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Wilkommen in Bramble Falls, wo der Herbst die Blätter rascheln und die Herzen schneller klopfen lässt
Die 17-Jährige New Yorkerin Ellis hat genaue Vorstellungen davon, wie ihre Zukunft aussehen soll: an der Columbia aufgenommen und Journalistin werden wie ihr erfolgreicher Vater. Als ihre Eltern sich vorübergehend trennen und ihre Mutter sie in die Kleinstadt Bramble Falls mitschleppt, um bei ihrer Tante und Cousine zu leben, bricht für die strebsame Ellis die Welt zusammen. Wie soll sie hier ihre Ziele verfolgen? Stattdessen findet im idyllischen Kleinstädtchen das alljährliche Herbstfestival statt, und Ellis muss aushelfen. Der einzige Lichtblick ist Cooper, mit dem Ellis vor drei Jahren ihren ersten Kuss erlebt hat. Aber jetzt beachtet er sie kaum. Doch die Anziehung zwischen den beiden ist groß – und nicht nur aufgrund der Harvest Lattes und unwiderstehlichen Cookies, die Cooper zubereitet.
Zuckersüße Second-Chance-Romance in charmantem Kleinstadt-Setting
Für Fans von Gilmore Girls und Jenny Han ("To all the boys I've loved before")
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Zum Buch
Die 17-Jährige New Yorkerin Ellis hat genaue Vorstellungen davon, wie ihre Zukunft aussehen soll: an der Columbia aufgenommen und Journalistin werden wie ihr erfolgreicher Vater. Als ihre Eltern sich vorübergehend trennen und ihre Mutter sie in die Kleinstadt Bramble Falls mitschleppt, um bei ihrer Tante und Cousine zu leben, bricht für die strebsame Ellis die Welt zusammen. Wie soll sie hier ihre Ziele verfolgen? Stattdessen findet im idyllischen Kleinstädtchen das alljährliche Herbstfestival statt, und Ellis muss aushelfen. Der einzige Lichtblick ist Cooper, mit dem Ellis vor drei Jahren ihren ersten Kuss erlebt hat. Aber jetzt beachtet er sie kaum. Doch die Anziehung zwischen den beiden ist groß – und nicht nur aufgrund der Harvest Lattes und unwiderstehlichen Cookies, die Cooper zubereitet.
Zur Autorin
Misty Wilson ist Lehrerin, begeisterte Leserin und Autorin. Sie hat bislang eine preisgekrönte Graphic Novel veröffentlicht, Falling Like Leaves ist ihr Jugendbuch-Debüt. In ihrer Freizeit schaut sie RomComs und ihre Lieblingsserien, darunter The Bear und Gilmore Girls. Sie lebt mit ihrem Ehemann und zwei Töchtern im Nordosten von Ohio.
Misty Wilson
Falling Like Leaves
Aus dem Englischen von Andrea Fischer
dragonfly
Deutsche Erstausgabe
© 2025 Dragonfly in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten
Text © 2025 Misty Wilson
Originaltitel: »Falling Like Leaves«, erschienen bei Margaret K. McElderry Books
An imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division
1230 Avenue of the Americas, New York, New York 10020
All rights reserved.
Covergestaltung von Frauke Schneider nach dem Originalentwurf von Debra Sfetsios-Conover
Coverabbildung © 2025 by Amber Day
E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 9783748803027
www.dragonfly-verlag.de
Facebook: facebook.de/dragonflyverlag
Instagram: @dragonflyverlag
Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberinnen und des Verlags bleiben davon unberührt.
Für meine herbstverrückten Leserinnen und Leser in dicken Socken und Pullis, die gerne Äpfel pflücken, Gilmore Girls gucken, Pumpkin-Spice-Latte, Kürbisse und Candy Corn lieben.
Dieses Buch ist für euch.
Auf dass wir alle unseren Cooper finden.
Kaviar ist ekelhaft, und wer was anderes behauptet, der lügt.
Trotzdem schaufele ich mir den Kram in den Mund und lasse ihn um die Zunge rollen, als sei es guter Wein, so wie Dad mir das eingeschärft hat, bevor er mich mit einem der vielen weißhaarigen Männer auf diesem Event stehen ließ. Wenn ich nicht auf der alljährlichen Galaveranstaltung der Street Media Corporation wäre, würde ich diese Fischeier sofort ausspucken. Aber ich kann nicht hier neben der Kunstpflanze stehen und teures Essen in die Serviette befördern. Damit würde ich Dad blamieren. Also behalte ich den Rogen im Mund und hoffe, dass er sich von selbst auflöst, damit ich ihn nicht hinunterwürgen muss.
In dem funkelnden Saal, in dem sich Menschen in teuren Kleidern und Smokings drängeln, spielt eine kleine Band. Vier Paare nutzen die Tanzfläche des Ballsaals; die übrigen Gäste stehen herum und unterhalten sich oder sitzen an den in edlem Weiß gedeckten und mit Orchideengestecken geschmückten Tischen. Diese Gala findet anlässlich des erfolgreichen letzten Unternehmensjahrs statt, gleichzeitig ist sie eine Veranstaltung, auf der mit potenziellen Investoren genetzwerkt wird. Jeder, der was auf sich hält in New York, ist hier – tanzt, lacht und trifft andere reiche Menschen.
Ich bin nur eine Praktikantin, die das Glück hat, einen wichtigen Vater zu haben.
»Ah, Sie haben die seltene Delikatesse entdeckt«, sagt ein Mann neben mir. Ich zucke zusammen. Es ist Mr. Street, der Gastgeber. Er weist auf den Kaviarlöffel in meiner Hand. Auf gar keinen Fall werde ich den Vorstandsvorsitzenden und Gründer dieses Medienkonglomerats beleidigen, also schlucke ich den warm gewordenen Fischrogen hinunter und lächele ihn an. Zumindest hoffe ich, dass es wie ein Lächeln aussieht.
»Ja. Wirklich köstlich«, lüge ich und verkneife mir das Würgen.
»Man soll sie angeblich am Gaumen zerplatzen lassen, um den buttrigen Geschmack und die einzigartige Konsistenz richtig auskosten zu können.« Mr. Street schüttelt den Kopf. »Ich persönlich habe noch nie was damit anfangen können, aber wie dem auch sei.«
Das muss ein Witz sein.
Da hätte ich hier stehen und Sprüche raushauen können, wie ekelig diese Fischeier sind und dass alle hier bestimmt nur so tun, als würden sie sie mögen, und in Wirklichkeit gehöre ich selbst zu den Aufschneidern.
Meine Laune bekommt einen Dämpfer, weil ich die Gelegenheit zum Netzwerken verpasst habe.
»Wie war Ihr Praktikum bisher, Ms. Mitchell?«, fragt Mr. Street. Das Licht der Kristalllüster spiegelt sich in seinen freundlichen braunen Augen und auf dem kahlen Kopf.
»Wirklich großartig«, antworte ich. »Ich lerne sehr viel.«
Das stimmt nicht ganz. Wenn man die Tochter von Brad Mitchell ist, dem Geschäftsführer von Street Media, kann man von den niederen Rängen der Journalisten und Content Creators nicht mehr so viel lernen. Schon als ich fünf Jahre alt war, erklärte mir Dad, was man unter journalistischer Sorgfaltspflicht versteht und was Quellenschutz bedeutet. Und auch wenn dies mein erster Sommer in einer offiziellen Position im Unternehmen ist, habe ich Dad schon in den letzten zwei Sommern über die Schulter geguckt, mich in die Vorgänge und in Interviewtechniken eingearbeitet, habe gelernt, wie man spannende Artikel schreibt, Voreingenommenheit erkennt und vermeidet. Dad sagt, Journalismus läge mir im Blut; wenn er eines Tages in den Ruhestand geht, könnte ich seinen Platz einnehmen. Ich bräuchte nur Erfahrung und die richtigen Kontakte.
In anderen Worten, die Familie Street.
»Das ist toll.« Mr. Street trinkt einen Schluck Champagner. »Haben Ihnen irgendwelche Redaktionen besonders gut gefallen?«
Das Highlight des Sommers war für mich die Model Icon Fashion Show, zu der ich eine Reporterin begleiten durfte, aber das werde ich ihm ganz bestimmt nicht verraten.
»Ich habe ein bisschen ins Auslandsressort reingeschnuppert. Die Berichterstattung über die Wahl des europäischen Parlaments und die Situation in der Ukraine war wirklich aufschlussreich.«
»Ah, ja, Ihr Vater hat von Ihrem Interesse an europäischen Themen erzählt. Wussten Sie, dass ich als Auslandskorrespondent angefangen habe?«
Natürlich weiß ich das, schließlich macht eine gute Journalistin ihre Hausaufgaben.
»Oh, wow! Das ist mir neu.« Vorgeblich interessiert beuge ich mich vor. »Haben Sie da spannende Geschichten erlebt? Oder haben Sie vielleicht Ratschläge für mich?«
»Hör mal, Ellis«, sagt mein Vater hinter mir und legt mir die Hand auf die Schulter, »du kannst Edward heute Abend nicht die ganze Zeit in Beschlag nehmen. Als Gastgeber muss er sich auch mit anderen unterhalten.«
Mr. Street schmunzelt. »Das stimmt leider, aber wir könnten ja nächste Woche mal zusammen mittagessen gehen.«
»Das wäre super«, sage ich.
»Frag Anita, wie es mit meinen Terminen aussieht, und leg was fest, Brad. Ich habe das Gefühl, dass deine Tochter zu Großem berufen ist. Sie kann ihre Leidenschaft für diesen Beruf nicht verhehlen.« Mr. Street strahlt mich an. »Holen Sie sich noch Kaviar, bevor er weg ist, Ms. Mitchell!«
Er gesellt sich zu einer Gruppe hoher Tiere, die hitzig miteinander diskutieren, und Dad sieht mich an. Sein offizielles Lächeln weicht einem Daddylächeln, ein Unterschied, den außer mir wahrscheinlich niemand wahrnimmt. Sein Blick bleibt an meinem Hemd hängen, er wird ernst.
»Ist das eine von deinen … Kreationen?« Aus jedem einzelnen Wort trieft Enttäuschung.
Befangen zupfe ich an dem Neckholder-Oberteil, das ich aus einem Secondhand-Herrenoberhemd genäht habe. Für mich geht es als Abendgarderobe durch, weil ich es mit einer von Moms Kamee-Broschen und einem bodenlangen Seidenrock von Carolina Herrera kombiniert habe, aber das scheint Dad anders zu sehen.
»Ja …«, bestätige ich und bereue, nichts Unauffälligeres angezogen zu haben.
»Na, offenbar hast du trotzdem einen guten Eindruck hinterlassen.«
Ich zucke mit den Schultern. »Hab eigentlich nicht viel gesagt.«
»Hast du das Außenressort erwähnt, wie wir besprochen haben?«
Ich nicke. »Klar.«
Dad zwinkert mir zu. »Gut gemacht, Mäuschen. Ich organisiere das Mittagessen für Montag.« Unauffällig weist er auf eine kurvenreiche Blondine Mitte dreißig in einem wunderschönen goldenen Kleid. »Stell dich doch mal bei Catherine Howe vor! Sie ist Produktionsleiterin bei WorldNet Studios.«
Dad wirft einer Gruppe alter Männer auf der anderen Seite des Saals sein offizielles Lächeln zu und lässt mich stehen.
Mein Handy in der Clutch vibriert. Ich hole es heraus, um die Nachricht zu lesen, obwohl ich das eigentlich nicht tun sollte.
Foodie Fernie
Ist deine Schnarchnasen-Gala endlich vorbei? Bei mir ist Party! Jordan ist auch da ;)
Seufzend stecke ich das Handy ein. Wie gerne würde ich diese spießige Feier verlassen und mit meinen Freunden abhängen. Ich würde mein Outfit gern Leuten zeigen, denen nicht egal ist, wie schick ich heute Abend aussehe. Aber wenn ich an der Columbia angenommen werden und anschließend eine Stelle bei Street Media ergattern will, muss ich was dafür tun. Ich habe keine Zeit für Partys und Jungs und in letzter Zeit nicht mal mehr für meine beste Freundin Fern.
Also drücke ich die Schultern durch, ignoriere meine brennenden Füße und steuere auf Catherine Howe zu, um mich bei ihr vorzustellen.
Weiches Sonnenlicht fällt durch mein Zimmerfenster. Ich liege bäuchlings auf dem Bett und starre auf das einschüchternde Bewerbungsformular der Columbia-Universität auf meinem Laptop. Draußen läuft der immer gleiche Soundtrack der Stadt in Dauerschleife – hupende Autos, rufende Bauarbeiter, kreischende Sirenen, gurrende Tauben. Während ich meine Kontaktdaten in das Formular eingebe, setzt sich ein gewisses Unbehagen zwischen meinen Rippen fest. So weit bin ich das letzte Mal nicht gekommen, als ich die Seite aufrief.
Vielleicht macht mich die Aussicht auf die Uni doch nervöser, als ich dachte.
Ich klicke auf den nächsten Abschnitt der Bewerbung und vergrabe das Gesicht in meiner weichen weißen Bettdecke. Ich weiß nicht, warum mich das hier so stresst. Ich will es doch.
Wieder hebe ich den Kopf, und mein Blick fällt auf den zweiten aufgerufenen Reiter: die Homepage des FIT. Im letzten Schuljahr habe ich als Wahlfach Modemarketing belegt, und meine Lehrerin schlug mir vor, mich mal beim FIT umzusehen, dem Fashion Institute of Technology, weil ich großes Talent hätte. Aber das ist in meiner Lebensplanung nicht vorgesehen. Dad und ich sind uns einig, dass Publizistik ein viel lukrativerer Studiengang ist, und auf die Columbia bereite ich mich schon mein ganzes Leben lang vor. Aber es kann ja nicht schaden, mir mal das Bewerbungsformular fürs FIT anzusehen – ich will nur wissen, was da so gefragt ist.
Ich prokrastiniere bestimmt nicht, um die Bewerbung für Columbia vor mir herzuschieben.
Die Website lädt, ich klicke auf die Zulassungsbedingungen, und ein Gefühl der Ruhe legt sich über mich, wahrscheinlich weil es hierbei nicht um meine gesamte Zukunft und den damit einhergehenden Druck geht.
Ich überfliege die Vorgabe für den Essay: Schildern Sie, warum Sie sich für Mode interessieren, was Sie inspiriert und welche Erfahrungen Sie gesammelt haben. Da klopft es an meiner Tür.
»Herein!« Als ich anklicke, welche Unterlagen für die Bewerbung einzureichen sind, öffnet Dad die Tür. Sein Blick ist matt, sein Körper eingefallen – ein völlig anderer Mensch als gestern Abend auf der Gala. Er schleppt sich zum Bett und setzt sich.
»Was ist?«, frage ich. »Alles in Ordnung?«
»Deine Mutter …« Er verstummt, sein Blick bleibt an meinem Monitor hängen, er verengt die Augen zu Schlitzen. Mein Magen zieht sich zusammen. »Was guckst du dir denn da an? Ich dachte, wir hätten darüber geredet.«
»Ja, haben wir.« Ich klappe den Laptop zu. »Ist nichts.«
»Du hast wirklich ein Händchen für Mode, Ellis, aber wir waren uns doch einig, dass es eher eine Gelegenheit ist, Columbia zu zeigen, wie vielfältig deine Interessen sind.«
»Ja. Ich hab doch nur geguckt. Ich dachte, es könnte nicht schaden, mich zur Sicherheit auch am FIT zu bewerben. Das machen alle für den Notfall.«
»Aha …« Dad nickt langsam. Skeptisch. »Egal, konzentrier dich weiter auf dein Ziel. Lass dich von deinen Hobbys nicht von den wirklich wichtigen Sachen ablenken. Wer erfolgreich sein will, braucht Ausdauer und Zielstrebigkeit.«
»Ich weiß, Dad. Ich hab ja auch schon angefangen, die Bewerbung für Columbia auszufüllen. Keine Sorge.«
Auch wenn es bis jetzt nur Name und Adresse waren.
»Gut. Ich wollte dir eigentlich sagen, dass deine Mom und ich mit dir reden möchten.« Dad steht auf und reibt sich den Nacken. »Sie wartet unten im Wohnzimmer.«
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Da stimmt was nicht. »Okay …«
Ich lasse den Laptop auf dem Bett liegen und folge Dad ins Wohnzimmer, wo Mom steif auf der grauen Ledercouch sitzt und mit gesenktem Blick die Hände ringt. Sie hat die rotblonden Haare zu einem lockeren Knoten hochgesteckt. Unter den Augen hat sie ebenso dunkle Ringe wie Dad. In meinem Kopf schrillt eine Warnglocke.
Als ich mich neben sie aufs Sofa setze, schaut sie auf. »Guten Morgen, mein Schatz.«
»Morgen …« Ich schiele zu Dad hinüber, der seinen Blick auf die Wand hinter mir richtet. »Was ist denn?«
»Nun«, beginnt Mom, »wir wollten mit dir reden. Du hast bestimmt schon gemerkt, dass es in letzter Zeit zwischen deinem Dad und mir …«
»Kriselt?«, werfe ich ein.
»Ja. In letzter Zeit hat es gekriselt. Es fällt mir schwer, das auszusprechen, aber wir haben uns entschieden, eine Weile getrennt zu leben.«
Panik sickert in meine Brust. »Lasst ihr euch scheiden?«
»Nein«, antwortet Dad schnell.
Mom schießt ihm einen finsteren Blick zu, dann wendet sie sich wieder an mich. »Wir wollen nichts übereilen.«
Ich schüttele den Kopf. »Ja, gut, ich weiß, dass ihr euch oft streitet, aber könnt ihr das nicht irgendwie klären?«
»Nein. Diesmal nicht«, erwidert Mom. »Deine Tante Naomi hat zu Hause ein bisschen Platz, und eine kurze Zeit getrennt voneinander wird uns beiden guttun.«
Ich sehe Dad an, hoffe, dass er etwas sagt. Dass er eine andere Lösung im Ärmel hat. Er hat immer für alles eine Lösung.
Doch er starrt nur die Wand an. Sein Kiefer zuckt.
»Dad? Sag du auch was! Tu was!«
»Es gibt nichts zu tun, Ellis. Die Entscheidung ist gefallen.« Endlich sieht er mir in die Augen. Er hat einen Bartschatten, und seine Haare sehen aus, als sei er hundertmal mit den Händen hindurchgefahren. Er wirkt, als hätte er kapituliert.
»Es wird hart für die Familie, nicht zusammen zu sein, aber wir überstehen das«, sagt Mom mit einem schwachen Lächeln.
»Wie lange bist du denn weg?«, frage ich.
Moms Augen werden ein wenig größer, irgendwas begreift sie gerade. »Ähm, also, du kommst mit nach Bramble Falls.«
»Was?« Ich erstarre. »Nein, ich bleibe hier. In dieser Woche fängt die Schule wieder an«, erinnere ich sie.
»Du wirst eine Zeit lang in Bramble Falls zur Schule gehen«, sagt sie. »Zu Thanksgiving sind wir zurück.«
»Ganz bestimmt nicht! Ich gehe nicht an eine neue Schule. Los, Dad, erklär es ihr!«
Dad kneift sich in den Nasenrücken. »Wie gesagt, die Entscheidung ist gefallen, Ellis. Du hast deine Mutter gehört.«
Ich stehe auf und stelle mich vor Mom, die meinem Blick mit aufeinandergepressten Lippen ausweicht. »Ich gehe nicht mit ins bescheuerte Connecticut. Ihr könnt mich nicht zwingen, im letzten Jahr mein Zuhause, meine Freunde und meine Schule zu verlassen! Was ist mit meinen Verpflichtungen? Ich meine, ich habe die ehrenamtliche Stelle im Pflegeheim und bin drei Tage die Woche nach der Schule als Praktikantin bei Street Media. Außerdem bin ich dieses Jahr endlich Herausgeberin der Schülerzeitung! Sorry, aber das geht nicht. Ich kann hier nicht weg. Das alles ist die Voraussetzung dafür, in Columbia angenommen zu werden. Warum kann ich nicht einfach bei Dad bleiben?«
Mum sieht mich hart und undurchdringlich an. »Das steht nicht zur Diskussion.« Sie erhebt sich. »Wir fahren morgen in aller Früh, du packst jetzt besser deine Sachen.«
»Was? Ich darf mich nicht mal von Fern verabschieden und bei meinen Jobs rechtzeitig Bescheid sagen? Mr. Street wollte diese Woche mit mir essen gehen! Bitte, Mom, tu mir das nicht an!«
Mein Herz klopft heftig, Tränen schwimmen in meinen Augen. Ich kann es nicht glauben.
»Hierbleiben ist keine Option«, sagt sie, und ihr Blick wird gläsern. »Tut mir leid.«
Ich wende mich von ihr ab. »Bitte, Dad!«, flehe ich und blinzele mehrmals, um nicht zu weinen.
Dad nimmt mich in die Arme und gibt mir einen Kuss auf den Scheitel. »Ist ja nur vorübergehend, Ellis. Deine Praktikumsstelle läuft nicht weg. Ich bin mir sicher, dass Mr. Street auch noch mit dir essen geht, wenn du wieder da bist.«
Ich löse mich von ihm, schüttele ungläubig den Kopf. Wie kann er das zulassen?
Mit zusammengebissenen Zähnen schaue ich zwischen meinen Eltern hin und her. »Dafür hasse ich euch beide.«
»Ellis …«
Meine nackten Füße patschen über das Parkett Richtung Schlafzimmer. Ich will kein Argument mehr hören, egal, was Mom vielleicht gerade anführen wollte. Ich schlage die Tür hinter mir zu und stelle mich ans Fenster, wo ich meinen Tränen endlich freien Lauf lasse.
Draußen taucht die Sonne die Stadt in Licht. Die Leute gehen ihren samstagmorgendlichen Betätigungen nach, als sei die Welt gerade nicht komplett aus den Fugen geraten. Als sei nicht mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt worden. Als sei nicht meine ganze Zukunft zerstört worden.
Bevor ich zur Highschool ging, habe ich mit meinen Eltern jeden Sommer meine Tante Naomi und meine Cousine Sloane besucht. Ich weiß also, was auf mich zukommt.
Ich weiß bereits, dass mir Bramble Falls, Connecticut, nicht das Geringste zu bieten hat.
Am frühen Sonntagmorgen erreichen Mom und ich Bramble Falls. Die kurz zuvor aufgegangene Sonne spiegelt sich in den Tautropfen und taucht den Ort in goldenes Licht. Zuckerahornbäume säumen die ruhigen Straßen, ihre grünen Blätter klammern sich im sturen Widerstand gegen die unvermeidliche Veränderung an die letzten Sommertage, so wie ich mich an New York klammere.
Mit der Stirn am kalten Fenster der Beifahrerseite stelle ich fest, dass die kleine Stadt noch genauso aussieht wie in meiner Kindheit: Kleine Häuser stehen inmitten von kleinen, perfekt gepflegten Gärten. Menschen spazieren mit ihren kleinen Hunden auf dem Gehsteig.
Hier ist alles klein.
New York fehlt mir jetzt schon. Seine Größe, seine Geräusche, sein Trubel. Mir fehlen das Angebot an Restaurants, die Straßenmusik, die Buchhandlungen. Verdammt, mir fehlen sogar der Müll, die ekligen Gerüche und die U-Bahn.
Hier gehöre ich nicht hin.
Vor der einzigen Ampel im Ort bleibt Mom stehen und lächelt mich an, als wäre alles gut. Sie bewegt die Lippen. Ich nehme meine AirPods raus, Gracie Abrams wird leiser.
»Was ist?«, frage ich.
»Ich habe gesagt, es ist wunderschön hier, oder? Kannst du dich an alles erinnern?« Sie weist auf den Festplatz von Bramble Falls.
Der weiße Pavillon, in dem meine Cousine Sloane und ich uns mit ihren Freundinnen trafen und picknickten, steht immer noch in der Mitte der frisch gemähten Rasenfläche. Das Gras unter meinen nackten Füßen war immer seidig weich. Bäume spenden durchbrochenen Schatten, ihre Zweige schützen orangefarbene und braune Chrysanthemen in den Beeten darunter.
»Klar. Ich war ja schon aus dir raus, als wir das letzte Mal hier waren«, bemerke ich trocken.
Mom runzelt die Stirn, die Ampel springt um, sie gibt Gas. Wir fahren einmal um den Platz herum, vorbei am alten Baumarkt mit dem sonnengebleichten Schild WERKZEUG & MEHR!, das schon früher im Schaufenster hing. Vorbei an dem Diner, wo Sloane und ich uns an unerträglich heißen Sommertagen dicke Milchshakes und Chili Dogs holten, an der kleinen Post, von wo ich Karten an meine Freundinnen in New York verschickte, und an dem Supermarkt, wo ich zum ersten Mal (aus Versehen) etwas mitgehen ließ.
Sicher, das malerische Städtchen ist hübsch, und ich habe viele schöne Kindheitserinnerungen daran. Aber die reichen nicht, um meine schlechte Laune zu vertreiben. Dies ist nicht meine Heimat, und ich werde nicht so tun, als würde ich mich über den Umzug freuen, nur um meine Mutter glücklich zu machen – schon gar nicht, wenn es ihre Schuld ist, dass ich hier feststecke. Ich verstehe schon, dass sie eine Menge mitmacht, trotzdem begreife ich nicht, warum ich sie unbedingt hierher begleiten soll. Jedenfalls nicht, um sie vor Einsamkeit zu bewahren, denn sie wohnt ja bei ihrer Schwester. Auch nicht, um sie vor Heimweh zu schützen, denn ihr Heim ist offensichtlich der letzte Ort, wo sie sein möchte. Jeder Gedankengang führt mich zur selben Schlussfolgerung: dass sie aus reiner Boshaftigkeit hier ist, dass sie Dad nur provozieren will und ich lediglich ein Kollateralschaden bin.
Als wir an dem kleinen Postkartengeschäft vorbeikommen, sehen wir eine alte Frau mit vielen Falten und braunen Locken, die uns lächelnd winkt. Mom winkt zurück.
»Kennen wir die?«, frage ich.
»Nein.« Mom lacht. »Die Leute hier winken sich einfach zu. Sie wollte nur nett sein.«
»Aha.«
Mom seufzt. »Das wird wirklich gut hier, Ellis«, sagt sie, ihren Blick auf die Straße gerichtet. »Für uns beide.«
Ich stelle die Musik aus und verstaue meine Kopfhörer, weil Tante Naomi nur wenige Gehminuten vom Zentrum entfernt wohnt. »Klar.«
Schweigend biegen wir in die Saffron Lane. Bald kommt das kleine weiße Kolonialhaus mit den strahlend blauen Türen und Fensterläden in Sicht. Wir sind noch nicht in der Auffahrt, da stürzt meine Tante aus dem Haus, über beide Ohren grinsend und die Arme ausgebreitet.
Na super.
Mom rollt mit unserem BMW in die Auffahrt und nimmt sich kaum Zeit, ihn in Parkposition zu stellen. Schon springt sie aus dem Wagen und nimmt ihre Schwester in den Arm. Kurz darauf schlendert Sloane nach draußen, die sich ebenso freut. Während ich mehr nach meinem Vater schlage, ist Sloane das Ebenbild ihrer Mutter. Beide haben schulterlange hellblonde Haare, einen dichten Pony, himmelblaue Augen und tragen aufeinander abgestimmte Flanellhemden.
»Hey, Ellis«, begrüßt mich meine Cousine und schlingt die Arme um mich, kaum dass ich ausgestiegen bin.
»Hey«, brumme ich und klopfe ihr auf den Rücken. Blöd, dass die Freude über das Wiedersehen von den äußeren Bedingungen überschattet wird.
Noch etwas, woran meine Mutter schuld ist.
Sloane löst sich von mir und legt mir die Hände auf die Schultern. »Alles okay bei dir?«
Ich merke, dass sie versucht, besonders nett zu sein, weil sie über meine Eltern Bescheid weiß, kann aber das Mitleid in ihren Augen nicht ertragen. Ich brauche kein Mitleid. Ich will einfach nur nach Hause.
»Mir geht’s gut«, antworte ich und lächele gezwungen. »Und dir? Das ist ja ewig her!«
»Mir geht’s super!« Sloane macht einen Schritt nach hinten und grinst so breit, dass es wehtun muss. »Wir freuen uns so, dass ihr bei uns wohnt, besonders zu dieser Jahreszeit!«
»Oh, ja, Ellis.« Mom tritt neben mich. »Da erlebst du etwas Besonderes. Nirgendwo ist der Herbst so schön wie in Bramble Falls.«
»Na, wenn du das sagst«, gebe ich zurück. Nichts könnte mich weniger jucken als der Herbst in Bramble Falls. Überhaupt irgendwas in Bramble Falls.
Tante Naomi drückt mich ebenfalls fest an sich, und ihre Körperwärme und der längst vergessene Duft ihres Kokosshampoos beruhigen mich ein wenig. »Herrje, du hast mir so gefehlt!« Sie lässt mich los und schiebt mir die langen dunkelbraunen Haare hinter die Ohren. Dann mustert sie mich eindringlich von oben bis unten, registriert meine teure Khaite-Jeans und das bauchfreie ärmellose Sweatshirt. »Wow! Du bist seit dem letzten Mal wirklich erwachsen geworden.«
»Ja, nicht?« Mom strahlt mich an.
Tante Naomi runzelt die Stirn. »Kaum zu glauben, dass ihr so lange nicht hier wart. Ich habe viel zu viel verpasst.«
Mom lässt die Schultern hängen. »Das Leben kam dazwischen.«
»Ja, so ist das, nicht?« Tante Naomi schüttelt den Kopf und wirft meiner Mutter einen Blick zu, den nur Schwestern deuten können. Dann wendet sie sich wieder lächelnd mir zu. »So, jetzt seid ihr hier. Dann wollen wir euch mal eure Zimmer zeigen.«
Mom öffnet den Kofferraum, ich hieve einen der beiden Koffer heraus, die ich mitnehmen durfte, nachdem sie mich daran erinnert hatte, dass Tante Naomis Haus nicht groß genug für meine umfangreiche Garderobe ist.
Doch offenbar ist es groß genug für mein Nähzubehör, das Mom unbedingt mitnehmen wollte, obwohl ich es seit über einem Jahr kaum angefasst habe.
Ich vergeude keinen Blick an das Nähzeug, sondern schleppe meinen Koffer hinter Tante Naomi und Sloane die Stufen zur Veranda hinauf. Mom folgt mit ihren Taschen. Hinter der Eingangstür stellen wir unser Gepäck ab.
Das Haus ist klein – Überraschung –, aber liebevoll eingerichtet. Im mit Teppich ausgelegten Wohnzimmer steht links von uns eine Couch mit beigem Bezug, daneben ein blau karierter Fernsehsessel. Beide sind auf einen kleinen Flachbildfernseher ausgerichtet. Überall an den Wänden hängen Fotos und Kunstprojekte in Rahmen. In den Regalen drängen sich Bücher und Krimskrams. Gegenüber ist die kleine L-förmige Küche, in der ein paar Topfpflanzen stehen. Auf der Arbeitsfläche tummeln sich kitschige Kaffeebecher mit Sprüchen wie LASSTESBLÄTTERREGNEN, PUMPKINSPICE, SPICE, BABY und HERBSTIST, WENNDIEBÄUMEMITKONFETTIWERFEN.
Alles sieht ganz anders aus als in unserem geräumigen, gepflegten Apartment in New York, aber Tante Naomis Haus war immer irgendwie gemütlich und charmant.
»Vielleicht zeigen wir euch erst eure Zimmer und führen euch später herum«, sagt meine Tante. »Ihr seid schon so lange nicht mehr hier gewesen, da könnte sich was verändert haben.«
Ich lache spöttisch. Dies ist ein Ort, wo sich praktisch nie etwas ändert.
Mom sieht mich mahnend an und nickt ihrer Schwester zu. »Klingt gut.«
Zu viert gehen wir nach oben ins Gästezimmer.
»Annie«, sagt Tante Naomi zu meiner Mutter. »Dies ist dein Reich.«
Der hellblau gestrichene Raum ist schlicht eingerichtet. An der Wand steht ein etwas breiteres Bett, in der Ecke ein Schreibtisch, daneben eine Kommode aus Mahagoni.
Mom stellt ihren Koffer ab. »Perfekt, Naomi! Danke.«
Meine Tante lächelt und macht mir ein Zeichen, ihr zu folgen. »Ellis, eigentlich wollte ich dich bei Sloane unterbringen«, sagt sie, »aber deine Mutter meinte, du hättest wahrscheinlich lieber eine Ecke für dich allein.«
Na, Gott sei Dank!
Tante Naomi führt uns durch den Flur und bleibt vor einer Tür stehen, die ich noch nie geöffnet habe. Tatsächlich kann ich mich überhaupt nicht an sie erinnern.
»Leider«, fährt sie fort und dreht am wackeligen Knauf, »haben wir nicht noch mehr Zimmer.« Sie zieht die Tür auf und steigt eine kleine knarrende Treppe hinauf.
Nur widerwillig folge ich ihr. Oben ist es deutlich wärmer; Sonnenstrahlen fallen durch das Fenster und lassen schwebende Staubkörner schimmern.
»Tut mir leid, hier oben ist es etwas stickig«, sagt Tante Naomi und drückt das schwere Holzfenster auf.
Ich sehe mich in dem großen Raum um, der sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckt.
Der Dachboden ist mit Kisten vollgestellt. Aus vielen quillt der Inhalt, offenbar die komplette Herbstkollektion eines Dekoladens: Plastikkürbisse, Laubgirlanden, Kunstpflanzen in Rot, Gelb und Orange, Herbstmotive aus Holz, Türkränze und gestrickte Untersetzer in Form von Kürbissen und Äpfeln.
Ich liebe ja meinen heißen Pumpkin-Spice-Latte und warme Pullis, aber das hier ist ein bisschen übertrieben.
Ich wische Spinnweben zur Seite – echte und künstliche – und folge Tante Naomi durch den schmalen Gang zwischen den Kisten bis zu einem freien Bereich unter dem Giebel, wo ich offenbar schlafen soll.
Dort steht ein antik wirkendes schmiedeeisernes Bettgestell mit einer alten Tagesdecke, die von Laura Ashley sein könnte, daneben eine weiß gestrichene Kommode. Auf dem Boden hat Tante Naomi mehrere Teppiche ausgelegt, damit man nicht die nackten Bohlen sieht.
Doch das alles kann nicht davon ablenken, dass wir uns auf dem Dachboden befinden. Ungewollt komme ich mir vor wie Sara aus Die kleine Prinzessin. Ich seufze. Immerhin gibt es ein Fenster.
»Ich weiß, dass es nicht perfekt ist«, sagt meine Tante schnell, die mein Zögern offenbar bemerkt, »aber ich hoffe, du fühlst dich trotzdem wohl …«
Ich schiele zu meiner Mutter hinüber, die mir zunickt, damit ich mich bei meiner Tante für ihre Gastfreundschaft bedanke.
»Danke«, brumme ich. »Ist schön.«
Ich bin stinksauer auf meine Mutter, weil sie mich in diese Situation gebracht hat, aber es ist nicht Tante Naomis Schuld. Ich bin ihr wirklich dankbar, dass sie Platz für mich geschaffen hat, auch wenn es der letzte Ort ist, wo ich sein möchte.
Wir sind bald wieder zu Hause. Ist ja nur vorübergehend, erinnere ich mich. Schwer atmend kommt Sloane die Treppe hoch, vor sich die Kiste mit meiner Nähmaschine und dem Material.
»Sloane!«, flötet meine Mutter. »Das hättest du doch nicht tun müssen! Darum hätten Ellis und ich uns gekümmert!«
Ich schnaube empört. Es war ihre Idee, den Kram mitzubringen. Auf gar keinen Fall hätte ich ihn zwei Treppen hochgeschleppt.
»Kein Problem, Tante Annie. Ich helfe gerne! Wo soll ich die Sachen abstellen?«
Bevor ich sagen kann, dass es mir egal ist, weil ich eigentlich nicht mehr nähe, mischt Tante Naomi sich ein. »Ah, ja, richtig! Annie hat erzählt, dass du Kleidung entwirfst, Ellis, deshalb habe ich dir einen Tisch für die Nähmaschine hingestellt.« Sie zeigt nach links auf einen verstaubten antiken Nähtisch mit einem kleinen Hocker davor. Sloane schleppt alles hinüber und setzt die Kiste stöhnend darauf ab. »Also, du hast wahrscheinlich Unmengen schicker Stoffe aus New York, aber wir haben hier oben auch mehrere Kartons mit Kleiderspenden von der Altkleidersammlung letzten Monat. Es war so viel, dass der Recyclinghof meinte, den Rest sollte ich im Dezember bringen. Da kannst du dich gern bedienen.«
Ich erzähle ihr lieber nicht, dass ich fast ausschließlich Sachen aus alten Herrenoberhemden nähe, sondern begnüge mich mit: »Ähm, danke. Hört sich gut an.«
Meine Tante klatscht in die Hände und strahlt uns an. »Super! So, ich dachte, ich mache Frühstück für alle. Was meint ihr?«
»Ich habe einen Riesenhunger«, sagt meine Mutter. »Und du, Ellis?«
»Ich möchte eigentlich nur einen Kaffee. Ich nehme nicht an, dass dieser Ort im 21. Jahrhundert angekommen ist und einen Dunkin’ Donuts hat, oder? Oder überhaupt irgendein Café.«
Mom seufzt peinlich berührt, aber Sloane lacht und sagt: »Nee, Dunkin’ Donuts gibt’s hier nicht. Aber wir haben jetzt das Cats & Caffeine.« Ich sehe sie mit erhobener Augenbraue an. »Das ist ein Katzencafé. Der Kaffee ist superlecker, und da laufen die süßesten Katzen zum Streicheln herum. Glaub mir, das wird dir gefallen. Ich zeig es dir.«
»Oh, das ist nicht nötig …«
»Quatsch! Du musst an deinem ersten Tag hier nicht allein durch die Stadt laufen«, sagt Sloane. »Komm!«
Wir verlassen mein staubiges Schlafzimmer und steigen die Treppe hinunter.
»Viel Spaß euch beiden«, sagt Mom und artikuliert mir wortlos »Sei nett!« hinterher, während ich mit meiner Cousine in die frische Morgenluft trete, eine willkommene Abwechslung zum schwülen Dachboden und Moms erstickender Gegenwart.
Zwei Häuserblocks lang plappert Sloane, ohne innezuhalten; es geht um ihren besten Freund Asher, um den Beruf ihrer Mutter, um das Theaterprojekt, an dem sie im Sommer teilgenommen hat, und darum, wie sehr sie sich darauf freut, dass in zwei Tagen die Schule wieder anfängt – was ich geflissentlich ignoriere, weil mir die Vorstellung Angst macht.
Unterwegs kommen wir an verschiedenen Häusern vorbei, wo Leute auf der Veranda sitzen, Kaffee trinken und Zeitung lesen. Alle scheinen Sloane zu kennen. Im Ort gibt es eine Buchhandlung und einen Blumenladen mit einem handgeschriebenen Schild im Schaufenster, das die ersten Herbstblumen anpreist.
Schließlich erreichen wir ein petrolgrün gestrichenes Gebäude an der Ecke Peach Street und Oak Avenue, fast genau gegenüber vom großen Festplatz. Ich kann mich nicht erinnern, was bei meinem letzten Besuch in Bramble Falls hier war, aber jetzt hängt ein Holzschild mit der Aufschrift CATS & CAFFEINE über dem Eingang.
Sloane hält mir die Tür auf, ich betrete das Café und achte darauf, dass keine Katzen entwischen können. Der Duft von Kaffee und Zucker liegt in der Luft. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, und ich werde munter, noch bevor ich Koffein im Blut habe. Sechs Personen sind vor uns, ich habe also Zeit, die Getränkekarte auf der Tafel hinter der Theke zu studieren.
Kein Pumpkin-Spice-Latte im Angebot.
»Und, was nimmst du?«, fragt Sloane, während wir vorrücken. Eine wollige dreifarbige Katze drückt sich an ihre Wade und umkreist ihre Beine.
Ich seufze. »Keine Ahnung. Ich weiß nicht …« Als ich mich zu ihr umdrehe, bleibt mein Blick an dem Typ hinter der Theke hängen. Ich blinzele, weil ich nicht glauben kann, was ich sehe. »Sloane, ist das …«
Das kann nicht sein!
Sie folgt meinem Blick und schmunzelt. »Cooper Barnett? Allerdings. Erinnerst du dich an ihn?«
Und ob ich mich erinnere.
Ich weiß noch, wie Sloane uns einander vorstellte, als ich das letzte Mal hier war. Kaum war sie mit ihrem Vater, der später starb, in den Sommerurlaub aufgebrochen, erklärte Cooper uns zu besten Freunden.
In den zwei kurzen Monaten waren wir unzertrennlich.
Ich weiß noch, dass wir am See außerhalb des Orts saßen, Capri-Sonne tranken und Doritos aßen, dass Cooper die langen, dünnen Beine auf dem Steg ausstreckte und begeistert die Geschichte von Puderzucker referierte oder den wissenschaftlichen Hintergrund der Verwendung von Salz in Brotteig erklärte.
Ich weiß noch, wie wir mit unseren Rädern die Willow Creek Lane hinunterflitzten, die Schultern sonnenverbrannt, das Gesicht voller Sommersprossen, und er bei dem Versuch, dem einzigen Schlagloch im Ort auszuweichen, im hohen Bogen vom Rad flog.
Ich weiß noch, wie wir uns an einem Abend ins Autokino von Bramble Falls stahlen. Am Ende von Free Willy konnte Cooper gar nicht aufhören zu weinen.
Ich weiß noch, wie wir gemeinsam in der Hängematte bei Tante Naomi im Garten lagen und Massen von Wassereis schleckten, nur um den Witz auf dem Stiel lesen zu können.
Und jedes Mädchen erinnert sich an ihren ersten Kuss.
Aber …
»So hat er doch damals nicht ausgesehen«, sage ich. Ich kann den niedlichen, schlaksigen Jungen von damals nicht mit dem Typen zusammenbringen, der jetzt hinter der Theke steht. »Seit wann ist er denn so …«
»Heiß?«, fragt Sloane kichernd.
Ich zucke mit den Schultern. »Ja!«
Seine ehemals kurzen braunen Haare sind zu dichten Wellen gewachsen, die ihm in die Stirn fallen und sich über seinen Ohren locken. Er hat einen großen, athletischen Körper und trägt eine cremefarbene Schürze. Sloane und ich rücken vor, und mir fallen die leichten Sommersprossen um seine Nase herum auf, die ich früher gar nicht so anziehend fand. Cooper hat immer noch volle Wangen mit einem Grübchen, aber jetzt ist sein Kiefer kantiger, was seinem jungenhaften Charme etwas Besonderes verleiht.
Wie es auf Tante Naomis Kaffeebechern ausgedrückt würde: Ung-LAUB-lich.
»In der zehnten Klasse hatte er einen krassen Wachstumsschub«, reißt mich Sloane aus meiner Trance. »Dann hat er die blöde Nickelbrille abgelegt, die er immer hochschieben musste, und ich glaube, er hat auch angefangen, nach der Schule mit Gewichten zu trainieren.«
Die Kundin vor uns hebt ein flauschiges weißes Kätzchen hoch und geht weiter zum anderen Ende der Theke. Wir treten vor, und in meinem Bauch zieht sich alles zusammen.
Cooper Barnett ist zum Niederknien schön.
»Hey, Sloane«, sagt er und grinst meine Cousine an. Mir wirft er nur einen flüchtigen Blick zu, dann sieht er mich noch mal an. Sein Lächeln erstirbt, seine bernsteinfarbenen Augen werden groß.
Wie konnte ich vergessen, wie umwerfend seine Augen sind?
»Hey, Coop«, sage ich. Ungewollt verziehen sich meine Lippen zu einem Grinsen. Seine Kiefer mahlen, doch er schweigt. Vielleicht erinnert er sich nicht mehr an mich. »Ich bin Ellis Mitchell … Sloanes Cousine.«
Ich schiele zu ihr hinüber, sie beobachtet Cooper mit gerunzelter Stirn.
»Ich weiß, wer du bist, Ellis«, sagt er mit schneidender Stimme.
»Ah.« Mein Lächeln wird schwächer. »Gut. Ist schon lange her. Was hast du so gemacht?«
»War beschäftigt.« Er wendet sich wieder an Sloane. »Was hättest du gern?«
Hm, okay.
»Ich nehme nur einen grünen Tee«, erwidert sie, sieht mich an und verlagert das Gewicht auf das andere Bein. »Und du, Ellis?«
»Habt ihr vielleicht doch einen geheimen Pumpkin-Spice-Latte, der nur zufällig nicht auf der Karte steht?« Ich lächele Cooper so freundlich wie möglich an, damit seine unerklärlich frostige Haltung mir gegenüber auftaut.
»Nein.« Seufzend schielt er auf die Schlange hinter uns. Er will offensichtlich, dass wir weitergehen. »Ich empfehle den Harvest-Spice-Latte. Da sind Pumpkin Spice, Haselnuss und Lebkuchengewürz drin. Näher dran wirst du in Bramble Falls nicht kommen, aber der ist tausendmal besser.«
»Das bezweifele ich«, gebe ich zurück. »Aber gut, du hast mich überredet. Ich nehme den größten Harvest-Spice-Latte, den du hast.«
Cooper nickt, tippt auf dem Display herum und nennt mir die Summe. Die ganze Zeit weicht er meinem Blick aus. Ich ziehe meine Karte durch und rücke mit Sloane ans andere Ende der Theke vor, um dort auf die Getränke zu warten.
»Was war das denn?«, zischt sie mir zu.
»Keine Ahnung. Seit wann ist er so ein Arschloch?«
»Ist er gar nicht! Cooper ist der netteste Mensch, den ich kenne. Was hast du mit ihm gemacht?«
»Nichts! Ich war doch seit Jahren nicht mehr hier. Und nach dem Sommer damals waren wir wirklich gute Freunde.« Den Kuss erwähne ich nicht. Dann würde Sloane wissen wollen, warum ich ihr bisher nichts davon erzählt habe. Wahrscheinlich würde sie mir die Wahrheit nicht glauben – dass es keine große Sache war. Außerdem ist es unwichtig, weil es zwischen Cooper und mir nichts änderte. »Wir haben uns sogar noch eine Zeit lang geschrieben, als ich wieder in New York war.«
»Echt?«
»Ja, bis wir beide mehr für die Schule tun mussten. Aber das ist doch kein Grund, sich mir gegenüber jetzt so zu verhalten. Wir haben uns nicht gestritten oder so.«
»Ich weiß nicht, Süße. Cooper mag eigentlich alle. Du musst ihm ganz schön was angetan haben.«
»Ich habe gar nichts getan!«, rufe ich so laut, dass eine Katze hinter den Mülleimer huscht und zwei Frauen, die auf ihre Getränke warten, zu mir rüberschauen. Und Cooper guckt natürlich auch. Ich laufe rot an und senke den Blick auf die kantigen schwarzen Stuart-Weitzman-Stiefel an meinen Füßen.
Als unsere Getränke endlich fertig sind, beugt sich Sloane noch mal über die Theke.
»Hey, Cooper!«, ruft sie. »Bleibt es dabei, dass du später rüberkommst?«
Er nickt. »Ja, um sechs.«
Sie hält ihm den ausgestreckten Daumen hin, und ich folge ihr in Richtung Tür.
»Was habt ihr denn vor?«, erkundige ich mich und steige über eine getigerte Katze in einem grünen Pulli hinweg.
Sloane grinst mich breit über die Schulter an. »Es ist September, das heißt, jetzt beginnt offiziell das Herbstlaub-Festival.«
»Aha? Und was bedeutet das?«
Sloane bleibt stehen, ich stoße fast mit ihr zusammen und verschütte meinen Latte. Sie dreht sich zu mir um.
»Das bedeutet, dass wir eine Menge Arbeit vor uns haben«, sagt sie. »Bramble Falls ist bekannt dafür, dass hier im Herbst die Post abgeht. An jedem Wochenende von September bis Oktober haben wir hier herbsttypische Aktionen. Dazu gehören Sachen wie Äpfelpflücken, Heuwagenfahrten, ein Maislabyrinth, Kürbisschnitzen, eine Herbst-Rallye, eine Horrorfilmnacht im Autokino, das Herbstwind-Rennen, das Erntefeuer und der Kürbis-Ball.«
»Der … Kürbis-Ball?«
»Das ist eine Kostümparty, auf der viel getanzt wird.« Sloane bebt fast vor Aufregung. »Den Abschluss bildet das große Fest am ersten Novemberwochenende. Das ist sozusagen eine Feier, die den ganzen Tag dauert. In New York habt ihr den Umzug zu Thanksgiving. Wir haben den Umzug von Bramble Falls einmal um den Festplatz!«
Ich sehe sie an, verblüfft über ihre Vorfreude angesichts der Veranstaltungen.
»Die Leute kommen von weit her, um die Atmosphäre in Bramble Falls zu erleben«, fährt sie fort. »Das macht unglaublich viel Spaß, außerdem bringt es jede Menge Geld für die Stadt ein. Und da meine Mutter die Bürgermeisterin und Vorsitzende des Tourismusausschusses ist, planen wir die Veranstaltungen, bereiten sie vor und nehmen daran teil. Coopers Mutter sitzt ebenfalls im Ausschuss, deshalb hilft er viel mit. Er kommt später rüber, um die schweren Kisten vom Dachboden zu holen, denn jetzt ist es endlich so weit: Die Stadt verwandelt sich in ein Herbstparadies.«
»Verstehe …« Ich räuspere mich, und meine Neugier gewinnt die Oberhand. »Bist du demnach mit Cooper … ähm … zusammen?«
»Nein, nein«, wiegelt Sloane ab. »Versteh mich nicht falsch, er sieht echt heiß aus und ist total süß. Aber ich will nichts von ihm. Warum fragst du?«
Sie lächelt mich ahnungsvoll an, ich verdrehe die Augen.
»Wollte ich nur wissen«, sage ich. »Und jetzt geh! Damit wir hier rauskommen.«
Sloane trinkt einen Schluck Tee und setzt sich in Bewegung. Als sie nach draußen tritt, klingelt die Glocke über der Tür.
Bevor ich ihr folge, drehe ich mich noch mal zu Cooper um. Er beobachtet mich. Wir sehen uns in die Augen, und es fühlt sich an, als sei es nur kurz und trotzdem eine Ewigkeit, dann wendet er den Blick ab.
Ich will mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, dass Cooper offenbar einen Hass auf mich hat – das interessiert mich ebenso wenig, wie mich sonst irgendwas in dieser Stadt juckt. Am liebsten würde ich ihn vergessen, so wie die letzten drei Jahre.
Doch jetzt, da ich hier bin und ihn wiedergesehen habe, werde ich das nostalgische Gefühl nicht los: Erinnerungen an den besten Sommer, den ich je hatte, und an den niedlichen Jungen aus Bramble Falls. Sie umhüllen mich wie eine Decke. Draußen liegt die neue Jahreszeit schon in der Luft, und als ich Sloane einhole, stelle ich mir unvermittelt die Frage, wer Cooper Barnett heute ist – und wie es wohl wäre, den Herbst mit ihm zu verbringen.
Ich stehe auf einem alten Holzstuhl und quetsche eine Plastikgardinenstange mit einer Springfeder zwischen den mittleren Stützbalken und die Dachbodenwand. Meine dünnen Ringellöckchen kleben mir verschwitzt im Nacken. Wenn ich schon gezwungen bin, hier zu wohnen, brauche ich wenigstens eine Art Schutz meiner Privatsphäre, falls mal jemand auf den Dachboden kommt.
Nachdem ich rechts und links vom Stützbalken Stangen angebracht habe, steige ich vom Stuhl und trete zurück, um meine neue Zimmergestaltung zu begutachten: weiße Spitzenvorhänge aus alten Tischdecken, die ich in den Kartons mit Kleiderspenden gefunden habe. Der Stoff schien mir die richtige Shabby-Chic-Qualität zu haben, und auch wenn ich das meiner Mutter gegenüber nie zugeben würde, hat die Arbeit an der Nähmaschine ein wenig meinen Frust darüber gelindert, hier festzusitzen.
»Oh, das ist eine super Idee«, sagt Mom. Ich fahre zusammen. »Entschuldigung. Ich wollte mich nicht an dich heranschleichen. Es summt hier so laut.«
Ich ziehe einen Vorhang zur Seite, sodass man drei Ventilatoren sieht, die auf höchster Stufe surren. »Laut, aber notwendig.«
»Ja, das stimmt. Es ist hier so heiß wie in einer Sauna.« Mom tritt durch den Vorhang und mustert meinen winzigen Wohnbereich. »Das mit dem Dachboden tut mir wirklich leid.«
Ich zucke mit den Schultern. »Besser, als bei Sloane zu schlafen.«
Mom setzt sich aufs Bett und betrachtet die Vorhänge genauer. »Die hast du also genäht, ja?«
»Brauchst dich gar nicht zu freuen«, sage ich. »Ich habe genäht, weil es erforderlich war, nicht weil ich wollte.«
»Tja, so oder so sieht es super aus.«
»Danke.«
Es entsteht eine unangenehme Pause, dann ergreift sie wieder das Wort: »Ich weiß es zu schätzen, dass du das Beste aus der Situation machst. Du bist ein gutes Mädchen.« Ich nicke und starre mit vor der Brust verschränkten Armen zu Boden.
Mom beißt sich auf die Lippe und legt die Hände auf die Knie, während die Ventilatoren gegen die unangenehme Stille zwischen uns ansummen.
»Hör mal«, sagt sie schließlich. »Ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber versuch doch, das hier als Möglichkeit zu sehen, eine Zeit lang mal ganz normal zu sein.« Mein Blick schnellt zu ihr hinüber. »Du musst doch nicht immer Höchstleistungen bringen. Du hast noch den Rest deines Lebens Zeit zum Arbeiten.«
»Ich will aber nicht ›normal‹ sein. Ich will auf die Columbia.«
»Das schaffst du ja auch. Ich meine nur, mach doch einfach das Beste draus, solange du hier bist. Unternimm was mit Sloane, guck dir das hübsche Städtchen an, arbeite an deinen Entwürfen …« Sie unterbricht sich, zögert, dann fährt sie fort: »Mach doch mal das, was dir gefällt, statt dir nur den Kopf darüber zu zerbrechen, wie du deinen Vater glücklich machen kannst.«
Meine Augenbrauen schießen hoch. »Das hört sich ja an, als würde ich alles nur für Dad tun.« Mom schweigt. »Das stimmt nicht. Ich tue das, was mir gefällt.«
In letzter Zeit habe ich keine neuen Klamotten mehr entworfen, weil ich keine Zeit hatte, Stoffe zu suchen, von den Stunden ganz zu schweigen, die ich zum Entwerfen brauche.
Das hat nichts mit meinem Vater zu tun.
Mom nickt. »Okay.«
Aber ihrem Tonfall nach ist es nicht okay. Es klingt, als würde sie mir nicht glauben. Als würde sie nur nachgeben. Wie immer.
»Ich habe auch keinen Bock auf den Charme dieses Ortes«, schiebe ich hinterher. Die Verärgerung in mir lodert wie ein Waldbrand. »Ich wäre lieber in New York, würde auf meine angesehene Highschool gehen und mit meinem Praktikum weitermachen. Andere junge Leute würden morden, um das zu tun, woran ich jetzt seit drei Jahren arbeite. Wir reden hier von meiner Zukunft, Mom. Nur weil du keinen Job hast, heißt das nicht, dass andere sich keine Sorgen darum machen!«
Mom wirkt getroffen, ihr beherrschter Ausdruck verrutscht, und mein Magen zieht sich zusammen. Ich habe durchaus recht – schließlich hat Mom ihre Stelle in einer Kunstgalerie in New York aufgegeben, um zu Hause zu bleiben und sich um mich zu kümmern, trotzdem sollte es sich nicht so anhören, als sei Kindererziehung ein Klacks.
Ich schlucke und sehe zu Boden. »Damit will ich nur sagen, dass ich mich zu Größerem berufen fühle, ja? Kann doch sein, dass sich meine Wünsche mit dem decken, was Dad für mich will. Er hilft mir, meine Ziele zu erreichen. Hier zu sein ist ein Rückschritt, also hör auf, so zu tun, als wäre es was Gutes.«
Mom drückt sich von der Blümchendecke hoch und steht auf. Sie öffnet den Mund, als wollte sie etwas sagen, dann presst sie die Lippen fest aufeinander, wendet sich von mir ab und geht durch den Speicher zur Treppe nach unten.
Stöhnend werfe ich mich aufs Bett.
Mein Handy lag den ganzen Tag stumm neben mir auf der verschrammten Kommode. Ich nehme es in die Hand und schaue auf die Uhrzeit: 17.46 Uhr. Ich suche Dad in meinen Kontakten und drücke auf das grüne Telefonsymbol.
Obwohl meine Mutter die ganzen Jahre mit mir zu Hause war, stand ich immer meinem Vater näher. Mom half mir bei den Hausaufgaben, aber Dad motivierte mich immer aufs Neue. Er spornte mich an, Bestnoten zu erreichen, mich zu engagieren, hart zu arbeiten, Neues auszuprobieren, an die Zukunft zu denken.
Er ist selbstlos und brillant. Bei Street Media lieben sie ihn. Schon als ich ihm als kleines Mädchen mit dem Tacker und dem Messingbriefbeschwerer im Büro hinterherlief, wusste ich, dass ich einmal so sein will wie er.
Er ist beruflich viel unterwegs, deshalb habe ich ihn manchmal wochenlang nicht gesehen. Aber jetzt fühlt sich die Entfernung zwischen uns anders an. Ich bin sauer auf ihn, weil er die Trennung zugelassen hat, gleichzeitig fehlt er mir.
Das Telefon klingelt. Und klingelt. Und klingelt. Als ich endlich seine Stimme höre, brennen meine Augen. Hier ist Brad Mitchell. Hinterlassen Sie eine Nachricht, dann melde ich mich so schnell wie möglich.
Ich lege auf und scrolle mit dem Daumen zu Ferns Nummer.
Sie meldet sich nach dem ersten Klingeln.
»Ellis! Erzähl mir alles!«
Als ich ihre Stimme höre, macht mein Herz einen Sprung.
»Es ist furchtbar hier«, stoße ich aus.
»Du bist doch noch keine zwölf Stunden da.«
»Ich weiß. Das sagt doch alles.«
Sie schnaubt. »Was ist denn so schlimm? Abgesehen davon, dass du nicht bei mir bist.«
Am anderen Ende schrammt etwas über den Boden. Ich stelle mir vor, wie meine beste Freundin einen Stuhl unter ihrem kleinen weißen Küchentisch hervorzieht und sich mit verrenkten Gliedmaßen draufsetzt, wie sie es immer beim Telefonieren macht, eine menschliche Brezel. Bei der Vorstellung bekomme ich Heimweh.
»Zuerst mal gibt es hier keinen Pumpkin-Spice-Latte.«
Fern ist entsetzt. Sie ist zwar ein Foodie, aber wenn es um den Herbst geht, regieren bei uns die schlichtesten Instinkte.
»Eben. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Typ im Café mich nicht ausstehen kann.«
»Du hast dir schon jemanden zum Feind gemacht? Ich bin beeindruckt.«
»Meine Mutter hat mich hier in der Schule angemeldet, aber der Jahrgang ist nicht groß genug, deshalb bieten sie keine Vorbereitungskurse für die Uni an. Und sie haben keine Schülerzeitung.«
»Das ist ja quasi dein schlimmster Albtraum.«
»Es wird noch schlimmer«, gebe ich zurück. »Ich wohne auf dem Dachboden.«
»Oh, Ellis! Steig in den nächsten Bus zurück nach New York. Du kannst bei mir wohnen«, sagt Fern, und ich weiß, dass sie es ernst meint.
»Schön wär’s. Dann würde ich mich wenigstens nicht ständig mit meiner Mutter streiten.«
»Ist es so schlimm?«
»Noch schlimmer.« Ich seufze. »Erzähl mal was von zu Hause! Wie war deine Wohnungseinweihung? Übel, dass ich die verpasst habe!«
Als Immobilieninvestoren haben Ferns wohlhabende Eltern ihr zum achtzehnten Geburtstag ein Apartment geschenkt. Wenn ich zur Columbia gehe, wollen wir da zusammen wohnen.
»Oh mein Gott, es wäre so schön gewesen, wenn du dabei gewesen wärst. Die Party war wirklich der Hammer.«
Fern berichtet von der Nacht mit Jungs, Getränken und Karaoke, dann von der Begegnung mit ihrem alten knurrigen Nachbarn und der Polizei. Sie zählt auf, welche New Yorker Influencer da waren und was sie für Kooperationspläne geschmiedet haben.
Fern habe ich vor zwei Jahren kennengelernt, als wir beide für die Schülerzeitung gearbeitet haben. Damals träumte sie noch von ihrer eigenen Ratgeberkolumne, doch letztlich machte sie sich – ungeplant – einen Namen als Restaurantkritikerin auf Social Media. Mit ihren nicht zu bändigenden roten Locken, der hellen Haut und den strahlend grünen Augen sieht sie umwerfend aus. Außerdem ist sie wirklich witzig. Im vergangenen Jahr wurde sie immer berühmter, reiste kreuz und quer durch die USA