Spiegelreflex. Ada Simon in Cotonou - Lena Blaudez - E-Book

Spiegelreflex. Ada Simon in Cotonou E-Book

Lena Blaudez

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Beschreibung

Ada Simon ist Fotoreporterin. Afrika ist ihre zweite Heimat. In Cotonou, der größten Stadt in Benin, scheint alles so zu sein wie immer. Doch nachdem Adas bester Freund, der Politiker Patrick, vor ihren Augen ermordet wird, verwandelt sich ihr Alltag zusehends in einen Albtraum. Immer tiefer verstrickt sich Ada in die afrikanische Realität und die kalte Realpolitik, bei der sich alles um fette Kredite aus Brüssel und die Gier nach Schürfrechten dreht. Bald weiß sie nicht mehr, wem sie trauen kann. Wider Willen wird Ada zum Spielball entgegengesetzter Interessen. Schließlich versucht sie in einem Akt der Verzweiflung der tödlichen Gefahr zu entrinnen. »Eine afrikanische Ermittlung mit Herz, Verstand – und einer ganz besonderen Heldin, die mit offenen Augen durch die Welt geht und dadurch unbekannte Welten sichtbar macht.« Ullrich Noller, WDR

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Über das Buch

Ada Simon ist Fotoreporterin. Afrika ist ihre zweite Heimat. In Cotonou, der größten Stadt in Benin, scheint alles so zu sein wie immer. Doch nachdem Adas bester Freund, der Politiker Patrick, vor ihren Augen ermordet wird, verwandelt sich ihr Alltag zusehends in einen Albtraum. Immer tiefer verstrickt sich Ada in die afrikanische Realität und die kalte Realpolitik, bei der sich alles um fette Kredite aus Brüssel und die Gier nach Schürfrechten dreht. Bald weiß sie nicht mehr, wem sie trauen kann. Wider Willen wird Ada zum Spielball entgegengesetzter Interessen. Schließlich versucht sie in einem Akt der Verzweiflung der tödlichen Gefahr zu entrinnen.

»Eine afrikanische Ermittlung mit Herz, Verstand – und einer ganz besonderen Heldin, die mit offenen Augen durch die Welt geht und dadurch unbekannte Welten sichtbar macht.« Ullrich Noller, WDR

Über die Autorin

Lena Blaudez studierte Volkswirtschaft in Ost-Berlin, konnte 1985 dank der Hilfe eines Franzosen, der sie deshalb heiratete, die DDR verlassen, absolvierte ein Aufbaustudium Internationale Entwicklungspolitik u. eine journalistische Ausbildung. Viele Jahre lebte und reiste sie in Afrika, und arbeitete in Entwicklungshilfeprojekten in Niger, Benin, Kongo und St. Petersburg. Heute wohnt sie als freie Journalistin und Autorin von Romanen, Erzählungen und Drehbüchern in Berlin.

Lena Blaudez

Spiegelreflex

Ada Simon in Cotonou

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2013

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten.

Erstausgabe Print: Unionsverlag, Zürich 2005

© Lena Blaudez 2005

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Umsetzung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 1.10.2013

ISBN 978-3-944818-05-4

1

Die feuchte Hitze traf sie wie ein Hammerschlag.

»Madame, Madame, moi, moi!«, flehten ein paar Jungen, die alle ihre Koffer schleppen wollten und sich gegenseitig schubsten und stießen. Sie wimmelte sie ab und ergab sich ohne langes Feilschen dem erstbesten Taxifahrer.

Der junge Typ hatte die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen und raste davon, als gelte es immer noch, sich seine Beute zu sichern. Sie war müde von dem langen Flug, dem unvorhergesehenen Aufenthalt in Moskau mit den gewohnten Fehlinformationen und ließ sich seufzend ins Rückpolster sinken. Der klapprige Peugeot schlingerte haarscharf an den gewaltigen Schlaglöchern vorbei. Roter Staub wehte durchs Fenster herein und durch die Rostlöcher im Bodenblech. Die Abgase aus dem röhrenden Auspuff wurden dem Fahrgast direkt zugeleitet.

Sie hielt das Gesicht ans Fenster. Marktfrauen in bunten Kleidern mit Körben und Schüsseln voller Tomaten, die kurz in der Abendsonne aufflammten, winkten erfolglos nach dem verschwenderisch leeren Taxi. Palmwedelgedeckte Stände voll echt antiker Vodoumasken, an denen die Farbe noch nicht ganz trocken war. Die Bilder flogen vorbei. Ein grauhaariger Alter, am Straßenrand auf seinen Stock gestützt. Sein weißes Gewand flatterte wie ein Segel. Ada verspürte eine Welle des Glücks. Endlich wieder hier!

Das Taxi bog jetzt In eine schmale Seitengasse ein, die von Hibiskus gesäumt war. Ein junges Pärchen umarmte sich, in die Hecke gedrückt, unzüchtig. Der lange schwarze Hals des Mädchens war zurückgebogen, und das lautlose Lachen entblößte beneidenswert weiße Zähne, bevor die beiden von der Staubwolke des Taxis verschluckt wurden.

Auf einmal wurde sie unruhig.

»Das ist doch nicht die Strecke zum Hotel de la Plage!« Sie packte die Rücklehne des Fahrersitzes vor ihr.

Der Chauffeur nahm konzentriert und unbeeindruckt die scharfe Linkskurve, ohne vom Gas zu gehen.

»He!« Sie schrie ihm ins Ohr.

»Kleiner Umweg ... die Flughafenstraße ist dicht ...«, nuschelte er an seinem Zigarettenstummel vorbei.

Dicht? Das übliche Mopedchaos, dürre Ziegen, magere Rinder, gelegentlich Kamele, die Unmassen der Fußgänger, aber Verkehrsstau? Hier ging es jedenfalls in Richtung Lagune und nicht zum Hafen, wo das Hotel lag.

Die kurze blaugraue Dämmerung hing in der Luft wie eine Erwartung. Der Moment des Übergangs, den sie so sehr mochte. Beruhigend, normalerweise. Jetzt jedoch verdichtete sich die Erwartung zur unguten Gewissheit. Bei bald tiefschwarzer Nacht wurde sie in einem lädierten Taxi von einem offensichtlich Verrückten mit überhöhter Geschwindigkeit durch enge unbeleuchtete Gassen gejagt. Und auch noch in die falsche Richtung.

Als wolle er sie nicht länger ihren Spekulationen überlassen, bremste er unvermittelt. Kurzes Hupen. Ein großes Eisentor wurde von innen geöffnet. Nur raus! Sie suchte hektisch nach dem Türgriff Es gab keinen. Da standen sie schon inmitten eines düsteren Hofes, den nur ein kleines flackerndes Feuer in der Ecke erhellte. Der Fahrer sprang heraus, schloss die Autotür sorgfältig ab. Es gelang ihr nicht, durch das halb geöffnete Fenster den Außengriff zu erreichen. Sie quetschte sich auf den Vordersitz durch. Ratsch, zerriss ihr T-Shirt. Es lohnt sich nicht, billige Klamotten zu kaufen. Eine Weile mäanderten ihre Gedanken wirr um das Garderobenteil.

Ein dicker, stiernackiger Mann schimpfte auf ihren hageren Fahrer ein, der zusehends zusammenschrumpfte. Hin und wieder glaubte sie das Wort »yovo« zu verstehen, »Weiße«. Die beiden Männer gingen zu einer kleinen Wellblechhütte, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Überrascht stellte sie fest, dass die Fensterkurbel an der Beifahrertür intakt war. Sie griff nach draußen, die Tür öffnete sich mit einem leisen Knack. Das Gelände schien verlassen zu sein, das Tor war inzwischen abgeschlossen. Sie drückte sich an der Mauer entlang, gelangte in die Nähe der Hütte. Von der offenen Ladeklappe eines Lieferwagens strömte ihr ein süßlicher Geruch entgegen. Jetzt hörte sie die Stimmen der beiden, die vermutlich unmittelbar vor der Hütte standen.

»Bist du denn bei Trost! Eine Weiße!« Missbilligung troff aus jeder Silbe. »Du jagst uns sonst wen auf den Hals, Mann!« Beschwichtigendes Gemurmel ihres Fahrers. Er hatte es doch nur gut gemeint.

»Die Straßenkids rennen dir wohl zu schnell, was! Ich muss liefern, ich brauch die Kohle«, zischte der andere.

Ihr Blick fiel auf die Ladefläche. Sie erstarrte. Zwischen Fleischteilen lag eine menschliche Hand.

Körperteile, schwarze Magie, Vodou? Sollte sie als Ersatzteillager herhalten? Ihr wurde übel.

Die beiden Männer kamen heraus, auf sie zu. Mit jagendem Puls beeilte sie sich wegzukommen, duckte sich ins Dunkel der Hofmauer. Aber der Dicke öffnete nur das Tor, schwang sich in den Lieferwagen und hinterließ nichts als eine stinkende Dieselwolke. Ihr enttäuschter Kidnapper warf ihr Gepäck aus dem Auto, sich selbst in sein Taxi und verschwand.

Auf ihre Teile wurde verzichtet.

Sie griff sich ihre Sachen und rannte los.

Die Straßenbeleuchtung war noch nicht bis in diesen Teil der Stadt vorgedrungen. An der Ecke tauchte eine anheimelnde Insel aus der Dunkelheit auf. Das Gesicht der Barfrau im Licht der Petroleumfunzel schien ihr das sanftmütigste zu sein, das ihr je begegnet war.

»Gin Tonic.«

»Gibts hier nicht, wollen Sie Sodabi?« Ada nickte. »Ein großes Glas, bitte.«

Als sie sich dank des Palmschnapses wieder beruhigt hatte, winkte sie ein Mopedtaxi heran und ließ sich ins Hotel de la Plage bringen. Zur Polizei? Lächerlich. Und den Hof würde sie nie mehr wieder finden.

Die im Kolonialstil erbaute sandfarbene Villa direkt am Hafen hatte schon bessere Zeiten gesehen. Hier wohnte sie immer, wenn sie in Cotonou war. Und das war in letzter Zeit gar nicht so selten. Der Empfangschef begrüßte sie wie gewohnt. Euphorisch.

»Madame Simon! Sie sind wieder da! Hatten Sie eine gute Reise?«

»Danke, ja«, antwortete sie. Und schauderte.

»Und die Familie? Alle gesund? Und die Arbeit, ça va?«

Alles war so außerordentlich erfreulich, dass beide laut lachten und die Hände gegeneinanderklatschten. Jetzt durfte man zur Tagesordnung übergehen.

»Das gleiche Zimmer wie immer?«

»Geht der Ventilator wieder?«

Monsieur Alphonse legte das Gesicht in bedeutungsschwere Falten. Sein Bauch wölbte sich wie ein eigenständiges Wesen unter einem knallroten T-Shirt, das die Botschaft verkündete: Guinness is good for you. »Madame Simon, Sie sind hier im ältesten Hotel Cotonous. Genießen Sie das historische Ambiente. Diese Ventilatoren sind An-ti-qui-tä-ten!« Er hob die Hände himmelwärts. Gott war sein Zeuge. Er zumindest tat alles, was in seiner Macht stand. Wenn sie das nicht zu schätzen wusste – bitte sehr.

Schnell versicherte sie, dass sie sich, Ventilator hin oder her, freue, wieder hier zu sein. Er nickte gnädig. Die würdevolle Kopfbewegung geriet aber sogleich außer Kontrolle, weil aus dem alten Radio schräg, blechern und laut Alpha Blondy von einer Interplanetary Revolution losschepperte. Alphonse’ Kopf nickte im Takt weiter, der ganze Körper ging mit. Unter rhythmischen Zuckungen überreichte er ihr den Zimmerschlüssel.

Mit einem Kaffee und der Erinnerung an gestern, wie an einen bösen Traum, saß sie am nächsten Morgen auf der Hotelterrasse. Gedankenverloren sah sie den Jungs an der Hafenmole zu, die Steine ins Meer kickten und darauf warteten, dass endlich etwas geschah. Hinter dem Strand, der tadellos weiß bis zur Terrasse reichte, leuchtete das Meer, Gischt lag auf den Brechern, die sich weiter draußen auf einer Sandbank überschlugen. Ada sog den vertrauten Geruch nach Fisch, Tang und Dieselöl ein. Angekommen! Sie überlegte, wie es weitergehen sollte.

Zuerst Patrick anrufen.

Als sie dann seine Nummer wählte, ahnte sie nicht im Geringsten, dass sie damit einen Zeitzünder aktiviert hatte, der von nun an unermüdlich ticken sollte. Bis nichts in ihrem Leben mehr war wie zuvor.

Die Bougainvillea leuchtete purpurn, zwei Straßenhändlerinnen riefen sich etwas zu und lachten.

Afrika zeigte sich von seiner besten Seite.

Der Laden von Papa Paul, Treffpunkt für Intellektuelle, Geschäftsleute und westliche Entwicklungsexperten, die hier ihre Ideen ausprobierten, wurde von allen Champagner-Bar genannt. Der Name stand in allerbestem Kontrast zu dem Kramladen, der er eigentlich war. Er lag direkt an der Avenue Steinmetz, in der Mopeds, zerbeulte Autos und hin und wieder eine Nobelkarosse eine endlose, stinkende, hupende Schlange bildeten. Die gelben Jacken der Mopedtaxi-Fahrer flatterten, wenn sie sich mit Todesverachtung zwischen den Autos hindurchzwängten, als wollten sie signalisieren, dass ihnen die prompte Erfüllung der Kundenwünsche wirklich über alles ging.

Vor der Champagner-Bar auf dem Bürgersteig lümmelten sich auf zerschlissenen Sesseln angesäuselte Staatsdiener aus dem nahen Ministerium für Bildung und Erziehung. Aus Lautsprechern dröhnte der letzte Hit aus Zaire. Davor schliefen zwei Kinder auf Strohmatten. Eine bonne femme köchelte auf ihrem Holzkohlefeuer Poulet Yassa, dessen Duft in harte Konkurrenz zu den Abgasen trat. Ihr Jüngstes pendelte, im Tragetuch schlafend, auf dem Rücken hin und her, während sie mit schriller Stimme, die mühelos durch den Verkehrslärm stach, die Passanten aufforderte, ihre einmaligen Fufu-Bällchen zu kosten, die auf einem Emailteller neben ihr lagen. Ab und zu rückte die Köchin mit der bloßen Hand ein glühendes Holzkohlestückchen wieder an seinen Platz. Nebenher flirtete sie mit dem Fahrer des Mercedes, der vor ihrem Stehrestaurant parkte. Die beiden alberten und lachten. Die kehligen Laute des Fon mischten sich mit den Rhythmen der Musik und dem hemmungslosen Gehupe. Straßenstaub und Ruß der Abgase wirbelten durch die Luft und setzten sich überall fest, während die Sonne den Asphalt aufweichte.

Alles war wie immer.

Ada brauchte einen Moment, um sich an das Dämmerlicht in Papa Pauls Laden zu gewöhnen. Dann erkannte sie Patrick, breitschultrig, in einem weißen Hemd und schwarzen Jeans. Seine vertraute kräftige Gestalt, nicht groß, aber eine geballte Ladung Energie, die ironisch blitzenden Augen. Sie freute sich, ihn zu sehen. Die obligatorische Zigarette hing ihm im Mundwinkel. Er saß auf einem Hocker vorne an der Bar, und ein Fuß wippte im Takt seiner Rede. Mit einem Arm lehnte er auf einem der Glasschaukästen des Tresens, in denen Würfelzucker, karierte Filzpantoffeln, Batterien, Brühwürfel und Badelatschen seit Jahren auf Käufer warteten. Hinter dem Tresen bedeckten Tonröhren die Wand bis zur Decke. Hier fanden sich wahre Schätze: alte Weine und Champagner der Spitzenklasse, den Papa Paul in alten Wassergläsern zu einem lächerlich geringen Preis offerieren konnte. Schließlich bezog er ihn zollfrei. Über die grüne Grenze. Seit Ada Patrick vor drei Jahren kennengelernt hatte, führte ihr erster Weg unausweichlich in die Champagner-Bar, um mit ihm auf ihr Wiedersehen anzustoßen.

Papa Paul stand kerzengerade hinter der Theke, zapfte ein Bier und hörte gelassen Patrick zu. Wie stets erweckte der alte Mann den Eindruck, schlichtweg für alles Verständnis zu haben. »Ça fait trois jours! – Schon wieder drei Tage her, seit du hier warst!«, rief er, als er Ada entdeckte. Drei Tage war es immer her, auch nach Monaten. Er lachte und drohte ihr aus den Weiten seines Gewandes heraus mit dem Zeigefinger.

Patrick begrüßte sie mit einem Schwall von Fragen, den sie bis auf einige gut platzierte »Ça va« unbesorgt unbeantwortet lassen konnte. Die Begrüßungszeremonie endete mit einem knallenden Schnalzlaut, wenn sich die ineinander verhakelten Finger lösten. Das hatte sie ziemlich lange üben müssen, es wies sie aber nun als Kennerin der Szene aus, wie sie nach dem gelungenen Abschlussknall befriedigt feststellte.

Neben Patrick stand eine große junge Frau, die sie anlächelte.

Bei ihrem Anblick musste Ada an eine Skulptur denken, die sie als Kind in einem Museum gesehen hatte. Damals war sie genauso beeindruckt gewesen. Ein lang gestrecktes Gesicht mit hohen Wangenknochen und fein geschnittener Nase. Sie trug ein buntes Kostüm, ihre Haare waren zu einer kunstvollen Flechtfrisur aufgetürmt. »Ich bin Elise de Souza, die Cousine von Patrick. Er hat mir schon viel von dir erzählt.«

»Elise ist einfach fantastisch. Sie beherrscht nicht nur viele unserer Landessprachen, sondern kennt auch alle Leute, die zu kennen sich lohnt. Manche gut. Manche sogar noch besser. Selbst die Elite unseres korrupten Systems.« Patrick verbeugte sich schwankend zu Elise hin. Ganz gegen den üblichen Stil der aristokratischen De-Souza-Familie musste er Papa Pauls Beständen heute schon mächtig zugesprochen haben. Er zündete sich eine neue Zigarette an der alten an und klopfte sich gereizt die Aschestäubchen vom Hemd.

Papa Paul warf Patrick einen besorgten Blick zu, zapfte ein weiteres Bier und tat, was er immer tat: zuhören und schweigen. Nebenan am Tresen unterhielten sich zwei Geschäftsleute aus dem Norden in himmelblauen Boubous, deren weite Ärmel eine nicht unbeträchtliche Gefahr für die Gläser und Flaschen in ihrer Reichweite darstellten. »Wenn das so weitergeht mit den Straßenzöllen«, sagte der eine, »wie soll ich dann meine Frauen und die Kinder ernähren?«

»Dieses verdammte Polizeipack!«, fluchte der andere leise auf Haussa, vermutlich in der Hoffnung, hier nicht verstanden zu werden.

Ada diskutierte mit Elise, als würden sie sich schon lange kennen. Über den letzten Korruptionsskandal, die diversen Oppositionsparteien, Zeitungen und Kneipen in der Stadt. Elise erzählte von der Uni, an der sie unterrichtete. Die Studenten seien in Lethargie verfallen, meinte sie. Jeder habe nur noch seine eigenen Interessen im Kopf. Was war aus dem großen Aufbruch geworden, an den so viele geglaubt hatten, nach dem Ende der Diktatur?

Von draußen drangen die Rhythmen der Zaire-Musik und das Gelächter der Leute herein. Ada fühlte sich losgelöst. Das unsichtbare Geländer alltäglicher Gewohnheiten war weggebrochen. Alles war neu, die Sinne wurden scharf, alle Antennen standen auf Empfang für das, was da kommen mochte. Sie liebte diese Intensität, die sich immer einstellte, wenn sie auf Reisen war.

Sie holte ihre Leica M6 aus der Tasche und entschied sich für den leichten Weitwinkel. Bei dem hoch empfindlichen Film, den sie eingelegt hatte, konnte sie auf den Blitz verzichten. Fotografie war nicht nur ihr Beruf, es war eine Sucht, der sie nachgab, wann immer es die Umstände und die Leute erlaubten. Die Kontaktbogen sortierte sie chronologisch. Ihr Tagebuch sozusagen, und später konnte sie das eine oder andere Foto verwenden, in thematische Serien einfügen oder an eine Zeitung verkaufen.

Das diffuse Licht ließ die Bar wie durch einen Weichzeichner gesehen erscheinen. Staubkörnchen tänzelten in Spiralen durch den Rauch der Zigaretten. Sie drückte auf den Auslöser: ein Schatten an der Wand, wie einer der immer anwesenden Ahnen, der seinen Gin wollte. Dann: Patrick, auf die Theke gestützt, in der Hand die Zigarette, den Blick in weiter Ferne. Papa Paul vor seiner Röhrenwand, wie er in sich hineinlächelte. Elise, eine exotische Prinzessin. Ein Schattenriss im Gegenlicht von einem Mann mit wuchtigem Kinn, wie eine Bulldogge, der an einem der Plastiktische im Innenraum hockte.

Am Fenster saß ein dünner Mann mit Sonnenbrille und buntem Hemd. Als sie ihn fotografieren wollte, drehte er sich so schnell weg, dass sie an ein Krokodil denken musste, das unbeweglich dasitzt, um sich dann blitzartig sein Opfer zu schnappen. Er fuhr sich mit den Fingern seiner Linken an die Brust, als beteuere er einem unsichtbaren Gegenüber seine guten Absichten.

Ein Tuareg mit indigoblauem Schleier stand an der Wand, ohne sich anzulehnen. Sie bewunderte den verzierten Silberknauf seines Schwertes, der aus dem Gewand herausragte. Er wirkte so entrückt, als höre er noch das Trappen seiner Kamelherde und den heulenden Sandsturm und als sei diese Realität, in die es ihn gerade durch alle möglichen Zufälle verschlagen hatte, Allah sei Dank, völlig unerheblich.

Noch ein Foto durch die Tür nach draußen, wo die Sonne auf das chaotische Leben auf der Straße knallte.

Patrick bedeutete Papa Paul, seinen Whisky Soda wieder nachzufüllen. So hatte sie ihn noch nie erlebt. An Papa Pauls Tresen hatte er sie schon oft mit Freunden bekannt gemacht, ihr Tipps gegeben, wo sie wen treffen konnte, wann sie wohin fahren sollte, um dieses oder jenes Ereignis zu fotografieren, oder wie sie mit der Bürokratie fertig werden konnte. Und er hatte Geschichten erzählt. Aber heute war mit Patrick nicht zu reden. Er winkte ihr nur zu, als sie sich verabschiedete, und setzte sein Gespräch mit Papa Paul fort.

»Morgen Mittag am Fischmarkt!«, rief ihr Elise noch durch den Raum nach.

An dem alten Kühlschrank neben dem Eingang lehnte ein Bettler mit achselhohen, offensichtlich selbst geschnitzten Krücken. Sie drückte ihm ein Hundert-CFA-Stück in die Hand, drehte sich zur Tür und stolperte über die Füße des Bulldoggen-Mannes. Der fing sie auf und sagte heiser: »Doucement, Madame! Achten Sie auf Ihre Kamera!«

Das tat sie. Instinktiv hatte sie den Apparat an sich gedrückt. »Danke.« Sie nickte dem Mann zu. Der machte sich jedoch nicht die Mühe zu lächeln. Seine Ausstrahlung hatte etwas Arktisches.

Sie fotografierte noch einmal in den Raum hinein, in dem jetzt eine seltsame Stimmung herrschte. Ein aus der Form geratener Weißer, die verbliebenen Haarsträhnen über die Glatze geklatscht, die Hängebacken schwermütig, stand neben der Tür und machte ihr so schnell Platz, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er sich wie immer zur falschen Zeit am falschen Ort befand. Schweißflecke malten Trauerränder auf sein Hemd. Sie ging an ihm vorbei nach draußen. In dem Moment wurde sie von zwei hereinstürzenden Männern angerempelt. Ausgesprochen unbeninisch, dachte sie und streckte die Hand nach der Sonnenbrille aus, die sie sich in der Bar auf den Kopf geschoben hatte. Da knallte es dumpf. Dreimal schnell hintereinander.

2

Die Stille nach den Schüssen war beängstigend. Dann brach der Lärm los. Geschrei, zu Boden krachende Stühle, splitterndes Glas. Ein Tumult sich hinein- und herausschiebender Menschen. »Eeooh! Eeooh – Nein! Nein!«, schrie jemand immerzu. Als Ada nach dem ersten Schock wieder zu sich kam, versuchte sie hineinzugelangen. Sie drängte sich durch die Menschen. Patrick lag auf dem Boden. Elise kniete neben ihm. Sie starrte ins Leere, und ihr Körper war verkrampft, als hätte ein Schuss sie selbst getroffen.

Eine Blutlache breitete sich unter Patricks Kopf aus. Sie floss in Richtung Tresen. Wahrscheinlich war der Boden uneben. Im Laufe der Zeit von den vielen Füßen an der Bar schräg getreten. Oder von unachtsamen, vielleicht betrunkenen Arbeitern schief betoniert? Weshalb sonst sollte das Blut ausgerechnet zum Tresen hin fließen? Jemand packte sie am Arm und hielt ihr ein Glas Wasser an die Lippen. Papa Paul.

Ein Schuss war direkt neben Papa Paul in die Flaschenwand gedrungen. Rotwein rieselte und tauchte die Bar in Alkoholdunst. Mehrere Leute standen im Kreis um die Leiche herum, die eben noch Patrick gewesen war. Elise wurde von der bonne femme hinausgeführt. Ada setzte sich auf einen der Plastikstühle und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Es gelang ihr nicht. Sie fühlte nichts als Leere.

Der junge Capitaine hinter dem Resopalschreibtisch schien unbeeindruckt von der Schwüle im Vernehmungszimmer. Sein Gesicht war klar und strahlte Kühle aus. Die Körperhaltung bezeugte natürliche Autorität. Disziplin strömte aus jedem Knopfloch seines gut geschnittenen Jacketts.

Durch die angrenzenden Räume drangen gedämpft die Stimmen von Inhaftierten herüber. Ab und zu hoben sich gurgelnde Laute ab. Waren das normale Handtaschendiebe oder Schwerverbrecher, die auf ihre Hinrichtung warteten? Beim Hereinkommen hatte sie die in einer winzigen Zelle zusammengepferchten Männer gesehen, deren schweißüberströmte Gesichter sich an dem einzigen, vergitterten Fenster drängten.

Jean-Claude Boya heftete seine Augen auf Ada, hatte seine Unterarme locker auf der Tischplatte liegen und fragte beharrlich: »Woher kannten Sie Patrick de Souza? Seit wann? Wer waren die anderen Anwesenden? Was wollten Sie in der Bar?« Er holte seine Informationen ein wie ein Fischer sein Netz. Kaum wahrnehmbar nickend murmelte er bei ihren Aussagen immer ein beruhigendes »D’accord«, mit einem scheppernden R, als rollte eine vom Wind getriebene Cola-Dose über eine Wellblechpiste.

Boya lehnte sich zurück und betrachtete ihr schmales Gesicht, das ausgeprägte Kinn, die ungewöhnlich hellen Augen. Es strahlte Intensität aus, etwas Starkes, zum Teil nach innen Gerichtetes, das sich schwer deuten ließ. Eine Ahnung, die er selbst nicht begründen konnte, sagte ihm, dass er mit dieser yovo-Frau noch zu tun haben würde. Seine Intuitionen akzeptierte er genauso fraglos, wie er einen Schirm mitnahm, wenn Regen drohte. Er erhöhte seine Aufmerksamkeit und wappnete sich mit Geduld.

Endlich ließ er Ada das Protokoll, das ein schwitzender Mann in Uniform aufgenommen hatte, unterschreiben und entließ sie mit einem letzten »D’accorrrrd« in den brütend heißen Nachmittag.

Sie ging den schmalen Sandweg entlang, der vor dem Gebäude der Police Judiciaire zwischen eingeschossigen, mit Wellblech gedeckten Häusern verlief. Rote Lehmmauern versperrten Neugierigen den Blick in die Innenhöfe. Kokospalmen und Papayas spendeten vereinzelt etwas Schatten. Gegenüber der Polizeistation versandete das Wrack eines weißen Citroen DS, ohne Reifen und mit fehlendem Kotflügel. Endstation. Was für ein Symbol, dachte sie. Ich sollte mich dazulegen.

Nach rund hundert Metern stieß sie auf die Hauptstraße, die von Norden in Richtung Zentrum führte. Sie winkte einem Sammeltaxi, das so aussah, als sei es schon bis auf den letzten Platz belegt, und quetschte sich neben eine lebhaft gestikulierende Frau, deren klirrende Armreifen ihre Rede untermalten. Am Hafen ließ Ada sich absetzen.

Obwohl nur wenige Stunden vergangen waren, kam ihr das Hotel de la Plage wie eine Zuflucht nach langer Abwesenheit vor. Von der Terrasse aus beobachtete sie einen Frachter, der in den Hafen gelotst wurde. Tödliche Gewalt. So ist das, wenn man ihr begegnet. Ihr war übel. Sie rannte zur Toilette und übergab sich.

Ein Kloß steckte ihr im Hals. In ihrer Umhängetasche wühlte sie nach der Tüte mit Bonbons, die sie vor dem Flug gekauft hatte, und würgte eines ganz herunter. Der Kloß blieb, aber der Schmerz in der Speiseröhre half. Wenigstens fühlte sie wieder etwas. Langsam kehrte sie auf die Terrasse zurück. Erst als es dämmrig wurde und sich die Moskitos auf sie stürzten, ging sie hinein.

Monsieur Alphonse hatte sich selbst übertroffen. Als sie den Hebel umlegte, krachte es, und der Ventilator sprang an. Langsam rührten die Blechflügel die feuchtwarme Luft um, die sich durch die Holzjalousien vom nahen Meer hereindrückte. Sie genoss die ersten Windstreifen. Nach einer kalten Dusche und einem großzügig bemessenen Gin kroch sie schließlich unter das Moskitonetz. Über ihr an der Decke hing ein Gecko und starrte sie an. Der Ventilator schleifte und ratterte. Sie fühlte sich kaputt wie nach harter körperlicher Arbeit. Irgendwann sank sie in einen unruhigen Schlaf.

Scharren und Kratzen, ein monotones Schaben. Sie fuhr hoch. Schlagartig stand ihr der gestrige Nachmittag vor Augen. Doch es war nur der Wächter, der, wie jeden Morgen, vor dem Fenster den Boden mit einem Reisigbesen fegte. Sie holte tief Luft. Rings um das Haus wurde der Sand peinlich genau geharkt, kein Grashälmchen überlebte. Giftige Schlangen, Skorpione und sonstiges Getier hatten keine Chance. Ein eintöniges, ihr jedoch lieb gewordenes Geräusch. Es hieß: Afrika am frühen Morgen. Und das war die Verheißung schlechthin.

Die Luft war noch kühl. Durch den Dunstschleier stahl sich eine Sonne, die matt und harmlos tat. Der Geruch frischen Weißbrots mischte sich mit dem Duft der Bougainvillea vor dem Fenster.

Sie war gern in Afrika. Seit einigen Jahren war es ihr zur zweiten Heimat geworden. Sogar ihr Geld konnte sie durch ihre Fotoreportagen hier verdienen. Viel brauchte sie nicht, sie hatte keine Verpflichtungen. Zeit spielte keine Rolle. Was wir tun, bestimmt den Tag, dachte sie. Wenn wir es tun. Um die Zukunft machte sie sich keine Sorgen. Immer hatte sie geglaubt, dass ihr Glücksstern schon über die weiteren Entwicklungen ihres chaotischen Lebens wachen würde. Mehr als dreißig Jahre hatte er sich wacker für sie geschlagen. Doch seit gestern mochte sie sich nicht mehr auf ihn verlassen.

Sie ließ sich wieder auf das Laken fallen und schloss die Augen. Heute hatte sie einen Termin beim Projektleiter einer der großen internationalen Organisationen, die sich hier seit dem unblutigen Regierungswechsel gegenseitig auf die Füße traten. Die hier hatte sich der Rettung der Umwelt verschrieben. Ada hatte von einer Zeitschrift einen Reportageauftrag über Tropenholz und brauchte Informationen. Normalerweise wäre sie in gespannter Erwartung losgeeilt, doch heute fühlte sie sich wie der Gecko, der unbeweglich über ihr an der Wand hing. Starr. Soll sich doch jemand anders um all das kümmern. Alles giftige Getier wegfegen. Killer, die im hellen Sonnenschein töteten.

Auf der Terrasse bestellte sie ein französisches Frühstück:

Weißbrot, Butter, Marmelade und eine Schale Milchkaffee. Eine der Schönen der Nacht in sparsamem Neongelb frühstückte am Nachbartisch mit einem älteren französischen Geschäftsmann. Ein Junge aus Togo wollte partout seine Batik bei ihnen loswerden. Er schwatzte und schwatzte. Vom nahen Fischmarkt drangen die gellenden Rufe der Verkäuferinnen herüber. Der Kellner lächelte charmant. Das Leben war nicht aufzuhalten.

Sie stellte sich an die Straße und stoppte ein Mopedtaxi. Der Wind wehte ihr eine Mischung aus Meeresbrise, Holzkohlefeuer und Abgasen zu. Das war er: der Geruch von Cotonou.

Die Organisation pour la Coopération Mutuelle, kurz OCM, die Europäische Organisation für Partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Hauptsitz in Brüssel, lag hinter der Lagune, in Akpakpa. Ada betrachtete den weißen Betonbau, der hoch umzäunt war. Hinter den getönten Fensterscheiben, die nur ein vages Bild der Realität hier draußen hineinließen, kämpften gut gekleidete Leute in klimatisierten Büros gegen die Armut. Der Pförtner, der wichtig nach ihren Papieren fragte, passte, fand sie.

Die Vorzimmerdame im bunten Kostüm ließ die Bürde ihrer Verantwortung erahnen, die ihr jede Freundlichkeit unmöglich zu machen schien. Nach einer ihr angemessen erscheinenden Frist, in der Ada zu warten hatte, ging sie erhobenen Hauptes, um sie bei ihrem hohen Chef anzumelden.

In einem Büro voller Aktenregale an den Wänden sah Ada sich einem etwa vierzigjährigen Mann gegenüber, der sie mit hellblauen Augen hinter einer Goldrandbrille aufmerksam begutachtete. Braune Locken zogen sich an den Stirnecken diskret zurück und wellten sich bis auf die fein betuchten Schultern. Künstlerische Neigungen, in jedem Fall aber Unkonventionalität, hält sich vermutlich für einzigartig, vermutete Ada. Alles an seinem Gesicht war ausgeprägt, faunische Lippen, energisches Kinn. Offensichtlich saß hier ein Mann, der es gewohnt war, den Überblick zu behalten. Und der darauf achtete, dass dies auch jeder bemerkte.

Mit einem leichten Lächeln erhob er sich hinter seinem Schreibtisch, wobei sich zeigte, dass er kleiner war als erwartet, und reichte ihr eine kühle Hand.

»Maurice de Boulanger. lch bin Franzose und berate die Regierung Benins bei verschiedenen Entwicklungsvorhaben, besonders im Umweltbereich.« Er machte eine Pause. »Sie sind also Fotografin und wollen allein durch das Land reisen?«

Er ließ den Blick an ihr von oben nach unten gleiten und machte keinen Hehl daraus, dass er ihr Vorhaben mehr als zweifelhaft fand. Diese weißen Frauen, die hier Exotik und Abenteuer suchen, meistens fallen sie auf den ersten schwarzglänzend-muskulösen Body herein, der ihnen über den Weg läuft. Unbewusst zog er ein wenig den Bauch ein, der nach den vielen Jahren an den immer wichtigeren Schreibtischen etwas von seiner straffen Form zu verlieren begann. Er wies auf einen der Besuchersessel ihm gegenüber. Sie setzte sich. Eine Antwort erwartete er natürlich nicht, stattdessen fuhr er mit zart angedeuteter Langeweile fort, sie zu examinieren.

»Für wen haben Sie bisher gearbeitet?«

Sie nannte ihm die Namen einiger bekannter deutscher und französischer Zeitschriften. Er nickte anerkennend. Immerhin.

»In der aktuellen Reportage«, erklärte Ada, »geht es um Tropenholz und den illegalen Handel damit. Urwälder und was davon noch übrig ist. Auch um Aufforstung, Teakholz im Plantagenanbau. Sie finanzieren doch solche Projekte im Norden? Haben Sie Unterlagen darüber, die Sie mir geben könnten? Oder beschäftigen Sie sich mit Abholzung?« Mit einem spöttischen Lächeln ließ sie ihrerseits den Blick von seinen Augen langsam bis zu seiner Krawatte abwärts gleiten. Arroganz gegen Arroganz. Schauspielkunst ist eine wichtige Waffe im Überlebenskampf.

»Sie scherzen!«, antwortete er mit einem gönnerhaften Lächeln. »Zum Abholzen ist schon lange nichts mehr da. Wir finanzieren den Anbau und die Vermarktung von Teakholz. Letztendlich geht es dabei um die Umwelt, um Bodenqualität und die Lebensbedingungen der Dorfbevölkerung. Können Sie mir folgen?« Die Frage war mokant, aber seine Haltung ihr gegenüber hatte sich dennoch verändert. Wer so viel Selbstsicherheit ausstrahlte, war dann doch seiner Aufmerksamkeit würdig.

»Vielleicht kaufe ich Ihnen auch ein paar Fotos ab. Falls sie was taugen.« Er grinste.

»Versteht sich.«

»Ich brauche ein paar aussagekräftige Reportagen für die Tage der Frankofonie. Da erscheint hier alles, was Rang und Namen hat, und wir stellen unsere Arbeit vor. Sie könnten ja unsere Projekte im Norden dokumentieren. Unser Mann, der sonst dafür zuständig ist, ist gerade mit Malaria nach Belgien ausgeflogen worden. Was halten Sie davon?«

Gute Frage. Was hält man davon, wenn man einen Auftrag bekommt?

»Gerne, kein Problem!«

»Abgemacht. Genaueres über die Projekte finden Sie in den Unterlagen, die Ihnen meine Sekretärin zusammenstellen wird. Machen Sie mir ein Angebot, und dann besprechen wir alles Weitere.«

»Okay.«

»Kennen Sie Benin überhaupt?«

»Ich bin schon öfter auf Fotoreisen hier gewesen.«

»Aber unsere Projekte kennen Sie sicher noch nicht. Ich könnte Ihnen da einiges erzählen.« Lässig lehnte er sich in seinem Drehstuhl zurück und schlug die Beine übereinander. Er zündete sich eine Zigarette an, nicht ohne ihr eine anzubieten: »Wollen Sie? Chesterfield, muss ich mir extra schicken lassen, hier gibt es die ja nicht.«

Er blies eine Wolke Rauch in die eisige Luft der Klimaanlage und schob den wuchtigen Malachit-Aschenbecher in Form eines Elefanten in die Mitte des Tisches. »Was haben Sie heute Abend vor?«

Manchmal, dachte sie, ist es ausgesprochen unklug, etwas vorzuhaben. Also hatte sie nichts vor. De Boulanger blätterte in seinem ledergebundenen Kalender, als müsse er prüfen, ob er sich nicht bereits mit irgendeinem Minister oder sonst einer wichtigen Persönlichkeit für den Abend verabredet habe.

»Dann treffe ich Sie um zwanzig Uhr im Les Aristocrates im Sheraton. Kennen Sie das?«

»Ja, das Sheraton kenne ich. Gegessen habe ich dort noch nie.« »Und bitte planen Sie so, dass die Fotos spätestens in sechs Wochen fertig sind. Bei den Tagen der Frankofonie können sie dann unsere Projektarbeit in allerbestem Licht zeigen. Aber Sie sind ja die Fotografin und kennen sich sicher gut aus – mit der Belichtung. Also dann.« Er erhob sich und reichte ihr zum Abschied die Hand, wobei ein Hauch seines teuren Aftershave herüberwehre. Gucci? Noch ein leicht ironisches Lächeln, und sie war entlassen.

Weihnachtssterne standen vor dem Gebäudekasten in Reih und Glied. Ordentlich und langweilig.

Ein größerer Auftrag wie dieser hatte für sie Seltenheitswert.

Der Weg zur Fotoreporterin, um die sich die Zeitschriftenredakteure reißen, war lang und voller Hindernisse. Sie war anerkannt als gute und vor allem engagierte Fotografin. Ein paar Ausstellungen hatten ihr Lob und eine aufmerksame Presse eingebracht. Doch der Sprung nach oben ließ auf sich warten. Sie hatte Mühe, sich zu vermarkten. Akquisition, erst recht Finanzen, Steuern, Versicherungen – allein der Gedanke daran erfüllte sie mit bleischwerer Müdigkeit. Immer wieder nahm sie sich vor, daran zu arbeiten, um wirklich professionell zu werden. Sich in Szene zu setzen, Beziehungen aufzubauen. Wenn es, wie jetzt, unvermutet von ganz allein gelang, auch nicht übel. Dann konnte man schon mal im Sheraton essen gehen und sehen, was geschah. Auch wenn der Hinweis auf die »Lichtverhältnisse« den Wunsch nach Jubelfotos nahe legte. Sie lief in Richtung Zentrum, durstig, auf der Suche nach einem Café. Wie so oft hatte sie in dem Straßengewirr Mühe, den Weg zu finden.

Das Thermometer war jetzt in rekordverdächtige Höhen gestiegen. Wegen der nahenden Regenzeit war die Luft so feucht, dass selbst die dünnsten Stoffe in wenigen Minuten am Leibe klebten. Ada blieb mit dem Absatz ihrer Sandalette im weich gewordenen Asphalt stecken und zerrte ihn teerverklebt wieder heraus. Ein Junge beobachtete sie hinter seinem Stand mit Gummilatschen aus alten Autoreifen.

»Wäre Ihnen damit nicht passiert. Kommen Sie, nehmen Sie ein Paar!«

Auf dem Fischmarkt drängten sich die Leute dicht an dicht, sodass sie sich fragte, wie sie hier je Elise finden sollte, doch kurz darauf hörte sie ihre Stimme: »Ada!«

Eine Marktfrau hielt ihr gerade ein glitschiges Ungetüm vor die Brust. »Ganz billig, nur für Sie!«

»Vielen Dank. Nein!« Mühsam zwängte sie sich an der Frau vorbei.

Sie sah Elise aus einer schwarzen Limousine herauswinken, die auf der anderen Straßenseite hielt. Fast rannte sie in eins der vorbeirasenden Mopedtaxis, dessen Fahrer einen Schlenker hinlegte und ihr einen Vogel zeigte.

Elise war ausgestiegen und fasste sie am Arm. Ihr Gesicht war eingefallen. »Wir fahren zu Patricks Eltern!«

Ada kletterte in den Wagen, und Elise stellte sie ihrem Begleiter vor. Monsieur Diallo, ein großer, schlanker Mann Mitte dreißig mit auffallend heller Haut, trug dem Anlass entsprechend einen schwarzen Anzug. Er war ein hohes Tier aus dem Ministerium für Entwicklung, Zusammenarbeit und Kultur, Ministère pour la Coopération, le Développement et la Culture. Wer sich auskannte, sagte nur »Codécu«.

Diallo war offensichtlich davon überzeugt, dass seine Wichtigkeit im Ministerium nicht hoch genug einzuschätzen war, und stellte sich mit all seinen Titeln und Funktionen vor. Ein ausrasierter Backenbart verlieh ihm ein hochmütiges Aussehen. Er gab dem Fahrer ein lässiges Handzeichen, loszufahren.

Das Leder der Bezüge duftete, und die Konversation war von vollendeter Höflichkeit. Durch die bräunlich getönten Scheiben des klimatisierten Wagens wirkte das Leben auf der Straße wie ein ferner Film. Händlerinnen mit schweißglänzenden Gesichtern schwebten vorüber, Emailtabletts mit Bananenpyramiden auf dem Kopf. Jungen balancierten Gebäck in Glaskästen, ihre Rufe waren unhörbar. Die Bettler mit ihren von der Lepra verstümmelten Gliedmaßen hofften an der Ampel vergeblich, dass der automatische Scheibenheber betätigt würde.

Sie fuhren aus der Stadt heraus durch die Vorstädte. Lehmhäuser lehnten sich aneinander, mit Dächern aus verrostetem Wellblech. Hütten aus Holz und Stroh warteten darauf, vom nächsten Windhauch zum Einsturz gebracht zu werden. Einige Häuserwände, an denen sie vorbeikamen, bestanden aus Plastikstücken, aus denen offensichtlich Schuhsohlen herausgestanzt worden waren. Sie kämpften sich durch ein Gewühl von Kühen und Ziegen, die die Straße entlanggetrieben wurden, umkurvten Friseurstände, die mit selbst gemalten Bildern zu abenteuerlichen Kopfverzierungen ermunterten, mobile Fahrrad- und Mopedreparaturwerkstätten, Frauen, die Lasten schleppten, Kinder und kraterähnliche Schlaglöcher. Für den Chauffeur schien das Getümmel eine reizvolle Herausforderung zu sein. Bei den ruckartigen Stopps flogen die Insassen nach vorne, wurden gegeneinander geworfen, um beim unvermuteten Anfahren sofort wieder in die Rücklehnen gepresst zu werden. Währenddessen hielt Monsieur Diallo einen Monolog zur Lage der Nation, als befinde er sich auf einer Cocktailparty. Vielleicht wollte er auch Minister werden und übte die nächste Rede vor dem Parlament. Er ignorierte die chaotischen Zustände auf der Straße ebenso wie die im Lande. Mit ein bisschen mehr gutem Willen und ein bisschen weniger Schulden war seiner Ansicht nach alles in den Griff zu kriegen.

Im Garten der Stadtrandvilla hatte sich die gesamte Großfamilie de Souza versammelt. Sie saßen auf Bänken entlang der Grundstücksmauer und auf Stuhlreihen im Innenhof. Viele Frauen weinten und wiegten sich im Schmerz hin und her. Ada musste zur Begrüßung unendlich viele Hände schütteln. Sie sprach jedem Einzelnen ihr Beileid aus. Es war schwül, und sie fühlte sich benommen. Immer wieder wurde der Gin in den Gläsern nachgefüllt. Trauer hing schwer über allem. Und Angst. Wenn so ein Mord geschehen konnte, konnte da nicht alles geschehen?

Ein großer, rothaariger Mann mit sorgfältig gestutztem Schnäuzer tauchte auf. Außer Ada war er der einzige Weiße. In seiner lässigen Kleidung – helle Sommerhose und Leinenhemd – hob er sich von den anderen Trauergästen ab, zwischen denen er sich trotz seiner kräftigen Gestalt geschmeidig bewegte. Er schüttelte Hände und fand offenbar überall passende Worte des Beileids. Die Angesprochenen sahen entweder dankbar zu ihm auf oder brachen gerührt in Tränen aus.

Er langte bei Ada an. »Johannes Berger, deutscher Entwicklungsexperte bei der OCM und Regierungsberater im Ministerium für Entwicklung, Zusammenarbeit und Kultur, Codécu, bei Monsieur Diallo.«

Codécu – er kennt sich aus. »Ada Simon.«

»Kennen Sie Monsieur Diallo?« Seine buschigen Augenbrauen tänzelten auf und ab.

»Ich habe ihn gerade kennengelernt«, erwiderte sie. »Kannten Sie Patrick gut?«

»Nein. Ich bin noch nicht lange in Benin. Bisher war ich in Zaire. Aber wegen der Unruhen wurde das Projekt dichtgemacht, und wir mussten bei Nacht und Nebel raus. Hier kenne ich kaum jemanden.« Er beugte sich näher zu ihrem Gesicht, so nah, dass sie seine Fältchen hätte zählen können, und raunte: »Vor allem noch keine interessanten Menschen!«

Ah ja!

»Was haben Sie denn heute Abend vor?«, gurrte er. Das schien hier eine Standardfrage zu sein.

»Ich bin schon verabredet.«

»Und morgen auch?«

»Ça dépend« – kommt darauf an. Eine praktische Redewendung. Passte fast auf alles und wurde dementsprechend oft benutzt.

Johannes Berger schob sich mit vorgerecktem Kopf weiter durch die Menge der Gäste und starrte einer Schönheit im festlichen Trauergewand nach. Ein Jäger, immer auf der Pirsch. Daran änderte auch ein Todesfall nichts. Er schien sich hier schon ganz heimisch zu fühlen.

Ada verabschiedete sich von den Gastgebern und fuhr mit einem Mopedtaxi ins Hotel. Dort warf sie sich in den löchrigen Korbstuhl, der in einer Ecke des Hotelzimmers auf seinen endgültigen Verfall wartete, und las noch zwei Seiten aus Der Meister und Margarita.

Wie andere einen Flachmann trug sie immer einen Roman bei sich. Zurzeit hatten es ihr die Russen angetan. Vielleicht unpassend zum Klima am Äquator, aber was solls!

In jeder Lebenslage konnte sie sich mit einem Buch verkriechen und in eine andere Welt abtauchen. Diese Fähigkeit hatte sie in langen Internatsjahren zur Perfektion gebracht. Ihre Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie vier Jahre alt war, und seit sie lesen konnte, hatte sie gelernt, dem tristen Alltag auf diese Weise zu entfliehen. Doch es schien fast so, als hätte der afrikanische Alltag nicht vor, sie entfliehen zu lassen.

3

Im Sheraton empfing sie exakt die gedämpfte Atmosphäre, wie sie in einem Hotel dieser Preisklasse zu herrschen hat. Ob draußen feuchte achtunddreißig Grad das Atmen schwer werden ließen und Straßenhändler brüllten, einst stolze Tuaregfrauen mit ihren Kindern bettelten oder Krüppel ohne Beine auf Pappkartonstücken an parkenden Limousinen vorbeirutschten – drinnen war es kühl, leise, vornehm. Unwirklich. Das Les Aristocrates war schwach besucht. Kellner wieselten eilfertig umher, um trotzdem den Eindruck zu erwecken, sich für das Wohlbefinden ihrer Gäste die Hacken abzulaufen.

Monsieur de Boulanger saß an einem Tisch auf der Terrasse und las die Financial Times. Als er sie sah, erhob er sich von seinem Stuhl und winkte. Sein Anzug und seine wohl geordneten Gesichtszüge hätten unmöglich besser sitzen können.

»Schön, Sie zu sehen!«, begrüßte er sie und schob ihr etwas zu schwungvoll den Stuhl zurecht. Er klopfte sich eine Zigarette aus der Schachtel Chesterfield, klackte mit seinem goldenen Feuerzeug herum, aber der Abendwind blies es immer wieder aus.

»Das wird wohl nichts«, lästerte sie.

Er beugte sich etwas vor, öffnete sein Jackett, und in dessen Windschutz flackerte die Flamme endlich auf. Gucci-Duft stieg ihr in die Nase, und ihr fiel auf, dass er schöne Hände hatte.

»Ein Mann, der sich zu helfen weiß!«

Er schmunzelte. »Was wollen Sie trinken?«, fragte er. Sie entschied sich für einen Entre-deux-Mers.

De Boulanger reichte ihr die Karte. »Ich würde Ihnen das Lammragout in Minze empfehlen!«

An seiner Rechten blitzte ein Ehering. Er registrierte ihren Blick. Seine Frau sei in Frankreich geblieben. Aus gesundheitlichen Gründen.

Sehr vernünftig.

Er beobachtete, wie sie beim Kellner eine Flasche Wasser bestellte, und ließ seine Augen über sie gleiten, wenn er meinte, sie bemerke es nicht. Sie verkniff sich ein Grinsen. Das eng anliegende Kleid wirkte offenbar. Seine Farbe, ein dunkles Grün, betonte ihr rötlichbraunes Haar, das sie an diesem Abend hochgesteckt trug.

De Boulanger setzte sich aufrecht hin – im Sitzen wirkte er immerhin größer als sie – und fragte liebenswürdig: »Hoffentlich interessieren Sie unsere Projekte, die Sie für uns dokumentieren sollen? Sonst fotografieren Sie doch sicher spannendere Sachen?« Er stieß den Zigarettenrauch seitlich durch den Mundwinkel aus. Verwegen.

»Worum dreht es sich denn genau bei den Projekten?«, fragte sie und blinzelte sich den Rauch aus den Augen. Trottel.

»Landwirtschaft und Kreditvergabe. Kennen Sie sich damit aus?« Sein Tonfall war konziliant.

»Bisher bin ich glücklicherweise ohne Kredite ausgekommen. Nein, im Ernst, das ist nicht mein Fachgebiet. Aber ich mache Fotoreportagen über die traditionelle Arbeit auf dem Lande, über alles, was mit der Hand und ohne aufwändige technische Hilfsmittel hergestellt wird. Feldarbeit und die Verarbeitung der Produkte gehören dazu. Zum Beispiel, was mit Karité, Maniok und Erdnuss gemacht wird. Insofern passen Ihre Projekte ganz gut zu meinem Thema.«

»Das ist aber schön.«