Falsche Haut - Leon Sachs - E-Book

Falsche Haut E-Book

Leon Sachs

4,8

Beschreibung

Frag einen Franzosen nie, was im Zweiten Weltkrieg wirklich passiert ist... Alex Kauffmann; Professor für Geschichte an der Universität Fribourg, muss tief in die Vergangenheit zurückgehen, um herauszufinden, weshalb seine Freundin Natalie mit dem Tod bedroht wird. Zu spät begreift er, dass er damit die Interessen eines mächtigen Geheimbund stört... Ein junger Geschichtsprofessor, der zu tief gräbt. Ein Geheimbund, der vor nichts zurückschreckt. Ein atemloser Thriller, der unter die Haut geht.

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Leon Sachs heißt im wahren Leben Marc Merten und studierte nach dem Abitur in seiner Heimat Köln an der Schweizer Universität Fribourg Medienwissenschaften. Weil ihm das nicht reichte, hängte er nach einigen Jahren Berufserfahrung als PR-Berater noch ein Diplom in Theologie und Religion an der englischen Universität Durham dran. Heute lebt und schreibt der Journalist wieder in Köln.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Dieser Roman wurde vermittelt durch die

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/madochab Umschlaggestaltung: Nina Schäfer Lektorat: Carlos Westerkamp eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-950-9 Thriller Originalausgabe

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Für Vella und Leo

PROLOG

Mittwoch, 4.Juni 2014, Vallée de Vauvenargues, Frankreich

Er würde sterben. Das wusste er. Doch es war ihm egal. Seine Peiniger glaubten, ihm Schmerzen zufügen zu können. Sie sagten, jeder rede irgendwann.

Hätte Serge Clement nicht vor Schmerzen geschrien, hätte er wohl gelacht. Wussten die denn gar nichts? Waren die so dumm? Oder hatte der Kanzler vergessen, ihnen zu sagen, wen sie da folterten? Der alte Mann wurde offenbar nachlässig. Dabei war auch er selbst mit seinen vierundachtzig Jahren kein Jungspund mehr. Und auch er war nachlässig geworden. Sonst säße er jetzt nicht nackt und gefesselt auf diesem Stuhl. Noch dazu in seinem eigenen Haus. Hoffentlich brannten sie es nicht nieder, wenn das hier ein Ende hatte. Schließlich sollten seine Kinder das Anwesen erben.

Clement ahnte, dass er kaum mehr wiederzuerkennen war. Sein Gesicht hatten die beiden Hohlköpfe als Erstes malträtiert. Dann seinen Körper. Mit Fäusten, mit Messern, mit Stromschlägen. Dreimal war er bereits ohnmächtig geworden.

Aber Serge Clement hatte in seinem Leben schon ganz andere Schmerzen ertragen. Mérignac. Drancy. Auschwitz. Das waren wirkliche Schmerzen. Qualen, Horror, physisch, psychisch. Vor allem psychisch. Und dann quatschten diese Idioten davon, seinen Söhnen das Gleiche antun zu wollen, wenn er nicht redete. Als ob das etwas ändern würde. Wenn er nicht redete, würde er sterben. Wenn er redete, auch. Seine Söhne waren nicht in Gefahr. Sonst hätten sie die beiden längst hergebracht.

In Gefahr war nur sein Körper. Aber der war längst hinüber. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sein Herz den Dienst quittierte. Warum es noch immer schlug, war ihm ohnehin ein Rätsel.

Rätsel. Als Kind hatte er es geliebt, sie zu lösen. Auf dem Weingut seiner Eltern hatte sein Vater ihn manchmal stundenlang durch die unterirdischen Gänge des Weinkellers geschickt, von Quiz zu Quiz. Eine aufregende Schnitzeljagd in einem Labyrinth aus Fässern und Flaschen, ein Traum für jeden kleinen französischen Jungen. Aber das war vor dem Krieg gewesen. Nach dem großen Schock, dem Erwachen aus dem sechs Jahre andauernden Alptraum, hatte er die Rätsel des Lebens zu seinem Beruf gemacht. Zu seiner Passion. Zu seinem Schicksal. Und dieses Schicksal hatte ihn hierhergeführt. In den Keller seines eigenen Hauses. Dem Tode geweiht.

ERSTER TEIL

1

Mittwoch, 4.Juni 2014, Fribourg, Schweiz

Alexander Kauffmann wich gerade noch rechtzeitig zurück. Die Klinge verfehlte ihr Ziel nur um Millimeter. Im nächsten Augenblick spürte er, wie die Glocke seines Degens erzitterte. Sein Gegner hatte erneut zugestochen, und nur das Metall, das seine Hand schützte, hatte ihn vor einem schmerzhaften Treffer bewahrt.

Alex entschied sich für den Rückzug. Ihm war klar, dass jeder Fehler sein Ende bedeuten würde. Sein Widersacher hatte es längst aufgegeben, ihn mit einem gezielten Stoß erledigen zu wollen. Er schlug immer wilder um sich, wohl wissend, dass ein einziger Treffer seines Degens, so glücklich er auch sein mochte, Alex den Garaus machen würde.

Noch schaffte es Alex, die Angriffe abzuwehren. Sein Arm funktionierte automatisch, die Reflexe waren eine Kombination aus jahrelangem Training und außergewöhnlicher Auffassungsgabe. Doch Alex wusste, dass ihm all seine Erfahrung jetzt nur noch bedingt helfen konnte. Immer weiter drängte ihn sein Gegenüber zurück. Alex spürte, dass die Wand hinter ihm gefährlich nahe kam. Er musste handeln. Ansonsten war es für ihn in wenigen Sekunden aus und vorbei.

Da erkannte er seine Chance. Die vielleicht einzige, die ihm noch blieb. Alex blockte eine weitere Attacke seines Gegners ab und schoss im nächsten Augenblick blitzschnell nach vorn. Der Mann hatte keine Chance. Alex bohrte ihm die Klinge seines Degens in die Brust. Für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen. Sein Gegenüber blickte erstaunt an sich herab. Der elastische Stahl der Klinge drückte auf seine Schutzweste und bog sich unter der Spannung, ehe sich Alex aus dem Ausfallschritt löste, zurücktrat und die Waffe zum Gruß hob.

Gemeinsam verließen sie die Planche, streiften ihre Masken ab, warfen die Waffen achtlos auf ihre Sporttaschen und ließen sich auf eine Bank fallen. Mit dem Rücken an die Wand der Sporthalle gelehnt, beobachtete Alex das Treiben auf den anderen Bahnen. Vier weitere Paare duellierten sich. Andere Fechter machten Pause. Alles Studenten der Universität Fribourg und alle, wusste Alex, nicht älter als Mitte zwanzig. Alle außer ihm selbst.

Eigentlich gehörte er hier längst nicht mehr hin. Nicht nur wegen seiner mittlerweile sechsunddreißig Jahre. Sondern auch, weil einige der Studenten hier im Raum in seinen Vorlesungen saßen. So wie der junge Miguel, dem er gerade eine Lehrstunde erteilt hatte.

Im Prinzip hielt Alex wenig davon, wenn sich Professoren unter Studenten mischten. Manche erklärten, sie wollten ein Gespür für das Leben der nächsten Generation bekommen. Alex hielt das für Augenwischerei. Er wusste genau, dass sich die jungen Leute in seiner Gegenwart anders verhielten, als wenn er nicht in ihrer Nähe war. Andere Kollegen sagten offen, sie würden sich jünger fühlen, noch einmal wie Studenten, wenn sie sich abends mit jenen trafen, die tagsüber noch in den Hörsälen gesessen und über ihren Professor gelästert hatten. »Eine lockerere Atmosphäre als bei Sprechstunden«, schwärmten sie dann und vergaßen in Alex’ Augen völlig, wie wichtig es war, Distanz zu wahren.

Dass er diese Distanz selbst verletzte, indem er jede Woche zum Fechttraining der Studenten ging, war einzig und allein seinem sportlichen Ehrgeiz geschuldet. Er wollte sich beweisen, sich mit Jüngeren messen, sich zeigen, dass er noch nicht zum alten Eisen gehörte. Wenn jemand versuchte, ihn während des Trainings in private Gespräche zu verwickeln, blockte er ab. Er war hier, um zu trainieren. Nicht mehr und nicht weniger. Hier konnte er sich mit den Besten der Universität messen und steckte die meisten doch noch immer in die Tasche.

Abgesehen davon war Fechten für ihn nicht irgendein Sport. Es lehrte ihn, geduldig zu sein, zu beobachten, sein Gegenüber zu analysieren, wie beim Schach den nächsten Zug vorherzusehen und, noch während der Gegner glaubte, ihn mit einem Angriff zu überraschen, mit der passenden Antwort zu kontern. So, wie er es mit Miguel gemacht hatte.

»Haben Sie schon einen Blick hineinwerfen können?«

Alex brauchte einen Moment, bis er verstand. Er wandte sich zu Miguel um, der ihn erwartungsvoll ansah. Der Geschichtsstudent war im zweiten Semester und hatte bei Alex gerade erst seine Prüfung in »Europas Kriege des 20.Jahrhunderts« abgelegt.

»Sie wissen, dass ich darauf nicht antworten werde. Und wenn Sie nicht wollen, dass ich mir Ihre Arbeit ganz besonders genau ansehe, fragen Sie besser nicht noch einmal nach.«

Alex setzte ein Lächeln auf, das so herzlich war wie der morbide Charme der Turnhalle. Es erfüllte seinen Zweck. Er wollte weder auf Kumpel machen noch Freunde gewinnen. Er wollte sich weder angeregt unterhalten noch über Belangloses plaudern. Warum konnten zwei Menschen nicht einfach mal schweigend für ein paar Minuten nebeneinander auf einer Bank hocken, ohne dass einer der beiden zwanghaft versuchte, ein Gespräch zu eröffnen? Und warum glaubten diese Jungs, dass sich das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler änderte, sobald man sich einmal auf der Planche begegnet war?

Alex betrachtete Miguel. Der Schweiß lief ihm aus den schwarzen Haaren in sein sonnengebräuntes Gesicht. Ein Tropfen blieb an einem Augenbrauenpiercing hängen, dessen Sinn Alex bis heute verschlossen geblieben war. Eher war er versucht, einen Haken an solchen Dingern zu befestigen, als den Reiz eines Stücks Metall im Gesicht verstehen zu wollen. Miguel rutschte unsicher auf der Bank hin und her und schien nach einer geeigneten Antwort zu suchen.

Das Klingeln eines Handys erlöste den Jungen von dieser aussichtslosen Aufgabe. Alex griff in seine Sporttasche und fingerte sein Smartphone hervor. Er sah auf das Display. Das Bild einer jungen Frau leuchtete auf. Eine Frau, die eigentlich nur auf seinem Handy anrief, wenn es unausweichlich und dringend war. Eine Frau, die er viel zu lange nicht mehr gesehen hatte. Eine Frau, die ihm so nahestand wie niemand sonst.

»Wer ist Natalie Villeneuve?«, fragte Miguel neben ihm, der offenbar auf das Display geschaut und den Namen der Anruferin gelesen hatte.

Alex fuhr herum und warf seinem Studenten einen verärgerten Blick zu. Miguel erkannte seinen Fehler, murmelte eine Entschuldigung und flüchtete mit seiner Tasche in die Umkleide.

Alex nahm ab.

»Natalie, was für eine schöne–«

»Alex«, unterbrach ihn die vertraute Stimme. Doch ihr Tonfall gefiel ihm überhaupt nicht. Sein Gefühl trog ihn nicht. »Papa ist tot.«

Alex’ Verstand schaltete augenblicklich auf Autopilot. Er funktionierte automatisch und präzise, ohne dass er darüber nachdenken musste, was er tat. Er blieb ruhig, hörte ihr zu. Gleichzeitig raffte er seine Sachen zusammen und eilte aus der Turnhalle. Er spürte, wie ihn die Blicke der Studenten auf dem Weg nach draußen verfolgten. Er ignorierte sie und entschied doch gleichzeitig, nicht mehr hierherzukommen. Er würde sich einen anderen Fechtclub suchen. Aber erst, wenn das hier durchgestanden war. Es gab einen Menschen, der ihn jetzt dringend brauchte.

Alex Kauffmann stieg in den nächsten Bus und stand fünf Minuten später vor seiner Haustür in der Rue de Lausanne. Er sah auf die Uhr. Es war schon kurz nach zehn, die Luft aber noch sommerlich warm. Alex sog sie tief ein, ehe er aufschloss.

Im Flur stieß er mit einer Nachbarin zusammen. Es war eine seiner Studentinnen, allerdings ausgerechnet eine derjenigen, die ihn tagein, tagaus anhimmelten. Sie begrüßte ihn überschwänglich, Alex hingegen presste nur ein steifes »Bonsoir!« hervor und hastete zum Aufzug. Weder hatte er Lust auf eine Unterhaltung mit seiner wohl am wenigsten mit Intelligenz gesegneten Schülerin, noch konnte er seit Natalies Anruf an irgendetwas anderes denken.

Er betrat seine Wohnung, ließ seine Sporttasche auf den Boden fallen, durchquerte den Flur und ging schnurstracks in die Küche. Sie war mit allen möglichen Geräten ausgestattet, mit Hilfe deren Alex stundenlang zugange sein und Menüs zubereiten konnte, von denen einige Profiköche, gerade die einfallslosen Schweizer, noch etwas lernen konnten. Heute Abend hatte er aber weder Zeit noch Muße, zu kochen. Nach dem Gespräch mit Natalie brauchte er etwas anderes. Er öffnete eine Schranktür und entnahm einem Weinkühlschrank eine Flasche Château la Canorgue. Daneben lag ein Schuhkarton, aus dem er eine angebrochene Tafel Salzschokolade fingerte. Beides brachte er ins Wohnzimmer, dekantierte den Wein und ging ins Badezimmer.

Fünf Minuten später stand er mit einem Handtuch um die Hüften vor dem Badezimmerspiegel. Das eiskalte Wasser hatte gutgetan. Mit einer Hand strich er sich seine noch nassen, dunkelbraunen und für einen Professor wohl etwas zu langen Haare zurück. Die Stirn war in den letzten Jahren ein bisschen höher geworden. Das fand er nicht weiter schlimm, da seine markanten Wangenknochen dadurch weniger hervortraten. Seine Nase war lang und gerade, seine Lippen schmal. Die Mundwinkel, seine schwarzbraunen Augen und die dunklen, glatten Brauen bildeten einen meist skeptisch-fragenden Gesichtsausdruck. Neuerdings trug er einen Dreitagebart, wusste aber noch nicht so recht, ob er ihm stand.

Natalie hatte ihn stets wegen seiner Eitelkeit aufgezogen. Auch jetzt würde sie ihn wohl auslachen, wenn er ihr erzählte, dass er in den letzten Wochen zwei Kilo zugenommen hatte. Seine eins fünfundachtzig mochten weiterhin in einem adäquaten Zustand sein. Wegen der zwei zusätzlichen Kilo kam er mittlerweile aber gefährlich nahe an die achtzig Kilo heran.

Nein, schalt er sich, Natalie würde gerade wohl kaum zum Lachen zumute sein.

Im Schlafzimmer zog er sich einen Pyjama an und ließ sich anschließend auf das Sofa im Wohnzimmer fallen. Er goss sich ein Glas Rotwein ein, nahm einen großen Schluck und griff zur Schokolade. Die Tafel würde den Abend nicht überleben.

Er sackte tiefer in die Kissen.

Überleben.

Das war lange Zeit das einzige Ziel der Villeneuves gewesen. Das von Natalie. Und das ihrer Eltern. Oder besser gesagt ihrer Adoptiveltern. Régis und Suzanne, ein typisches altes jüdisches Ehepaar mit der typisch tragischen Vergangenheit, die sie mit vielen anderen Juden teilten.

Überleben.

Das hatten sie geschafft.

Bis letzte Nacht.

»Papa ist tot.«

Natalies Worte kreisten in seinen Gedanken. Régis sei vor ein paar Tagen krank geworden. Ein Magen-Darm-Infekt, nichts Schlimmes. Eigentlich. Doch Régis war ja schon über neunzig gewesen. Je älter, desto gefährlicher.

Am Morgen war er nicht mehr aufgewacht. Friedlich eingeschlafen. So, wie man es einem Menschen eigentlich wünschte. Nur eben nicht jenen, die man nicht gehen lassen wollte.

Natalie hatte Alex gebeten, zur Beerdigung nach Paris zu kommen. Ihr Onkel Christophe würde seine Kosten übernehmen. Die Familie brauche ihn.

Natalies Worte wären nicht nötig gewesen. Auch Christophes Angebot nicht. In dem Moment, als sie ihm die traurige Nachricht überbracht hatte, hatte Alex mit den Planungen für die Reise begonnen. Bevor er morgen früh den ersten Zug in die französische Hauptstadt nehmen würde, um mittags an der Gare de Lyon einzutreffen, musste er nur noch ein paar Sachen erledigen. Wenn er sich denn vom Wein und der Schokolade losreißen konnte.

Er trank einen weiteren Schluck.

Natalie und ihn verband mehr als nur eine lebenslange Freundschaft. Sie hatten dieselbe Heimat. Sie waren gemeinsam aufgewachsen. Doch nicht irgendwo. Am selben Ort, den sie beide nicht vergessen konnten. Sie verband das gleiche Schicksal.

Sie waren beide Waisen.

Aufgewachsen in einem Heim in Haguenau nahe der deutsch-französischen Grenze.

Und sie waren beide Juden.

Alex’ Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er war nicht einmal ein Jahr alt gewesen. Zwei Jahre später war Natalie eines frühen Morgens vor die Tür des Waisenhauses gelegt worden, in dem er aufgezogen wurde. Vermutlich von ihrer Mutter.

Alex und Natalie hatten ihre Kindheit miteinander verbracht. Sie waren zu Geschwistern geworden. Bis sie adoptiert worden waren. Erst Natalie von einem Ehepaar aus Paris. Dann Alex, der mit seinen Adoptiveltern zunächst nach Lyon und zwei Jahre später nach Fribourg gegangen war.

Und jetzt war Natalies Adoptivvater tot. Régis Villeneuve, der zusammen mit seiner Frau Suzanne Natalie kurz vor ihrem zehnten Geburtstag zu sich genommen hatte. Die Eheleute hätten vom Alter her zwar schon Natalies Großeltern sein können, aber die Behörden hatten seinem Antrag stattgegeben. Wohl auch, weil in Frankreich zwar so viele Juden lebten wie in keinem anderen europäischen Land, aber doch nicht genug, um all die Kinder aus jüdischen Waisenhäusern zu adoptieren.

Régis und Suzanne waren ein Segen für Natalie gewesen. Alex hatte sie oft in Paris besucht. Auch, nachdem er in die Schweiz gezogen war. Wie glücklich die Kleine geworden war!

Alex und Régis hatten sich gut verstanden. Gerade in den letzten Jahren, in denen Alex sein Studium abgeschlossen, seine Doktorarbeit geschrieben und schließlich in Rekordzeit habilitiert hatte, hatten sie bei seinen Besuchen abends häufig noch zusammengesessen. Régis hatte Alex bei diesen Gelegenheiten erklärt, wie sich Frankreich durch den Zweiten Weltkrieg verändert hatte. Er, der alles hautnah miterlebt hatte: als Jude aus Bordeaux, als Soldat im Krieg, als Flüchtling in England, als Mitglied der Résistance, für die er nach Frankreich zurückgekehrt war. Régis hatte sogar erzählt, wie er und ein guter Freund 1944 gefangen genommen und er ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert worden war. Und wie er ausgerechnet an diesem schrecklichen Ort Suzanne kennengelernt hatte. Suzanne, eine polnische Jüdin, die nach dem Überfall der Nazis auf ihr Heimatland erst im Krakauer Ghetto, dann im Arbeitslager Plaszow und schließlich in Auschwitz gelandet war. So wie die Juden in Hollywoods »Schindlers Liste«.

»Ich stand nur nicht auf der Liste«, hatte Suzanne eines Abends zu Alex gesagt. Sie hatte den Film sogar im Kino gesehen, weil sie wissen wollte, wie man das Unvorstellbare verfilmt hatte.

Régis und Suzanne hatten es geschafft, zu überleben: den Horror des Vernichtungslagers, die wochenlange Flucht durch die letzten Schlachtfelder in Richtung Westen. Régis hatte mit Suzanne eigentlich nach Bordeaux gehen wollen. In Paris waren sie nur vorübergehend gestrandet, weil ein Bekannter ihnen eine Wohnung organisiert hatte. Die, in der sie bis heute geblieben waren.

Und jetzt war Régis tot.

Als Alex erneut zur Schokolade griff, merkte er, dass die Schachtel leer war. Er lehnte sich wieder zurück und ließ seine Augen durch das Zimmer wandern. Die Dachwohnung war sein Schmuckstück, sein Zufluchtsort, wenn er der Menschheit entkommen wollte, wenn er nachdenken musste oder einfach seine Ruhe brauchte. So wie jetzt. Dann blickte er aus dem Giebelfenster neben dem Sofa auf die Kathedrale Saint Nicolas.

Fribourgs Wahrzeichen! In der Kleinstadt in der französischen Schweiz mit ihren knapp vierzigtausend Einwohnern lebte er nun schon seit über zwanzig Jahren. Hier fühlte er sich wohl. Fribourg war zu dem geworden, was er sich als Kind immer gewünscht hatte: ein Zuhause.

Seine Heimat konnte man sich nicht aussuchen. Sein Zuhause hingegen schon.

Das war auch der Grund, weshalb Alex keine Kosten und Mühen gescheut hatte, das Appartement einzurichten. Vom Ledersofa über ein großes Bücherregal und einen alten, zu einer Kommode umgebauten Schrankkoffer bis hin zu einem antiken Sekretär– Alex hatte sich in kleinen Geschäften mit seltenen Möbeln eingedeckt. Das Wichtigste waren ihm aber seine Bücher. Nachschlagewerke, Biografien, unzählige dicke Wälzer zu Europas Geschichte, dazu Reiseführer und kulinarische Ratgeber, Bücher zu Genealogie und nationalsozialistischer Rassenkunde. Einzig Romane fanden darin keinen Platz. Der Welt der Fiktion konnte Alex nichts abgewinnen. Die Realität gab ihm genug Rätsel auf.

Die Realität.

Alex erhob sich mit einem Ruck und ging ins Schlafzimmer. Er hasste es, für Beerdigungen zu packen. Erst vor Kurzem war ein Studienfreund von ihm an Krebs gestorben. Alex war zur Beerdigung an den Zürichsee gereist. Nun hielt er den schwarzen Anzug in den Händen, den er eigens für diese letzte Begegnung auf einem Friedhof gekauft hatte.

Er suchte alles zusammen, was er für Paris brauchte. Dann trat er an den Sekretär und entnahm einem der diversen Geheimfächer einen Umschlag. Er enthielt einige hundert Euro, eine französische SIM-Karte, die er bei seinen regelmäßigen Reisen nach Frankreich nutzte, sowie eine aufladbare Fahrkarte für die Pariser Metro. Aus einem zweiten Fach holte er sein Ersatzhandy, das er mit der SIM-Karte bestückte.

Dann öffnete er ein drittes Fach. Vorsichtig faltete er das sich darin befindliche Papier auseinander. Es war das Dokument seines Lebens: seine Adoptionsurkunde, sein Fahrschein in die Freiheit, in das Leben, das er nun führen durfte. Er betrachtete sie einen Moment, verstaute sie dann aber wieder, schnappte sich sein Tablet und setzte sich.

Da das Semester vorbei war, musste er sich um Verpflichtungen den Studierenden gegenüber keine Gedanken machen. Er ging seine Termine für die kommenden Tage durch, schrieb diverse knappe Mails und sagte einige Verabredungen ohne große Erklärung ab. Auch seinen Chef am Departement, Professor Hugo von Arx, ließ er wissen, dass er einige Tage nicht in Fribourg sein werde. Schließlich rief er seine Adoptiveltern an und teilte ihnen mit, dass und weshalb er verreisen werde.

Als er auflegte, verspürte er ein seltsames Gefühl. Er fühlte mit Natalie, mit Suzanne und Christophe. Régis’ Tod ging auch ihm nahe. Doch er musste zugeben, dass er schon länger mit Natalies Anruf gerechnet hatte. In den letzten Jahren war es nicht zu übersehen gewesen, dass Régis älter geworden war. So ausgezeichnet sein Geist noch funktioniert hatte, so eindeutig waren die Signale gewesen, die sein Körper gesendet hatte. Bei Alex’ letztem Besuch hatte Régis das Thema sogar selbst angesprochen. Sie hatten zu zweit in der Bibliothek der Wohnung gesessen.

»Du wirst für Natalie da sein müssen«, waren seine ersten Worte gewesen.

Alex hatte Régis versprechen müssen, Natalie zu unterstützen und ihr zu helfen, mit allem fertigzuwerden, was komme, sollte Régis einmal nicht mehr da sein. Alex hatte die Ernsthaftigkeit seiner Sätze sofort registriert. Das waren keine Worte, die in die ferne Zukunft gerichtet waren. Régis spürte es. Er hatte ihn gebeten, sich Natalies anzunehmen. Onkel Christophe würde Suzanne auffangen und seiner Schwester helfen.

»Aber Natalie wird dich brauchen, Alex. In jeder Hinsicht.«

2

Donnerstag, 5.Juni 2014, Paris, Frankreich

Sie blickte zum Uhrenturm des alten Bahnhofsgebäudes hinauf. Es war kurz nach zwölf. Alex’ Zug würde in wenigen Minuten einlaufen. Bei dem Gedanken, ihm gegenüberzustehen, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie ballte die Fäuste und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.

Natalie Villeneuve ging durch die Eingangshalle, fand das richtige Gleis und lehnte sich an eine Säule unweit des Ausgangs, den Alex passieren musste, wenn er den Bahnsteig des Kopfbahnhofs verlassen wollte.

Sie war erschöpft. Sie fühlte sich leer. War ihr Vater wirklich tot? Der Mann, der ihr gezeigt hatte, was es hieß, eine Familie zu haben. Als sie aus dem Heim gekommen war und von Alex getrennt ein neues Leben beginnen sollte, hatte sie imaginäre Mauern um sich errichtet. Doch Régis und Suzanne hatten sie mühelos eingerissen. Wie sie das geschafft hatten, war ihr bis heute schleierhaft. Aber ihre Eltern, sie nannte sie niemals Adoptiveltern, hatten aus ihr einen neuen Menschen gemacht, ihr die Ängste genommen, ihr ein neues Leben geschenkt. Régis, Suzanne und Alex: Sie drei waren die wichtigsten Menschen in ihrem Leben gewesen.

Doch nun war nichts mehr, wie es einmal war. Régis’ Tod änderte alles. Für sie. Für Suzanne. Auch für Alex? Wie würde er reagieren? Er war wahrlich kein Mensch, der gut mit Emotionen umgehen konnte.

Sie musste schmunzeln. Einmal, als sie ihn in Fribourg besucht hatte, hatte eine Studentin ihn in einer Bar nach seiner Nummer gefragt. Natalie hatte losgeprustet, als sie sein verständnisloses Gesicht gesehen hatte. Er hatte etwas gestottert, eine Visitenkarte aus seinem Sakko genommen und erklärt, er habe dienstags Sprechstunde, falls sie Fragen zu ihrem Studium habe. Menschen, Emotionen, Gefühle, Frauen– das war nicht seine Welt.

Ihr aber würde er helfen können. Egal, was er sagte oder nicht, seine Anwesenheit allein würde sie beruhigen. Sie hasste es, die Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren. Doch vor Alex war ihr das egal. Niemandem vertraute sie so sehr wie ihm. Er hatte sie in jedem erdenklichen Moment ihres Lebens gesehen. Na ja, in fast jedem.

Sie nahm ihre Sonnenbrille aus ihrer schwarzen Mähne, schüttelte die Haare und steckte die Brille wieder auf. Aber sie wusste, es würde nur wenige Minuten dauern, ehe sich ihre Locken wieder den Weg in die Freiheit bahnten.

Draußen war es sommerlich warm, doch der Wind in der Eingangshalle war angenehm kühl. Zu ihren dunkelblauen Shorts trug sie Ledersandalen und ein weites weißes Leinenhemd, dessen Ärmel sie bis zu den Ellenbogen hochgeschlagen hatte. Sie merkte, wie sich die feinen Härchen auf ihrer bronzefarbenen Haut aufrichteten. Mit einer Hand griff sie nach ihrer goldenen Halskette, die sie besaß, solange sie denken konnte, und wickelte sie immer und immer wieder um ihre Finger.

Dann endlich fuhr der Zug ein. Dutzende Passagiere strömten auf den Bahnsteig, die meisten in Eile, keinen Blick für den Ort, an dem sie angekommen waren. Natalie entdeckte nur einen Reisenden, der sich nach dem Aussteigen einen Moment gönnte, um zum gläsernen Dach des Bahnhofs hinaufzusehen, einer imposanten Konstruktion aus Glas, Stahl und Holz. Eigentlich war es eine Schande, dachte Natalie. Den Eiffelturm bewunderte jeder Idiot, ohne genau zu wissen, wofür. Die Gare de Lyon sahen jeden Tag noch mehr Menschen. Doch niemand schenkte diesem architektonischen Meisterwerk Beachtung.

Außer Alex. Natalie beobachtete ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Bewunderung. Dieser Typ konnte sich in den bizarrsten Momenten für Dinge begeistern, die ihr als Letztes in den Sinn kommen würden. Da stand er nun und glotzte die Decke an, während andere Leute sich an ihm vorbeidrängelten. Es bedurfte eines rüden Remplers, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Natalie sah, wie Alex dem Fremden, der ihn in seiner Ruhe gestört hatte, irritiert hinterherblickte, ehe er sich zu besinnen schien, wo er war– und vor allem, warum. Er raffte seine Umhängetasche an sich und setzte sich mit seinem Rollkoffer in Bewegung.

Er trug eine beigefarbene Leinenhose, ein dunkelblaues Poloshirt und seinen braunen Lieblingsblazer. Natalie wusste, dass er ohne ihn praktisch nie auf Reisen ging. Und er schien sich einige Tage nicht rasiert zu haben. Dieser leichte Hang zum Rebellen. Ausgerechnet Alex, der überkorrekte Spießer. Für diese Kleinigkeiten liebte sie ihn.

Im nächsten Augenblick trafen sich ihre Blicke. Sie löste sich von der Säule, tat ein paar Schritte, bis sich ihre Beine verselbstständigten und sie auf ihn losstürmte. Sie warf sich ihm in die Arme und war froh, dass er es hatte kommen sehen und sie auffing. Er hielt sie fest, sie schloss die Augen und fühlte sich das erste Mal seit dem schrecklichsten Moment ihres Lebens wieder sicher und geborgen.

Nach einer kleinen Ewigkeit löste sie sich von ihm. Sie sahen sich lange an. Er musterte sie. Wahrscheinlich sah er, dass ihre Augen gerötet waren. Kaum dachte sie an die vielen Tränen, die sie zuletzt vergossen hatte, füllten sich ihre Augen erneut. Eine Träne löste sich und rollte über ihre Wange hinab. Mit einer unwirschen Handbewegung wischte sie sie weg, ganz so, als ob sie damit ihre Trauer wegwischen könnte.

»Danke«, brachte sie mit unsicherer Stimme hervor.

»Natalie, ich–«, begann Alex.

Doch sie unterbrach ihn. »Lass uns in dein Hotel fahren!«

Sie drehte sich um und zog ihn an der Hand hinter sich her in Richtung Ausgang.

Auf der Straße wurden sie von einem Mann südländischer Herkunft mit Anzug, Vollbart und dunkler Sonnenbrille angesprochen. Natalie ignorierte ihn. Er gehörte zu der Horde zwielichtiger Gestalten, die überall an den großen Bahnhöfen zu finden waren und ihnen eine nicht ganz billige Fahrt in einem nicht ganz legalen Taxi anbieten wollten. Wer sich darauf einließ, war schnell fünfzig Euro los für eine Fahrt, die in einem regulären Taxi keine fünfzehn Euro und mit der Metro zwei Euro vierzig gekostet hätte. Natalie führte Alex daher schnell zu den richtigen Taxis. Sie verfrachteten sein Gepäck in den Kofferraum eines silbernen Peugeot und kletterten auf die Rückbank. Natalie nannte dem Fahrer die Adresse.

Sobald sie sich im Rücksitz des Wagens zurücklehnte, spürte sie, wie alle Anspannung von ihr abfiel. Als das Taxi seine Fahrt aufnahm, schnallte sie sich ab, lehnte sich zu Alex hinüber und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Sie begann leise zu schluchzen. Da spürte sie, wie Alex eine Hand auf ihre Schulter legte. Die andere tauchte einen Augenblick später vor ihrem Gesicht auf. Er hatte ein frisches Stofftaschentuch hervorgeholt und reichte es ihr. Sie nahm es dankbar an, blieb aber liegen. Erst, als das Taxi endgültig zum Stehen gekommen war und der Fahrer sich zu ihnen umdrehte, richtete sie sich wieder auf.

»Dein Onkel hat es wirklich ernst gemeint mit der Kostenübernahme für meinen Aufenthalt, wie?«

Natalie blickte Alex verständnislos an. Dann sah sie nach draußen. Sie hatten direkt vor dem Hotel Luxembourg Parc gehalten, einem kleinen, exquisiten Haus, das seinen Namen der unmittelbaren Lage am Jardin du Luxembourg verdankte. Hier hatte Suzannes Bruder ein Zimmer für Alex reserviert.

»Du kennst Christophe«, entgegnete sie mit einem schwachen Lächeln. »Bescheidenheit ist nicht seins.«

Natalie erledigte die Formalitäten an der Rezeption und führte Alex auf sein Zimmer.

»Wir beide wussten, dass dieser Tag kommen würde«, sagte Natalie schließlich, als Alex seinen Koffer abgestellt hatte. Sie versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen. »Aber ich habe immer gebetet, dass es noch ein wenig dauern möge.«

»War er denn schon länger krank?«

»Er hat vor ein paar Tagen über Übelkeit geklagt. Vor zwei Tagen hat er angefangen, sich ständig zu übergeben. Das hat ihn ziemlich geschwächt. Gestern Abend wollte er sich hinlegen und ausruhen. Er ist nicht wieder aufgewacht.«

»Dr.Forêt konnte ihm nicht helfen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Jean-Daniel hat alles versucht. Er hat sogar seine Praxis für einen Tag geschlossen und die letzte Nacht bei uns geschlafen.«

»Und Régis wollte nicht ins Krankenhaus?«

»Er dachte, es sei nur ein Infekt und dass es schnell vorübergehen werde. Er war zu stolz, um sich von jemand anderem als Jean-Daniel behandeln zu lassen.«

»Lass mich raten: weil Forêt Jude ist.«

Natalie zuckte mit den Schultern.

»Und wie geht’s Suzanne?«

»Wir fahren am besten gleich zu ihr. Sie rennt den ganzen Morgen durch die Wohnung und wühlt in papas Papieren herum. Sie will, dass die Beerdigung genau so wird, wie er es sich gewünscht hätte.«

»Und sie hofft, noch einen letzten Wunsch von ihm zu finden?«

Natalie nickte. »Genau. Aber die Gemeinde hat schon alles Organisatorische übernommen.«

»Die Chewra Kadischa?«

Sie nickte erneut. Die Chewra Kadischa war die »Heilige Bruderschaft« einer jeden jüdischen Gemeinde, die sich bei einem Todesfall um all die kleinen religiösen Spitzfindigkeiten kümmerte, die vom Moment des Todes an zu beachten waren: Gebete sprechen, Kerzen am Totenbett anzünden, den Leichnam bedecken. Weil alles in kurzer Zeit geschehen musste, brachte die Chewra Kadischa den Toten zum Friedhof, um ihn dort rituell zu waschen und ihm das weiße Totengewand sowie seinen Tallit, den Gebetsschal, anzulegen. Bis zum Moment der Beerdigung musste sich eine Familie um nichts mehr kümmern.

»Suzanne will trotzdem auf alles ein Auge haben?«

Natalie verzog das Gesicht. »Du weißt, wie sie ist. Aber mir ist es ganz lieb, so ist sie beschäftigt. Ich habe nur Angst vor dem Moment, in dem sie sich in ihren Sessel setzt und zur Ruhe kommt. Dann wird sie an ihrer Trauer zerbrechen, wenn Christophe sie nicht auffängt.«

Sie sah Alex an und wusste, woran er dachte. Für ihre Mutter mussten sich die letzten vierundzwanzig Stunden wie ein neuer Alptraum anfühlen. Sie war sich nicht sicher, ob sich Suzanne wirklich an ihre Zeit imKZ zurückerinnerte. Doch sie hatte schon mehrere Bemerkungen darüber gemacht, wie sie damals von Auschwitz nach Paris gekommen waren. Sie hatte geglaubt, ihre gesamte Familie verloren zu haben. Ihre Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel und sechs Geschwister. Laut Yad Vashem, dem Archiv der Hinterbliebenen des Holocaust, war sie die einzige Überlebende ihrer polnischen Großfamilie gewesen. Dass Régis und sie sich lieben gelernt hatten, hatte sie beide gerettet. Jahrzehntelang war er der einzige familiäre Halt gewesen. Bis Christophe vor vierzehn Jahren aufgetaucht war. Seine und Suzannes Mutter war, ohne es zu wissen, schwanger insKZ gekommen und hatte Christophe dort geboren. Wie durch ein Wunder hatte der Säugling überlebt und war von einer gutmütigen Krankenpflegerin aus dem Lager geschmuggelt worden. Es dauerte fast sechs Jahrzehnte, ehe Christophe Suzanne ausfindig gemacht hatte.

Das erste Treffen war bizarr gewesen. Zuvor hatte Christophe vorsichtig über die Gemeinde Kontakt zu Régis aufgenommen und ihn eingeweiht. Dann hatten sie heimlich von Dr.Forêt einen Verwandtschaftstest durchführen lassen, um sicherzugehen, dass Christophe und Suzanne tatsächlich verwandt waren. Und dann hatte es die erste Begegnung gegeben.

Alex und Natalie waren dabei gewesen, sie hatte nach seiner Hand gegriffen, als Christophe Suzanne erklärte, wer er war. Sie sah ihre Mutter noch immer vor sich. Fassungslos hatte sie dagestanden und ihren Bruder minutenlang angestarrt.

Dann war sie Christophe um den Hals gefallen.

Natalie fragte sich, ob Christophe auch dieses Mal stark genug sein würde, Suzanne aufzufangen.

Alex schien den Moment der Stille zu nutzen, um sich umzusehen. Natalie folgte seinem Blick. Sie musste sich eingestehen, dass es eines der stilvollsten Hotelzimmer war, die sie je gesehen hatte. Auch Alex schien überrascht und angetan. Doch sosehr sie sich für ihn freute, dass er Christophes Großzügigkeit zu schätzen wusste, spürte sie Unruhe in sich aufsteigen. Natalie wollte wieder zu ihrer Mutter. Also beschlossen sie, sofort aufzubrechen. Alex ließ den Koffer ungeöffnet vor dem Bett stehen, erfrischte sich nur kurz im Bad und schnappte sich seine Umhängetasche.

Gemeinsam verließen sie das Hotel. Auf Taxi oder Metro konnten sie nun verzichten, die Villeneuves wohnten in unmittelbarer Nähe. Alex und Natalie liefen über die Rue de Vaugirard, Paris’ längste Straße, in südwestlicher Richtung, bogen in die Rue d’Assas und dann rechts in die Rue du Cherche-Midi ein. Nach wenigen Metern tauchte links ein großes hölzernes Eingangstor auf, an dessen Tür ein schwerer metallener Griff hing. Die Fassade erstrahlte in frisch aufgetragenem Weiß und hatte die für Paris typischen Holzfensterläden in dunklem Blau. Wie bei so vielen französischen Stadthäusern war der Eingang des Mehrfamilienhauses modernisiert und durch einen vierstelligen Code gesichert worden.

Natalie tippte die vier Ziffern ein. 1-9-4-5. Das Jahr, in dem die Leiden für ihre Eltern ein Ende genommen und sie in diesem Haus ein Dach über dem Kopf gefunden hatten. Doch gestern hatte hier das Leben ihres Vaters ein Ende gefunden.

3

Donnerstag, 5.Juni 2014, Paris, Frankreich

Das Haus gehörte den Villeneuves schon seit über fünfzig Jahren. Erst hatten sie in einer kleinen Wohnung unter dem Dach Unterschlupf gefunden. Kurze Zeit später waren sie in den zweiten Stock gezogen. Und Ende der fünfziger Jahre hatten sie das Haus schließlich gekauft.

Noch bevor sie vor der Wohnungstür in der zweiten Etage angekommen waren, stieg Alex der süße Duft frischen Gebäcks in die Nase. Suzanne war nicht nur eine großartige Köchin, an ihr war auch eine echte Patissière verloren gegangen. Und trotz aller Trauer um ihren verstorbenen Mann hatte sie offenbar gebacken. Augenblicklich fiel Alex das Loch in seinem Magen auf. Seit dem Riegel im Zug hatte er nichts mehr gegessen. Er hoffte, dass sich das gleich ändern würde. Doch seine Hoffnung zerplatzte, als Natalie die Tür aufschloss.

Eine aufgeregte Frauenstimme drang an seine Ohren. Eine zweite, männliche Stimme versuchte zu beschwichtigen. Alex verstand nur Wortfetzen. Aber irgendetwas musste passiert sein.

Sie entdeckten Suzanne im Wohnzimmer. Die kleine Gestalt saß zusammengesunken auf dem Sofa, ein Blatt Papier auf dem Schoß. Sie trug ein schwarzes Baumwollkleid, darüber eine beige Strickjacke. Sie hielt ihr Gesicht mit ihren von Altersflecken gezeichneten Händen bedeckt. Ihre weißen Haare waren durcheinander. Neben ihr saß ein älterer Mann in einem anthrazitfarbenen Dreiteiler, einem weißen Hemd und mit einer dunkelroten Krawatte. Christophe blickte auf, als Natalie und Alex näher kamen.

»Was ist denn passiert, maman?«, fragte Natalie leise. Sie ließ sich neben Suzanne nieder und legte einen Arm um ihre Mutter.

Christophe machte ihr Platz und erhob sich. Er klopfte Alex, der neben dem Sofa stehen geblieben war, freundlich auf die Schulter.

»Danke, dass du gekommen bist«, flüsterte er. Er bedeutete Alex, mit ihm nach nebenan zu gehen und die beiden Frauen allein zu lassen.

Vom Wohnzimmer führte ein offener Rundbogen ins Esszimmer und von dort aus ein zweiter durch Flügeltüren in die Bibliothek. Durch die großen Fenster fiel Sonnenlicht. Alex und Christophe ließen sich in Ledersesseln nieder. Hier hatte er häufig mit Régis zusammengesessen und diskutiert. Jetzt saß ihm Christophe gegenüber. Er sah angeschlagen aus, traurig. Alex glaubte, noch eine weitere Regung an ihm zu erkennen: Verzweiflung.

»Was ist passiert?«, fragte Alex.

»Wir haben etwas gefunden. Etwas, das uns einen großen Schrecken eingejagt hat. Hast du den Brief gesehen, den Suzanne auf ihrem Schoß hatte?«

Alex nickte.

»Suzanne hat ihn in Régis’ Schreibtisch gefunden. Jemand hat ihn erpresst.«

»Erpresst?« Alex richtete sich ruckartig auf.

»Vor siebzehn Jahren.« Christophe machte eine Pause. Er starrte auf den schweren dunkelgrünen Teppich, der den Boden der Bibliothek bedeckte. Alex hatte Suzannes Bruder noch nie ratlos gesehen. Christophe war neunundsechzig und ein erfolgreicher Immobilienmakler. Ein Mensch, der es gelernt hatte, seine Emotionen im Griff zu haben und sie anderen gegenüber nicht zu zeigen. Doch der Mann, der Alex jetzt gegenübersaß, wirkte aufgewühlt und verunsichert.

»Régis muss irgendetwas gewusst haben. In dem Brief heißt es, er solle sein Wissen besser für sich behalten.«

»Sonst was?«

»Sonst sei Natalie ihres Lebens nicht mehr sicher.«

»Wie bitte?«, fragte Alex leise. Seine Hände verkrampften sich um die Armlehnen des Sessels.

Christophe sah ihn ernst an. »Sie haben Régis damit gedroht, Natalie umzubringen, wenn er weitermacht.«

»Womit weitermacht?«

»Keine Ahnung. Das ist aber noch nicht alles. Der Brief lag in einer Schachtel. Darin haben wir noch etwas anderes gefunden. Eine Puppe mit einem abgerissenen Kopf. Suzanne hat sich sofort an sie erinnert. Natalie hat die Puppe mal in der Schule in ihrem Spind gefunden und nach Hause gebracht. Sie hat sie für einen schlechten Scherz eines Mitschülers gehalten. Aber der Brief stammt aus demselben Jahr.«

»Und ihr glaubt, die Puppe sei eine Botschaft an Régis. Sonst hätte er sie wohl kaum zusammen mit dem Brief aufbewahrt.«

»Genau. Aber mehr wissen wir nicht.«

»Habt ihr schon die Polizei verständigt?«

Christophe schüttelte den Kopf. »Du weißt, wie Suzanne zur Polizei steht. Abgesehen davon haben wir die Schachtel erst vor einer Stunde entdeckt. Du hast meine Schwester gesehen. Sie ist völlig fertig.«

Wie aufs Stichwort traten Suzanne und Natalie in die Bibliothek. Alex erhob sich. Suzanne hatte sich offenbar beruhigt. Sie kam lächelnd auf ihn zu und stützte sich dabei auf einen Gehstock, dessen Knauf sie ihm nach einer herzlichen Umarmung behutsam in seinen Bauch drückte.

»Du hast zugenommen«, sagte sie. »Gut siehst du aus. Nicht wahr, Natalie?«

Alex war die Bemerkung unangenehm. Natalie hingegen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Gerade als Alex ihr sein Beileid aussprechen wollte, hob Suzanne die Hand. Als ob sie seine Gedanken geahnt hätte, ließ sie ihn nicht zu Wort kommen.

»Ich hatte gehofft, dass wir jetzt gemeinsam etwas essen könnten.« Suzanne blickte alle drei nacheinander an. »Aber das muss warten. Ich habe eine große Bitte an euch. Diese Schachtel… Ich kann den Gedanken nicht ertragen, morgen auf den Friedhof zu gehen, ohne zu wissen, was passiert ist. Bitte lasst uns in der Wohnung nach irgendetwas suchen, das all das erklärt.«

»Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte Natalie. »Sollen wir nicht lieber warten und nächste Woche in Ruhe die Polizei rufen?«

Suzannes Augen verengten sich. Ihre Stimme klang bitter. »Solange ich lebe, wird kein Vertreter der Polizei jemals diese Wohnung betreten.«

»Ja, maman, es tut mir leid«, erwiderte Natalie behutsam.

Die Diskussion war beendet.

Christophe nahm sich das Wohnzimmer vor. Natalie begann in der Diele am Eingang und würde anschließend ihr eigenes Zimmer durchsuchen. Suzanne ging ins Schlafzimmer, in dem sie künftig nur noch allein nächtigen würde. Für Alex blieb die Bibliothek.

Er blickte sich um. Er mochte die Wohnung. Régis und Suzanne hatten die gesamte Etage für sich. Aus ursprünglich zwei Wohnungen, wie es sie sonst auf allen anderen drei Etagen gab, hatten sie eine –fast schon herrschaftlich große– gemacht. Alle Zimmer hatten hohe, stuckverzierte Decken. Die Räume zur Straße wurden durch prächtige Fenster von Licht durchflutet. Das Parkett hatte schon bessere Zeiten gesehen, aber ein Freund der Villeneuves war Teppichhändler und hatte die Wohnung im Laufe der Jahrzehnte mit echten Kostbarkeiten ausgestattet.

Alex war immer wieder erstaunt, wie es Régis und Suzanne geschafft hatten, sich nach dem Krieg aus dem Nichts eine neue Existenz zu errichten. Er, der mit neunzehn zum Militär eingezogen worden war und dem der Krieg alles genommen hatte. Der bei der Résistance als sogenannter Quartiermacher für die Logistik der Untergrundbewegung verantwortlich gewesen war. Und der dank seines Organisationstalents nach dem Krieg eine große Spedition aufgebaut, Mitte der achtziger Jahre für viel Geld verkauft und sich entschlossen hatte, Schriftsteller zu werden. Und sie, die im Alter von zwölf hatte mitansehen müssen, wie die Nazis ihre Heimat Polen überfallen und ihr ihre Kindheit und Jugend geraubt hatten. Ohne schulische Bildung, ohne eine Vorstellung, was sie im Westen erwarten würde, ohne ein Wort Französisch war sie Régis nach Paris gefolgt. Sie hatte alles neu erlernt, eine Ausbildung zur Buchhalterin absolviert und ihren Mann fortan im Geschäft unterstützt. Régis und Suzanne hatten das Beste aus ihrem zweiten Leben gemacht. Und zu guter Letzt sich selbst und Natalie mit einer gemeinsamen Familie beschenkt.

Jetzt stand Alex in der Bibliothek und begann, in den deckenhohen Bücherregalen nach etwas zu suchen. Aber wonach? Régis war erpresst worden, weil er etwas gewusst hatte, das niemand sonst erfahren durfte. Was hatte Régis herausgefunden? Und wen hatte er damit derart in Bedrängnis bringen können? Alex durchstöberte den Raum zwei Stunden lang. Aber er fand nichts, was sich Suzanne erhofft haben könnte.

Den anderen erging es nicht anders. Sie trafen sich im Esszimmer wieder und suchten auch dort alles ab. Als Alex anschließend die offene Küche betrat, um den ersten Oberschrank zu öffnen, berührte ihn Suzanne von hinten sanft an der Schulter.

»Die Küche musst du dir nicht vornehmen. Das ist mein Reich.«

Er verstand und ging zurück zum Esstisch.

»Eine Möglichkeit gibt es noch.« Alle Augen richteten sich auf Christophe. »Vielleicht hat Régis in seinem Testament alles erklärt.«

Suzanne antwortete nicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Natalie trat neben sie.

»Soll ich beim Notar anrufen?«, fragte sie.

Suzanne nickte stumm. Natalie verschwand im Wohnzimmer und kam zwei Minuten später wieder.

4

Donnerstag, 5.Juni 2014, Paris, Frankreich

Sie fuhren in Christophes Wagen zum Boulevard du Montparnasse. Das Büro des Notars lag in einem Bürogebäude schräg gegenüber der Kirche Notre-Dame-des-Champs. Christophe parkte den Wagen in der Tiefgarage des Hauses. Ein Aufzug führte sie in die vierte Etage.

Suzanne und Christophe gingen voran, Alex und Natalie folgten ihnen. Sie betraten einen modern eingerichteten, in Alex’ Augen sterilen und nichtssagenden Empfangsbereich. Ein Mann namens Robert Bossis begrüßte sie. Er stellte sich als Assistent des Notars vor und gab allen die Hand. Alex entging nicht, dass Bossis Natalies Hand einen Augenblick länger als nötig festhielt. Er schätzte ihn auf Ende dreißig und fühlte sich bei seinem Anblick an eine Mischung aus Model und Boxer erinnert. Dem schlanken, groß gewachsenen Körper und den perfekt gestylten schwarzen Haaren stand eine etwas zu klobige und nicht ganz gerade Nase gegenüber. Was Alex jedoch am meisten auffiel, war der präzise getrimmte Dreitagebart. Er musste sich eingestehen, dass er Bossis viel besser stand als ihm selbst. Unwillkürlich strich sich Alex mit einer Hand über sein Kinn.

Bossis führte sie in einen Besprechungsraum und ließ sie allein. Auch dieses Zimmer war unpersönlich eingerichtet. Alex glaubte sogar, den Geruch von Putzmittel ausmachen zu können. Sie wollten sich gerade an den großen Konferenztisch setzen, als die Tür erneut aufging und ein Mann Mitte fünfzig den Raum betrat.

David Simon ging geradewegs auf Suzanne zu, ergriff mit beiden Händen ihre Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Der Notar sah sie eindringlich an und sprach ihr sein Beileid aus. Alex konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es bei ihm lediglich eine Floskel war. Des Anstands halber. Er wirkte in keiner Weise berührt, eher kühl und geschäftsmäßig. In seinem dunkelblauen Nadelstreif mit hellblauem Hemd und blau gepunkteter Krawatte hätte er wie nahezu jeder andere Geschäftsmann in Paris und anderswo ausgesehen– wenn nicht alles an ihm so perfekt gewesen wäre. Alex vermutete, dass sein Anzug maßgeschneidert war. Der Krawattenknoten war lehrbuchhaft. Und dann die Hosenträger! Alex mochte diesen Mann nicht.

Simon kam gleich zur Sache. »Natalie, du hast mir am Telefon gesagt, dass es um Régis’ Testament geht«, begann er, als sie sich gesetzt hatten. »Wie kann ich euch helfen?«

Natalie blickte zu Suzanne hinüber. »Wir möchten Sie bitten, es zu öffnen.«

Alex fiel auf, dass sie Simon siezte. Der Notar kannte die Familie Villeneuve schon seit Jahrzehnten. Er duzte Natalie ganz offensichtlich noch aus Gewohnheit, ganz so, als ob sie noch immer ein Teenager wäre. Er war wohl nie auf die Idee gekommen, der erwachsenen Natalie das Du anzubieten.

Simon runzelte die Stirn. »Jetzt?«

Natalie lächelte traurig. Sie suchte seinen Blick. »Ja. Wir sind in einer besonderen Situation. Papa hat uns vor einiger Zeit in einem Brief notiert, wie er sich seine Beerdigung wünschte. Aber wir finden ihn nicht mehr. Wir hoffen, dass er in seinem letzten Willen dazu noch etwas geschrieben hat. Die Chance ist zwar nicht groß, aber es würde uns sehr viel bedeuten, wenn Sie uns helfen könnten.«

Die Geschichte war schwach, dachte Alex. Sie hatten sich im Auto darauf geeinigt, es auf diese Weise zu versuchen. Christophe hatte vorgeschlagen, Natalie reden zu lassen. Sie hofften, dass Simon dem Charme einer trauernden jungen Frau erliegen würde. Alex fand es zwar erniedrigend, Natalie darauf zu reduzieren, aber vielleicht diente es tatsächlich der Sache.

Der Notar setzte eine bedauernde Miene auf. »Es tut mir aufrichtig leid, Natalie. Aber ich kann euch nicht helfen. Bevor man eine Testamentseröffnung vollziehen kann, müssen einige Formalitäten erfüllt sein. Das schreibt das Gesetz vor. Und für diese habe ich«, er korrigierte sich, »haben wir heute keine Zeit mehr. Aber ich kann euch versichern, dass Régis keine derartigen Wünsche in seinem Testament hinterlegt hat.«

»Wie das?«, wollte Alex wissen.

»Wir sind es gemeinsam vor einiger Zeit noch einmal durchgegangen«, entgegnete Simon mit einem herablassenden Lächeln.

Alex ahnte, dass sie bei diesem Mann heute nicht weiterkommen würden.

»Monsieur Simon«, schaltete sich jetzt Christophe ein. »Wie Sie wissen, würden wir Sie nicht darum bitten, wenn es uns nicht sehr wichtig wäre. Aber–«

»Monsieur Wagner«, unterbrach ihn Simon. Seine Stimme klang schneidend. Er blickte Christophe mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich kenne Ihr Geschäft. Ich kenne Ihre Art, mit dem Gesetz umzugehen. Aber ich bin ein ehrenhafter Mann, der davon überzeugt ist, dass Paragrafen durchaus ihren Sinn haben. Sie können sich also Ihren Appell an meine Freundschaft zur Familie Villeneuve sparen.«

Zu Suzanne gewandt, sprach er mit ruhiger Stimme weiter: »Du und Régis, ihr habt euch schon von meinem Vater beraten lassen. Als ich die Kanzlei von ihm übernommen habe, habe auch ich euch immer nach bestem Wissen und Gewissen unterstützt. Aber was ihr da von mir verlangt, kann ich nicht leisten. Wir können gerne für nächste Woche einen Termin vereinbaren, um die Formalitäten zu klären und die Testamentseröffnung in die Wege zu leiten. Aber mehr kann ich nicht für euch tun.«

Suzanne nickte und schlug die Augen nieder. Auf dem Weg in die Kanzlei hatte sie von ihnen verlangt, nichts von dem Brief und der Erpressung zu erwähnen. Jetzt standen sie da. Sie waren genauso schlau wie vorher.

Als sie wieder im Auto saßen, lehnte sich Alex auf der Rückbank zu Natalie hinüber.

»Was war denn das eben für eine Bemerkung von Simon zu Christophe?«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Natalie legte eine Hand in seinen Nacken und zog ihn näher zu sich heran. »Simon sollte vor einigen Monaten einen Immobiliendeal notariell begleiten. Aber er war–«

»Er war der Meinung, dass ich meinem Kunden einen Knebelvertrag aufs Auge drücken wollte«, beendete Christophe den Satz. Er saß am Steuer seiner Limousine und hatte offenbar ein hervorragendes Gehör. Alex setzte sich wieder in seinen Sitz zurück.

»Keine Sorge, Alex, nichts, worüber ich nicht reden würde. Es ging um eine große Sache, einen Neubau außerhalb von Paris. Simon und ich bekamen uns wegen des Vertrags in die Haare, und er ist von dem Auftrag zurückgetreten. Seitdem ist er nicht mehr gut auf mich zu sprechen.« Er legte eine Hand auf Suzannes Arm, die neben ihm saß. »Es tut mir leid. Vielleicht war es ein Fehler, mitzukommen. Ich hätte es besser wissen müssen.«

Sie aßen gemeinsam zu Abend. Da aber niemandem so recht nach Gesprächen zumute war, verabschiedete sich Alex bald nach dem Essen. Christophe blieb bei Suzanne und Natalie und übernachtete auf dem Sofa. Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen in der Wohnung, um gemeinsam zum Friedhof zu fahren. Dann machte sich Alex zu Fuß auf den Heimweg.

Er war froh über den kurzen Spaziergang. Er hatte überlegt, noch an die Seine zu laufen und dort in der kühler werdenden Nachtluft in Ruhe über das Geschehene nachzudenken. Aber er hatte zu viel gegessen und war hundemüde. Er dachte an das große Bett in seinem luxuriösen Hotelzimmer und freute sich auf eine erholsame Nacht.

5

Freitag, 6.Juni 2014, Paris, Frankreich

Alex war erstaunt, wie viele Menschen sich auf dem Friedhof eingefunden hatten.

Natalie, Suzanne, Christophe und er waren um halb elf auf den berühmten Père-Lachaise gekommen und hatten damit gerechnet, zu diesem Zeitpunkt neben dem Rabbiner nur wenige andere Gesichter zu sehen. Doch die Nachricht, dass ein angesehener Schriftsteller und Bürger der Stadt verstorben war, hatte offenbar viele Pariser berührt.

Schon eine halbe Stunde vor Beginn der Beerdigung standen gut dreißig Menschen in Grüppchen verteilt auf den Wegen im östlichsten Teil des imposanten Friedhofs. Hier, im Quadranten sechsundneunzig, der Division Israélite, hatte sich Régis vor Jahren für viel Geld eine Stätte für seine Familie gekauft. Einen jüdischen Friedhof gab es in Paris nicht. Daher hatten sich Régis und Suzanne darauf geeinigt, den fünfstelligen Betrag für ein Familiengrab auf dem Père-Lachaise auszugeben. Natalie hatte Alex damals erklärt, Régis freue sich sogar ein bisschen darauf, einmal in der gleichen Erde begraben zu werden wie Jakob Rothschild, Édith Piaf und Oscar Wilde. Nun war es also so weit.

Alex empfand diesen Ort als beeindruckend und erdrückend zugleich. Ein Friedhof wie eine Stadt. Die Wege zwischen den Gräbern aus Pflastersteinen und mit Bürgersteigen angelegt. Statuen, die Gräber schmückten. Grabkammern im neugotischen Stil, die als Familiengräber für ganze Dynastien dienten. Und all das errichtet in den Gärten, die einst François d’Aix de Lachaise gehört hatten, dem Beichtvater von LouisXIV., dem Sonnenkönig.

»Du hast dich rasiert!« Natalie riss Alex aus seinen Gedanken. Sie stand vor ihm. »Das ist mir heute Morgen gar nicht aufgefallen. So gefällst du mir besser als mit den Stoppeln.« Sie lächelte und strich ihm mit einer Hand über die glatte Wange.

»Bist du nervös?«, fragte Alex ungelenk, um das Thema zu wechseln.

»Wegen des Gedichts? Ein wenig.« Sie nahm das Buch, das sie in der Hand hielt, und drückte es an sich. Es war der letzte Gedichtband, den Régis veröffentlicht hatte. »Papa hat sich gewünscht, dass ich es an seinem Grab vorlese. Ich hoffe, ich enttäusche ihn nicht.«

»Du schaffst das schon«, versuchte Alex, ihr Mut zu machen.

Beide trugen Schwarz, Alex seinen Anzug, Natalie ein langes Kleid. Ihre Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden und einen eleganten schwarzen Hut aufgesetzt. Sie hatte keinen Schmuck angelegt.

Suzanne und Christophe unterhielten sich mit dem Rabbiner. Sie sahen aus wie die ältere Version von Alex und Natalie, einzig dass Suzanne keinen Hut, sondern ein Kopftuch locker auf ihre Haare gelegt hatte. Alex und Christophe trugen Kippa.

Der Rabbiner blickte auf die Uhr und schaute sich um. Die Trauergemeinde hatte sich mittlerweile weiträumig um das ausgehobene Grab versammelt. Er gab einem wartenden Friedhofswärter ein Zeichen. Augenblicklich wurde es still.

Der Sarg wurde von zwei Männern auf einem Karren über die Pflastersteine gezogen. Es war ein einfacher Holzsarg, so wie es die jüdische Tradition vorsah. Als sie nahe genug waren, hoben sie den Sarg vorsichtig vom Karren und setzten ihn auf Metallstreben über dem Grab, mit denen er später hinabgesenkt werden würde.

Natalie und Christophe hatten Suzanne in ihre Mitte genommen. Alex stand daneben. Er hörte leises Schluchzen, wusste aber nicht, ob es von ihr oder Natalie kam. Auch bei einigen Besuchern sah er Tränen in den Augen. Viele bekannte Gesichter entdeckte er nicht. Das hatte er auch nicht erwartet. Einzig Dr.Forêt, den langjährigen Hausarzt der Villeneuves, machte er aus. Und David Simon, den Notar. Er stand zusammen mit einem älteren Mann, der wahrscheinlich sein Vater war, und seinem Assistenten etwas am Rand der Gesellschaft. Alex hatte den Eindruck, dass er am liebsten wieder gegangen wäre.

Neben sich hörte er den Rabbiner die Trauerrede beginnen. Der Rebbe hatte Régis lange gekannt und würdigte in seiner Ansprache dessen Verdienste um die jüdische Gemeinde in Paris. Régis und Suzanne waren unter den ersten Mitgliedern der Gemeinde nach dem Krieg gewesen. Fast zwei Jahrzehnte lang war Régis Mitglied des Vorstands gewesen.

Alex hörte mit einem Ohr zu und studierte währenddessen die Anwesenden. Dr.Forêt sah mit seinem faltenreichen Knautsch- und Knittergesicht selbst jetzt, da er nicht nur einen Patienten, sondern auch einen langjährigen Freund betrauerte, irgendwie komisch aus. Seine Ehefrau, die ihn begleitete, war hingegen ein Häufchen Elend. So wie viele, bemerkte Alex. Er hatte gedacht, dass die meisten Anwesenden nur aus Anstand oder Neugier gekommen waren. Tatsächlich aber entdeckte er in zahlreichen Gesichtern ehrliche Trauer.