehr unternehmen. Und inzwischen tat der Schildkröterich wahrscheinlich im Kleinen, was die untergehende Sonne im Großen tat – sich für die Nacht im Sand eingraben.

Eine Suche wäre zwecklos gewesen und obendrein viel zu gefährlich, wo doch um diese Zeit die Sandlöwen erwachten und zu ihrer nächtlichen Jagd aufbrachen. Kaznim hatte das Einzige getan, was ihr möglich war: Sie war ins Sternenzelt zurückgekehrt, hatte Pläne zu Ptolemys Rettung geschmiedet und auf Rache gesinnt.

Ihre Rache war jetzt gestillt, sagte sie sich, während ihre Hand das goldene Kästchen umschloss. Nun bekam auch der Eierjunge zu spüren, wie es war, wenn man etwas Kostbares verlor. Das geschah ihm ganz recht.

Kaznim eilte, eine schnurgerade Fußspur hinterlassend, durch den Sand. Am fernen Horizont türmten sich hohe Dünen auf wie Wellenberge im stürmischen Meer und stachen dunkel gegen den hellen Streifen der Dämmerung am Himmel ab. Leicht erschrocken über die unermessliche Weite blickte Kaznim zu ihrem Zelt zurück. Gerade fingen seine silbernen Sterne die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne ein und glitzerten auf dem verblassten Blau. Der Anblick verschlug ihr den Atem. Wie schön ihr Zuhause war. Sie dachte an den verhassten Eierjungen und wünschte sich, der Embryo im Ei würde sich beeilen und bald schlüpfen. Dann würden sie ihre kleine Schwester wiederbekommen. Und der Eierjunge würde verschwinden und sie, ihre Mutter, Bubba und Mysor und ihren Schildkröterich endlich in Ruhe lassen.

Kaznim dachte an ihre Mutter, die noch in ihrem Bett aus Fellen schlief. Sie hatte ihr einen Zettel geschrieben und dabei den Namen benutzt, mit dem sie ihre Mutter immer ansprach, wenn niemand zuhörte:

Liebe Ammaa,

ich bin meinen Schildkröterich suchen gegangen.

Aber ich bin bald wieder zurück.

Deine Tochter

Kaznim

Kaznim hoffte allerdings, mit dem Schildkröterich zurück zu sein, bevor Ammaa den Zettel las. Seit Bubbas Entführung geriet ihre Mutter nämlich gleich in Panik, wenn sie allein irgendwo hinging.

Die Sonne stieg nun rasch höher, und Kaznim begann zu rennen. Sie musste die Grube der Singenden Sande erreichen, bevor die Wärme Ptolemy weckte. Der Schildkröterich würde in der flimmernden Hitze von den vielen herumliegenden Steinen bald nicht mehr zu unterscheiden sein.

Zehn Minuten später hatte Kaznim die Grube erreicht. Wieder drehte sie sich nach dem Sternenzelt um. Es erschien ihr so weit entfernt, dass sie das Heimweh zwickte. Wie sie sich danach sehnte, den Teppich am Eingang zurückzuschlagen und mit ihrem Ptolemy in den Armen in den kühlen Schatten des Zelts zu kriechen! Aber zuerst einmal, sagte sie sich energisch, musst du ihn finden.

Die Grube der Singenden Sande

Die Grube der Singenden Sande war eine große, runde Fläche aus Treibsand – ein tückischer Ort, den niemand betrat, aus Angst, auf Nimmerwiedersehen zu versinken. Doch die Morgensonne machte das Betreten verhältnismäßig sicher, denn die langen Schatten verrieten, wo der feste Boden unter dem Sand jäh endete.

An diesem Morgen lag der Sandkreis im Innern ein paar Zentimeter tiefer als der feste Rand. Kaznim suchte ihn mit den Augen ab – in der Hoffnung, dass sich Ptolemy nicht ausgerechnet dort zum Schlafen eingegraben hatte. Da bemerkte sie, dass der Sand sich wellenartig hin und her bewegte, als würde sich darunter ein großes Tier regen. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um nicht auf dem Absatz kehrtzumachen und zum Zelt zu laufen. Mit pochendem Herzen trat sie ein Stück vom Rand zurück, ließ den Blick über die Grube wandern und lauerte auf aufspritzenden Sand, der eine Schildkröte ankündigte, die einen neuen Tag begrüßte.

Eine plötzliche Bewegung, nur wenige Schritte entfernt, erregte Kaznims Aufmerksamkeit, und ihr Herz tat einen Sprung – da bewegte sich etwas in der Grube. Ein Wölkchen aus feinem Staub stieg in die laue Morgenluft und schwebte sanft auf den Boden zurück. Dann wieder eine Bewegung, energischer diesmal, und schließlich geschah, was Kaznim erhofft hatte. Ein schuppiger Kopf, flach und braun, mit einem kreisrunden, schwarz glänzenden Auge, durchstieß den weißen Sand.

»Ptolemy!«, rief Kaznim erleichtert.

Langsam und bedächtig schob sich der Schildkröterich in die kühle Morgenluft und blinzelte in die Sonne. Kaznim ging in die Hocke und hielt ihm ein kleines Stück Kokosnuss hin, denn sie wusste, dass Ptolemy Kokosnuss nicht widerstehen konnte. »Ptolemy«, lockte sie. »Ptolemy, komm hierher. Komm, Ptolemy. Zu mir.«

Der Schildkröterich reckte den Kopf und sah Kaznim fragend an. Dann drehte er sich um und stapfte davon – tiefer in den Kreis hinein.

Kaznim fuhr enttäuscht in die Höhe. »Ptolemy!«, rief sie. »Hierher, Ptolemy!« Aber der Schildkröterich trottete weiter in die eingeschlagene Richtung.

Sorgsam darauf achtend, dass sie festen Sand unter den Füßen hatte, lief Kaznim um die Grube herum zur anderen Seite, auf die Ptolemy in zügigem Tempo zusteuerte. Schildkröterich und Mädchen kamen einander immer näher, als mit einem Mal der Gesang einsetzte. Ein schrilles Wehklagen drang aus der Grube: »Aaaaaiiiiiiiiaaaaaaeeeeee…« Und wie Tänzer, die nur auf ihre Musik gewartet hatten, begannen sich die Sandkörner an der Oberfläche im Kreis zu drehen.

Kaznim blieb ruckartig stehen. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Schauergeschichten, die man sich nachts am Lagerfeuer erzählte, kamen ihr in den Sinn. Geschichten von Gruselmonstern, die der Grube entstiegen, und wäre Ptolemy nicht gewesen, wäre sie auf der Stelle davongerannt. Aber der Schildkröterich strebte unbeirrt dem Rand der Grube zu. Und so vergaß Kaznim alle Vorsicht und lief zur Grube der Singenden Sande – weg von Zuhause, weg von dem Ort, wo sie sicher war, der Gefahr entgegen. Ohne diesen dummen, dickköpfigen Schildkröterich wollte sie nicht gehen.

Feiner Staub wirbelte bei jedem ihrer Schritte auf und kratzte sie im Hals. Sie wickelte sich ihren langen roten Baumwollschal um den Mund und die Nase und ging am äußersten Rand des festen Sandes in die Hocke. Hoffentlich legte Ptolemy einen Zahn zu und kam rasch in ihre Reichweite, damit sie ihn packen konnte.

Der Schildkröterich war fast bei ihr, da sackte er plötzlich nach unten weg, wie in ein Loch. Es waren nur ein paar Zentimeter, aber vor Schreck zog er den Kopf und die Beine ein und blieb wie versteinert sitzen. Verzweifelt warf ihm Kaznim ein Stück Kokosnuss hin. Mit dem Ergebnis, dass er sich nur noch weiter in seinen Panzer zurückzog. Ein leises Sussssisssissssisssisssussssisss ertönte, und mit Entsetzen sah Kaznim, dass der Sand in der Grube in Bewegung geriet und sich langsam im Kreis zu drehen begann wie Wasser, das in einen Abfluss lief. Ptolemy begann zu versinken.

Da gab es für Kaznim kein Halten mehr. Sie sprang nach vorn, als würde sie nach einem Ball hechten. Sofort fing sie an, tief in den weichen Sand einzusinken, bekam aber mit den ausgestreckten Händen Ptolemys kalten, harten Panzer zu fassen und ließ ihn nicht mehr los. Wie eine Schlange wand sie sich zum sicheren Rand der Grube zurück, doch gerade als ihre Füße ihn erreicht hatten, da rutschte der Sand unter ihr weg und wurde durchdringbar wie Wasser. Kaznim stürzte in die Tiefe, immer weiter hinab durch den Sand, ins Innere der Grube der Singenden Sande.

Das Zelt der Apothekerin

Die Apothekerin erwachte von dem Aaaaaiiiiiiiiaaaaaaeeeeee der Singenden Sande. Sie schreckte hoch, überzeugt davon, dass sich ein böser Sandgeist ins Zelt geschlichen hatte. Doch als sie vollends wach wurde, begriff Karamander Draa, dass es kein Geist war. Sie hatte die Sande schon einmal gehört und wusste, was sie zu tun hatte – mucksmäuschenstill bleiben, damit das, was der Grube entstieg, kein menschliches Lebenszeichen wahrnahm.

»Kaznim«, flüsterte sie zu dem Haufen Decken auf dem Bett ihrer Tochter. »Hab keine Angst. Sei ganz ruhig. Lieg still. Das hört bald wieder auf.« Die Decken gehorchten und machten keinen Mucks. Ein leichtes Lächeln ging über das Gesicht der Apothekerin. Kaznim war so tapfer angesichts der Gefahr – niemand würde merken, dass sie da war.

Ungefähr zehn Minuten später verstummte das Heulen der Sande endlich. »Kaznim«, flüsterte Karamander wieder. »Alles ist gut. Du kannst jetzt aus deiner Höhle herauskommen.«

Aber aus Kaznims Höhle kam keine Antwort. Besorgt blickte Karamander hinüber – da stimmte etwas nicht. Sie stand auf und ging über die Teppiche zum Bett ihrer Tochter. Sie hatte die Hälfte der Strecke zurückgelegt, da wurde ihr die Wahrheit bewusst – Kaznim war nicht da.

»Kaznim! Kaznim!« Karamander riss die Felle vom Bett, warf sie auf den Boden und stürzte zum Eingang. Mit zitternden Händen schnürte sie die Türklappe auf und taumelte hinaus in die Morgensonne. Sie rannte von Zelt zu Zelt, schob die Türklappen beiseite und rief nach ihrer Tochter.

Das Eizelt hob sie sich bis zuletzt auf. Zwei Gestalten fuhren aus dem Schlaf hoch, ganz benommen von der stickigen Luft. »Wasnlos?«, fragte Mysor mit belegter Stimme. Die kleinere Gestalt sprang schuldbewusst auf. In der irrigen Annahme, er hätte verschlafen und das erste Drehen des Eies versäumt, stemmte sich Subhan-Subhan gegen das Ei und wuchtete es gekonnt eine Vierteldrehung herum.

»Mysor!«, schrie Karamander. »Heraus mit dir! Sofort!«

Sekunden später blinzelte der zerzauste Apothekerlehrling ins Morgenlicht. Mysor war hoch aufgeschossen und hatte kurze dunkle Locken, klare blaue Augen und eine Abneigung gegen frühes Aufstehen.

»Kaznim ist fort«, rief Karamander. »Ich brauche Hilfe.«

Mit einem Schlag war Mysor hellwach. »Fort?«, fragte er. »Wohin?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Karamander verzweifelt. »Aber die Grube hat gesungen.«

»Oh nein.« Jetzt war Mysor ebenso besorgt wie seine Meisterin.

Karamander rannte los. Das lange rote Nachthemd flatterte hinter ihr, als sie barfüßig durch den Sand in Richtung der Staubwolke flitzte, die in der Ferne über der Grube der Singenden Sande schwebte.

Mysor hatte sie mit seinen langen Beinen bald eingeholt. »Halt!«, rief er in einem gebieterischen Ton, der ihn selbst ebenso überraschte wie Karamander. »Ich bitte um Verzeihung, Meisterin. Aber wir müssen mit Bedacht vorgehen. Wer genau hinzuschauen versteht, dem gibt die Wüste Zeichen. Nur sind sie nicht lange sichtbar. Lassen Sie uns einen Moment innehalten und uns umsehen.«

Karamander betrachtete ihren Lehrling mit einem Gesichtsausdruck, der an Respekt grenzte. »Ja. Ja, natürlich. Du hast recht. Spuren. Es wird Spuren geben.«

Mysor kniff die Augen zusammen, wiegte den Kopf hin und her und ließ den Blick über den Sand schweifen. Das war ein alter Wüstentrick, der half, die Einzelheiten zu verwischen und das Wesentliche zum Vorschein zu bringen. Unter dem frisch verwehten Sand entdeckte er die Reste einer langen Fußspur, die in schnurgerader Linie Richtung Grube führte. Er blickte zur Apothekerin. Auch sie hatte die Abdrücke bemerkt.

»Sie ist also zur Grube gegangen«, sagte Karamander mit ausdrucksloser Stimme und beschattete ihre Augen mit der Hand gegen das grelle Licht. Hinter der Sandwolke war nichts zu erkennen, nur endlose Wüste. Ihre Tochter war verschwunden.

»Aber warum? Warum ist sie ausgerechnet dorthin?«

»Ich … ich weiß es nicht.« Mysor war kein Verräter, aber er wusste, dass Subhan-Subhan gestern zur Grube gegangen war. Er hatte etwas im Schilde geführt, davon war Mysor überzeugt.

Karamander folgte seinem Blick zurück zum Eizelt. »Wenn dieser Lümmel meiner Tochter etwas angetan hat, dann werde ich …« Sie verstummte, denn sie wusste, dass sie nichts tun konnte. Das Leben ihrer kleineren Tochter hing davon ab, dass der Eierjunge seinen Auftrag erfüllte, deshalb durfte sie nichts unternehmen, was das Ausbrüten des vermaledeiten Eies gefährden könnte. Niedergeschlagen folgten Karamander und Mysor der Fußspur Kaznims zur Grube der Singenden Sande. Sie wussten beide, dass sie dort nichts finden würden.

Weit hinter ihnen spähte ein blasses Mondgesicht aus dem Eizelt. Der Eierjunge grinste. Diese doofe Schildkröte, dachte er – es war ein Kinderspiel gewesen, sie zur Grube zu bringen und hineinzuwerfen. Und dieses doofe Mädchen – wie leicht es ihm in die Falle gegangen war. Der Eierjunge schlüpfte ins heiße, stickige Zelt zurück und ging zu dem schönen lapislazuliblauen Ei, das nur er, Subhan-Subhan, der lange verschollene Sohn einer Orm-Hüter-Sippe, ausbrüten konnte und niemand sonst. Das hatte jedenfalls der Zauberer zu ihm gesagt, und Subhan-Subhan glaubte es, auch wenn er diesbezüglich der Einzige war. Er strich mit der Hand über das glatte, warme Ei. Es freute ihn, dass das nervtötende Mädchen beim Schlüpfen nicht dabei sein würde. Es verdiente es nicht, die Gegenwart einer Großen Orm zu erleben. Er fragte sich, wie sich die kleine Orm im Ei heute wohl verändern würde, und griff unter den Teppich nach seinem kostbaren Kästchen.

Es war nicht da.

Fünf Minuten später lagen sämtliche Teppiche draußen vor dem Eierzelt auf einem Haufen, und Subhan wühlte verzweifelt im sandigen Boden. Wo war das Eikästchen?

Am Rand der Grube der Singenden Sande starrte Karamander auf die schwache, vom Wind verwehte Spur ihrer Tochter, die hier endete und sich in der Masse weichen Sandes und der darüber hängenden Staubwolke verlor. Es gab keine Spur, die von der Grube wegführte, und die Wüste dahinter war menschenleer. Jeder Zweifel war ausgeschlossen. Die Grube hatte ihre Tochter geholt.

Mysor wartete schweigend, während Karamander sich umdrehte, auf Kaznims Spur zurückblickte, die vom Zelt bis zur Grube führte, und dann zusah, wie sie immer undeutlicher wurde und wie der Morgenwind die letzten kostbaren Lebenszeichen ihres Kindes verwehte. Als die Fußspuren völlig verschwunden waren, sank Karamander zu Boden und begann so laut zu weinen, dass selbst der von Panik befallene Subhan-Subhan sich die Ohren zuhalten musste.

Ptolemy

Ptolemy war nicht so dumm, wie Subhan-Subhan dachte. Als der Eierjunge den Schildkröterich aus seinem Lieblingsbeet mit leckeren Mariendisteln entführt und wie einen Ball in die Luft geworfen hatte, war Ptolemy sofort klar gewesen, dass der Junge nichts Gutes mit ihm vorhatte. Und als er ihn in die Tasche steckte – wobei ihm Ptolemy in den Finger biss, was ihm eine Genugtuung war –, da wusste er, dass ihm etwas sehr Schlimmes bevorstand. Er hörte, wie Subhan-Subhan nachsah, ob Kaznim noch an ihren Schulaufgaben saß, und spürte dann, wie der Junge aus dem Lager forteilte. Schildkröten haben lange genug unter Menschen gelebt, um zu wissen, dass nicht alle gute Absichten verfolgen, und Ptolemy wusste zudem, dass Menschen gerne Schildkröten aßen, besonders wenn diese langsam in einem tiefen Sandbackofen gegart wurden. Und da er Subhan-Subhan obendrein als einen Jungen kannte, der immer Hunger hatte, machte er sich darauf gefasst, genau dieses traurige Schicksal zu erleiden. Als ihn Subhan-Subhan schließlich aus der stickigen Tasche zog, stieß Ptolemy einen Seufzer aus. Im nächsten Moment wehte ihm Luft um die Nasenlöcher, und da begriff er, dass er ein zweites Mal durch die Luft flog, genau auf die Grube der Singenden Sande zu. Er schlug hart auf und versank tief im lockeren Sand. Als er sich wieder an die Oberfläche gestrampelt hatte, war sein Peiniger verschwunden, und die Sonne neigte sich dem Horizont zu. Er beschloss, hier zu übernachten. Also buddelte er sich so tief ein, dass er vor den Nachtadlern sicher war (die ihren Spaß daran hatten, Schildkröten zu packen, mit ihnen hoch in die Lüfte zu steigen und sie dann aus großer Höhe auf einen Felsen fallen zu lassen), und legte sich schlafen. Sobald die Sonne aufgegangen wäre, wollte er sich auf den Heimweg zum Sternenzelt machen.

Als Ptolemy am nächsten Morgen aufwachte, sah er Kaznim neben dem tückischen Sandkreis kauern. Er wusste, dass die Grube für Menschen gefährlich war, und versuchte, sie vom Rand wegzulocken. Es wäre ihm auch beinahe gelungen, aber Menschen haben nicht die Geduld einer Schildkröte. Sie sind unerfahren und vorschnell, und besonders die jungen schienen nicht nachzudenken, bevor sie etwas taten. Insofern überraschte es Ptolemy nicht, dass Kaznim, als der Sand plötzlich in Bewegung geriet, in die Grube sprang, um ihn zu retten. Nur bezweifelte er, dass einem von ihnen beiden damit gedient war.

Er fühlte, wie Kaznims Hände seinen Panzer umschlossen. Er spürte ihre Wärme und Kraft und fühlte sich sicher – ganz anders, als wenn der gemeine Eierjunge ihn packte. Aber dieses Gefühl war nur von kurzer Dauer. Als Schildkröterich und Mädchen in der Grube versanken, drangen ihnen Sand und Staub in Augen, Ohren und Nasen, und sie bekamen keine Luft mehr.

Kaznim war so froh, ihren Schildkröterich in den Händen zu halten, dass sie zunächst gar nicht bemerkte, in welcher Gefahr sie sich befand, und als sie es schließlich begriff, schlugen sie bereits auf dem Boden auf. Sie zog den Schildkröterich dicht an sich heran und rollte sich ab, so wie sie es in ihrem Dünenspringerkurs geübt hatte. Aber der Sand, der sich in die Höhe geschraubt und das Loch gebildet hatte, durch das sie gestürzt waren, fiel nun zur Erde zurück, und die Wolke wurde so dicht, dass ihnen bald keine Luft mehr zum Atmen bleiben würde. Kaznim rappelte sich hoch, klemmte den Schildkröterich unter den Arm und kämpfte sich durch den herabprasselnden Sand. Sie glaubte, vor sich die Umrisse eines Torbogens zu sehen. Wenn es ihr gelänge, ihn zu erreichen, würde sie dem immer dichter werdenden Sandregen vielleicht entrinnen können, bevor sie erstickten.

Aber Staub füllte ihre Lunge, und Sand verstopfte ihre Nase. Sie wurde ganz wirr im Kopf, und vor ihren Augen begannen Funken zu tanzen. Ihr war klar, dass sie drauf und dran war, ohnmächtig zu werden. Und wenn sie es wurde, würden sie und Ptolemy vom Sand begraben werden und sterben – was würde Ammaa dann tun? Kaznim nahm einen letzten staubigen Atemzug und taumelte auf den Torbogen zu.

Plötzlich sah sie dort zwei Schatten auftauchen. Vier Arme streckten sich ihr entgegen, packten sie und zogen sie und ihren Schildkröterich in die Dunkelheit.

Marwick und Sam

Kaznim hatte das beängstigende Gefühl, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zu reisen. Im ersten Moment dachte sie, Ptolemy und sie wären in eine weitere Grube gestürzt, und machte sich auf den Aufschlag gefasst. Aber die starken Arme hielten sie fest, und sie erkannte, dass sie nicht fiel, sondern dass sie sich in einer schnellen Vorwärtsbewegung befand. Dann verlangsamte sich die Fahrt, und Augenblicke später schritt sie in einem Tunnel auf ein fleckiges grünes Licht zu, das die Umrisse eines Torbogens rahmte. Die Arme hielten sie weiter fest, und Kaznim wagte einen Blick auf ihre Entführer. Es waren zwei junge Männer, beide viel größer als sie. Der eine hatte dunkles, verfilztes Haar und wild funkelnde Augen, der andere – dessen Griff, wie Kaznim auffiel, viel schwächer war – wirre blonde Locken und ein leichenblasses Gesicht.

Kaznim kannte viele Geschichten von Wüstenkindern, die versklavt worden waren, und ihre Angst vor dem Sturz war schnell der Angst gewichen, sie könnte entführt worden sein. Sie nahm sich vor, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit einen Fluchtversuch zu unternehmen. Als sie in einen runden Garten mit verschiedenen Torbogen in den Mauern gelangten, ließen die jungen Männer endlich Kaznims Arme los. Sofort flitzte sie davon, auf einen anderen Bogen zu.

»He!«, schrie der junge Mann mit den verfilzten Zotteln. »Nicht da rein! Um Himmels willen!« Er rannte ihr hinterher, und im nächsten Moment spürte Kaznim, wie sie an der Tunika gepackt und zurückgezogen wurde. Sie trat mit den Füßen nach hinten aus. So leicht sollten sie sie nicht kriegen.

»Oha!«, rief der junge Mann, der sie gepackt hatte. »Autsch! Immer mit der Ruhe. Ich will dir doch nur helfen.« Sein Ton ließ Kaznim ruhiger werden. Seine Stimme klang ehrlich, wie die von Mysor, wenn er ihr etwas erklärte.

»Na also, schon besser. Wenn du da reinrennst, landest du irgendwo, wo es alles andere als angenehm ist. Hier, setz dich. Du siehst mitgenommen aus, Kleine.«

Kaznim fand, dass der junge Mann selbst ziemlich mitgenommen aussah. Seine Kleider waren blutbefleckt, zerlumpt und schmutzig. Aber seine braunen Augen blickten sie freundlich an, also ließ sie sich von ihm zu einem weichen Grasplatz führen, auf dem der andere junge Mann bereits zusammengesackt war. Er sah erst recht nicht gut aus. Seine zerzausten strohblonden Locken waren mit Blut verklebt, und in seinem dünnen Bart hing Sand. Aber dennoch funkelte ein Lächeln in seinen leuchtend grünen Augen. Sein Gefährte zögerte jetzt ein wenig. Der Blick aus seinen braunen Augen wanderte ruhelos zwischen den Bogengängen hin und her, als würde er Wache halten. Die beiden sahen so aus, als wären sie in einen Kampf verwickelt gewesen. Kaznim bemerkte jetzt, dass der Blonde einen breiten, stark blutverschmierten Verband um die Taille und eine lange Schnittwunde am rechten Arm hatte, die mit Schnur umwickelt war, wie um die Wundränder zusammenzuhalten. Der Dunkelhaarige war anscheinend glimpflicher davongekommen. Er hatte zwar Schrammen im Gesicht und Blut an den Kleidern, aber keine dicken Verbände.

»Du bist verletzt«, sagte Kaznim schüchtern zu dem Blonden.

Er nickte und zuckte bei der Bewegung vor Schmerz zusammen.

»Möchtest du meine Schildkröte?«, fragte sie.

Der junge Mann brachte ein mattes Lächeln zustande und schüttelte langsam den Kopf.

Kaznim traute sich nicht, ihm zu erklären, was es mit Ptolemy auf sich hatte. Sie setzte den Schildkröterich ins Gras, und alle drei sahen schweigend zu, wie das Tier langsam aus seinem Panzer schlüpfte und den Kopf in die Sonne streckte.

Kaznim schaute sich um. Der Garten wurde offensichtlich seit vielen Jahren vernachlässigt, denn er war von Kletterpflanzen überwuchert, die an den Mauern hinaufkrochen, und zwischen den Steinplatten spross hohes, raues Gras. Die Mauern selbst ragten sechs bis sieben Meter in die Höhe. Sie waren mit vielen weiteren Torbogen versehen, ähnlich dem, aus dem sie gekommen waren, und in den Schlussstein ganz oben waren bei jedem ein oder zwei Zeichen eingemeißelt. Kaznim zählte insgesamt zwölf. Es war ein schönes, friedliches Plätzchen, an dem sich die Menschen früher sicher gern aufgehalten hatten. Das einzig Unangenehme war ein Rumpeln, das alle paar Sekunden aus dem Boden drang. Für Kaznim hörte es sich so an, als ob unter ihnen ein großes Monster atmen würde. Aber der Atem ging langsam, also nahm sie an, dass das Monster schlief.

In der Mitte des runden Gartens sprudelte eine kleine Quelle, deren Wasser in ein altes Kupferbecken plätscherte. Der Boden darum herum war mit Pflastersteinen ausgelegt, die im Lauf der Jahrhunderte ganz glatt poliert waren von den vielen Tritten.

Kaznim sah gerade zu, wie der dunkelhaarige Mann sich an der Quelle niederkniete und eine verbeulte Metallflasche mit kühlem Wasser füllte, als plötzlich neben ihr eine heisere Stimme ertönte.

»Nette Schildkröte.«

»Sie ist ein Er und heißt Ptolemy«, erklärte Kaznim.

»Schöner Name … für eine … Schildkröte. Ich bin … Sam Heap.«

»Hallo, Sam Heap«, sagte Kaznim, langsam die unvertrauten Silben aussprechend.

»Und ich heiße Marwick«, sagte der junge Mann mit der Wasserflasche und kam wieder zu ihnen.

»Ich heiße Kaznim Na-Draa.« Sie lächelte. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, wie man höfliche Konversation betrieb, nachdem man sich Leuten vorgestellt hatte, aber alles, was ihr jetzt einfiel, war: »Wo sind wir hier?«

»Gute Frage«, erwiderte Marwick. »Im Moment habe ich keine Ahnung.« Er zog ein dünnes, mehrfach gefaltetes Stück Papier aus der Tasche und breitete es vor ihnen aus. Darauf war ein Netz von feinen Linien und Kringeln gezeichnet, aus dem Kaznim nicht schlau wurde. Marwick legte einen langen, schmutzigen Finger mit blutigem Knöchel auf einen Kringel. »Wir sind hier, glaube ich.«

Kaznim spähte auf das Papier. »Aber wo ist das?«, fragte sie. »Wo auf der Welt, meine ich.«

»Es ist eine kleine Insel weit vor der Küste der Blauen Berge«, antwortete Marwick. »Wenn wir Glück haben.« Er blickte zu Sam. »Und wenn das stimmt, können sie uns unmöglich kriegen.«

Sam verzog das Gesicht. »Hoffen wir’s«, murmelte er.

Kaznim war verwirrt. »Aber wie können wir auf einer Insel sein?«, fragte sie. »Wir sind doch nicht übers Meer gefahren.«

Marwick schmunzelte. »Doch«, sagte er. »Wir sind auf einem Alten Weg gereist. Weißt du, Kaznim, die Alten Wege sind …« Der Schrei einer Möwe unterbrach Marwick in seiner Erklärung, und er grinste. »Sieht so aus, als hätte ich recht, Sammo«, sagte er. »Und horcht doch mal … Ich kann eine Brandung hören.«

»Was ist eine Brandung?«, fragte Kaznim.

»Das ist, wenn sich die Wellen des Meeres an einem Strand brechen«, erklärte ihr Marwick.

Jetzt begriff Kaznim, was das schlafende Monster in Wirklichkeit war. Sie holte tief Luft und schmeckte Salz auf der Zunge. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr weit weg von zu Hause. Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter aufwachte und feststellte, dass sie nicht in ihrem Bett lag – was ungefähr jetzt passieren dürfte. Sie dachte daran, wie Ammaa auf zwei