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Ein Mann sitzt im Zug, auf der Reise von einem kleinen Ort irgendwo an der südlichen Küste Europas nach Berlin. Im Takt der ratternden Räder lässt er seinen Gedanken freien Lauf. Er erzählt eine Geschichte über die Unmöglichkeit eines erfüllten Lebens, gesellschaftlichen Aufstiegs und über die Hoffnung, diese doch zu erreichen. Das Ergebnis: ein Porträt eine Schriftstellers, der tief in unserer Epoche verwurzelt ist, einer Zeit, in der Grenzen und Grenzerfahrungen zum Alltag gehören und in der die Liebe als unmöglich und dennoch als letzte Rettung anmutet. Ivana Sajko legt eine furiose Erzählung vor, in der bittere Realität und Optimismus aufeinandertreffen – und Hoffnung aufkommen lassen. Meisterhaft übersetzt von Alida Bremer.
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Sonar 34
Ivana Sajko, geboren 1975 in Zagreb/Kroatien, ist Autorin und Theaterregisseurin. Sie arbeitet an der Schnittstelle von Literatur, Performance und Musik und ist Autorin von vier von der Kritik gepriesenen Romanen und mehreren politischen Theaterstücken wie »Archetyp: Medea. Bombenfrau. Europa«, das ein internationaler Erfolg wurde. Auf Deutsch erschienen außerdem »Rio Bar«, »Trilogie des Ungehorsams« und »Auf dem Weg zum Wahnsinn (und zur Revolution)«, alle von Alida Bremer übersetzt. Sie erhielt zahlreiche Preise, darunter den Chevalier de l’ordre des Arts et Lettres.
Alida Bremer wurde 1959 in Split/Kroatien geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Romanistik, Slawistik und Germanistik und promovierte im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft. Sie übersetzte zahlreiche Romane, Theaterstücke, Essays, Gedicht- und Erzählbände aus dem Kroatischen ins Deutsche; sie schreibt in deutscher und kroatischer Sprache und lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Münster. Für Voland & Quist übersetzte sie Bücher von Edo Popović, Roman Simić und Ivana Sajko.
2018 wurden Autorin und Übersetzerin für »Liebesroman« mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.
Ivana Sajko
Roman
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer
Voland & Quist
Das Buch wurde mittels eines Arbeitsstipendiums für Berliner Autorinnen und Autoren, die in nicht-deutscher Sprache schreiben, gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa.
Die Übersetzerin bedankt sich außerdem beim Kroatischen Ministerium, welches die Arbeit am vorliegenden Text gefördert hat.
Originaltitel: Male smrti,
erschienen bei Fraktura, Zaprešić 2021
© Ivana Sajko
Deutsche Erstausgabe
© Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2022
Korrektorat: Kristina Wengorz
Umschlaggestaltung: HawaiiF3
ISBN 978-3-86391-345-8
eISBN 978-3-86391-358-8
www.voland-quist.de
Für Armando und für alle wilden Kindheiten.
Der Aufbruch
Kapitel 1
Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: »Wohin reitest du, Herr?« »Ich weiß es nicht,« sagte ich, »nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.« »Du kennst also dein Ziel?« fragte er. »Ja,« antwortete ich, »ich sagte es doch: ›Weg-von-hier‹, das ist mein Ziel.« »Du hast keinen Essvorrat mit,« sagte er. »Ich brauche keinen,« sagte ich, »die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.«
(Franz KafkaErzählungen aus dem Nachlass 1904–19241)
Mich interessiert ein Schreiben, das vollständig und unablässig aus der Welt schöpft, und zwar nicht ausschließlich als Quelle eines Narrativs oder einer Erzählung, sondern als Quelle expliziter und impliziter Inhalte, die eine unbegrenzte Zahl von Schreibweisen, Stilen und Interpretationen ermöglichen.
(Goran Ferčec im Gespräch,Internetportal Moderna vremena 2016)
– Ich würde dich gerne hören, ich würde dir auch gerne schreiben, aber ich schaffe es nicht, da ich an einen Brief allzu hohe Anforderungen stelle, für die ich keine Zeit und keine Kraft habe. Doch ich denke an dich, du bist eine Person in dem Roman, den ich gerade schreibe, dort heißt du einfach »mein Freund«.
– Noch nie war ich eine Romanperson, nicht einmal in einem meiner eigenen Romane. Ich danke dir.
(Aus den Kurznachrichten an einen Freund,15. Dezember 2019)
1 Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Hg. v. Paul Raabe, Fischer Taschenbuch 1078, Frankfurt/M. 1970, S.320 f.
Ich beginne im Zug mit dem Schreiben, auf dem Weg von Punkt A zu Punkt B, von jenem kleinen Küstenort in Richtung Berlin, ich starre durch das Fenster auf die Reste der Stadt, auf die unvollendeten Häuser an der Peripherie, auf die Lagerhallen des Industriegebietes und auf die verkümmerten Bäume entlang des Flusses, an deren Ästen zerrissene Plastiktüten wie Fledermäuse hängen, es fällt mir schwer, in diesem Abteil zu sein, es fällt mir schwer, in dieser Haut zu stecken, in der Rolle eines Reisenden, ich habe vergessen, wie man reist, wie man sich der Gnade oder der Ungnade einer Wegstrecke überlässt, wie man verzeiht, ich habe vergessen, wie lange ein Mensch einfach stehen bleibt und zurückschaut, zu Punkt A, der immer schneller entschwindet, wie lange er weiter nur so dasteht -steht -steht -steht und gar nichts anschaut, ob ihm dabei die Tränen kommen?, ich öffne das Notizbuch, aber ich habe keine Antwort, ich schreibe: »auf dem Weg von Punkt A zu Punkt B, von jenem kleinen Küstenort in Richtung Berlin, ich starre durch das Fenster auf die Reste der Stadt, auf die unvollendeten Häuser an der Peripherie, auf die Lagerhallen des Industriegebietes und auf die verkümmerten Bäume entlang des Flusses …« und so weiter, ich schreibe auf die einzige Art, die mir zur Verfügung steht, indem ich in Mäandern um das kreise, was mich am meistens schmerzt und was nicht zu ändern ist, da es sich gerade hinter meinem Rücken zu einem Nichts verkleinert, ich wühle im vergangenen Sommer, ich wühle im vergangenen Winter, ich wühle auch im Herbst davor, ich verliere mich in der Ähnlichkeit der gleichen Tage, ich kehre in Nachmittage zurück, die ich zwischen feuchten Laken verbracht habe, auf dem Bett, das vom vielen Alkohol wie ein Sterbebett wirkte, in die Katerstimmungen, die von Depressionen hervorgerufen wurden, in die Depression, die vom Misserfolg verursacht wurde, von der Langeweile, von der Provinz, genauso wie vom Mangel an Talent, meine Not zur Erschaffung eines Meisterwerks zu nutzen, ich höre mein eigenes Schweigen, durch das die Jahreszeiten rauschen, durch das alles zum Teufel geht, während ich einen Tag nach dem anderen zum zehnten zum hundertsten zum zweihundertsten Mal sterbe, während ich aus dem Bett die Schatten beobachte, die sich durch die Ritzen der Jalousien in das Zimmer hereinschleichen, über die Decke huschen und sich von dort über die leeren weißen Wände ergießen, ich mache nichts anderes, ich beobachte nur die Lichter auf den Wänden oder die Muster auf dem Parkett oder meine eigenen Zehen, allzu hölzern geworden, um mich zu bewegen, meine Jahre vergehen, ich stelle nichts mehr dar, hinterlasse keine Spuren außer ab und zu ein paar Zeitungsartikel, die nur das menschliche Elend beschreiben und dementsprechend ebenfalls elend honoriert sind, in derselben Zeit raucht sie in der Küche und starrt durch das Fenster, so wie ich jetzt, sie starrt in das Nichts, zu dem wir uns reduziert haben, und wartet und wartet und wartet auf meinen Abschied, für den ich eine ganze Ewigkeit brauche, da ich mir die Freiheit nehme, meinen Aufbruch aufzuschieben, jene Wände anzustarren, das Parkett und die eigenen Zehen, mich zu bemitleiden und zu wiederholen, dass ich nicht dort hingehöre, so, wie ich nirgendwo hingehöre, dass ich nichts verlange und mir nichts wünsche, außer zu schreiben, aber genau das kann ich nicht das kann ich nicht das kann ich nicht, weshalb ich schweige, obwohl mein Schweigen nur bei ihr und niemandem sonst Narben hinterlässt, genauso, wie niemand außer mir die Bücher, die ich nicht geschrieben habe, vermisst, das ist unser Leben, das war unser Leben, das war unser Leben noch vor einer Woche, das waren unsere Tage, das war mein Kadaver in unserer Wohnung, die ich als unwirtlich bezeichnete, die ich aber nie verließ, sie bezeichnete sie als Schweinestall, obwohl sie alles tat, um zu verhindern, dass diese Wohnung sich tatsächlich in einen Schweinestall verwandelte, sie putzte, kochte und dekorierte die Regalbretter mit Kakteen, sie bemühte sich, damit alles etwas heiterer wirkte, allerdings erfolglos, ich meinerseits bemühte mich gar nicht, ich redete mich heraus mit dem Gedanken, dass ich nur im Vorbeigehen hier sei, dass ich von ihr nichts verlange und nichts erwarte, deshalb könne ich auch nicht verantwortlich sein für ihre Unzufriedenheit, ich suchte nach Ausreden und nahm mir die vorlaute Freiheit, die ein Mann sich gegenüber einer Frau herausnimmt, während sie angeblich diese Freiheit gar nicht benötigt, ich gab vor, ein derartiger Mann zu sein, und bemühte mich, sie in eine derartige Frau zu verwandeln, eine, der durch mein Verschwinden das Recht abhandenkommt, gebunden zu sein, genauso wie der Grund, unglücklich zu sein, in dem Schweinestall, in der Gesellschaft eines depressiven Trinkers, eines angeblichen Schriftstellers und Gelegenheitsjournalisten, zwischen meinem Glas und ihrem Aschenbecher, unter Bedingungen, die man ruhig den Abgrund, in dem die Mehrheit lebte, nennen konnte, und der Abgrund, in dem die Mehrheit lebte, wurde zu unserer Gewohnheit, zu unserem Jahrzehnt, ihre dritte Zigarette am Stück, die sie automatisch angezündet hatte, ohne nachzudenken, während sie die stummen Szenen in den Fenstern auf der gegenüberliegenden Straßenseite betrachtete, die sie an das erinnerten, was wir nie zu werden vermocht hatten, während sie die harmonische Choreografie unserer Nachbarn betrachtete, die offenlegte, dass diese sich nicht aus dem Weg gehen mussten, um zu überleben, ihre mit Büchern und Bildern verzierten Interieure, die eingerichtet waren, um zu bleiben, im Gegensatz zu unseren vernachlässigten Räumlichkeiten, die stillschweigend mit unserer Vorläufigkeit rechneten, im Gegensatz zu unserem Schweigen, das zu unterbrechen wir uns fürchteten, damit wir uns nicht verletzten, im Gegensatz zu unserer Angst vor dem Ende, das uns in jeder Geste unumgänglich einholte, in jedem Seufzer und in jeder weiteren Zigarette, die mit dieser galoppierenden Niederlage der Liebe rechnete, die sich ohne jeden Kampf ergeben wird, ohne jegliche Verhandlungen, in der Totenstille, weshalb jeder unserer gemeinsamen Momente einen eingebauten Rückzieher beinhaltete, weshalb wir aufhörten, uns zu bemühen, ich lag im Bett und las die Nachrichten, lag und starrte die Fotos der Kriegsreporter an, lag und kam liegend in all diesen Kriegen um, lag und fragte mich, wie lange noch, in meinem Notizbuch waren die Blätter leer, nur auf einige hatte ich »SOS« geschrieben, bevor ich mich wieder ins Bett gelegt hatte, in dem ich schlief, trank, aß, onanierte, starb, aber ich stand nicht auf, sie rauchte und litt, manchmal weinte sie, sie übersetzte fremde Bücher, sie weilte mehr und mehr in fremden Köpfen und in der fremden Sprache, sodass wir maximale Distanz wahren konnten, sie konnte sich mir nicht nähern, so, wie ich mich auch ihr nicht nähern konnte, wir waren schon seit Langem zwei absolut Fremde, als sie es sagte, sie sagte es zwischen zwei Zigarettenzügen, und ich stand endlich auf und tat das, womit ich so oft ins Leere gedroht hatte, ich ging fort, ich rettete uns beide, damit ich ihr großes »Ich liebe dich nicht« nicht hören musste, den schön formulierten Satz, den ich nie vergessen werde: »ich liebe dich nicht, ich verbinde meine innere Welt nicht mit dir, ich rechne nicht mit deinem Körper, nicht einmal in den Augenblicken der größten Einsamkeit, ich glaube nicht an unsere Fotografien, nicht einmal dann, wenn wir darauf lachen«, damit ich begreife, dass ich kein Recht mehr habe zu bleiben, für diese Erkenntnis habe ich wirklich eine Ewigkeit gebraucht, und damit ich mich endlich von Punkt A zu Punkt B begebe, beschämt von der Ruhe, mit der sie meine Anwesenheit ertragen hat, während ich überzeugt davon war, dass ich derjenige sei, der ihre Anwesenheit erträgt, ich sagte: »gib mir zehn Tage«, und ich brauchte tatsächlich nur zehn Tage, um wegzugehen und mich hier wiederzufinden – in diesem Zug, der zum Nordosten des Kontinents fährt, während ich immer noch davon träume, sie am Bahnhof zu umarmen, an dem sie nicht erschienen ist –, mein Kopf, den ich mitgenommen habe, war die Wohnung, die ich verlassen musste, ich musste den Müll hinaustragen, ich musste die Wände neu streichen und die Schlüssel zurücklassen, ich musste von Anfang an loslegen, von null beginnen, vom Gestern aus starten, die Tatsache akzeptieren, dass die Inventur der letzten Jahre beinahe nichts ergeben wird: »was ist der fassbare Rest unserer Beziehungen, wenn nicht ein Haufen flüchtiger Erinnerungen und verschüttete Zeit?«, fragte mich einmal ein Freund, »wir haben ein merkwürdiges Alter erreicht, in dem man keinen Wert erkennt außer in der Kapitalisierung aller Ereignisse, sogar der Beziehung, und nun flackert als Neonschriftzug über unseren Köpfen die Frage: was haben wir in all diesen Jahren für unsere Gemeinschaft getan?«, wir haben gar nichts getan, zum Glück nicht einmal ein Kind; das greifbare Kapital unseres gemeinsamen Jahrzehnts ist die vierte Seite, die ich schreibe, während der Zug mich nach Deutschland bringt, der Tag ist düster, bereits in der Morgendämmerung vom Regen durchtränkt, ich suche nach der Art, mit der ich ihn beschreiben, ihm einen Sinn zurückgeben könnte, ich suche in mir nach einer Stimme, die dem Ton und dem Rhythmus der Feuchtigkeit der grauen Landschaft, durch die wir fahren, entspräche, die schließlich auch mir selbst entspräche, dem Menschen, zu dem ich im Liegen geworden bin, der Stimme, die gefasst von Feuersbrünsten, Ruinen und Abschieden erzählen kann, die vielleicht mehr als ich weiß, zum Beispiel, warum sich die Dinge so ereignen, wie sie sich ereignen, oder warum es uns nicht gelungen ist, glücklich zu sein, oder warum man von einem Menschen sagt, er sei fortgegangen, wenn er eigentlich vertrieben wurde, wozu diese Eleganz?, nach dieser Stimme suche ich seit Jahren, aber nicht über das Notizbuch gebeugt, sondern in die Leere starrend, betrunken in die Leere starrend, verkatert in die Leere starrend, auf einen bahnbrechenden Augenblick hoffend, der die erste Seite füllen würde, ich dachte, dass das passieren würde, als mir damals die Kette mit dem Medaillon in die Hände fiel, mein Vater trug sie an der Brust, und sie erreichte mich per Post in einem gelben Umschlag mit Innenfutter aus Luftpolsterfolie, man schickte sie mir, nachdem er in seiner Bruchbude gestorben war, die nur eine Wand von einem echten Schweinestall trennte und die sich auf einem Hügel befand, den er mit dem Gewehr verteidigte, man fand ihn erst zwei Wochen, nachdem seine Leber aufgegeben hatte, als die ausgehungerten Schweine bereits seine Füße gefressen hatten, man nahm ihm die Kette ab und sandte sie mir zusammen mit dem Ausschnitt aus der Lokalzeitung, in dem stand, dass er gebührend bestattet worden war, ich weiß nicht, wie sie mich geortet haben, aber sie fanden mich, ich erwartete, dass mich das nicht schmerzen würde, doch es schmerzte mich schrecklich, vor allem die Leere an der Stelle, an der ein unvergesslicher gemeinsamer Moment hätte stehen sollen, allerdings erinnerte ich mich an unsere letzte Begegnung, seine blutunterlaufenen Augen und dieses Medaillon an der Brust, er klopfte mir auf den Rücken und wiederholte: »Sohn … Sohn … Sohn«, er fragte nicht nach meinem Bruder, er fragte nicht nach unserer Mutter, vielleicht hatte er auch vergessen, dass es sie gab, vielleicht hätte er sich auch meiner nicht erinnert, hätte ich ihm nicht mindestens zehnmal meinen Namen zugerufen, während ich den Hügel hinaufging, trotz der Warnungen der Dorfbewohner, dass er schießen könnte, mein Puls schlug in den Schläfen, er schoss nicht; als ich endlich oben war, wusste er, wer ich bin, er lächelte sogar, er hatte keine Zähne, ich erwartete, dass er nach so vielen Jahren etwas Wichtiges zu sagen hätte, doch er sagte nichts, wir betranken uns, das tat ich auch, als der Brief kam, ich bewahrte die Todesanzeige auf, legte mir die Kette um den Hals und betrank mich, sein Tod hätte mich vielleicht dazu bringen können, mich zusammenzunehmen und mit dem Schreiben zu beginnen, damit ich mich – wie sie zu sagen pflegte – bemühte, »wenigstens ein bisschen«, aber es brachte mich nicht dazu, ich war auch bei jener Gelegenheit betrunken, bei der sie mir sagte, dass sie mich nicht liebe, zwischen zwei Zigarettenzügen und mit einer zitternden Bewegung, mit der sie die Asche in den Aschenbecher schnippte: »wie lange schon?«, »lange«, »wie lange?«, »ich weiß nicht«, ich fragte nicht mehr nach, es ging mir am Arsch vorbei, ich hätte sie hassen sollen, aus irgendeinem Grund glaubte ich, dass ich so leichter die Tatsache verschmerzen würde, dass ich außer ihr niemanden mehr hatte, der mich lieben könnte, von meinem Bruder hatte sich schon seit langer Zeit jede Spur verloren, und meine Mutter besuchte ich jahrelang nicht, ich rief sie ab und zu an und teilte mit ihr jene aufregenden Details der Fiktion, die ich mein Leben nannte, ich fürchtete mich davor, an ihrer Tür zu klingeln und eine alte Frau anzutreffen, der ich versäumt hatte, irgendetwas zurückzugeben, der ich schließlich nicht so geschickt wie am Telefon ins Gesicht hätte lügen können und der ich nicht recht geben wollte, sie sagte ja oft zu mir: »ich habe dir nichts angetan«, und das wollte ich nicht bestätigen, ich war alt genug, um in mir einen Teil davon zu erkennen, was ich ihr einst übel nahm, aber ich suchte nach jener inneren Stimme, mit der ich hätte beschreiben können, dass es mir beispielsweise egal sei, dass ich es mir verzeihe, ich suchte unablässig danach, überall, und so gelangte ich hierher, auf den Sitzplatz mit der Nummer zweiunddreißig in einem Zug, der die ganze Nacht brauchen wird, um nach München zu kommen, wo ich in einen Zug nach Berlin umsteigen werde, wohin ich fahre, ohne dass ich einen Grund für diese Reise definiert habe, außer mich endlich zu verabschieden, mein Notizbuch zu füllen, ohne Vorüberlegungen zu schreiben, so, wie man Briefe an vertrauenswürdige Freunde schreibt, und die Stimme zu finden, die mein Spiegelbild sein wird, vor dem Spiegel stehe ich ganz allein, seitdem sich meine Mutter unauffällig verabschiedet hat, nachdem sie im Voraus alle Details ihrer eigenen Bestattung geregelt hatte, sie hatte sogar das Geld für den Kranz hinterlassen, und die Agentur kümmerte sich um die Reinigung und den Verkauf der Wohnung, sodass ich am Ende nie durch ihre Tür gegangen bin, ich habe mich nie in dieser Wohnung umgeschaut, nie die Uhr angehalten, die hartnäckig weitertickte, nachdem Mutters Zeit abgelaufen war, ich öffnete nicht ihre Schränke, aber ich konnte mir die ordentlich gestapelten Handtücher und die Bettwäsche vorstellen, die nach Leinen duftete, das mit dem Bügeleisen gewärmt worden ist, ich atmete den Geruch nicht ein, den sie hinterlassen hatte, ich bat die Agentur nur, darauf zu achten, dass beim Putzen die Fotos eingesammelt würden, sie gaben mir eine flache Blechdose mit einem Weihnachtsmotiv auf dem Deckel, ich habe bisher noch nicht versucht, sie zu öffnen, aber gestern packte ich meinen Koffer und ging los, niemand begleitete mich, ich küsste niemanden, ich winkte niemandem zu, in der Wohnung blieb ihr nachdenklicher Körper zusammengekauert auf einem Stuhl zurück, unbeweglich wie ein Möbelstück, wir glichen sowieso dem Bett und dem schweren Eichenschrank, wir nahmen den Raum ein, nicht mehr, aber ich ging fort, nicht wahr?, und jetzt werde ich die Stadt wechseln, ich werde die Sprache wechseln, ich werde den Kopf wechseln, und wenn ich mein Erspartes verbraucht habe, werde ich etwas finden, das man Lohnarbeit nennt, und ich werde mich vor großen Ambitionen hüten, ich werde mich bemühen, wenigstens ein bisschen, ich werde dieses Notizbuch zum Beispiel öffnen, es mit winziger Schrift vollschreiben und mich damit schriftlich verabschieden, ich werde unser Eichenholz zu Sägemehl zersägen, so, wie ich es immer versucht habe, aber die Sätze krochen an dem inneren Weiß entlang wie Ameisen, und zwar immer in ähnlichen Variationen, automatisch und gewohnheitsmäßig, ohne irgendetwas oder irgendjemanden zu formen, ohne sich von irgendetwas zu verabschieden, aus dieser Leere heraus konnte ich mich nicht neu schreiben und der Mensch werden, der seine Niederlage zugibt und sich ohne Wut verabschiedet, der Mensch, der von jetzt bis auf Weiteres in einer Bäckerei in Kreuzberg schwarz jobben oder durch den Grunewald herumirren kann, der Mensch, der heimlich ein Buch schreibt und der sich aber nicht umbringen wird, wenn er es nicht beendet, es ist ihm egal, »macht das überhaupt Sinn?«, fragte ich meinen Freund, »macht es Sinn, einfach so wegzugehen?«, er antwortete, dass er mich beneide, er rief mich an, um zu prüfen, ob ich eine Fahrkarte gekauft hatte, mein Handy klingelte, während wir in einem Café mit Ausblick auf den Stadtstrand saßen, wir schwiegen über zwei Espressos, als wäre uns alles egal, sie gab mir mit dem Kopf ein Zeichen, dass ich den Anruf annehmen sollte, ich meldete mich und betrachtete weiterhin ihr Profil, bald wird das nicht mehr möglich sein, ich sagte ihm, dass ich schon morgen fahre, sie reagierte überhaupt nicht darauf, ihr Blick verlor sich in der Bucht, dort badete niemand mehr wegen der Verschmutzung des Wassers, es gab keine Touristen und keine Fische mehr, das Meer war bloß ein Postkartenbild bar jeden Inhalts, sie trank ihren Kaffee und ging hinaus, schon wieder ihr gebeugter Rücken, während sie sich vor der Tür des Cafés eine Zigarette anzündete, »wir sind nicht mehr zusammen«, sagte ich ihm noch einmal, als sie draußen war, als glaubte ich nicht daran, ich hatte den Morgen mit dem Schreiben von Botschaften verbracht, die ich auf Zettel schrieb und zwischen ihren Sachen versteckte, aber das gab ich ihm gegenüber nicht zu, ich schämte mich, »wir sind nicht mehr zusammen, es verbindet uns für kurze Zeit nur noch diese Stadt.«
***
Bevor ich endlich im Sitz des Ersatzzugs einschlafe, öffne ich den Laptop, im schwarzen Rechteck erscheinen Schienen, beleuchtet von den Lichtern einer Lokomotive, es beginnt die einführende Sequenz des Films von Lars von Trier, das einschläfernde Geräusch der Dampfmaschine, begleitet von dem beunruhigenden sich wiederholenden Thema, die Stimme von Max von Sydow spricht den hypnotischen Prolog: »I shall now count from one to ten, on the count of ten, you will be in Europe«, ich kenne diesen Text auswendig: »I say one, and as you focus your attention entirely on my voice, you will slowly begin to relax, two, your hands and fingers are getting warmer and heavier, three, the warmth is spreading through your arms, to your shoulders and your neck, four …«2 und so weiter, bis zehn, wenn ich die Augen öffne und aus dem eigenen hypnotischen Schlaf erwache, finde ich mich im Café des Münchener Hauptbahnhofs wieder, ich trage etwas in mein Notizbuch ein, beuge mich darüber, wie sich eine Frau über ein Spieglein beugt, ich sehe mich um, schaue genauer zu der Kellnerin hin, die konzentriert Münzen zählt, ihre untere Gesichtshälfte ist von einer Baumwollmaske bedeckt, ihre Brille ist beschlagen, ich notiere das und sehe mich wieder