Farbfilter. Ada Simon in Douala - Lena Blaudez - E-Book

Farbfilter. Ada Simon in Douala E-Book

Lena Blaudez

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Beschreibung

Die Fotojournalistin Ada Simon ist aus Kamerun zu einer Tagung über Tropenholz nach Mecklenburg gereist. Internationale Manager tagen in einem halb verfallenen Schloss, um nicht nur über Holzgeschäfte zu reden. In der maroden Idylle trifft Ada einen unheimlichen Mann wieder, der böse Erinnerungen zurückbringt: In Kamerun war sie in einen brutalen Kampf um Holz, Kunst und um den begehrtesten Rohstoff des Handy-Zeitalters, Coltan, geraten. Im Regenwald, bei den Pygmäen und in Douala, der wichtigen westafrikanischen Hafenstadt, kreuzten sich ihre Wege mit denen des Killers. In den Wäldern um das mecklenburgische Schloss kommt es zu einer afrikanischen Konfrontation. „Die Autorin arbeitete viele Jahre in Benin, Niger und Zaire und kann aus diesem Grund von eigenen Erfahrungen und Erlebnissen berichten. So wirkt der Roman auch deshalb so authentisch, da Lena Blaudez ihr Wissen über die Vodou-Kultur und die Lebenswirklichkeit der Menschen in West-Afrika in den Text einfließen lässt.“ FAZ – Literaturkalender „Lena Blaudez' Sprache ist schnell, das Erzählte fesselt mit immer neuen Wendungen, die manchmal geradezu unwirklich anmuten. Und immer wieder schwingt ein Humor mit, der zwischen Zynismus und Selbstironie schwankt.“ Dagmar Penzlin, NDR 1 Kulturjournal Schwerin

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Über das Buch

Die Fotojournalistin Ada Simon ist aus Kamerun zu einer Tagung über Tropenholz nach Mecklenburg gereist. Internationale Manager tagen in einem halb verfallenen Schloss, um nicht nur über Holzgeschäfte zu reden. In der maroden Idylle trifft Ada einen unheimlichen Mann wieder, der böse Erinnerungen zurückbringt: In Kamerun war sie in einen brutalen Kampf um Holz, Kunst und um den begehrtesten Rohstoff des Handy-Zeitalters, Coltan, geraten. Im Regenwald, bei den Pygmäen und in Douala, der wichtigen westafrikanischen Hafenstadt, kreuzten sich ihre Wege mit denen des Killers. In den Wäldern um das mecklenburgische Schloss kommt es zu einer afrikanischen Konfrontation.

»Die Autorin arbeitete viele Jahre in Benin, Niger und Zaire und kann aus diesem Grund von eigenen Erfahrungen und Erlebnissen berichten. So wirkt der Roman auch deshalb so authentisch, da Lena Blaudez ihr Wissen über die Vodou-Kultur und die Lebenswirklichkeit der Menschen in West-Afrika in den Text einfließen lässt.«

FAZ – Literaturkalender

»Lena Blaudez’ Sprache ist schnell, das Erzählte fesselt mit immer neuen Wendungen, die manchmal geradezu unwirklich anmuten. Und immer wieder schwingt ein Humor mit, der zwischen Zynismus und Selbstironie schwankt.« Dagmar Penzlin, NDR 1 Kulturjournal Schwerin

Über die Autorin

Lena Blaudez studierte Volkswirtschaft in Ost-Berlin, konnte 1985 dank der Hilfe eines Franzosen, der sie deshalb heiratete, die DDR verlassen, absolvierte ein Aufbaustudium Internationale Entwicklungspolitik u. eine journalistische Ausbildung. Viele Jahre lebte und reiste sie in Afrika, und arbeitete in Entwicklungshilfeprojekten in Niger, Benin, Kongo und St. Petersburg. Heute wohnt sie als freie Journalistin und Autorin von Romanen, Erzählungen und Drehbüchern in Berlin.

Lena Blaudez

Farbfilter

Ada Simon in Doulala

Roman

ImpressumeBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014www.culturbooks.de Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg Tel. +4940 31108081, [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Erstausgabe Print: Unionsverlag, Zürich 2006 © Lena Blaudez 2006 Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

1

Ivenack

Das Gebäude sieht verwahrlost aus. So, als hätten es die letzten Bewohner schon vor Jahren erleichtert verlassen. Schmale Gänge führen zu kleinen stickigen Zellen mit winzigen Fenstern. Verliese. Enge und Düsternis legen sich beklemmend auf die Brust und verursachen Atemnot. Ada stellt sich an eins der winzigen niedrigen Fenster und rüttelt an dem Griff. Erfolglos.

Draußen zieht ein Adler seine Kreise über dem weiten, hügeligen Land. Auf der Suche nach Beute, jederzeit bereit, herabzustoßen. Die Landschaft glüht in der Sonne, verschwenderisch leuchten gelbe Blüten, dunkelrote Erde. Ada ahnt den Duft. Der Kontrast von draußen und drinnen hätte nicht stärker sein können. Sie starrt auf die halb verfallene Wand gegenüber, auf die teilweise zugemauerten oder vergitterten Fenster.

Das erste Mal fällt ihr ein. Wie sie vor Jahren hierher kam und fasziniert war. Fremd war sie, das sagte ihr jeder Blick aus den Augen der Einheimischen, und doch fühlte sie sich, als wäre sie angekommen. Wie an einem Platz, den sie schon lange gesucht hatte. Unten am silbrig glänzenden Wasser hatte sie auf die Geräusche der Tiere gelauscht, glucksend tauchten sie auf, rumorten irgendwo in den Wäldern, die endlos waren.

Hier geht die Zeit anders. Vergeht zwar, aber ändert nichts. Man improvisiert. Passt sich den Gegebenheiten an. Hofft auf ein Wunder oder begräbt seine Hoffnung, lebt von einem Tag auf den anderen. Überlebt wie in Trance. Manche suchen Rat bei den Alten, die wissen, was geschehen wird. Dieses Singen in der Luft, sind das nicht die Mythen und Sagen dieses weltvergessenen Landstrichs, gewispert von Ahnen oder Geistern? Und dann dieser Himmel. Ein überwältigender Himmel, der hier einfach weiter ist als anderswo. Blau, unendlich, in Bann schlagend. Der mecklenburgische Himmel.

Ada reißt sich von ihren Gedanken los, öffnet eine der niedrigen Türen. Wirft die Tür wieder zu. Holt tief Luft und öffnet sie langsam wieder.

Harte Musik knallt ihr entgegen. Grateful Dead? Eine unglaublich fette Alte, das rote Spitzennachthemd über dem riesigen Busen bedrohlich gespannt, hält ein hauchdünnes Teetässchen mit abgespreiztem kleinem Finger in der einen Pranke. Sie lächelt Ada an und winkt sie mit der anderen herein. Die herabhängenden Wülste an den Oberarmen schlackern wie Wackelpudding. Den großen roten Kopf zieren nur noch wenige graue Strähnchen. Grelle Abziehbilder, Püppchen und Pilze, Mickey Mouse und Märchenfiguren, Rennautos, Pin-up-Girls und Muskelmänner bedecken jeden Flecken der schrägen Wände des winzigen Kämmerchens.

»Willst du einen Keks, Schätzchen?«, kreischt sie durch den Gitarrenlärm und zeigt auf einen Teller mit durchbrochenem Rand, auf dem sechs kleine Gebäckstücke im Kreis angeordnet liegen. Ada will.

Dann sucht sie höflich dankend das Weite. Sie sieht sich schnell um und wirft den Keks mit schlechtem Gewissen in einen Blecheimer am Ende des Flurs.

Wandert weiter. Plötzlich führen die bedrückenden Flure zu prunkvollen, stuckverzierten Treppenhäusern. Sie kommt in lichtdurchflutete Hallen, in weite Räume mit verglasten Erkern zum See hin. In einem lang gestreckten Saal blicken von holzgetäfelten Wänden halb vermoderte Hirschköpfe verwundert auf sie hinab.

Ada betrachtet bunte Bilder, hingepfuschte Landschaftsaquarelle, die über uralten Wandmalereien an unbekümmert hineingedroschenen riesigen Nägeln hängen.

»Was suchen Sie denn hier?« Eine merkwürdige Stimme hinter ihr.

»Ich arbeite.«

»So?« Hohn trieft mit einem dünnen Speichelfaden aus den abwärts gerichteten Mundwinkeln. »Können Sie sich ausweisen?«

»Ich bin Fotografin und mache Aufnahmen von dem Schloss. Ich dachte, das Behindertenheim wäre schon umgezogen. Aber oben sind die Zimmer ja noch bewohnt!«

»Nu, ein paar von denen sind halt noch da. Wüsste wirklich nicht, was Sie das angeht. Werden Sie fertig mit Ihrer Knipserei und stören Sie hier nicht länger!«

Das lange, birnenförmige Wesen, vermutlich männlich, mit hängenden Schultern und ebensolchem Bauch schlurft davon. Die Arme baumeln an ihm herab, als sei deren übliche Funktion in Vergessenheit geraten. Wirr steht gelbes Kraushaar vom Kopf ab.

Das Licht ist einmalig. Sie fotografiert die Hirschköpfe an der Wand, sonnengelbe Räume, ein Funkeln im zersplitterten Kronleuchter. Dann den Essraum: Sprelakattische auf Linoleum – entsprechend sind die Ausdünstungen, gemischt mit dem Gestank nach abgestandenem Kantinenessen, der in den Wänden hängt. In der Tür zittert hin und wieder ein birnenförmiger Schatten.

Sie geht weiter durch leere Zimmer. Über einhundert Räume sind durch schmale Gänge in geradezu aberwitziger Anordnung verbunden, dazu verwirren oft schräge Wände. Als sie auf die andere Schlossseite gelangt, erinnern sie deren niedrige Decken daran, dass diese Hälfte ein Stockwerk mehr besitzt als die gegenüberliegende. Das Schloss ist unkonventionell durch Einzug einer Zwischendecke um viele Zimmer erweitert worden. Sie ist schon eine ganze Weile keiner Menschenseele mehr begegnet. Steigt weiter nach oben. Plötzlich ist sie sicher, nie wieder herauszufinden. Da gellen schrille Pfiffe durch die leeren Räume.

Marder. Sie steigt die Treppe ganz hinauf ins riesige Dachgebälk. In der sommerlichen Wärme duftet das Holz, feucht, alt und anheimelnd.

Der Dachboden ist angefüllt mit Koffern. Es müssen tausende sein, die sich hier stapeln. Verstauben seit Jahrzehnten. Alte Presspappkoffer, billige Dinger zumeist, aber auch verschimmelte edle Lederkoffer mit Aufklebern von mondänen Badeorten und weit entfernten exotischen Großstädten. Koffer, die mit ihren betuchten Besitzern ehemals in vornehmen Hotels residierten. Koffer, die von weiß behandschuhten Dienern sorgfältig hinauf- und hinuntergetragen zu werden gewohnt waren. Nach dem letzten Krieg kampierten hier hunderte Flüchtlinge jeweils für ein paar Wochen. Sie zogen weiter. Die Koffer aber blieben. Später kamen die Pappkoffer mit den wenigen hineingestopften Habseligkeiten der Bewohner des inzwischen zum Behindertenheim gewordenen Schlosses dazu, die hier ihr Leben beendet hatten.

Staub wirbelt auf, als sie einen Kofferdeckel hochklappt. Er ist leer. Sie fotografiert in dem diffusen Licht, das schräg durch eine kleine Dachluke fällt.

Ein greller Schrei. Die Marder jagen durchs Gebälk. Ada saugt noch einmal den Geruch aus vermodertem Holz und staubigen Pappkoffern ein, bevor sie sich auf die Suche nach dem Ausgang macht, die ihr notorische Orientierungsschwierigkeiten liegen ihr sozusagen in den Genen – zunehmend Sorge bereitet.

Abwärts. Das zumindest muss richtig sein.

Eine obskur aussehende Tür führt zu einer steilen Treppe. Ein enger Gang zieht um düstere Ecken, spärlich beleuchtet von flackerndem Neonlicht. Sie zieht den Kopf ein, denn an einem Balken über ihr baumeln lose Stromkabel, die zu einem lebensgefährlichen Gewirr offener Drähte zusammenlaufen. Das Ganze endet in einem zerborstenen Kasten, aus dem rote, blaue und schwarze Drähte quellen wie Eingeweide aus einem frisch gemordeten Schaf.

Ein leises Pochen durchläuft die Gänge, wie der Herzschlag des Schlosses. Die Heizungsanlage?

Plötzlich gibt die Neonröhre ihren Geist auf, was angesichts der Kabellage wenig verwundert. Die Dunkelheit ist absolut. Sie tastet sich an der rauen Wand entlang. Die Treppe muss doch wieder zu finden sein.

Fast ist ihr, als hätte sie es im Innersten erwartet, als sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legt. Schnaufender Atem bläst ihr in den Nacken. »Hab ’ne Taschenlampe! Mo...mentchen«, nuschelt es an ihrem Hals.

Ein harter, greller Strahl fährt ihr ins Gesicht. Sie packt die Hand, die die Lampe hält. Die fühlt sich weich, fast pappig an. Sie dreht sie, sodass die Lampe dem Schnaufer ins Gesicht leuchtet.

Einen tiefen Atemzug lang braucht sie, um die Beherrschung nicht zu verlieren. Bis zur Unkenntlichkeit ist das, was einmal ein Gesicht war, verunstaltet.

Knappe, vornehme Verbeugung. »Darf ich mich vorstellen? Ich bin Herr Pompöse!« Seine teigige Hand fuchtelt dazu in der Luft herum, als wolle sie etwaige Zweifel an seiner wunderbaren, geheimnisvollen Herkunft von vornherein verscheuchen. Dann landet sie über der entstellten Gesichtshälfte, als wäre er sich ihrer gerade bewusst geworden. Er lugt durch seine dicken Finger zu Ada und lächelt schüchtern.

»Können Sie mir den Ausgang zeigen, Herr Pompöse? Ich habe mich verlaufen.«

»Aber gern, mein Fräulein! Immer folgen, bitte!« Er schlenkert gewandt seinen großen Körper vor ihr durch die engen Gänge. Im Nu sind sie draußen, der Weg ist verblüffend kurz.

»Auf Wiedersehen, mein Fräulein! Besuchen Sie mich bald wieder!« Herr Pompöse verschwindet in den Tiefen des Kellergewölbes.

Es dämmert bereits. Im letzten Moment, bevor sie dagegen stößt, bemerkt sie ein qualmendes Rohr, das mitten aus der Schlosswand ragt. Für den Auspuff des Notstromaggregates ist einfach ein Loch durch die Schlossmauer geschlagen worden. Sie macht ein Foto. Wieder eine dieser unfreiwilligen Grotesken, wie sie die letzte Diktatur hervorgebracht hat. Als sei Ästhetik ein natürlicher Feind des Klassenkampfes.

Sie läuft über die Wiese, macht Aufnahmen vom Schloss unter einer schweren Wolke. Der Park ist wunderschön, eine harmonische Anordnung alter Bäume. Anmut und Leichtigkeit. Hier hat jemand mit lockerer Hand und Überblick gewirkt. Am See schickt sich eine dunkelrote Sonne an, postkartenreif ins Wasser zu tauchen.

Eine einsame Wildgans fliegt niedrig über ihr entlang und schreit nach ihrem Liebsten.

Morgen beginnt die Konferenz, von der Ada befürchtet, dass sie ziemlich langweilig wird. Ökologie in der Waldwirtschaft. Immerhin sollen ein paar interessante Beiträge dabei sein. Tropenholz ist ihr Thema. In Westafrika hat sie darüber Fotoreportagen im Regenwald und auf Plantagen gemacht.

Sie entschließt sich, etwas zu essen und dann in ihre Pension zurückzugehen, um am nächsten Tag wenigstens gut ausgeschlafen zu sein.

In der Kneipe am Dorfausgang können am Tresen nicht nur Zeitungen, Zigaretten und Süßigkeiten erstanden werden, sondern auch Haarshampoo und Seife. Ada holt sich die regionale Tageszeitung.

»Toni«, weist gerade die robuste Kellnerin den Verschüchterten mit der beschlagenen Brille unter der runden Haartolle zurecht, »hier gibts nur halbe Liter! Hats hier immer nur gegeben, und ändern tut sich hier nichts!«

Das hat Ada schon lange geahnt.

Toni trinkt den halben Liter Bier halb aus, verbeugt sich höflich altmodisch und schreitet von dannen.

Die Kellnerin nähert sich mit drohend erhobener Flasche den dreien am Nachbartisch, die eigentlich schon genug haben.

»Na, noch ’nen Schnäppercken die Herren?«

Ada beeilt sich, mit ihrem Schnitzel und dem obligatorischen Rotkohl-Weißkohlsalat fertig zu werden.

Als sie, den blinkenden Himmel so nah über sich, als wollten ihr die Sterne gleich auf den Kopf fallen, den Weg zu ihrer Pension entlanggeht, hallen ihre einsamen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Sie genießt die klare, kühle Luft in der windstillen Nacht. Da nähert sich im milchigen Licht der Straßenlaternen ein Mann in eigentümlich gebückter Haltung, mit einer Plastiktüte in der Hand. Kurz vor Ada stockt er und stiert sie verbissen an. Dann stürzt er nach vorne gekrümmt weiter, das Gewicht der Tüte scheint ihn unweigerlich rechts hinüberzuziehen. Schräg kreuzt er die Straße, seine Schritte werden immer schneller, am Ende läuft er fast. Gestoppt wird er von einem metallenen Papierkorb, vor dem er in die Knie geht, wie ein reuiger Sünder. Wieder hochzukommen übersteigt sichtlich seine Kräfte. Mit schauerlichen Geräuschen führt er den Papierkorb einer nicht vorgesehenen Nutzung zu.

2

Das alte Schloss sieht im aufsteigenden Dunst verwunschen aus. Gelber Putz bröckelt und lagert in Häufchen wie verharschter Schnee. An seltenen Baumarten des heruntergekommenen, ehemals nach englischem Vorbild angelegten Gartens ranken schlangenartige Gewächse, wuchert Efeu.

Das ist doch glatt ein, na, wie heißt er noch? Martin Sonntag legt den sorgfältig frisierten Kopf in den Nacken und begutachtet einen der uralten Bäume. Er ist zufrieden mit seiner Frisur. Sieht immer so aus wie von zärtlicher Hand verwuschelt und doch irgendwie seriös. Der Duft des frisch gemähten Grases steigt ihm dabei in die Nase das hat er gleich in Auftrag gegeben.

Oh ja, da lässt sich was draus machen. Das ist ihm sofort klar gewesen, beim ersten Blick schon. Nicht umsonst sagt man ihm eine einmalige Nase für originelle Örtlichkeiten nach. Und nicht nur das. Er hat beste Beziehungen zu Leuten aus Wirtschaft und Politik und zu den Medien. Zu den Entscheidern. Sein Kommunikationstalent, das Händchen für die richtigen Leute und wie sie anzupacken sind, das gestehen ihm selbst seine Neider zu. Unbewusst reibt er sich die Hände und setzt sein schräges Lächeln auf, das nicht nur Frauen unwiderstehlich finden.

Aufgeräumt läuft er einmal um das große Schlossgebäude herum. Der schmale Weg unter dem mild grün schimmernden Lindendach endet an einem kleinen See, in dessen Mitte eine Insel im Sonnenlicht verschwimmt. Eins der seltenen Seeadlerpärchen soll dort seinen Horst haben. Sagt man. Er beschließt, dass dem so ist. In seinem linken Augenwinkel blitzt etwas auf, und er fährt herum, als hätte er wegen solch einer winzigen Ungenauigkeit ein schlechtes Gewissen.

»Ah! Hallo! Frau Simon, wenn ich nicht irre. Wie schön, dass Sie kommen konnten! Martin Sonntag. Ich bin der Organisator der Konferenz.« Er schüttelt Ada so begeistert die Hand, als wäre sie sein lang ersehnter Ehrengast, von dem bis zur letzten Minute nicht klar war, ob er auch die Zeit opfern könnte.

»Sie kennen mich?«

»Aber sicher, von Ihren Fotos – und von Fotos von Ihnen. Ich seh mir schon an, wen ich einlade!« Er lacht und betrachtet sie wohlgefällig: Diese Haltung. Ziemlich eigenwillig. Lange Beine und nette Rundungen weiter oben. Die rostbraunen Haare knapp über die Schultern. Ein etwas durchscheinender Teint mit Sommersprossen, leicht gekrümmte Nase. Die Augen grünlich wie ein Teich im Wald. Der Blick ironisch. Mund viel versprechend, aber das kann täuschen. Die Hände ständig in Bewegung, als sei sie eine Pantomimin. Und dazu der schlaksige Gang. Provokant. Er liebt Herausforderungen. Und diese hat sich ihm geradezu aufgedrängt.

»Sie kommen direkt aus Afrika, nicht wahr? Scheint Ihnen ja nicht so viel auszumachen, die Tropen, so wie Sie aussehen, wenn ich mal so sagen darf. Andere erzählen da immer so schlimme Geschichten. Malaria und Raubüberfälle, Skorpione und Bürgerkriege, was weiß ich nicht alles für Scheußlichkeiten. Die wollen sich vielleicht auch nur wichtig machen, hmm? Na, man steckt ja nicht drin.« Immerfort lächelnd nimmt er sie am Arm, weist auf die kleine, verwucherte Insel. »Eins der seltenen Seeadlerpärchen hat dort seinen Horst. Es gibt nur noch dreihundert in ganz Deutschland. Zwei vierzig Spannbreite, die Flügel. Wunderbarer Anblick. Erhebend. Tja, die Natur!«

Er führt sie durch die lange, schmale Lindenallee am Teehaus vorbei. »Spätklassizistisch mit Wandsäulengängen am See, ist im neunzehnten Jahrhundert entstanden. Können Sie kaufen.« Pappelblätter rauschen. Selbstvergessene Pärchen lagern im hellgrünen Licht und spucken Kirschsteine im hohen Bogen ins Wasser. Vor dem Tattersaal, einem roten Backsteingebäude, toben Staub aufwirbelnd Pferde.

»Hier, der Marstall. Im Halbkreis gebaut. Teilweise noch bewohnt. Ehemalige Arbeiter der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft.« Er lässt die Worte mokant abtropfen. »Unkündbar, Ganz schlecht, wenn man Investoren finden will.«

Beige Tünche blättert, das Ziegeldach ist in der Mitte eingefallen. Die Luft flirrt vor Hitze und Schwalben.

»Wieso haben Sie gerade dieses alte Schloss für die Konferenz ausgesucht? Ich kenne es von früher.«

»Nun, meine liebe, geschätzte Ada, wenn ich Sie so nennen darf, die Konferenzen, die ich organisiere, finden ja schon seit Jahren an ganz ausgewählten Orten statt.«

Seine himmelblauen Augen blitzen, und er beugt sich ein wenig zu Ada hinunter. Nicht, dass sie klein wäre. Aber seine stolz gereckte Körperlänge beträgt einhundertzweiundneunzig Zentimeter, die meisten davon recht ansehnlich angeordnet.

»Hier in Mecklenburg, wo landesweit die allerhöchste Arbeitslosigkeit herrscht, sollen die Potenziale aufgedeckt werden, die besonders in der ökologischen Land- und Forstwirtschaft liegen. Und im sanften Tourismus. Außerdem«, er zwinkert ihr verschwörerisch zu und lächelt sein verführerisches Lächeln, »und außerdem ist dieses herrliche Schloss doch einmalig schön. Und völlig verrückt. Neorenaissance übrigens. Es steht auf den Grundmauern eines 1252 gestifteten Zisterzienser-Nonnenklosters. Man sieht förmlich jede Epoche der Geschichte hier verewigt. Das alte Adelsgeschlecht derer von Karzow hat immer dann weitergebaut, wenn es gerade mal Geld hatte. Dazwischen lagen ganze Epochen. In den letzten Jahrzehnten ist hier dann allerdings gar nichts mehr passiert. Sie sehen ja selbst, wie heruntergekommen es inzwischen ist. Heute sind die unteren Räume nur so weit wiederhergestellt, dass sie als Versammlungsraum dienen können. Die anderen Zimmer sind leer und verkommen, seit das Heim für geistig Behinderte eine neue, hoffentlich passendere Stätte gefunden hat.«

»Aber«, entgegnet Ada, »ist nicht gerade dieses verschachtelte Gebäude absolut passend? Eigentlich ist das doch genau das Richtige für Geister, die sich der Realität entzogen haben.«

»Ah, das Auge der Fotografin! Und der fantasievolle Geist dahinter. Ja, natürlich. Wenn man es so betrachtet, haben Sie sicher Recht. Wie sagten Sie, der Realität entzogene Geister, das ist gut! Tja, was die erleben? Nun, man steckt ja nicht drin.«

»Ökologie in der Waldwirtschaft ... Wer wird denn teilnehmen, wen haben Sie eingeladen?«

»Nun, wie immer, Leute aus ganz unterschiedlichen Berufsgruppen, die doch zusammenhängen. Manager aus der Holz verarbeitenden Industrie, Mitglieder diverser europäischer Umweltorganisationen, Förster, Politiker, Verwaltungsbeamte, PR-Leute und Journalisten verschiedener Zeitungen. Deutsche und englische Gastredner von internationalem Ruf haben zugesagt. Und da sind sie ja auch schon!«

Eine Gruppe ins Gespräch vertiefter, sommerlich salopp und doch gut angezogener Leute schlendert näher. Ein älterer Herr in hellem Anzug und mit einem tief in die Stirn gezogenen Strohhut, eine ausladende Dame in einem weiten gelben Kleid mit einer großen roten Handtasche und einer dicken roten Korallenkette, ein wendiger kleiner Mann in einem hellgrünen Anzug. Mittelpunkt der Gruppe aber ist eine zierliche Schwarze mit einer aufwändigen Flechtfrisur. Sie ist die Einzige, die sich aufs Zuhören beschränkt. Trotzdem oder gerade deshalb scheinen sich alle auf sie zu beziehen. Ada fragt sich, wer das sein könnte.

Martin Sonntag läuft umher und begrüßt seine Gäste, die nun in stetem Fluss in ansehnlichen Karossen mit und ohne Fahrer, in Taxis und als Gruppe in einem kleinen Bus ankommen. Der Kies auf dem Schlossplatz knirscht unter den schweren Limousinen, Türen klappen gedämpft, hier und da ein leises Lachen, ein lautes Hallo. In seinem sandfarbenen weiten Sommeranzug, alle überragend und jedem mühelos das Gefühl vermittelnd, er sei der Wichtigste aller Gäste, auf jeden Fall der, über dessen Anwesenheit er sich am meisten freut, gelingt es Sonntag, schnell eine lockere, aber erwartungsfroh gespannte Stimmung zu schaffen.

Als alle in der rau verputzten Eingangshalle auf gut gepolsterten Stühlen Platz genommen haben, läuft er mit elastischen Schritten nach vorn, hebt kurz Ruhe heischend den Arm und erläutert in wenigen Sätzen das Anliegen des Treffens: Der schöne Wald, die reiche Ressource, Zertifikate für ökologische Bewirtschaftung, Zertifikate auch für eingeführte Tropenhölzer, die sichern sollen, dass das Holz aus nachhaltigem Anbau stammt und die Arbeitsbedingungen den sozialen Mindestanforderungen in Bezug auf Lohn und Gesundheit entsprechen. Der Wald weltweit. Noch ein Scherz und Applaus, der erste Redner tritt nach vorn.

Alles läuft nach Wunsch, freut sich Martin Sonntag, reibt sich die Hände und lässt sich die nächsten Schritte durch den Kopf gehen. Er denkt an Ada Simon, spürt, wie ein grüblerisches Stirnrunzeln aufzieht und verscheucht es schnell. Lässt sein allgegenwärtiges Lächeln aufblitzen und wendet sich seiner kultivierten Nachbarin mit der aufwändigen Frisur zu. Sehr elegantes Kostüm, vornehme Gesten, rundum sein Typ. Ein teures Parfüm steigt ihm in die Nase. Er berührt sie vorsichtig am Ärmel.

»Meine liebe Madame Gado, hätten Sie vielleicht Lust, uns heute Abend in ein Restaurant zu begleiten?«

Sie verzieht ihren breiten, fantasieanregenden Mund, als plagten sie plötzlich Zahnschmerzen.

»Wozu ich heute Abend Lust habe«, ihr Blick gleitet an ihm hinunter, dass ihm ganz heiß wird, »entscheide ich heute Abend.« Sie schnipst seine Finger von ihrem Ärmel wie ein Ekel erregendes Insekt.

Martin Sonntag ist sogleich vollkommen absorbiert von der Rede des britischen Experten. Er rückt ein Stück von ihr ab.

3

Ada spürt ein Ziehen im Rücken. Als sie sich umdreht, sieht sie aber nur Zuhörer, die dezent elegante Kleidung und fachkundige Gesichter tragen.

Etwas beunruhigt Ada. Sie kommt nicht darauf, was es sein kann, aber es verursacht ihr einen eisigen Klumpen im Magen.

Sie wendet ihre Aufmerksamkeit dem Sprecher zu, einem breitschultrigen Mann mit Schnäuzer und einem angenehmen Bariton, der oft lächelt. Ein englischer Spezialist, controlling and evaluation. Ada wartet auf sein Lächeln, fast nach jedem Satz kommt es. Seine grünen Augen scheinen direkt auf sie gerichtet. Sie versucht, sich auf seinen Text zu konzentrieren, aber er spricht enorm schnell, und sein Englisch ist mit Fachausdrücken gespickt.

Ada wird schläfrig. Im Dämmer der gleich bleibenden Stimme ... monitoring, ecological certificate ... schließt sie halb die Augen. Herr Pompöse gestern im Keller. Ich werde mich nach ihm erkundigen, beschließt sie. Was wird wohl aus der Grateful-Dead-Liebhaberin werden? Bis das Klatschen sie aus ihren Träumereien reißt.

Der Applaus für den Engländer ist verhalten. Höflich werden die Handflächen aneinander geschlagen, während ein Gemurmel und Getuschel beginnt, und die Ersten, Stühle scharrend, aufstehen und dem Ausgang zustreben.

In der Pause – »eine halbe Stunde bitte nur«, wie der smarte Martin Sonntag verkündet – werden Häppchen gereicht. Lachs auf winzigen Toaststücken. Klitzekleine Kaviarhäppchen verschwinden in großen Mündern. Ada grübelt, wer eigentlich die Konferenz finanziert hat.

Martin Sonntag schiebt sich durch die Leute, lässt hier und da eine durchweg mit wohlwollendem Nicken aufgenommene Bemerkung fallen und tritt dann zu ihr. »Nun, wie gefällt es Ihnen hier? Interessant genug? Wenn Sie heut Abend noch nichts vorhaben, würde ich Sie gerne mit ein paar Leuten aus der Holzwirtschaft bekannt machen. Auch einige ausgewählte Journalisten werden dabei sein. Sicher ganz nützlich für Sie, hm? Ich kenne ein ausgezeichnetes Restaurant hier in der Nähe. Tatsächlich ein Spitzenkoch, etwas ganz Besonderes, vor allem hier in der Gegend. Wenn Sie einverstanden sind, treffe ich Sie nach Ende der Veranstaltung in der Halle?«

Er nickt, nimmt wie selbstverständlich ihr Einverständnis vorweg. Dann gesellt er sich wieder unter die Leute, lächelt und redet unablässig. »Dreisprachig ist man hier in Mecklenburg«, hört sie ihn tönen. »Hochdütsch, plattdütsch und över anne Lütt!« Was er sich von den Umstehenden mit beifälligem Gelächter quittieren lässt.

Es ist noch Zeit bis zum nächsten Programmpunkt. Auf einmal packt sie das dringende Bedürfnis nach frischer Luft. Erleichtert lässt sie das abschwellende Stimmengemurmel hinter sich und tritt hinaus auf den Schlossplatz.

Ein älterer Mann in blauem Arbeitsanzug fegt den Vorplatz. Ada geht zu ihm und stellt erstaunt fest, dass seine Augen genauso blau sind wie sein Anzug. »Sagen Sie, wissen Sie etwas über Herrn Pompöse?«

Er lässt das Fegen sein, stützt sich auf den Besenstiel und sieht sie an, als hätte sie etwas Anstößiges gesagt. »Den kennen Sie?« 

»Ich habe ihn hier im Keller getroffen.«

»Ja, da lebt der. Der war in seinem Leben noch nie nich woanders. Genau wie seine Mutter, die hat hier früher in der Küche ausgeholfen. Ist aber schon lange tot. Das war hier ja bis vor kurzem noch ’n Heim für die Bekloppten. Herr Pompöse, haha! Der heißt wirklich so. Und wehe, du hast ihn nich so genannt, da war der stinksauer. Nich mal seine Mutter durfte Theobald zu ihm sagen. Na, das kam alles von wegen der Gasflaschengeschichte.«

Seine Äuglein blitzen vor Freude. Eine, der er was erzählen kann.

»Gasflaschengeschichte?«

»Durch den ganzen Speisesaal ist der geflogen! Mit seiner Mutter. Tatsächlich. Haben Sie nich sein Gesicht gesehen? Die haben sich nich viel Mühe gemacht damals mit ihm. Sieht gar nich gut aus, ne, die vernarbten Brandwunden. Hat leidenschaftlich gern gebastelt. Nu, das war dann auch vorbei. Jetzt sitzt er nur noch im stockfinsteren Keller rum, liebt die Dunkelheit. Der ist bestimmt da unten schon blind wie ’n Maulwurf. Jemand stellt ihm immer Essen hin. Muss einer aus dem Dorf sein. Keiner weiß, wer. Holt der sich immer nachts. Man sieht ihn nie. Da unten«, er beugt sich verschwörerisch zu Ada hin, »da führen unterirdische Gänge vom Schlosskeller kilometerweit. Stammt alles noch von den Betschwestern, war doch mal ’nen Kloster hier. Na, was die so getrieben haben? Das sind Gewölbe, ganze Welten da unten. Soll sogar von hier bis zu der unterirdischen Raketenabschussbasis in Rosenow führen. Hat noch keiner ganz erkundet. Wer da zu weit geht, der kommt nich mehr wieder. Vielleicht holt sich die Herr Pompöse?«

Er beginnt wieder zu fegen, eifrig, ohne sie weiter zu beachten, so als würde er mit seiner Sauberkeit die andere, erfreulich ordentliche Seite des Lebens verkörpern.

Eine Kastanienallee führt in den Park. Ada geht die Kopfsteinstraße entlang und atmet den Duft des frisch gemähten Grases ein, genießt die milde Stimmung. Wie anders, wie abgemildert und gedämpft ist doch das europäische Klima. Langsamer geht sie die schattige Allee weiter. Am Horizont das sanft wellige Hügelland, Kraniche und die Weite des Himmels über sich. Davor einer der fast unberührten Wälder mit urwüchsigem Baumbestand. Seit Jahrhunderten umzäuntes Jagdrevier der wechselnden Herrscher. Umweltschonend sind hier nur müde Sechsender und zahme Keiler den alten Herren vor die Flinten getrieben worden. Hirsch und Wildschwein für die Mächtigen.

Schmale Treppenstufen führen einen Hügel hinab und enden in verwildertem Gebüsch. Vielleicht beginnt hier ein Teil der unterirdischen Gänge, das Reich des Herrn Pompöse?

In der uralten kleinen Kirche mit dem Holzturm sind die Wände voller Malereien. Manchmal reisen Kenner nur deswegen hierher. Daneben, in einem windschiefen Häuschen, wohnt die alte Frieda. Wer bei den Ärzten keine Hilfe findet oder etwas über seine Zukunft wissen will, geht zu ihr, der Spökenkiekerin.

Drei rau verputzte Reihenhäuser stehen nebeneinander am Straßenrand. Ada sieht braune Hosenbeine in Augenhöhe hinter dem Wohnzimmerfenster. Gleich darauf rauscht etwas schwer zu Boden. Hat hier einer endgültig aufgegeben? Oder war das nur der missglückte Versuch, eine Gardine aufzuhängen?

Stets ein Anlass zur Freude, wenn man wieder hier ist, findet Ada. Dass man hier nicht leben muss. Nicht nur, dass alles langsamer geht als woanders, immer meint sie, den Mief der vergangenen Epoche zu riechen.

Vor dem kleinen Laden steht die Verkäuferin und raucht eine Zigarette. »Ach, wollen Sie was?«, fragt sie Ada verwundert, als sie grüßend an ihr vorbei durch die Tür tritt.

»Ja, allerdings. Oder haben Sie geschlossen?«

»Nee, ist den ganzen Tag offen. Hab aber nicht gedacht, dass heut einer kommt. Zahltag ist doch erst morgen.« Sie erstickt die Kippe unter ihren Gummilatschen und betrachtet Ada mit kritischem Blick: »Ach so, Sie gehören wohl zu den Leuten von der Konferenz im Schloss! Na, dass einer von denen hierher kommt, hab ich ja nu nicht gedacht! Die haben doch da feinste Köche, nur Kaviar und so was, und alles vergoldet, selbst die Wasserhähne. Ist es nicht so?«

Die hagere Frau sucht die gewünschten Äpfel, die Schokolade und die Tageszeitung zusammen. Während sie die Sachen in eine Tüte packt, klärt sie Ada kategorisch über die Aussichten in punkte Wetter und des auf der Titelseite prangenden Lokalpolitikers auf. Beides äußerst unzuverlässig. Mit einem karierten Geschirrtuch malträtiert die Frau den Ladentisch, als sich Ada beim Verabschieden nach ihr umdreht.

Die Papiertüte mit ihren Einkäufen in der Hand, geht sie die schmale Kopfsteinstraße weiter in Richtung Park. Ein dunkler Wagen ist lautlos näher gekommen. Erst als er wenige Meter von ihr entfernt stoppt, entdeckt sie ihn. Die Frontscheibe reflektiert die Sonne, die heute aus einem wolkenlosen Himmel ihr Bestes gibt. Zu erkennen ist im Innern niemand.

Unbewusst tritt Ada zwei Schritte zurück, in den Schatten einer breitkronigen Kastanie. Ihr Puls geht schneller. Sie weiß nicht, was geschehen könnte. Nur, dass das hier keine normale Situation ist.

Dabei ist es ein lauer Nachmittag im Sommer. Was sollte harmloser sein? Wenn man einmal von den haarlosen Typen absieht, die mit ihrem Opel, aus dem ohrenbetäubend Technohämmer dröhnen, gerade an ihr vorbeidonnern. Am Rückspiegel baumelt ein erdrosseltes Plüschäffchen.

Der schwarze Mercedes steht da wie ein glänzendes Insekt. Unbeweglich und lautlos. Oder wie ein Gecko, der versteinert wartet, bis sich die Gelegenheit zum Zuschnappen ergibt. Jetzt fällt ihr ein, was ihr vorhin diesen eisigen Klumpen im Magen verursacht hat. Ein kleiner, silberner Gecko, der am Revers eines eleganten, hellgrünen Anzugs steckte. Sie liebt diese harmlosen Tiere, die in Afrika ihre ständigen Begleiter sind. Aber dieses silberne Tierchen verkörperte nichts Harmloses. Ein Firmenlogo, das ihr in Kamerun zum ersten Mal begegnet ist. Schlagartig ist ihr jetzt klar, wer hinter dem Steuer sitzt. Seit Wochen fürchtet sie sich vor diesem Moment. Wenigstens ist das jetzt vorbei. Allerdings hat sie das, was sie nun erwartet, selbst heraufbeschworen. Die ganze Geschichte in Gang gebracht.

Jetzt hätte sie es sogar vorgezogen, die Glatzen hätten neben ihr gehalten, obwohl sie die sonst fürchtet. Sie hat immer gedacht: Hirnlose Brutalität, kann etwas schlimmer sein? Ja, findet sie nun. Es kann.

4

Douala, Kamerun

Das Monstrum kreist direkt über ihr. Gleichgültig und todbringend. Mit einem leisen Zischen zerschneiden die dünn geschliffenen Stahlklingen die Luft. Ada kann die Augen nicht von ihnen lassen. Ihr Kreisen wirft monströse Schatten an die Wand und über Adas Gesicht. Eine perfide Tötungsmaschine, die immer größer wird. Jedes Detail brennt sich überdeutlich in die Netzhaut. Als sie sieht, dass die Ränder der Klingen rotbraun sind, wird ihr übel. Eine scheußliche Farbe, getrocknetes Blut. Langsam und unausweichlich sinken sie tiefer. Monoton, gelangweilt, mörderisch. Sie weiß, was kommt: Millimeterweises Abfetzen von Haut. Aufreißen von Fleisch. Zerschmettern von Knochen. Sie will schreien, lallt nur. Unerträglicher Durst. Der Mund völlig ausgedörrt, die Zunge ein ekelhaft pelziger Wulst, der sich nicht bewegen lässt. Sie erstickt an dem Ding. Hechelt nach einem winzigen Hauch Luft. Etwas presst ihr den Kopf zusammen und legt sich um den Körper, wie ein Mantel aus Blei. Nicht einmal mehr die Augen lassen sich bewegen. Starre. Die Klingen rotieren jetzt so nah über ihr, dass sie deutlich den Luftzug spürt. Sie berühren die Haare, ratsch, ratsch. Gleich kommt er, der mörderische Schmerz, mit nichts zu vergleichen. Ratsch – ratsch.

Ada japste stoßweise nach Luft, riss die verklebten Augen auf. Ratsch. Jemand mähte vor dem Fenster mit der Machete das Gras. Ratsch. Die Ventilatorenflügel drehten sich oben an der Decke, wie es sich gehörte. Sie kreisten knarzend, als hofften sie mit jeder Drehung aufs Neue darauf, einen der blutgierigen Überträger der Malaria tropica zu erwischen. Krrrzt. Wieder vergeblich. Krrrzt. Die Mücken lachten sich krumm.

Ihr war klar, dass es sie längst erwischt hatte. Der Schweißgeruch war eindeutig. Süßlich, intensiv, aus allen Poren. Das war der Gestank des Fiebers. Jeder einzelne Muskel, jeder Knochen ein quälender Schmerz. Die Augen brannten, der Kopf dröhnte, hinter der Stirn kreischten Bohrer, die gnadenlos in ihr Hirn drangen. Alles drehte und drehte sich, bis sie vor Übelkeit weder ein noch aus wusste. Sie fror. Wenn nur dieses scheußliche Geräusch endlich aufhören würde, ihren Ohren wehzutun. Es dauerte, bis ihr klar wurde, dass es das Klappern ihrer Zähne war. Als sich das Drehen etwas verlangsamte und der Brechreiz weniger würgte, konzentrierte sie sich auf die Leichen ihrer erschlagenen Feinde. Die hellblaue Wand war verklebt mit Moskitos, was deren Artgenossen aber nicht im Geringsten davon abhielt, sich weiter an Ada gütlich zu tun.

Das Mittel, das dritte, das sie jetzt ausprobierte, schien endlich anzuschlagen. Das Fieber sank, und sie schwitzte so stark, dass sie in ihrem Bett zu schwimmen begann. Das Laken war dunkel vor Feuchtigkeit. Mühsam setzte sie sich auf. Sie stolperte zu dem kleinen fleckigen Spiegel an der Wand. Ihr Gesicht war ein dünn mit gelbem Pergament überspannter Totenkopf. Sehr attraktiv. Sie nickte ihrem Spiegelbild zu und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der außer einem altersschwachen Tisch und dem Bett das ganze Mobiliar des Zimmers stellte, und griff sich ihre braune Tasche. Das vertraute glatte Leder in ihren Fingern hatte etwas Tröstliches, obwohl sich ein mehliger Ausschlag von den Rändern her schmarotzend über die Tasche hermachte. Leder passte wirklich nicht zu diesem Klima, aber sie hing nun einmal an dem alten Stück, das sie seit Jahren immer bei sich trug. Die Tasche war groß genug, dass alles Lebensnotwendige darin Platz hatte. Die Ausrüstung, mit der sie ihr Geld verdiente: ihre Leica mit Wechselobjektiven und die Filme in luftdichten Plastikdosen. Ein Buch aus ihrer großen Reisebibliothek, in das sie sich bei Bedarf verkriechen konnte, Die toten Seelen. Wer weiß, warum ihr ausgerechnet hier in den Tropen immer die Russen in die Hände fielen. Daneben Chloroquin, Chinin und andere Malariapräparate, Breitbandantibiotika und ein starkes Schmerzmittel, für alle Fälle. Ein Kamm, Creme und ein bordeauxroter Lippenstift. Zigaretten gehörten zurzeit nicht dazu.

Mit weit ausgestrecktem Arm machte sie ein Porträt von sich. Noch eins mit gebleckten Zähnen: Wenn schon, denn schon. Nahaufnahme des rostigen Ventilators als Utensil ausGrube und Pendel,Großaufnahme der blutverschmierten Stellen an der Wand mitsamt den zerquetschten Moskitos. Auch Malaria hatte interessante fotografische Aspekte.

Sie war ja einiges gewohnt. Die linksseitige Schwerhörigkeit als Folge der Chininmengen zum Beispiel. Die gelegentlichen Stirnhöhlenvereiterungen und die Pilze an verschiedenen Körperstellen war sie immer wieder losgeworden. Sie hatte ja ihre Medikamente. Das hatte sie den meisten ihrer Mitmenschen hier voraus. Wer dieses Privileg nicht hatte, aber die Malaria tropica, starb. Schnell.

Die kleine Herberge der Mission Catholique in der Rue Franqueville, wo sie sich – wie immer, wenn sie in Douala war – ein Zimmer genommen hatte, war beschattet von hohen Kapokbäumen. Hier war es angenehm, preiswert und sicher.

Ein aufgekratzter Schnösel in weißem Anzug sprang in einen passend weißen Peugeot, den er soeben von langhaarigen Wüstenfahrern erstanden hatte. Er preschte los und setzte das Gefährt sofort krachend an einen der dicken Stämme. Gejohle der Verkäufer. Wie ein begossener Pudel kletterte der schnieke Sohn der Oberschicht aus. der zerbeulten Kiste. Was wohl der Papi dazu sagen wird? Ada feixte.

Sie setzte sich in den Schatten auf der Terrasse und genoss die vergleichsweise frische Luft. Nach den vielen Tagen im stickigen Zimmer war das eine Wohltat. Mala aria, schlechte Luft, hatte sie jetzt hinreichend ausgekostet. Sie streckte die Beine und freute sich. Immerhin, das schaffte keine Diät: So schlank war sie schon lange nicht mehr gewesen. Sie versuchte, etwas von dem Fufu zu essen, das die Straßenköchin mit einem mitleidigen Blick vor sie hingestellt hatte. Nein, das klappte noch nicht. Der Magen protestierte energisch. Nur trinken. Sie schüttelte sich die rötlich braunen Haare aus dem Gesicht und fühlte die Energie zurückkehren. Allerdings sehr langsam. Und nur im Sitzen. Ihr wurde so schwindlig beim Aufstehen, dass sie sich erst einmal zurückfallen ließ. Zurück in die Waagerechte. Alles andere morgen ...

Douala. Laut. Schrill. Hektisch. Die Stadt schmerzte ihr in den Ohren. Unerträgliche Gerüche. Farben, die den Augen wehtaten. Sie schleppte sich den Boulevard de la Liberté entlang, um ein paar Lebensmittel einzukaufen. Hier im Stadtteil Akwa drängten sich die kleinen, vollgestopften Läden, aus denen kreischende Musik quoll. Rücksichtslose Passanten rannten Ada gnadenlos über den Haufen, Moped- und Autofahrer machten sich einen Spaß daraus, sie zu jagen. Händler bedrohten sie mit Bügeleisen und Regenschirmen.

Ada setzte sich kurz in ein Café, um Kraft zum Überqueren der Straße zu sammeln. Nachdem sie etwas getrunken hatte, breitete sich langsam Hoffnung in ihr aus. Ein Überleben schien wieder vorstellbar. Die Gerüche wurden erträglicher, der Lärm gedämpfter, die Menschen freundlicher. Sie sah den Leuten zu, wie sie bei der Straßenköchin stehen blieben, redeten, lachten, den letzten Augenblick Tageslicht genossen, der die Farben aufleuchten ließ, bevor die Dunkelheit herabfiel wie ein schwarzer Vorhang. Nicht nur Ada liebte diese Minuten des Übergangs, in denen alles milder wurde, Atem schöpfte, wieder zu leben begann nach dem gnadenlosen Brennen. Die kleinen Vampire warteten ebenso auf diesen Moment. Um sich auf sie zu stürzen.

Ada kapitulierte und machte sich auf den Heimweg. Nicht schon wieder einen Schub. Jede Bewegung, jedes Vorhaben erforderte unglaubliche Energie. Alle Willensreste mussten zusammengekratzt werden, um solch übermenschliche Anstrengungen auf sich zu nehmen wie Aufstehen, Gehen, etwas Wollen – außer zu liegen.

Am nächsten Morgen raffte sie sich auf. Sie musste weg hier und wieder arbeiten. Nicht, weil die Zeitschriften Druck machten. Für ihre Fotoreportagen über den Tropenwald hatte sie ausreichend Zeit. Aber nur so, wusste sie, kam sie wieder zu Kräften. Sie packte ihre Tasche und leistete sich ein Taxi zum Busbahnhof.

5

Bamenda, Kamerun

Was für eine Wohltat, in Bamenda zu sein. Vor allem, wenn man aus Douala kam. Das Klima der hoch gelegenen Stadt war milder, zumindest am Morgen. Ringsum in den Bergen rauschten Wasserfälle ins Tal. Vielleicht würde sie die Kunsthandwerker entlang der Ringroad des Graslandes fotografieren. Ada hatte noch die Müdigkeit der Tagesreise in den Knochen und beschloss, es ruhig angehen zu lassen.

Außerdem hatte sie noch vor, jemanden ausfindig zu machen. Pierre Bernard. Elise hatte Ada dringlich geraten, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Niemand kannte sich in Kamerun so gut aus wie er. Er hatte Freunde unter den Pygmäen, er konnte ihr die für ihre Reportagen wichtigen Leute vermitteln, die Papiere besorgen, er kannte die Termine der entscheidenden Rituale, alle Traditionen und Tabus, die Jäger, die Händler, die Zauberer. Es schien, als ob ohne Pierre Bernard in dieser Ecke gar nichts ging. Ada kannte ihn nur aus einer Sendung, die ihre Freundin, Elise de Souza, auf TV Benin moderiert hatte. Es war eine sehr erfolgreiche Sendung, von vielen Seiten kamen Glückwünsche. Andere schäumten vor Wut. Pierre Bernards Art, die Skrupellosigkeit bestimmter Holzhandelsfirmen bloßzulegen, war gefürchtet.

Also machte sich Ada auf die Suche. Einen Versuch war es immerhin wert. Eigentlich sollte es ganz einfach sein. Schließlich war er ein attraktiver Typ, groß, dunkelhaarig, riesige Nase im schmalen Gesicht, ungefähr dreißig. Ein Weißer. So einer musste hier auffallen. Ada fragte jeden, der ihr über den Weg lief. Ein engagierter Umweltschützer, ein Regenwaldexperte. Ein Freund der Waldmenschen. Einer, der gerne große Reden schwang. Ein passionierter Biertrinker. Ein Frauenschwarm. Womanizer. Ada kicherte, als ihr die Bezeichnung einfiel.

Aber sie hatte kein Glück. Er war nirgends zu finden. Vom Erdboden verschluckt. In Bamenda kennt ihn jeder, meinte Elise, er wäre oft dort. Von wegen. Niemand kannte ihn. Nie gehört, den Namen, hieß es immer wieder.

Dann lass ichs halt, dachte Ada, wird schon irgendwann auftauchen, der Typ. So bedeutsam konnte der ja nun auch wieder nicht sein, dass sie nicht auch ohne ihn klarkäme. Seit sie als Kind ihre Eltern bei einem Autounfall verloren hatte, war sie mehr oder weniger auf sich gestellt gewesen. Und war gut klargekommen. Mehr oder weniger.

Sie ging zurück, in Richtung der einfachen Pension, in der sie sich ein Zimmer genommen hatte. Die Straße war wie leer gefegt in der weißglühend schmetternden Mittagssonne. Trinken, hinlegen, viel mehr Gedanken hatten kaum Platz.

Da saß eine Frau im Schatten, die so aussah, als ob sie mit Sicherheit alles wusste, was ringsum geschah. Ihre Fülle fand in dem Rattansessel vor ihrem Häuschen kaum Platz. Sie ist die Letzte, die ich frage, beschloss Ada.

Nachdem die Frau Ada mit schräg gelegtem Kopf von oben bis unten begutachtet hatte, ächzte sie und entgegnete mit tief aus dem Bauch hervorrollender Stimme: »Geh mal rauf zu den Oblaten, Kindchen. Uuuufff.«

Erschöpft wedelte sie sich Luft zu und ließ sich zurücksinken, als hätte sie Übermenschliches geleistet.

Weit war es nicht zu der Missionsstation des polnischen Ordens der Oblaten. Eine halbe Stunde Fußmarsch. Sie schaute zurück auf die Stadt weiter unten. Machte Fotos. Die Wellblechdächer zwischen den dunkelgrünen Baumkronen blitzten in der Sonne wie Silber. Auf dem roten Lateritweg waren nur wenige Leute unterwegs. Zwei Kinder in beigefarbenen Schuluniformen starrten sie an und rannten dann weg. Eine junge Frau in langem blauem Gewand schwebte an ihr vorbei wie eine Königin. Auf den schwarzen Locken trug sie eine gewaltige glänzende Machete.

»Pierre Bernard!« Pater Stanislaw Kalinowski sah sich um, als ob er ihn unter dem Tisch oder hinter dem Holzkohleherd vermutete. Als sei es durchaus möglich, dass sich der Gesuchte unter der schmuddeligen Decke, die das eiserne Bettgestell überzog, versteckt hielt und gleich albern kichernd hervorkriechen würde.

Der Pater sah um sich, als hätte er die Ärmlichkeit seiner kleinen Hütte im kamerunischen Bergland nicht jeden Tag vor Augen.

»Ist er also nicht zurückgekornmen«, murmelte er, schenkte sich aus einer Flasche ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit voll und kippte es in einem Zug hinunter. Entgegen allen guten Sitten, die sie hier gewohnt war, bot er ihr nichts zu trinken an. »Seit vierzig Jahren lebe ich hier«, stieß er hervor, wie ein Geständnis. Als glaubte er, Ada sei eigens für diese Information aus Deutschland angereist. »Vierzig Jahre!«

Schwer zu sagen, ob er das als Grund für eine bevorstehende Heiligsprechung oder für eine baldige Einweisung in die Klapsmühle betrachtete. Eher Letzteres, vermutete Ada, die darauf bei einem Kirchenmann nicht gefasst war, als sie sein ausgemergeltes, zerknittertes Gesicht betrachtete. Wie vertrocknet vor Entbehrung, Einsamkeit und Enttäuschung. Seine Augenlider flatterten. Ada meinte, die Resignation förmlich mit Händen greifen zu können. Ein Geruch von Fäulnis und Verwesung stieg ihr in die Nase. Rings um die Hütte des polnischen Missionars wucherte der Dschungel. Plötzlich klangen die kreischenden Papageien und kehligen Schreie – waren es wirklich Affen? – Furcht einflößend. Der Pater wollte sie loswerden, das spürte sie. Fingerte mit dunklen Nagelrändern an seinem Glas, das er neu gefüllt hatte, sah sie nicht an und kippte es wieder in einem Zug. Er zwinkerte mit den Augen, kleine Schweißbäche mäanderten die Stirn entlang, stürzten an den Nasenflügeln vorbei und fielen an den Mundwinkeln in scharfe Kummerfalten. Eigentlich sah er aus, als wolle er sich umgehend eine Kugel in den Kopf jagen.

»Wenn Sie unbedingt etwas über Pierre Bernard wissen wollen, dann fragen Sie am besten Sandre. Zu empfehlen ist das aber nicht.« Ein Hustenanfall schüttelte den dürren Körper. Er winkte sie mit der Hand hinweg, scheuchte sie raus. Ada machte sich lustlos auf den Rückweg. Sie fühlte sich matt und wattig in den Knien, stöhnte leise vor sich hin. Das hatte sich gelohnt. Wahrlich erschöpfende Auskünfte: »Fragen Sie Sandre.«

Der kurze Weg zurück wurde lang. Zog sich endlos. Drückende Schwüle nahm ihr den Atem. Als ob aller Sauerstoff vor ihrem Mund weggesogen würde und nur stickig heiße Ausdünstungen einer Urwaldkreatur dumpfig aufstiegen. Es stach in der Kehle und brannte in den Augen.

Endlich wieder in Bamenda, hängte sich ein kleiner Junge in einer lumpigen Turnhose an Ada: »Give me fifty! Give me fifty!«

Sie fischte eine CFA-Münze aus der Tasche, und der Kleine lachte begeistert. Durstig bestellte sie in der ersten Straßenkneipe am Weg eine Cola. Lächelte der Bardame zu, die ihr mit wildem Augenzwinkern und hektischen Kopfbewegungen etwas klar machen wollte, was sie beim besten Willen nicht kapierte. Vielleicht meinte sie ja die angetrunkenen Typen, die sie zu sich an den Tisch locken wollten. Lachten und winkten. Sie schüttelte den Kopf, stürzte die Cola herunter. Rhythmisch zuckten und wippten die Gäste mit allen beweglichen Teilen zu der dröhnenden Musik, die aus dem Radio schallte: »Zaminamina héhé, Waka waka héhé, Zaminamina Zangalewa, Ana wa ha ha ...«

Als wäre dies das Zeichen für ihren Auftritt, traten zwei verschwitzte Uniformierte ein, und das Klima änderte sich augenblicklich. Eine plötzliche Vereisung zog über die Gesichter. Das Radio verstummte in vorauseilendem Gehorsam. Die Bardame hatte plötzlich dringend ganz hinten etwas zu tun.

»Wo kommen Sie her?«, herrschte der eine, groß und dick, Ada an. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, die Äuglein verschwanden hinter dicken Fleischwülsten.

»Deutschland«, antwortete sie abweisend.

»Nein! Jetzt, gerade jetzt!«, dröhnte die Stimme. »Machen Sie keine Scherze mit uns. Sie kommen rnit!«

Einfach ein rasend erfolgreicher Tag heute.

Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren. Beim Weggehen hörte sie, dass das Radio wieder lief: »Django Django héhé, Django Django héhé, Zaminamina Zangalewa, Ana wa ha ha.«

Sie ging zwischen den beiden Typen, ärgerte sich vor allem über den Zeitverlust. Sie hatte sich aufs Fotografieren gefreut. In ein paar Tagen wollte sie wieder los, nach Yaoundé, das Visum musste verlängert werden. Das Ganze wird sich schnell als Missverständnis erweisen, sie werden irgendetwas von Kontrolle schwafeln, dann würde sie wieder gehen können. Ermüdend, diese Bürokratie.