Familienroman - Ivana Sajko - E-Book

Familienroman E-Book

Ivana Sajko

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Beschreibung

Vier Generationen und eine Erzählerin, die sich den Tücken der Erinnerung stellt. Ivana Sajko erzählt vom Partisanenkampf im Zweiten Weltkrieg, von der Titozeit und vom Himmel über Zagreb, vom letzten Krieg in Europa und von Liebe und Tod. Ratlosigkeit und Hoffnung wechseln sich ab mit Idealismus und Enttäuschung, das Private kreuzt das Öffentliche, die Geschichte einer kleinen Familie die große Geschichte unseres Kontinents.

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Seitenzahl: 155

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Sonar 30

Ivana Sajko ist Autorin, Regisseurin, Performerin, Mitgründerin der Theatergruppe »BAD co.« und Redaktionsmitglied des Kunstmagazins »Frakcija«. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und ist Chevalier de l’ordre des Arts et Lettres. Auf Deutsch erschienen bisher Rio Bar, Archetyp: Medea. Bombenfrau. Europa, Trilogie des Ungehorsams und Auf dem Weg zum Wahnsinn (und zur Revolution). 2018 wurde sie für Liebesroman mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.

Alida Bremer übersetzte zahlreiche Romane, Theaterstücke, Essays, Gedicht- und Erzählbände aus dem Kroatischen ins Deutsche; sie schreibt in deutscher und kroatischer Sprache und lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Münster. Für Voland & Quist hat sie die Bücher von Edo Popović, Roman Simić und Ivana Sajko übersetzt. Für Liebesroman wurde sie 2018 als Übersetzerin mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.

This project has been funded with support from the European Commission. This publication reflects the views only of the author, and the Commission cannot be held responsible for any use which may be made of the information contained therein.

Die Übersetzerin bedankt sich beim Deutschen Übersetzerfonds, der die Arbeit am vorliegenden Text gefördert hat.

Originaltitel: Povijest moje obitelji od 1941. do 1991, i nakon, erschienen bei Meandarmedia, Zagreb 2009

© Ivana Sajko

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

1. Auflag e 2020

Verlag Voland & Quist, Berlin, Dresden, Leipzig, 2020

© der deutschen Ausgabe by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Kristina Wengorz

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

eISBN 978-3-86391-278-9

www.voland-quist.de

Ivana Sajko

Familienroman

Die Ereignissevon 1941 bis 1991und darüberhinaus

Aus dem Kroatischenvon Alida Bremer

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

1.

Ich habe drei Jahre meines eigenen Lebens gebraucht, um jene fünfzig kurz zusammenzufassen, die mir scheinbar überhaupt nicht widerfahren sind. Ich habe sie als Nachwirkung geerbt, ich habe sie nicht gewählt, sie sind mir geschehen, so, wie jedem Menschen die Stadt geschieht, in der er geboren wird, oder die Familie, zu der er gehören wird, oder die Sprache, in der er zu sprechen beginnt … und die ihn dann fertigmachen. In aller Stille. Ohne böse Absichten. Aber eben doch.

Deshalb besteht dieser kurze Bericht aus mindestens drei Geschichten.

Die erste ist die Geschichte meiner Familie, meiner Urgroßmütter, meiner Großmütter, meiner Großväter, meiner Mutter und meines Vaters, ihrer Einschusslöcher, der Glocken in ihren Köpfen und der Mäuse unter dem Bett. Sie blicken in die Zukunft, ohne jede Überraschung, wie Klees Angelus Novus. Sie starren mit aufgerissenen Augen vor sich hin und schreien lautlos in ihren kleinen Küchen. Dieses Buch ist die Reaktion auf ihre Stille.

Die zweite ist die Geschichte Zagrebs, niedergeschrieben in Diskontinuität und in Beschleunigungen, die vor den Allgemeinplätzen der kollektiven Erinnerung auf völlig private und zufällig festgehaltene Jahrestage ausweichen. Ich wollte zeigen, dass es unzählig viele Arten gibt, über Tatsachen zu sprechen. Keine einzige davon bildet die Wahrheit ab. Die Verkündung des Unabhängigen Staates Kroatien 1941. Die Befreiung Zagrebs 1945. Die große Überschwemmung 1964. Die Flugzeugentführung 1976. Titos Tod 1980. Bla, bla, bla. Lauter Märchen. Jeder hat sie den eigenen Kindern auf andere Weise erzählt. Das, was man mir erzählte, ist nicht dasselbe, was man den anderen erzählt hat. Aber sie haben es uns immer wieder vor dem Zubettgehen vorgekaut. Jeden Abend erneut. Es wäre leicht, ihnen das zu verübeln.

Die dritte Geschichte konstruiert sich durch meine eigene Auswahl der Ereignisse, der Helden und ihrer Zeugen. Sie ist in sich widersprüchlich, denn ich habe absichtlich Dokumente, Kommentare, Erinnerungen und Sätze ausgewählt, die miteinander in Konflikt stehen. Ich wollte einen historischen Roman schreiben, auf die einzige Art, die ich für möglich halte, unter Vermeidung sowohl des Genres wie auch jeder Ideologie, wie eine Geschichte, die sich vielleicht gar nicht ereignet hat, die sich eigentlich gar nicht ereignen kann. Wir können nur von ihr träumen und sie später wie einen Traum nacherzählen. Absolut persönlich. Ohne irgendetwas zu behaupten.

Deshalb beginnt sie mit dem Himmel über Zagreb. Dort oben.

2.

Sie läuft über die Wolken und denkt, dass alles möglich ist.

Sie denkt, dass sie denkt, und sie ist nicht dumm, sondern sehr weit oben.

Und es ist Frühling.

Die Kumuluswolken des schönen Wetters quellen über die Dächer, auf den Straßen spielen Kinder, Katzen und Tauben Fangen, und Männer sitzen auf den Terrassen der Cafés und reden und reden und reden und reden … und wirken immer noch harmlos.

Aber das wird nicht lange so gehen, warnt sie ihr Vater. Eigentlich flüstert er.

– Krieg, meine Kleine.

Er wird die nächsten vier Jahre dauern, und danach für immer.

– Es wäre besser für dich, wenn du auf die Erde zurückkommst.

Doch das fällt ihr nicht im Traum ein. Nicht in ihrem Alter. Und nicht auf dieser Höhe.

Sie fliegt.

Und sie ist nicht die Einzige.

Es gibt nämlich viele andere, die auch meinen, dass alles möglich sei, sie denken, dass sie denken, sie denken, dass es zum Beispiel hinreichend sei, ihre Lunge zu füllen, die Luft in einen Ballon zu pusten, nach der Schnur zu greifen und loszufliegen, und sie sind nicht dumm, sondern sie fliegen wirklich – trotz der Gravitation. Hoch und höher, genau wie sie fliegt, von oben ist die Perspektive optimistischer, es scheint, dass die kommunistische Revolution den Durchmarsch der imperialistischen Mächte aufhalten wird, dass der Krieg Zagreb nie erreichen wird und dass sowohl die Kinder als auch die Katzen und auch die Tauben und auch die Cafés auf ihren alten Positionen bleiben werden. Man muss nur unablässig atmen und hineinpusten, die Schnur des Ballons nicht aus der Hand gleiten lassen und sich nicht um das Flüstern und die Warnungen kümmern. Und so atmen sie. Atmen und pusten. Und dann fallen sie.

Darin liegt eben die Pointe.

Sie fallen bereits nach wenigen Seiten, sie zerschellen auf den Bürgersteigen, zerbrechen und rollen dahin wie Kegel und fragen sich, was sie hier unten überhaupt verloren haben, wo sie doch bis vor Kurzem so weit oben waren, wo sie atmeten und pusteten, ganz sicher, dass sie ungeschoren davonkommen werden. Diese Szene wird etwas später folgen, und sie wird tatsächlich einem meisterhaften Wurf gleichen, der mit einem Schwung alle neune wegfegt. Er wird sie niederwerfen, auseinanderpurzeln lassen und am Ende überrollen, und das Wissen darum, dass sie nicht die Einzigen sind, wird es ihnen nicht leichter machen.

Ungeachtet dessen wird es ihnen sehr wehtun.

Und deshalb wiederholt ihr Vater hartnäckig, dass sie zurück auf die Erde herabsteigen soll, dass sie darauf achten soll, was sie sagt und auf wessen Seite sie sich schlägt.

– Am besten auf gar keine.

Und die Mutter sagt ihr, sie möge auf den Vater hören und sich den Quatsch aus dem Kopf schlagen. Sie sagt ihr, sie solle mal Luft ablassen. Dann werde ihr Kopf wieder schwer werden, und sie würde nicht wie eine Taube durch die Luft flattern, die nur darauf wartet, dass jemand sie mit der Schleuder trifft. Übrigens möchte die Mutter wissen, was sie denn den ganzen Tag so treibe? Und mit wem sie denn befreundet sei? Warum komme sie erst abends nach Hause, vor den Augen aller Nachbarn, vor ihren Fenstern, ihren Gartenzäunen und Gucklöchern in den Türen? Und? Was mit wem und warum? Aber die Tochter antwortet nicht. Sie schweigt nur und zuckt mit den Schultern.

Sie können das nicht verstehen.

– Wo warst du?

– Nirgendwo.

– Was hast du gemacht?

– Nichts.

Nirgendwo und nichts? Die Situation ist zu ernst, um nirgendwo sein zu können, um nichts zu machen und ohne gutes Alibi nach Hause zu kommen. Jemand wird sie anzeigen. Früher oder später. Jemand wird aufdecken, dass sie ein zerknittertes Flugblatt der Parteiorganisation in ihrer Tasche hat und dass sie den Tag mit einer Gruppe der Kommunistischen Jugend verbracht hat, die in der Höhle von Medvednica Bomben aus Spänen und Nitroglyzerin zusammengebraut hat, während die anderen den Eingang bewachten, indem sie Ausflügler mit Gitarren mimten. Das alles steht schon im Polizeibericht:

DER HIMMEL ÜBER ZAGREB IST EINE GEFÄHRLICHE UTOPIE DER LINKEN.

DER HIMMEL ÜBER ZAGREB IST EINE KOMBINATION AUS SELBST GEBASTELTEM SPRENGSTOFF UND EINER STRENG VERBOTENEN FIKTION.

WIR MÜSSEN IHN ABSTÜRZEN LASSEN.

Sie warnen sie, dass es besser wäre, eine anständige Arbeit zu finden.

Man muss überleben. Man muss Geld verdienen. Man muss essen.

Nein, sie können das wirklich nicht verstehen. Sie erklären ihr weiter, dass das Geld nicht am Himmel wachse, sondern dass man es schon immer aus dem Asphalt reißen, unter dem Hammer hervorholen, aus den stählernen Zahnrädern der Maschinen herausklauben oder in vollgepissten Treppenhäusern auflesen musste, Treppen, die schmutzig wurden, bevor die Seifenlauge verdunsten konnte, die sie hätte reinigen sollen. Die Mutter zeigt ihr ihre schrumpeligen Hände und ihre aufgeschürften Knie, und der Vater krempelt sich die Ärmel hoch und spannt das Geflecht der Venen an, die sich unter seiner Haut entlangschlängeln. Das sind Beweise. Sie zählen ihr haarklein alle Kontraindikationen für schwere physische Arbeit auf, die sich auf ihre Muskeln, Knochen und innere Organe verteilt haben, von den Rückenschmerzen ganz zu schweigen. Doch sie haben keine Wahl. Das Geld fließt langsam und lustlos. Das Geld fordert tagtägliche Entbehrungen, Aufopferungen, Überstunden und Diät. Das Geld ist empfindlich wie eine Mimose. Es bedarf großer Fürsorge, ununterbrochener Aufmerksamkeit, Schrubben und Polieren, tadellos sauberer Fenster, durch die es vom ungetrübten Sonnenlicht angestrahlt wird, sowie luxuriöser Bedingungen, in denen es sich auf das eigene Wachstum konzentrieren kann. Und deshalb arbeiten sie und arbeiten und arbeiten und arbeiten, das ganze Leben lang, sie arbeiten nur und arbeiten und arbeiten und arbeiten …

… GEGEN EUCH SELBST, unterbricht sie ihre Tochter.

Vielmehr noch: gegen den Fortschritt.

Genau sie sind es, die die Klassenunterschiede vertiefen. Sie sind diejenigen, die den blitzblanken Zustand der Herrschaftshäuser produzieren und die die Norm an ihren Fließbändern übertreffen. Sie sind diejenigen, die das Geld pflegen, das in fremden Händen gedeiht, während auf ihren eigenen Handflächen nie gesunde und üppige Sprosse aufgehen, sondern nur verkümmerte Sprösslinge, resistent gegenüber dem Dahinvegetieren unter schlechten Bedingungen, Sprösslinge, die ihnen immer wieder angeekelt die Früchte verweigern werden.

Ihr seid selbst schuld, sagt ihnen ihre Tochter.

Es muss vorwärtsgehen.

3.

Während eines der letzten dokumentierten Treffen in Zagreb streifen der Dichter Ivan Goran Kovačić und der Schauspieler Vjeko Afrić das Thema Fortschritt. Kovačić erklärt dem Freund, dass sie sich seiner Meinung nach im letzten Stadium einer primitiven Gesellschaft befänden, die bald von einer vollkommen anders organisierten Welt abgelöst werden würde, und er sieht voraus – dabei die Verse der Internationale paraphrasierend –, dass der aufziehende Krieg ihr letztes Gefecht sein werde. Und falls sie ihn überlebten, so fügt er hinzu, würde es so sein, als hätten sie ein ganzes Leben durchlebt. Afrić erwidert, dass ihre Epoche die Epoche der Politik sei und dass man Fortschritt ausschließlich mit politischen Mitteln erreichen könne.1

– Ich denke nämlich, dass auch militärische Mittel politische Mittel sind, und zwar die wirksamsten, und so müssen wir sie anwenden, damit unsere Gesellschaft irgendwann einmal genesen kann. Fanatismus kann man nur durch einen anderen Fanatismus vernichten.

Beim Abschied von Afrić stellt Kovačić fest, dass die einzige Option darin bestehe, sich auf die Seite der Revolution zu stellen.

– Nur die Revolution fasst alles zu einem zusammen. Du denkst durch die Gedanken der Revolution, und du lebst durch ihr Leben. Du hast keine eigenen Gedanken und keine eigenen Gefühle mehr, du hast nur ein Ziel: den Sieg.

Doch der Mutter wird angesichts solcher Gespräche sofort schwarz vor Augen.

Es gibt kein Vorwärts. Es gibt kein Wohin.

Wie oft muss sie es ihr sagen?

Sie können nur rückwärtsgehen, immer nur rückwärts, während jenes, das sich zwischen einem Ende befindet, das ihnen wie ein Anfang vorkommen mag, und dem anderen Anfang, der ihnen wie das Ende erscheinen kann, nur eine feine kreisförmige Linie ist, die sie an der Nase herumführt und dorthin zurückbringt, von wo sie aufgebrochen sind. Hierher. Und hier ist es immer schon schlecht gewesen, und es hat sich immer weiter zum Schlechten entwickelt. Und seit jeher war es schwer, und es wurde immer schwerer, zumindest für solche Menschen, wie sie es sind, die ununterbrochen arbeiten und arbeiten und arbeiten, ja, gegen sich selbst, sie arbeiten und arbeiten und arbeiten nur, das ganze Leben lang, aber es nutzt ihnen nichts, sich zu fragen, warum und für wen, da sie sowieso keine Zeit haben, um sich mit Theorie zu beschäftigen. So sagt die Mutter und buddelt dabei in der Erde herum und holt winzige Schneckengehäuse, Muscheln und versteinerte zarte Fischgräten aus Schlammklumpen hervor, und sie erzählt, dass sich hier einst das Pannonische Meer befunden habe, ein unermesslich großes, kaltes Wasser voller Fische, die im völligen Dunkel lebten, Schlamm saugten, ihre eigenen Schwänze knabberten und die hungrigen Mäuler aufrissen, nach dem raren Plankton schnappend, das oberhalb der festen Knoten der Seeanemonen vorbeizog, außerhalb ihrer Reichweite, während sie in der Tiefe blieben und ihre unter Mühen aufgepäppelten Bäuche vor den Raubtieren und Ungeheuern, die das Meer beherrschten, verbargen. Und als endlich eine große Ebbe sie auf dem schlammigen Gestade am Fuße des Medvednica-Berges stranden ließ, blieben die Umstände die gleichen. So erzählt die Mutter und zeigt mit dem Finger auf ihr windschiefes Haus, ihren schmutzigen Hof, ihren kleinen Schweinestall unter einer wurmstichigen Kirsche und öffnet die Handfläche, auf der die zerbrochenen Gehäuse aus fernen Urzeiten liegen. Schau, sie sind noch immer hier, das heißt, wir sind immer noch hier. Auf dem Meeresboden.

Vielleicht ist das alles nur erfunden, aber so wird es auch im Fach Geschichte gelehrt.

Das Pannonische Meer hat sich am Ende des Tertiärs zurückgezogen und hinterließ verzweigte Flussarme, weitläufige unterirdische Seen, Sumpfgebiete und flache Hügel aus Mergel und Sandstein. Auf diesen Hügeln entwickelten sich um das 11. Jahrhundert die ersten Siedlungen. Jede auf dem eigenen Hügel, am eigenen Bachufer. Sie führten Kriege um Weizen, um Mühlen und um königliche Privilegien, und wenn sie sich nicht untereinander bekriegten, dann kämpften sie gegen die Tataren und die Türken oder gegen die Wildwasser, die die Abhänge des Medvednica herabstürzten. Kriege, Hunger und elementare Katastrophen wechselten sich ab, und in den Perioden zwischen den Unglücken errichtete man Burgen und Wehrmauern, Glockentürme und Verwaltungsgebäude, und man musste den enormen zivilisatorischen Rückstand aufholen. Es dauerte Jahrhunderte. Mit der Zeit bekam eine Siedlung eine Kathedrale, eine andere bekam ein Theater, ein Waffenstillstand wurde geschlossen, wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenarbeit wurde vereinbart, man begann, sich gegenseitig bei Gottesdiensten und Theatervorstellungen zu besuchen, sodass man in historischen Dokumenten immer häufiger betonte, dass die Vereinigung der Stadtteile durch ein Statut geregelt wurde. So entwickelte sich Zagreb, schrittweise, mühevoll, bis es 1880 von einem Erdbeben zerstört wurde.

Viel Mühe, und am Ende hatte es sich nicht gelohnt.

Ihr Haus dient als Bestätigung für alle Behauptungen der Mutter. Es wurde nach dem Erdbeben als zweistöckiges Gebäude im Dorf Pregrad Sava unweit von Zagreb erbaut, aber als im Zuge der allmählichen Anbindung der Vororte an die Stadt die erste Straße aufgeschüttet wurde, versanken die an dieser Straße liegenden Häuser beinahe einen Meter im Boden. Das zweistöckige Haus hatte somit kein Erdgeschoss mehr. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen erfolgte eine zweite Aufschüttung der Straße. Das Niveau wurde wieder um einen Meter angehoben, sodass der Eingang in den Hof zu einer steilen Schräge wurde, auf der in den künftigen Wintern während der Zeit des Unabhängigen Staates Kroatien die Kinder rodeln konnten. Die Fenster der ersten Etage befanden sich plötzlich fast auf der Höhe der Straße. Nach der Ausrufung der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien wurde das Gefälle noch steiler, da die Jugend im Elan des Wiederaufbaus erneut das Niveau der Straße erhöhte und eine Asphaltschicht aufbrachte. Und deshalb wird der Mutter bei Erwähnung jedweden Fortschritts sofort flau im Magen und schwarz vor den Augen, während sich ihr Blick zu den schmalen Schießscharten der Souterrainfensterschlitze verengt, durch die sie, wenn sie alt ist, die Waden der Passanten anstarren wird.

Es gibt kein Vorwärts. Sie solle sich ihre Worte gut einprägen.

Sie werde es schon selbst sehen. Irgendwann einmal.

Die Mutter sagt immer dasselbe, sie hält ihr erstickte Schnecken und Muscheln unter die Nase, sie greift in der Tür nach ihrem Ärmel und wiederholt, dass sie ihre Zeit, ihre Füße und ihre Schuhe schonen, dass sie ihren Weg abkürzen solle. Rückwärts. Sie hat ihr das schon hundertmal gesagt, und sie weiß, dass ihre Tochter sie gehört hat, sie hat gehört, und dennoch hört sie nicht. Diese Weisheiten wird sie erst viel später verinnerlichen. Die Mutter weiß, dass sie es tun wird, doch die Tochter behauptet das Gegenteil und bewegt sich hartnäckig in die entgegengesetzte Richtung: vorwärts!

AUF ZUM LETZTEN GEFECHT.

Die Mutter bekommt von dieser Zeile Magenschmerzen. Sie sagt, dass es am besten wäre, sie würde heiraten. Sie solle einen feschen Junggesellen finden, irgendjemanden, egal, wen, aber hinreichend intelligent, damit man ihn weder sieht noch hört, denn angesichts der Lage bewähre sich eine derartige Zurückhaltung. Sie möge sich umsehen, damit es nicht irgendwann zu spät sein werde, jetzt, solange sie noch wählen könne, bevor der Himmel auf die Stadt herabstürze und alle Uniformen anziehen, an die Front gehen, umkommen oder auf der falschen Seite landen würden. Je früher, desto besser, rät die Mutter, denn ein Zyklon, begleitet von stürmischen Winden und Donnerschlägen, nähere sich.

Zuerst wird Regen und dann werden Bomben fallen.

Sie würde dem Rat vielleicht sogar folgen, sich umschauen und die Gesichter der Männer auf den Terrassen der Kaffeehäuser betrachten, doch am Horizont blitzt es schon, und alle stehen von den Tischen auf, bezahlen, nehmen ihre Hüte und stellen die Kragen ihrer Ballonmäntel auf, und die Bürgersteige leeren sich so schnell, dass sich schon nach wenigen Augenblicken niemand mehr darauf aufhalten wird außer einigen Hunden mit gesträubtem Fell.

Sie hat also ihre letzte Chance verpasst.

1Das Gespräch wiedergegeben nach: Vjeko Afrić, U danima odluka i dilema (In Tagen der Entscheidungen und der Dilemmata), Vojnoizdavački zavod (Militärisches Verlagsinstitut), Belgrad 1975, S. 284–285.

4.

Die Brise ging in einen stürmischen Wind über, Blitze bohrten sich in den Hang des Medvednica, und der schwarze Amboss aus Gewitterwolken zerbarst über den Dächern der Stadt. Das konnte nur ein Frühlingssturm sein, aber man musste ihn als Manifestation von etwas viel Schlimmerem begreifen.

DIE DEUTSCHEN PANZER ROLLEN IN ZAGREB EIN.

Es gibt auch Fotos. Auf einem davon bleibt eine deutsche Panzereinheit vor dem Laden Josip Hertmann und Sohn