3,99 €
Dieser Roman beruht auf einer wahren Begebenheit. Alles beginnt mit der Geburt eines Mädchens Ende der sechziger Jahre. Das Mädchen kommt mit einer schweren Behinderung zur Welt. Die Familie und die Umgebung kann mit der neuen Situation nicht umgehen. Die Ärzte halten sich an ihren Diagnosen fest. Ganz gleich was geschieht, sie bleiben bei ihrem Standpunkt. Nur die Großeltern sind bereit, sich dem Mädchen anzunehmen. Mit Unterstützung durch die Großeltern beginnt das Mädchen gegen die Behinderung zu kämpfen. Heute ist das leben dieses Mädchens von Liebe erfüllt. Die Behinderung spielt nur noch ein untergeordnete Rolle. Die Orte und Namen der Beteiligten sind frei erfunden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2015
www.tredition.de
Carrey Wacht
Familie in Gefahr
Schrei nach Liebe
www.tredition.de
© 2015 Carrey Wacht
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7323-5992-9
Hardcover:
978-3-7323-5993-6
e-Book:
978-3-7323-5994-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Geschichte begann an einem Morgen im Oktober Ende der sechziger Jahre in dem kleinen Dorf namens Lauf. Der Ort war eingebettet von Feldern, Wäldern, Heide und Mooren. Auf den Feldern wurden Getreide wie Gerste, Hafer, Weizen und Raps angebaut. Als Futtermittel diente Mais. Eine weitere Einnahmequelle für das Dorf war die Viehzucht, die etwas außerhalb lag. In den vorderen Hallen waren Kühe und Rinder untergebracht. Weiter hinten Schweine und etwas abseits Hühner, Gänse und Enten. Die Heide, die umgeben von Kiefern- und Fichtenwäldern war, lud zum Ausspannen und Baden ein. Ein Grund dafür war die Pflanzen- und Tiervielfalt. Wenn die Heide blühte, versank man in einem Blumenmeer. Die Düfte, die in der Luft lagen, schickten die Sinne auf eine Reise. Viele Leute berichteten, dass das der einzige Ort war, an dem sie ihre Probleme vergessen konnten. An besonders schönen Tagen konnte man in den frühen Morgen- und Abendstunden die verschiedenen Tierarten beobachten. Alle zweihundert Meter stand für eben solche Beobachtungen ein Hochstand, der von jedem benutzt werden konnte. Das war auch der Ort, an dem die allgemeinen Festlichkeiten, wie Kinderfeste oder kollektive Nachmittage stattfanden. Die Moore lagen verlassen da. Sie waren Anziehungspunkt für die Kinder und Jugendlichen, die dort auf Abenteuersuche gingen. Nur wenige Personen arbeiteten in Dienstleistungsbetrieben außerhalb. Und noch weniger waren Angehörige der Armee. Die Einwohnerzahl belief sich auf fünfhundert Personen. Somit kannte jeder jeden und wusste auch um die Familienverhältnisse. Es gab eine Hauptstraße, die quer durch den Ort verlief und sechs Nebenstraßen. Die Hauptstraße hatte sich seit dem Krieg nicht verändert. Sie bestand aus Pflastersteinen, die von Zeit zu Zeit ausgetauscht wurden. Gesäumt war die Hauptstraße mit Linden und Pappeln. Die Nebenstraßen waren breitere Feldwege, auf denen zwei Fahrzeuge nur mit Mühe aneinander vorbei kamen. Außerdem gab es eine Bahnstation und dreimal täglich fuhr ein Bus in die Nachbarorte. Die Züge und Busse gaben den Leuten die Möglichkeit die Städte zu erreichen. Das war die einfachste Methode, um Behördengänge zu erledigen oder dort zu arbeiten. Autos hatten nur vereinzelte Familien. Es gab höchstens zehn Familien, die ein Auto besaßen. Diese Familien gehörten der Partei an und arbeiteten in höheren Positionen.
In diesem idyllischen Dorf lebte auch die Familie Narjes. Wie viele Familien in dieser Zeit hatte das Ehepaar Narjes vier Kinder und das fünfte war unterwegs. Frau Narjes arbeitete als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft. Um ihren Arbeitsplatz zu erreichen, musste sie in die dreißig Kilometer entfernte Kreisstadt. Ihr Mann war Versorgungsfahrer in der Armee und die Kinder besuchten die Schule im Nachbardorf bzw. den Kindergarten im Ort.
Obwohl Herr Narjes seit Jahren aufgefordert wurde der Partei beizutreten hielt er seine Entscheidung zurück. Das war auch der Grund, weshalb er nur als Versorgungsfahrer bei der Armee arbeitete. Somit blieb ihnen der Luxus eines Autos und eines Telefonanschlusses verwehrt. Das machte das Leben nicht gerade einfach. Frau Narjes musste jeden Tag früh aus dem Haus und ihr Mann war nur hin und wieder zu Hause. Die Kinder kümmerten sich quasi um sich selbst. Nur gegen Mittag schauten die Großeltern vorbei oder holten das jüngste Kind vom Kindergarten ab.
Der Morgen war kühl und windig, als Frau Narjes bemerkte, dass mit ihr was nicht in Ordnung war. Das Schrillen des Weckers hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Sie hatte ihn eine Stunde früher gestellt, um für ihren Mann das Frühstück vorzubereiten. Da er nach mehreren Wochen endlich wieder zu Hause war, wollte sie ihm eine besondere Überraschung bereiten. Zu diesem Anlass hatte sie sich vorgenommen, Brot selbst zu backen. Außerdem Hühnereier aus dem eigenen Stall zu holen und seine Lieblingsmarmelade dazu zustellen. Doch es kam anders.
Kaum war der Wecker abgeschaltet, es war drei Uhr in der Nacht. Sie wollte sich im Bett aufsetzen, als sie zurücksank in die Kissen. Sie hatte starke Schmerzen. Woher diese kamen, konnte sie sich nicht erklären. Es war kein einfaches Ziehen, wie sich Wehen ankündigten, sondern richtige Krämpfe. In ihrer Verzweiflung weckte sie ihren Mann. Dieser reagierte wütend. „Was willst du von mir? Lass mich schlafen. Du weißt, das du kein Recht hast mich zu stören. Wenn du das vergessen hast, werde ich dich daran erinnern.“ Damit drehte er sich auf die andere Seite und war in wenigen Minuten eingeschlafen. Sie wusste nicht weiter. Die Schmerzen waren so stark, dass sie begann zu schluchzen. Das war so Laut, dass ihr ältester Sohn und seine zwei Jahre jüngere Schwester wach wurden. Unschlüssig, was sie unternehmen sollten, sahen sie sich an. Als sie ihre Mutter erneut hörten, gingen sie ohne weiter zu überlegen Richtung Schlafzimmer. Da ihnen verboten war das Schlafzimmer der Eltern zu betreten, wussten sie nicht, wie sie handeln sollten. Heiko, der seine Mutter nicht länger allein lassen wollte, öffnete vorsichtig die Tür. Er sah seinen schlafenden Vater und die danebenliegende Mutter, die stöhnte. Augenblicklich stieß er die Tür weit auf, blieb aber im Türrahmen stehen. Beim nächsten Stöhnen der Mutter lief Heiko ins Zimmer. Seine Schwester Gundula stand weiterhin draußen. Sie war nicht so mutig wie ihr Bruder. Heiko sah seine Mutter mit schmerverzerrtem Gesicht im Bett liegen und daneben seinen schlafenden Vater. Empört über dieses Bild ging er zu seinem Vater und rüttelte ihn. „Wach auf! Mutter geht es nicht gut!“ Verärgert über die Dreistigkeit seines Sohnes holte er aus, um ihm eine Schelle zu geben. Heiko, der mit so einer Reaktion gerechnet hatte, duckte sich weg. „Was suchst du in unserem Schlafzimmer? Dieses Zimmer ist für euch tabu.“ Jetzt reichte es. Heiko sagte noch einmal ganz deutlich: „Mutter geht es schlecht. Nun kümmere dich endlich um sie.“ Gundula, die sich in der Zwischenzeit ins Zimmer getraut hatte, berührte vorsichtig ihren Bruder. Leise wisperte sie: „Komm raus hier. Das geht uns nichts an.“ Ihr Bruder, der keine Angst vor seinem Vater hatte, blieb an Ort und Stelle stehen. Gundula erkannte wieder, wie ähnlich Heiko seinem Vater war. Beide hatten ein hitziges Temperament und wussten, was sie wollten. Gundula versetzte ihrem Bruder einen Rippenstoß, um ihn zum Rückzug zu bewegen. Er reagierte nicht. So verließ Gundula allein das Zimmer.
Kaum hatte sie die Tür geschlossen, da hörte sie ihre Geschwister, die aufgewacht waren. Bevor sie jedoch bereit war, sich um deren Belange zu kümmern hing sie ihren eigenen Gedanken nach. „Warum ist Heiko so mutig? Ich habe immer Angst, wenn ich unseren Vater sehe. Er ist groß, hat breite Schultern und Muskeln wie ein Bodybuilder. Allein sein Gesicht flößt mir Angst ein. Sein kantiges Gesicht und die dunklen funkelnden Augen reichen schon aus, um auf Abstand zu gehen.“ Durch das Geschrei ihrer jüngeren Geschwister wurde Gundula aus ihren Gedanken gerissen. Sie bemerkte, dass allein ihre Gedanken ihr eine Gänsehaut verursacht hatten. Gundula fröstelte kurz und ging dann weiter zu ihren Geschwistern. Diese waren an diesem Morgen völlig außer Rand und Band. Es dauerte einige Minuten bis Gundula sie beruhigt hatte. Die Ruhe war wohltuend. Doch sie hielt nicht lange an. Gundula hörte, wie etwas zu Bruch ging und ihr Vater Heiko anschrie. Was genau er sagte, konnte sie nicht verstehen. Sie hoffte, dass ihrem Bruder nichts geschehen war. Ihre Geschwister hatten sich vor Angst wie unter der Bettdecke verkrochen. „Bleibt, wo ihr seit. Ich gehe nachsehen, was geschehen ist.“
Als Gundula das Schlafzimmer erreichte stand die Tür offen und außer ihrer Mutter war niemand mehr da. Im Übrigen schien alles in Ordnung zu sein. Hier war nichts zu Bruch gegangen. Gundula ging zu ihrer Mutter und nahm deren Hand, die schweißnass war. „Kann ich dir helfen?“ „Hol deinen Vater.“ Gundula hörte Geräusche aus der Küche. Dort angekommen zeigt sich ein anderes Bild. Ihr Vater stand mit hochrotem Kopf und einer großen Falte auf der Stirn mitten im Raum. Heiko stand in der Nähe der Tür. Sein Gesicht zeigte die gleichen Züge, wie bei ihrem Vater. Auf dem Küchenboden lag zerbrochenes Geschirr. Um nicht zwischen die Fronten zu geraten, hustete Gundula laut. Ihr Vater drehte sich um. Gundula ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Mama braucht deine Hilfe.“ „Sie kann warten. Schließlich muss ich mir mein Frühstück allein zubereiten.“ Heiko und Gundula sahen sich an. Sie hatten die Absicht ihn wachzurütteln. Eines wussten die beiden mit Sicherheit „Ihre Mutter würde nie nach ihrem Mann verlangen, wenn es nicht notwendig wäre. Schon gar nicht das Frühstück hätte sie außer Acht gelassen. Denn auch sie hatte Respekt vor dem Jähzorn ihres Mannes.“
Ihre Mutter war vom Typ das ganze Gegenteil. Sie war klein. Nicht größer als eineinhalb Meter, hatte braunes dauergewelltes halblanges Haar, graugrüne freundliche Augen und war sehr schlank. Sie hatte verschiedene Seiten. Zu ihren Kindern war sie offenherzig und liebevoll. Ihrem Mann gegenüber war sie schüchtern und ängstlich. Die Einzigen, die noch eine andere Seite von ihr kannten, waren ihre Eltern. Sie wussten um die Unerbittlichkeit und Starrköpfigkeit ihrer Tochter. So hatte sie es in nur wenigen Jahren zur Filialleiterin geschafft.
Heiko und Gundula unternahmen einen letzten Versuch, ihren Vater umzustimmen. Beide standen im Türrahmen und Gundula trommelte mit den Fingern dagegen. Gundula war klar, dass dieses Geräusch ihren Vater nur noch wütender machen würde. Trotzdem ging sie das Risiko ein. Ihre Mutter war wichtiger, als alles andere. Es kam so, wie Gundula es mit ihren knapp vierzehn Jahren vorausgesehen hatte. Ihr Vater rastete aus und warf eine Tasse in ihre Richtung. Gundula und Heiko konnten sich dank ihrer schnellen Reaktion rechtzeitig in Sicherheit bringen. Die Tasse flog über ihren Köpfen hinweg und zerschellte auf dem Dielenboden. Heiko war sofort an der Seite seiner Schwester. „Ist dir was passiert?“ Gundula machte eine kaum sichtbare Kopfbewegung, die sagen sollte: „Alles in Ordnung.“ Aber der Schreck stand in ihrem Gesicht geschrieben. Durch das Zerbrechen der Tasse kam ihr Vater zur Besinnung. Ihm wurde endlich bewusst, dass seine Kinder mit ihm gesprochen hatten. Beschämt drehte er sich weg. Dann fragte er, als ob es die letzten Minuten nicht gegeben hätte: „Habt ihr was auf dem Herzen? Kann ich euch helfen?“ „Mutter braucht dich.“ Gundula drehte sich um und zog ihren Bruder mit sich fort. An der Treppe nach oben blieben sie stehen, um zu sehen, ob ihr Vater verstanden hatte.
Es verging einige Zeit, bis er kam. „Habt ihr nichts zu tun? Was lungert ihr da rum? Wolltet ihr mich vielleicht kontrollieren?“ Mit gesenkten Köpfen standen beide da. Das war Antwort genug für ihren Vater. „Was fällt euch ein? Ich weiß, was ihr gesagt habt. Doch einen Kaffe werde ich wohl noch trinken dürfen. Seht zu, dass ihr fortkommt.“ Anschließend ging er zu seiner Frau.
Kopfschüttelnd stand er an ihrem Bett. Seine Gedanken gerieten durcheinander. „Warum bleibt sie liegen? Sie hat Verpflichtungen, die wichtiger sind als ihre Allüren. Ich werde ihr zeigen, wer das Sagen hat.“ Frau Narjes öffnete die Augen. Was sie dann sagte, verblüffte ihren Mann. „Es ist soweit. Das Kind kommt. Ich habe Schmerzen und sie werden immer stärker.“ Er begann zu lachen und gab ihr unmissverständlich zu verstehen, was er von ihrer Aussage hielt. „Du spinnst. Bis dahin ist noch viel Zeit. Bequem lieber deinen faulen Hintern aus dem Bett und erzähl nicht solchen Unsinn.“ Damit noch nicht genug wurde er ironisch. „Ich glaube du weißt besser, als jeder andere, eine Schwangerschaft dauert vierzig Wochen und keine sechsundzwanzig. Hast du nie rechnen gelernt? Wie ich dich kenne, hast du einfach zu viel in dich hinein gestopft. Das ist eine Magenverstimmung und somit dein Problem. Wir können nicht darunter leiden.“ Diese Bemerkung ihres Mannes kränkte Frau Narjes sehr. „Er muss doch wissen, dass ich mit so was keine Scherze mache. Seine unbeteiligte Art macht mich wütend. Was soll es. Ich werde mich fügen.“ Ganz nach dem Wunsch ihres Mannes stand sie auf, um sich ihren alltäglichen Aufgaben zu widmen. Jedem anderen wäre aufgefallen, dass Frau Narjes nichts vorspielte. Sie konnte sich kaum bewegen, ganz zu schweigen vom Laufen.
Es dauerte eine knappe Stunde, bis sie sich angezogen hatte, denn immer wieder sank sie in sich zusammen. Mit gebeugtem Oberkörper und schlurfendem Schritt kam sie in die Küche. Die Schmerzen waren kaum noch auszuhalten. Bei jeder Bewegung stöhnte sie. An das Erledigen ihrer alltäglichen Aufgaben war nicht zu denken. Ihr Mann, der das alles nur als Arbeitsverweigerung seiner Frau abtat, verhöhnte sie. „Du faules Stück, sieh zu, dass du deinen Pflichten nach kommst.“ Je mehr sie sich krümmte und stöhnte, umso lauter lachte er. Immer, wenn sie zusammenbrach, griff er unter ihre Arme und zog sie hoch. Er hatte Spaß an den Quälereien. Erst als sie auf dem Boden liegen blieb und sich nicht mehr rührte, ließ er von ihr ab.
Durch die Geräusche, die nach oben drangen, waren Gundula und Heiko neugierig geworden. Die beiden anderen lagen immer noch unter ihren Bettdecken und waren ganz still. Sie gingen nach unten. Als sie die Küche betraten, sahen sie ihre Mutter zusammengekrümmt auf dem Boden liegen und den Vater über sie gebeugt. „Was ist mit ihr?“, platzte Gundula heraus. Ihr Vater reagierte nicht. Er hob seine Frau auf und trug sie ins Wohnzimmer auf die Couch. „Eurer Mutter geht es nicht gut. Sie wollte nicht auf mich hören. Ich hatte sie gebeten im Bett zu bleiben, aber ihr kennt ja eure Mutter. Ich gehe jetzt zu den Nachbarn und rufe einen Krankenwagen. Einer von euch bleibt bei ihr. Der andere kümmert sich um die Kleinen.“ Damit verließ er das Haus.
Heiko und Gundula schauten sich mit großen Augen an. Das, was ihr Vater ihnen gesagt hatte, konnte nicht der Wahrheit entsprechen. Dafür hatte ihr Vater im Vorfeld viel Stress gemacht. Sie einigten sich, dass Gundula die Geschwister fertig machte und Heiko bei der Mutter blieb. Heiko setzte sich neben seiner Mutter auf den Fußboden und nahm ihre Hand. Sie war schweißbedeckt und kalt. Er bekam es mit der Angst zu tun. „Was soll ich machen, wenn es ihr noch schlechter geht, bevor der Krankenwagen kommt?“ Weiter kam er nicht. Sein Vater war zurück und so schnell. Heiko war froh, dass er die Verantwortung abgeben konnte.
Er ging, um seiner Schwester zu helfen. Diese hatte ihre Geschwister gerade erst ins Bad geschickt und wunderte sich über Heikos erscheinen. „Was ist? Sollst du nicht bei Mutter bleiben?“ „Das brauch ich nicht. Vater ist zurück.“ „Wie hat er das geschafft? Das Haus der Nachbarn liegt fünfhundert Meter entfernt. Er war nur fünf Minuten fort.“ Heiko zuckte mit den Schultern. Auf diese Frage hatte er keine Antwort. Gemeinsam halfen sie ihren Geschwistern sich anzuziehen, um sie anschließend in die Küche zu begleiten. Dort war noch nichts gedeckt. Also halfen alle mit. Gundula und Heiko warteten, bis die anderen begannen zu essen. Dann gingen sie zu ihrer Mutter und dem Vater zurück.
Ihre Mutter lag noch genau so da, wie ihr Vater sie hingelegt hatte. Gundula und Heiko fragten sich, ob ihre Mutter überhaupt noch lebte. In diesem Moment stöhnte sie auf. Sie waren erleichtert und ihr Vater wandte sich ihnen zu. „Wenn der Krankenwagen kommt, fahre ich mit. Ihr seid für die Kleinen verantwortlich.“ Beide nickten zustimmend.
Der Krankenwagen aus der Kreisstadt traf eine Stunde nach dem Anruf ein. Als die Rettungskräfte eintrafen, war Frau Narjes kaum noch bei Bewusstsein. Sie hatte viel Blut verloren. Die Fahrt ins Krankenhaus dauerte dann nochmals eine Stunde. Frau Narjes, die von den Sanitätern versorgt wurde, sagte während der Fahrt nur einen Satz. „Mein Kind.“ Immer, wenn die Schmerzen kamen, versuchte sie diese zu unterdrücken. Denn ihr Mann der bei ihr saß verdrehte entnervt die Augen. Sie wollte ihn auf keinen Fall verärgern.
Kaum im Krankenhaus angekommen wurden die Schmerzen so stark, dass Frau Narjes aufschrie. Die Sanitäter, die sie hineinführen wollten, entschieden sich anders. Sie brachten sie mitsamt der Trage hinein und brachten sie zur Entbindungsstation. Dann sprachen sie kurz mit der anwesenden Hebamme und verabschiedeten sich.
Herr Narjes, dem die Anstellerei seiner Frau gegen den Strich ging, forderte sie auf sich in den Warteraum zu setzen. Sie war so erschöpft, dass sie alles mit sich machen ließ. So nahm er ihren Arm und führte sie hinein. Dort ließ er sie auf einem Stuhl neben der Tür Platz nehmen. Er selbst ging zur Anmeldung, die sich zwei Etagen weiter unten befand. Für Frau Narjes wurde die Zeit zur Ewigkeit. Als ihr Mann zurückkam, fragte sie: „Wo warst du so lange?“ Bei der Anmeldung, wo sonst?“ Er sah auf seine Uhr. „Ich muss los. Die Kinder warten.“ Zum Schluss gab er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.
Allein im Wartesaal mit diesen Schmerzen begann Frau Narjes, sich Gedanken zu machen. „Er hat ja recht damit, dass die Kinder warten. Aber die sind nicht mehr so klein, dass sie nicht warten können. Heiko ist siebzehn, Gundula dreizehn, Marina acht und Daria zwei Jahre alt. Ich weiß, die großen kümmern sich gut um ihre Geschwister. Leider ist Gerald nicht dabei. Warum musste er nur so früh sterben?“ Bei dem Gedanken an Heikos Zwillingsbruder kamen ihr die Tränen. Sie gab sich nach wie vor die Schuld daran. Sie war damals mit den beiden Jungen unterwegs zu ihren Eltern. Gerald riss sich auf dem Weg dorthin von der Hand seiner Mutter los und lief auf die Straße. Er war damals drei Jahre alt. Ein Auto, das in dem Augenblick auf eben dieser Straße fuhr, hatte keine Chance den Unfall zu verhindern. Der Autofahrer erfasste den Jungen frontal. Als er auf dem Pflaster aufschlug, war er bereits tot. Dieses Unglück hatte Frau Narjes vorsichtig werden lassen. Sie kontrollierte ihre Kinder mit Argusaugen. In ihrer jetzigen Situation wünschte sie sich nur Hilfe.
Ihr Mann, der mit einem Taxi auf dem Heimweg war, hing ebenfalls seinen Gedanken nach. „Hoffentlich ist es ein Junge. Vierzehn Jahre ist es her, dass Gerald durch ihre Schuld starb. Sie ist es mir einfach schuldig, mir einen Sohn zu schenken. Meinetwegen kann sie die nächsten Monate im Krankenhaus bleiben. Schließlich möchte ich einen gesunden Jungen in meinen Armen halten. Einen Jungen, der mir ähnlich ist.“ Der Gedanke an seinen toten Sohn kam so überraschend, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Herr Narjes, der für gewöhnlich kein gefühlsbetonter Typ war, versuchte die Gefühle zu unterdrücken. Er war derjenige, der Menschen hasste die Gefühle zeigten. Für ihn war das zeigen von Gefühlen ein Zeichen von Schwäche. Deshalb war er für einen Augenblick irritiert. Für kurze Zeit schloss er die Augen und versuchte seine Tränen zu unterdrücken. Keiner sollte sehen, wie es ihm ging und schon gar nicht der Taxifahrer. Erst jetzt erkannte er, wie sehr ihm der Verlust seines Sohnes zugesetzt hatte. „Warum bin ich noch nicht darüber hinweg? Ich bin immer noch davon überzeugt, dass meine Frau die Schuldige ist. Warum hat sie damals nicht besser aufgepasst? Ist das vielleicht der Grund, weshalb ich sie nicht respektieren kann?“
Der Taxifahrer bremste abrupt ab. Dadurch wurde Herr Narjes aus seinen Gedanken gerissen. „Was soll das!“ schrie er den Taxifahrer an. Dieser reagierte souverän. „Immer mit der Ruhe. Ich wollte den Fuchs, der die Straße überquerte nicht überfahren.“ „Was interessiert mich das Getier aus dem Wald? Ich muss nach Hause. Wenn Sie weiterhin so dahin schleichen, überlege ich mir, ob ich den vollen Fahrpreis bezahle.“ „Nun ist es aber gut. Ich fahre ja schon. Sie sollten vielleicht darüber nachdenken, was geschehen wäre, wenn ich das Tier überfahren hätte.“ „Nichts. Außer, dass ich pünktlich zu Hause wäre.“ Der Taxifahrer wurde dieser Diskussion überdrüssig. Er startete den Wagen und es ging weiter. Zwanzig Minuten später hatten sie das Ziel erreicht. „Sechzig Mark bitte.“ „Vergessen Sie es. Ich gebe Ihnen dreißig und damit gut.“ „Ich sagte sechzig und dabei bleibt es. Wenn Sie nicht zahlen, rufe ich die Polizei.“ Herr Narjes überlegte einen Moment. „Lohnt sich der Ärger? Wie sieht es aus, wenn ich Probleme mit der Polizei bekomme. Was sagt mein Chef, wenn er davon erfährt? Das Risiko ist mir zu groß.“ Er holte seine Brieftasche heraus und gab dem Taxifahrer den verlangten Betrag. Der bedankte sich mit einem Lächeln.
Herr Narjes blieb an Ort und Stelle stehen. Wieder holten ihn seine Gefühle ein. „Was geschieht mit mir? Mir kommen schon wieder die Tränen. Gibt es jemanden, mit dem ich reden kann? Nein. Ich bin kein Schwächling. Gehe ich jetzt zur Familie oder Freunden werden sie mich auslachen und sagen ich bin verrückt. Und damit hätten sie vielleicht auch recht. Ich muss dass für mich klären.“ Er ging ins Haus und fand es verlassen vor. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. Auf dem stand geschrieben: „Bringen Daria in den Kindergarten. Anschließend gehen wir mit Marina zur Schule. Im Anschluss machen wir uns auf den Weg. Mit Oma und Opa sprechen wir auch. Gruß Heiko und Gundula.“
Herr Narjes war erleichtert, dass er sich um nichts mehr kümmern musste. Der Morgen war einfach zu anstrengend. Er sah auf die Uhr und erschrak. „Ich muss meinen Chef anrufen. Vor einer Stunde hätte ich schon da sein müssen.“ Umgehend machte er sich auf den Weg zu seinen Nachbarn, um von dort zu telefonieren. Sie waren nicht da. Also blieb ihm nichts anderes, als ins Dorf zu laufen. Verärgert über den weiteren Zeitverlust schimpfte er vor sich hin. „Wenn man jemanden braucht, ist keiner da.“ Glücklicherweise begegnete er keiner Menschenseele. Sein Chef, dem er die Situation erklärte, stellte ihn für drei Tage frei. Darüber war er sehr erleichtert.
Zurück in seinem Haus machte er sich keine Gedanken über die anstehenden Aufgaben. Froh darüber endlich allein zu sein nahm er sich ein Bier und setzte sich in seinen Lieblingssessel.
Im Krankenhaus überschlugen sich die Ereignisse. Frau Narjes, die seit einiger Zeit im Warteraum saß, wurde von niemandem beachtet. „Haben die mich vergessen? Ich brauche schnell Hilfe. Was ist hier los? Hat mein Mann die Situation anders dargestellt, als sie ist? Hat die Hebamme das Gespräch mit den Sanitätern vergessen? War es mein Fehler? Hätte ich auf der Trage liegen bleiben sollen?“ Antworten auf all diese Fragen fand sie nicht.
Plötzlich durchzog ein Schmerz ihren Körper, dass sie aufschrie. Gleichzeitig rutschte sie vom Stuhl auf den Boden. Der Schrei war so laut, dass eine Schwester angelaufen kam, um zu sehen, wer da schrie. Irritiert sah sie eine Frau am Boden liegen. „Wo kommt die her?“ Ohne zu überlegen drückte sie den Alarmknopf.
Innerhalb weniger Minuten waren zwei weitere Krankenschwestern und eine Hebamme zur Stelle. Diese erkannte die Situation und gab den Schwestern eindeutige Anweisungen. „Holt mir sofort eine Trage. Mit vereinten Kräften hatten sie die Frau ohne Namen auf die Trage gehievt. Da niemand wusste, auf welche Station diese Frau gehörte, begann die Hebamme alle Stationen anzurufen. Von der Anmeldung bekam sie die Nachricht, dass vor zwei Stunden eine Frau Narjes eingeliefert wurde mit starken Bauchschmerzen. Die Sanitäter hatten davon gesprochen, dass sie etwas von einer Schwangerschaft erzählt hatte. Nach diesen Aussagen war die Hebamme sich immer noch nicht sicher, auf welche Station die Frau sollte. Sie versuchte, einen Arzt zu erreichen. Anscheinend war keiner frei. Die Frau, die da auf der Trage lag, zeigte keine Anzeichen einer Schwangerschaft. „Entweder ist sie am Anfang oder hat tatsächlich nur Krämpfe.“
Als die Hebamme zurück war, schrie Frau Narjes erneut auf. Im selben Moment platzte die Fruchtblase und die Trage war in kürzester Zeit durchweicht. Die Schwestern und die Hebamme sahen sich mit großen Augen an. So etwas erlebten sie schließlich nicht jeden Tag. Für die Schwestern, die erst in der Ausbildung waren, war es das erste Mal, dass sie eine bevorstehende Geburt miterlebten. Jetzt gab es nur noch den Weg in den Kreißsaal. Die Hebamme übernahm die Leitung. „Holt mir umgehend einen Arzt.“ Die Schwestern nickten und machten sich davon. Sie schob die Trage in den Fahrstuhl und drückte den Knopf für die vierte Etage. Keine drei Minuten später öffneten sich die Fahrstuhltüren.
Die Hebamme brachte Frau Narjes auf direkten Weg in den Kreißsaal. Dort bereitete sie die anstehenden Untersuchungen vor. Sie bereitete gerade ein schmerzlinderndes Mittel vor, als Frau Narjes wieder aufschrie. Die Hebamme wendete sich ihr zu. „Das Kind kommt.“ War der Satz, den sie zu hören bekam. Dann folgte auch bereits die nächste Aussage. „Das Kind ist da.“ Erschrocken über Frau Narjes Worte, begann die Hebamme sie zu entkleiden. Sie wollte der Aussage, dass das Kind schon da sei, nicht so recht Glauben schenken. Schnell wurde sie eines Besseren belehrt. Beim Ausziehen der Unterwäsche fiel ihr gewissermaßen ein Kind in die Arme. Dieses Kind war kaum größer, als die Handfläche der Hebamme. Geistesgegenwertig griff diese nach einer Decke und wickelte das kleine Wesen darin ein, um es vor Auskühlung zu schützen. Im Anschluss durchtrennte sie die Nabelschnur. Trotz der jahrelangen Erfahrung hatte diese Situation sie etwas aus der Fassung gebracht. Sie überlegte, um wen sie sich zuerst kümmern sollte, die Mutter oder das Kind. Nach wenigen Augenblicken wurde sie sich bewusst, dass etwas nicht stimmte. Jedes Kind, welches sie bis dahin zur Welt gebracht hatte, schrie. Dieses nicht. Da der diensthabende Arzt immer noch durch Abwesenheit glänzte, drückte sie den Alarmknopf dauerhaft. Dabei hielt sie immer noch das Kind auf dem Arm.
Es dauerte keine Minute und der Arzt kam im Laufschritt herein. Die Hebamme erklärte nichts, sondern drückte ihm nur das Kind in den Arm. Er warf einen kurzen Blick darauf und verließ ebenso schnell den Kreißsaal, wie er ihn betreten hatte.
Die Hebamme blieb bei Frau Narjes und versuchte diese zu beruhigen. Frau Narjes, die etwas durchgeatmet hatte, fand diese Situation sehr suspekt. „Was geht hier vor sich? Ich dachte der Arzt käme, um die Hebamme zu unterstützen. Die beiden sollten jetzt eigentlich mein Kind untersuchen. Warum sagt mir keiner ob es ein Junge oder ein Mädchen ist?“ Das war dann auch die Frage, die Frau Narjes laut stellte. Die Antwort war kurz und knapp. „Es ist ein Mädchen.“ Kurze Zeit später kam der Arzt mit dem Kind zurück und legte es Frau Narjes in den Arm. Er sagte aber kein Wort. Frau Narjes legte ihr Mädchen an die Brust, wie sie es mit allen anderen auch getan hatte. Doch vonseiten des Kindes kam keine Reaktion auf die Berührungen ihrer Mutter. Frau Narjes war verwirrt. Da sie aber so geschwächt war von den Stunden vor der Geburt sagte sie nichts. Die beängstigende Stille im Raum setzte Frau Narjes zu. Eigentlich sprachen die Anwesenden miteinander oder den Müttern. Hier war es wie in einer Leichenhalle, toten still.
Der Arzt starrte nur auf sie und das Kind. Frau Narjes begann, angesichts dieser Situation zu frösteln. Nach einigen Minuten fand sie die Kraft den Arzt, der im Begriff war zu gehen anzusprechen. „Was ist mit meinem Kind? Das Kind ist mir viel zu ruhig. Es fühlt sich an, als hätte ich eine Puppe auf dem Arm. Er drehte sich zu Frau Narjes um. Dabei fiel sein Blick auf das Kind. Mit drei Schritten war er am Bett. Bevor Frau Narjes sich versah, entriss er ihr das Kind. Fluchtartig verließ er erneut den Kreißsaal.
Frau Narjes verstand nun überhaupt nichts mehr. „Das ist wie in einem schlechten Film. Der Arzt nimm das Kind, bring es mir und entreißt es mir. Was geht hier vor sich? Dieser Tag ist verhext. Erst vergisst man mich und jetzt dieses Theater. Kann vielleicht jemand Klartext mit mir reden?“ Die Hebamme hatte zwischenzeitlich auch den Kreißsaal verlassen. So war Frau Narjes mit ihren Fragen allein. Frau Narjes versuchte, zu schlafen. Doch die Fragen in ihrem Kopf ließen sie nicht zur Ruhe kommen.
Die Hebamme kam zu Frau Narjes zurück. „Ich habe ihren Mann über die Geburt informiert.“ Mehr sagte sie nicht. Dabei machte sie ein Gesicht, wie bei einer Beerdigung. „Warum schauen Sie so traurig? Ist mit meinem Kind alles in Ordnung? Wie heißen Sie eigentlich?“ Die einzige Frage, die ihr beantwortet wurde, war die nach dem Namen. Ich bin Hebamme Margarethe.“ Im Übrigen wich sie den Fragen aus. „Sie müssen schlafen, um zu Kräften zu kommen. Alles andere hat noch Zeit. Wir kümmern uns gut um ihr Kind.“ Damit war sie auch schon wieder draußen. „Warum bin ich nach wie vor im Kreißsaal? Normalerweise kommt man doch in ein Zimmer. Dieses verdammte Krankenhaus. Ich hätte nicht auf meine Frauenärztin hören sollen. Wenn ich zu Hause entbunden hätte, wäre alles einfacher gewesen.
Herr Narjes, dem nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus alles gleichgültig war, begann zu überlegen. „Wie soll das hier weiter gehen? Hausarbeit und Kinderbetreuung liegen mir nicht.“ Weiter kam er nicht. Es klopfte an seiner Tür. Es war Frau Becher. Die Nachbarin von dessen Telefon er am Morgen den Krankenwagen gerufen hatte. Nachbarin ist in diesem Zusammenhang etwas zu viel gesagt. Es war eben die Familie, die am dichtesten am Haus der Familie wohnte. Wie schon erwähnt, lagen die Häuser gut fünfhundert Meter auseinander. Das Haus der Familie Narjes lag mitten im Wald. Durch die Abgelegenheit zum Dorf wurde das Haus auch Einsiedlerhaus genannt. Die Bechers, die selbst keine Kinder hatten, waren sehr hilfsbereite Leute. „Entschuldigen Sie die Störung. Das Krankenhaus hat sich gemeldet. Die Schwester am Telefon wollte nur mit Ihnen sprechen. Nachdem ich erklärt hatte, sie müsse etwas länger warten, übermittelte sie mir eine Nachricht. Ich bin auch gleich rüber gekommen.“ Frau Becher erwartete eine Reaktion auf ihr Erscheinen. Ihr Gegenüber stand nur da und blickte hartnäckig geradeaus. Also machte Frau Becher noch einen Versuch. „Herr Narjes, das Krankenhaus hat sich gemeldet.“ Nun reagierte er. „Was ist los?“ Als Herr Narjes den Mund aufmachte, kam Frau Becher ein starker Alkoholgeruch entgegen. Entsetzt wich sie etwas zurück. „Nun reden Sie. Was hat das Krankenhaus gesagt?“ „Ihre Frau hat das Kind geboren.“ „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“ „Das hat man mir nicht mitgeteilt. Aber Sie können mitkommen und dann selbst im Krankenhaus anrufen.“ „Später.“ Damit schlug er ihr die Tür vor der Nase zu.
Entsetzt über diese Abfuhr ging Frau Becher nach Hause. Dort erzählte sie ihrem Mann, wie sich der Nachbar verhalten hatte. „Ich konnte ihm seine Frage ob es ein Junge oder ein Mädchen ist nicht beantworten. Daraufhin schlug er mir die Tür vor der Nase zu. Außerdem roch er sehr stark nach Alkohol. Das Wort „Danke“ scheint er auch nicht zu kennen.“ Herr Becher schüttelte den Kopf, als er den Ausführungen seiner Frau folgte. „Wir sollten uns überlegen, was wir unternehmen. So ein Mensch kann sich doch nicht um Kinder kümmern. Ich werde mit den Großeltern der Kinder sprechen. Sie wissen vielleicht eine Lösung.“ „Sollen wir uns da wirklich einmischen?“ „Hast du einen anderen Vorschlag?“ Seine Frau blieb stumm. Also beschloss er, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Herr Narjes war immer noch schockiert von der Nachricht. Anstatt sich das Angebot der Nachbarin durch den Kopf gehen zu lassen, griff er sich das nächste Bier. Stunden vergingen. Erst als der Briefträger klingelte, setzte sich Herr Narjes wieder in Bewegung. Dieser brachte ein Päckchen von Verwandten. Was da drin war, wollte er nicht wissen. Um sich nicht weiter darum kümmern zu müssen, stellte er es kurzerhand in die Speisekammer. „Soll ich nicht doch im Krankenhaus anrufen? Ich könnte aber auch erst zu den Schwiegereltern gehen, um sie zu informieren. Aber was soll ich ihnen erzählen? Erst der Anruf, dann die Familie.“
Auf dem Weg zu den Nachbarn ging ihm ein seiner Wünsche durch den Kopf. „Ich muss alles dafür tun, um endlich einen eigenen Telefonanschluss zu bekommen. Das Telefonieren bei den Nachbarn verletzt meine Privatsphäre. Warum habe ich mich nicht mehr ins Zeug gelegt. Nach meinem Telefonat mit dem Krankenhaus werde ich zu meinem Chef gehen. Ich werde ihm meine Entscheidung, dass ich bereit bin, in die Partei einzutreten mitteilen. Außerdem werde ich ihn fragen, ob es immer noch die Möglichkeit zur Fortbildung gibt. Wenn ich die Fortbildung bestehe, gehöre ich zum Führungsstab. Ich werde, wenn es sein muss vor meinem Chef auf die Knie fallen.“
Zu der Zeit hatten nur Polizisten, Soldaten mit höherem Dienstrang, Ärzte und hohe Parteifunktionäre einen Anspruch auf den privaten Telefonanschluss. Bei den Bechers konnte er telefonieren, weil der Mann Veterinär war. Herr Narjes hasste es, von anderen Menschen abhängig zu sein. Er fühlte sich seiner Unabhängigkeit beraubt. Als er klopfte, wurde ihm sofort geöffnet. Vor ihm stand Frau Becher. Mit gesenktem Kopf sagte er: „Ich möchte mich für mein Verhalten von vorhin entschuldigen. Außerdem hatte ich vergessen ihnen dafür zu danken, dass Sie unverzüglich gekommen sind. Dürfte ich bitte im Krankenhaus anrufen?“ Einen Augenblick überlegte Frau Becher.
Stunden nach ihrem ersten Zusammentreffen mit dem Mann hatte sich an der Situation nichts geändert. Er roch noch schlimmer nach Alkohol. Dass er sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte, wunderte sie. So bedrückt, wie dieser Mann jetzt vor ihr stand, empfand sie Mitleid. „Kommen Sie herein. Sie wissen ja, wo das Telefon steht. Sie ging weiter in die Küche, um nicht als neugierig abgestempelt zu werden. Das Gespräch dauerte nicht lange. Nach kurzer Zeit stand er in der Küchentür bei den Bechers und fragte: „Was bin ich schuldig?“ Frau Becher winkte ab. „Sie brauchen das Gespräch nicht zu bezahlen. Es war nur ein Kurzes. Ist mit Ihrer Frau und dem Kind alles in Ordnung?“ Diese Frage musste sie stellen, auch wenn es unpassend schien. Vor ihr stand ein Mann, der anscheinend nicht wusste, wie ihm geschah. Er war rot im Gesicht und zitterte leicht. „Es ist ein Mädchen. Mehr weiß ich noch nicht. Die Schwester am Telefon war sehr kurz angebunden und unfreundlich. Sie schien mir nicht zu glauben, dass ich der Mann war. Um mehr zu erfahren, muss ich mit meiner Frau persönlich sprechen. Ich muss weiter. Nochmals herzlichen Dank.“ Damit war er auch schon aus der Tür. „Ob ich sofort ins Krankenhaus fahren sollte? Nein. Das muss warten. Erst muss ich mich darum kümmern, dass die Kinder untergebracht werden.
Sein nächster Weg führte ihn nun zu den Schwiegereltern, den Bohnerts, die am anderen Ende des Dorfes wohnten. Um nicht noch mehr Zeit zu verschwenden, nahm er das Fahrrad. Dort angekommen traf er auf seinen Nachbarn, Herrn Becher. Verwundert über dieses Zusammentreffen fragte er: „Was wollen Sie hier?“ „Das geht Sie nichts an. Einen schönen Tag.“
Er schob sein Fahrrad in den Hof. Bevor er die Haustür erreichte, wurde diese geöffnet. Sein Schwiegervater schien auf ihn gewartet zu haben. „Gut, das du kommst.“ „Was wollte unser Nachbar hier?“ „Nichts was dich betrifft. Komm rein.“ Sie gingen in die Küche. Seine Schwiegermutter hatte bereits Kaffee fertig. Kaum dass er saß, wurde auch schon die erste Frage gestellt. „Was ist mit unserer Tochter und dem Kind?“ „Woher wisst ihr Bescheid?“ „Heiko und Gundula waren hier, bevor sie zur Schule sind. Nun rede.“ „Das Kind ist da. Es ist ein Mädchen. Mehr kann ich auch noch nicht sagen. Ich möchte euch bitten, die Kinder zu nehmen. Ich fahre ins Krankenhaus.“ „Das ist selbstverständlich, dass wir die Kinder nehmen. Fahr zu deiner Frau und mach dir keine Sorgen. Morgen besuchen wir sie.“ Dass er seine Frau im Vorfeld gequält hatte, behielt er selbstverständlich für sich.
So zuvorkommend kannte er seine Schwiegereltern nicht. Eigentlich lehnten sie ihn ab. Sie hatten sich einen anderen für ihre Tochter gewünscht. Sie wollten jemanden an ihrer Seite, der auf Augenhöhe mit ihr stand. Sie hielten ihre Tochter für sehr intelligent. Er hingegen war in ihren Augen nichts als ein dahergelaufener Versager, der nichts auf die Reihe brachte. Es gab nur eines, was er konnte, Kinder in die Welt setzen.
Obwohl sie nicht viel vom Leben ihrer Tochter mitbekamen, ahnten sie, dass vieles nicht so war, wie es schien. Keiner der Familienmitglieder sprach über die Situation in der Familie. Die Großeltern sahen, dass ihre Tochter nicht mehr so unbeschwert war wie früher. Auf dem Rückweg schob er sein Fahrrad, um besser nachdenken zu können. „Das Gespräch lief gut. Mit so einer Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Es ärgert mich, dass die mich am Telefon so behandelt hat. Eigentlich bin ich derjenige, der die Leute zurechtweißt. Warum habe ich keine genaue Auskunft bekommen? Muss es schon wieder ein Mädchen sein? Daran sieht man, dass es keine höhere Macht gibt. Sonst wäre mein Wunsch erhört werden. Meine Frau hat Glück, dass sie soweit weg ist. Sonst würde ich ihr klar und deutlich sagen, was ich von ihr halte.“ Seine Wut und die Enttäuschung über diese Nachricht waren unermesslich.
Zurück an seinem Haus stieß er seinen Entschluss in die Klinik zu fahren um. Also ging es zurück zu den Schwiegereltern, die mehr als verwundert waren ihn so schnell wieder zu sehen. „Heute braucht ihr die Kinder nicht zu nehmen. Das erste Gespräch möchte ich mit ihnen führen. Morgen fahre ich ganz bestimmt ins Krankenhaus. Somit kommen dann die Kinder zu euch. Ihr müsst eure Fahrt ins Krankenhaus verschieben. So ist es das Beste.“ Sie verstanden seinen Wunsch und waren bereit ihre Pläne zu verschieben. Das gab ihnen die Gelegenheit die Kinder etwas zu verwöhnen. Dazu gab es nur sehr selten Gelegenheit.
Als ihr Schwiegersohn gegangen war, machte sich die Großmutter an die Vorbereitungen für den nächsten Tag. Sie schrieb einen Einkaufszettel, mit dem sie ihren Mann in den einzigen Laden es Dorfes schickte. Sie wollte das Lieblingsessen der Kinder vorbereiten. Den größten Teil der Lebensmittel hatten sie im eigenen Garten. Es fehlten nur Kleinigkeiten. Ihr Mann ließ sich nicht lange bitten. Die Zeit ohne ihren Mann nutzte sie, um die Zimmer der Kinder herzurichten. Anschließend machten sich beide an die Arbeit. Sie kümmerte sich um das Hauptgericht und die Nachspeise, während ihr Mann Kuchen backte. Als gelernter Bäcker und Konditor die passende Aufgabe für ihn.
Auf dem Rückweg von den Schwiegereltern fuhr er am Kindergarten vorbei und holte Daria ab. Er begann das Essen vorzubereiten, während Daria in ihrem Zimmer spielte. Kurze Zeit später standen dann auch die anderen Kinder in der Tür. Die erste Frage, die Heiko und Gundula stellten, kam nicht überraschend. „Gibt es Neuigkeiten?“ „Wartet, bis alle am Tisch sitzen.“ Damit wussten beide: Antworten mussten warten. Heiko half seinem Vater und Gundula kümmerte sich um die anderen. Zwanzig Minuten später saßen alle am Tisch. Marina und Daria schauten sich verwundert um. Gundula konnte ihre Gedanken erraten. Sie suchten ihre Mutter. Da auch ihrem Vater die Blicke nicht entgangen waren, fragte er aufgebracht: „Warum schaut ihr so komisch? Gibt es ein Problem? Habe ich was vergessen oder hattet ihr einen schlechten Tag?“ Die Mädchen antworteten nicht, sondern sahen hartnäckig auf ihre Teller. Nun räusperte sich ihr Vater. „Ich muss euch etwas sagen. Eure Mutter ist heute früh ins Krankenhaus gekommen. Es ging ihr nicht gut.“ Für Heiko und Gundula war es keine Überraschung. Schließlich waren sie dabei gewesen. Marina und Daria bekamen große Augen und schluckten. „Vor einer Stunde bekam ich die Nachricht, dass euer Geschwisterchen da ist.“ Die Nachricht schlug bei den Kindern ein, wie eine Bombe. Sie wollten sofort zu ihrer Mutter. Ihr Vater beschwichtigte sie. „Heute wird das zu spät. Ihr müsst eure Hausaufgaben erledigen und Daria braucht ihren Schlaf. Morgen sehen wir weiter.“ Murrend taten die Kinder, was ihnen aufgetragen wurde. Bevor sie sich versahen, ging der Tag seinem Ende entgegen.
Am nächsten Morgen bedrängten sie ihren Vater erneut. Doch ihr Vater blieb hart. „Für euch ist es besser, in die Schule und den Kindergarten zu gehen. Ich verspreche, dass ihr bald zu eurer Mutter und dem Baby dürft.“ Alle wussten, sie mussten sich auf das Versprechen ihres Vaters verlassen. So machten Heiko, Gundula und Marina sich auf den Weg. Daria blieb bei ihrem Vater. Für sie war es noch viel zu früh.