Farnblütenträume - Siri Goldberg - E-Book

Farnblütenträume E-Book

Siri Goldberg

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Heute soll es passieren! Paula hat alles minutiös geplant: die Fahrt mit Alex auf die luxuriöse Hütte ihres Vaters, das Mittsommerfest und selbst das Wetter zeigt sich gnädig. Doch dann fehlt die Sahne für die Erdbeeren und damit nimmt der Tag einen höchst turbulenten Verlauf. Denn der Almbursche Chris, der eigentlich Musiker ist, hat weitaus mehr zu bieten als das bisschen Schlagsahne. Ungewollt bringt er Paulas ausgeklügelten Lebensplan beträchtlich ins Wanken ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buchinfo:

Heute soll es passieren! Paula hat alles minutiös geplant: die Fahrt mit Leo auf die luxuriöse Hütte ihres Vaters, das Mittsommerfest und selbst das Wetter zeigt sich gnädig. Doch dann fehlt die Sahne für die Erdbeeren und damit nimmt der Tag einen höchst turbulenten Verlauf. Denn der Almbursche Chris, der eigentlich Musiker ist, hat weitaus mehr zu bieten als das bisschen Schlagsahne. Ungewollt bringt er Paulas ausgeklügelten Lebensplan beträchtlich ins Wanken …

Autorenvita:

© Thienemann Verlag GmbH

Siri Goldberg, geboren 1964, lebt als Klavierlehrerin und Autorin in Innsbruck. Sie liebt die Berge, Bücher und die Beach Boys.

Für Gina und all jene,

die anderen eine Tür öffnen.

En människa gör ingen sommar.

Men tvä gör vintern mindre kall.

Ein Mensch macht noch keinen Sommer.

Aber zwei Menschen machen den Winter weniger kalt.

Schwedisches Sprichwort

Heute wird es also passieren. Der Gedanke kostet mich ein Lächeln.

Leo legt den ersten Gang ein und treibt den Golf die Bergstraße hoch, dass der Kies unter den Rädern wegspritzt. Ein Steinchen schlägt gegen das Seitenfenster. Ich schaue hinaus. Weit unter uns läuft das steil abfallende Gelände in eine Wiese aus. Durch das Muster auf der Scheibe, das im Fahrtwind zerronnene, mit Staub vermischte Regentropfen hinterlassen haben, sieht sie wie ein impressionistisches Gemälde aus. Als wäre sie aus einzelnen Farbtupfen zusammengesetzt. Wo die Wiese ausfranst, schließen Äcker und Bauernhöfe an, erdfarbene Vierecke wie aus Picassos Pinsel. Dahinter hockt das Dorf, Flötz. Ein paar hingewürfelte Häuser, die sich um einen Kirchturm drängen, in einem von ihnen ist mein Vater aufgewachsen.

»Freust du dich auf die Party?«, fragt Leo.

»Und wie!« Auf den Abend, das große Fest und auf das, was danach passieren wird. Natürlich habe ich einen Plan ausgetüftelt. (Nicht umsonst nennt Zoe mich immer »Paula, die Planungsweltmeisterin«.) Meine Pläne sind meistens genial. Okay, mit der Umsetzung hapert es manchmal. Aber heute dürfte es nicht allzu schwierig sein, weil Leo ganz bestimmt das Seinige zum Gelingen beitragen wird.

Für einen Augenblick wendet er mir sein Gesicht zu und grinst mich an. Ich wüsste zu gern, was ihm durch den Kopf geht. Ahnt er etwas? Rechnet er damit, dass es heute Nacht so weit sein wird, nach endlosen Wochen des Hinhaltens? Keine vorgetäuschten Schwindelanfälle, keine krampfhaften Lass-uns-über-etwas-anderes-reden-Gespräche, bis die Zunge Blasen wirft und auch der geringste Anflug von Lust abgeflaut ist. Einfach fallen lassen. Genießen. Mir kribbeln jetzt schon die Fingerspitzen und meine Geschmacksknospen rufen das Zimtaroma von Leos Lieblingskaugummi auf, der seine Zungenspitze süß und zugleich einen Hauch bitter schmecken lässt.

PLING! Wir sind da. Das Haus ist größer, als ich es mir vorgestellt habe, und sieht mit seiner nach außen gewölbten Metall-Glas-Fassade wie ein futuristischer Fremdkörper aus. Als hätten Marsmenschen beim Überfliegen der Alpen ein Stück ihres Raumschiffs verloren.

Leo springt aus dem Wagen. Er breitet die Arme aus, als ob es sich um SEIN Ferienhaus handeln würde, nicht um das meiner Eltern. »Was sagst du dazu?«

Ich verkneife mir ein Grinsen. Irgendwie hat er ja recht. Als Praktikant in Dads Büro war er direkt in die Planung involviert. Das macht das Haus schon irgendwie zu seinem Baby. Also lege ich die größtmögliche Anerkennung in meine Stimme und nicke ausgiebig. »Sieht toll aus! Schön modern.« Gegen die überladene Villa, die Dad auf Menorca gebaut hat, ist es in der Tat eine ästhetische Meisterleistung.

»Der Grundriss des Hauses ist in ein Kreissegment eingeschrieben.« Begeistert zeichnet Leo ihn in die Luft.

Ich mag es, wenn er ins Schwärmen gerät. Wenn sich die Augen, die er beim Nachdenken immer zusammenkneift, in große runde Kinderaugen verwandeln. Wenn die Myriaden von Sommersprossen, die sein Gesicht überziehen, vor Aufregung zu hüpfen beginnen. Als wollten sie gleich abheben und zum Mond fliegen.

»Durch die umlaufende Glasfront und die gewölbte Fassadenform ergibt sich ein fantastischer Rundblick.«

»Wunderbar. Vielleicht gewinnt ihr ja einen Preis dafür?«, sage ich, um den Tanz der Sprossen noch ein bisschen zu verlängern.

Leo legt den Arm um meine Schulter. »Warte, bis du es von innen gesehen hast.« Er schnalzt mit der Zunge. »Das ist die reinste Luxushütte. Whirlpool, Sauna, Komfortküche vom Feinsten, Terrasse mit Wahnsinns-Bergpanorama und vier Schlafzimmern.«

Das Wort VIER betont er, als wollte er andeuten, dass er mich auch heute nicht bedrängen werde. Dass er es mir überlässt, den richtigen Zeitpunkt zu bestimmen. Dafür bin ich dankbar, denn diesmal will ich mir ganz sicher sein. (Nicht, dass meine bisherigen Erfahrungen – die sich übrigens an einer Hand abzählen lassen – so miserabel gewesen wären, nein, sie waren ganz nett, ganz okay, Erfahrungen eben und nicht mehr. Kein WOW!) Doch Leo ist etwas Besonderes, mit ihm will ich endlich das WOW! erleben. Entweder WOW! oder gar kein Sex.

»Was grinst du so?« Hast du etwas vor?, fragen seine Augen.

Nichts, wofür wir vier Schlafzimmer bräuchten, antworten meine, aber meine Lippen sind verschlossen. Ich zucke mit den Schultern und sperre die Haustür auf.

Der Holzboden im Flur duftet so intensiv nach Wald, dass ich mich nicht wundern würde, auf äsende Rehe zu stoßen. In der Küche gesellt sich der Geruch nach geputzten Fenstern dazu und nach einer Farbe, die noch nicht lange trocken sein kann.

»Hast du an die Sahne gedacht?«, fragt Leo, als ich die Erdbeeren in den Kühlschrank räume. Erdbeeren und Sahne hat Jasper auf meine Liste geschrieben, die Liste der zu besorgenden Dinge.

»Ohne Erdbeeren mit Sahne keine schwedische Mittsommernacht«, sagte Jas.

»Mist. Vergessen!« Ich bereue schon, dass ich mich darauf eingelassen habe, Zoes Lover die Planung des Festes anzuvertrauen. Schließlich ist es UNSER Fest, das von Zoe und mir. Wir beide haben das Abitur bestanden, wir beide schweben seit einer Woche auf der Nie-mehr-Schule-Wolke sieben. Dass unsere Party in der Mittsommernacht stattfindet, ist reiner Zufall. Und wenn Jas nicht Schwede wäre und auf die Bräuche seiner Heimat abfahren würde, hätten wir es vermutlich gar nicht bemerkt.

»Sahne gibt es bestimmt im Tante-Emma-Laden«, sagt Leo. Sofort erklärt er sich bereit, ins Dorf zu fahren und welche zu kaufen, obwohl das mein Job wäre. (Auf seiner To-do-Liste stehen die Zutaten für Heringssalat.)

Am Anfang unserer Beziehung habe ich bei derartigen Demonstrationen von Hilfsbereitschaft misstrauisch reagiert. Habe ihn verdächtigt, dass er sich nur bei mir einschleimen will, wie er sich bei meinem Vater eingeschleimt hat, um sich unentbehrlich zu machen. Und bei Dad hat das prima geklappt. Obwohl Leo noch mitten im Studium steckt, hat er bereits eine feste Stelle in unserem Architekturbüro in Aussicht. Als er begonnen hat, mit mir auszugehen, war ich hin und her gerissen. Einerseits habe ich seine Aufmerksamkeiten genossen, andererseits konnte ich mir lange nicht vorstellen, dass es ihm wirklich um MICH ging, um die kleine, unscheinbare Paula. Okay, ich bin weder dumm noch hässlich, aber ich habe keinerlei herausragende Eigenschaften. Meistens werde ich einfach übersehen, speziell, wenn ich mit Zoe unterwegs bin. (Sie ist es, der die Jungs nachpfeifen. Sie ist groß, blond, sexy. Ich bin nur ein Schatten.)

»Der meint es ernst mit dir«, hat Zoe mir schon bei ihrer ersten Begegnung mit Leo zugeflüstert. Inzwischen möchte ich auch glauben, dass er nicht an der Tochter des erfolgreichen Unternehmers und Architekten Toni Koslowski interessiert ist, sondern an mir, der Paula. Und deshalb nehme ich sein Angebot, Sahne zu besorgen, ganz einfach an. »Danke. Nett von dir.«

»Ach was, ich wollte sowieso ins Dorf. Muss den Baufortschritt der Hotels überprüfen.«

ARGH. Ein Auftrag meines Dads also. Mein Lächeln bröckelt. Ich revidiere. Leo liebt mich, bestimmt, aber sein zukünftiger Job und mein Dad sind ihm wichtiger. Wenigstens versucht er nicht, es zu verbergen.

Während er sich auf den Weg macht, nutze ich die Zeit und das Traumwetter zu einer Erkundungstour in die Umgebung. Für alle Fälle nehme ich meinen Zeichenblock mit, womöglich bietet die Berglandschaft interessante Motive.

Wenige Meter oberhalb des Ferienhauses zweigt ein schmaler Weg von der Forststraße ab und führt steil bergauf.

Flötzer Moorsee: 35 Minuten, Flötzer Alm: 50 Minuten, Flötzer Kogel zwei Stunden, lese ich auf einem halb verwitterten Wegweiser.

Die Sonne knallt auf meinen Kopf, bald kullern Schweißtropfen nackenabwärts. Ich bin schon völlig aus der Puste, als der Weg endlich flacher wird und durch ein Waldstück führt. Hier ist es angenehm kühl. Eine Schicht aus altem Laub bedeckt den Boden wie ein dicker Plüschteppich. Vereinzelt fallen Sonnenstrahlen durch die Baumkronen und lassen die toten Blätter rostrot aufleuchten.

Die Farbe erinnert mich an Leos Sommersprossen. Ob sein ganzer Körper mit Sprossen übersät ist, wie das Marsupilami mit Tupfen, oder ob sich der Badehosenbereich, den ich noch nie stofflos gesehen habe, jungfräuliches Weiß bewahrt hat? Ich pflücke eine Blume und zupfe die Blütenblätter ab: »Jungfrau, Marsupilami, Jungfrau, Marsupilami, Jungfrau …« Ein Häher fliegt knapp über meinen Kopf hinweg und keckert. Erschrocken lasse ich die Blume fallen.

Heute Nacht werde ich die Sommersprossenfrage klären.

Der Wald lichtet sich. Der Boden wird weicher, bei jedem Schritt schmatzt er unanständig. In meinen Schuhabdrücken bilden sich kleine Pfützen. Dann sehe ich zwischen den Stämmen einer Kieferngruppe Wasser schimmern: der Flötzer Moorsee. Fast schwarz liegt er da, in die prächtige Bergkulisse eingebettet. Nur ein Teil des Sees wird von der Sonne beschienen, die ihn grüngolden aufleuchten lässt wie einen Smaragd. Idylle pur.

Halt! Nicht ganz. Ich kneife die Augen zusammen. Der Hang, der vom gegenüberliegenden Ufer ansteigt, ist zur Hälfte kahl. Als hätte ein monströser Drache eine Schneise durch den Wald gefressen.

Ein Platschen reißt mich aus meinen Betrachtungen. Irgendetwas schwimmt im Wasser. Etwas Großes. Ich schleiche näher, drücke mich an den Stamm einer Buche und spähe dahinter hervor.

Das Etwas ist männlich, krault eine Runde durch den See, taucht, kommt prustend wieder an die Oberfläche und schwimmt schließlich ans Ufer.

Jetzt geht er an Land.

Ich halte die Luft an.

Er ist groß, muskulös und ungefähr so alt wie Leo.

Er ist tropfnass (was zu erwarten war).

Und wenn man von der Schlingpflanze absieht, die sich um sein linkes Bein gewunden hat, ist er splitterfasernackt.

Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt.

(Zoe hätte mich ausgelacht! »Na und?«, hätte sie gesagt, hätte sich ebenfalls die Kleider vom Leib gerissen und wäre ins Wasser gesprungen.) Ich bin nicht wie Zoe. Ich ziehe den Kopf ein und schließe die Augen, ganz nach der Devise: »Was du nicht siehst, das kann dir keine Probleme bereiten.« Leider hilft es mir nichts, da ich den Nacktschwimmer jetzt vor meinem inneren Auge sehe. Dann kann ich genauso gut hinschauen.

Mit einem Schlenkern entfernt er die Schlingpflanze, beugt den Kopf nach unten und drückt Wasser aus seinen langen Haaren. Er bindet sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Lässig schlendert er auf eine Bank zu und legt sich in die Sonne, keine drei Meter von mir entfernt.

SPRONG! Mein Kopf dröhnt, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen. Nur dass ich anstelle von Sternen Bilder sehe. Rasende Bilder. Die Graphic Novel, die ich vor Monaten begonnen und kurze Zeit später uninspiriert wieder weggelegt habe, erwacht zu neuem Leben. Ich sehe Kira, meine Protagonistin, wie sie in die Berge flüchtet; wie sie in einen Hinterhalt der Schwarzen Rukh gerät und von einem Felsvorsprung gestoßen wird. Sie fällt. Aber der Daimon Josua hat sich schon in die Lüfte geschwungen. Er legt seine Flügel an. Im Sturzflug holt er Kira ein, packt sie und landet sanft mit ihr im Wasser. SPLASH.

Josua. Ich habe Josua gefunden.

Rasch schlage ich den Zeichenblock auf und fische einen Bleistiftstummel aus meiner Hosentasche. Mit wenigen Strichen skizziere ich mein ahnungsloses Opfer, wie es mit angewinkelten Beinen auf der Bank liegt, die Hände unter dem Kopf verschränkt.

Der Held ruht nach vollbrachter Tat.

Auf einem zweiten Blatt zeichne ich ihn kraulend und auf einem dritten, wie er aus dem Wasser steigt. Von vorn. In voller Pracht. Während ich Josuas Schamhaar schraffiere, frage ich mich, was Leo dazu sagen würde. Ob er wütend wäre oder bloß abschätzig eine Braue hochzöge? Zum Glück interessiert er sich nicht für meine Zeichnungen. Meine künstlerischen Anwandlungen fallen für ihn in dieselbe Kategorie wie die Seidenmal– und Bauchtanzkurse seiner Mutter, die er immer mit einem Kopfschütteln und Sprüchen à la »Hausfrauen malen« kommentiert.

Wahrscheinlich hat er recht.

Trotzdem kann ich es nicht lassen.

Wie im Rausch zeichne ich weiter, das Seeufer, die Berggipfel in der Ferne, die Rinde eines Baumes. Es hat mir lange nicht mehr so viel Spaß gemacht. Ich verschmelze mit dem Bleistift, dessen weiche Spitze so leise über das Papier schabt, dass das Geräusch vom Wispern des Schilfs übertönt wird, mit dem der Wind spielt.

Nur einen Schritt entfernt entdecke ich ein Prachtexemplar von Farn. Seine Wedel sind zum Teil eingerollt. Ich versuche, ihn so detailliert wie möglich darzustellen, kein Härchen lasse ich aus. Dann geht die Fantasie mit mir durch. In die Mitte der Pflanze zeichne ich eine Knospe, die gerade aufbricht und eine zarte, exotische Blüte freigibt.

So vertieft bin ich in die Skizzen, dass ich gar nicht auf Josua achte. Irgendwann stelle ich überrascht fest, dass er nicht mehr da ist. Einfach verschwunden, wie weggezaubert. Wie ist das möglich? Ich hätte ihn doch hören müssen. Habe ich mir den Nacktschwimmer nur eingebildet? Eine Fata Morgana, ausgelöst durch die Hitze und die ungewohnte Anstrengung einer Bergtour? (Das wäre ein Fressen für Zoe, die immer den Kopf schüttelt über meine ausufernde Fantasie!)

Irritiert klemme ich meinen Block unter den Arm und setze den Weg fort, der am Seeufer entlangführt, sanft ansteigt, parallel zum Kahlschlag verläuft und immer steiler wird, bis er hinter einer Kuppe in die Forststraße mündet. In der Ferne entdecke ich eine urige Almhütte, die von zwei kleineren Nebengebäuden flankiertwird. Die Dächer sind mit Solarpaneelen bestückt, die in der Sonne aufleuchten. Und dann sehe ich ihn: Josua. Also doch keine Halluzination! Erleichtert atme ich auf. Er steht gebückt in der Wiese und fummelt mit einer Zange am Weidezaun herum. Eine Kuh beobachtet ihn dabei. Vermutlich hört er meine Schritte, denn er hebt den Kopf und schaut auf.

»Hallo«, grüße ich.

Ein feines Lächeln umspielt seine Lippen. Eine Haarsträhne fällt ihm ins Gesicht. Sie glänzt feucht. Obwohl er inzwischen vollständig bekleidet ist (mit Jeans und einem Karohemd, über das Leo die Nase rümpfen würde), weiß ich nicht, wo ich hinsehen soll, und schäme mich rückwirkend.

»Hallo«, antwortet er nach einer gefühlten Ewigkeit. Jedenfalls hätte ich in der Zeit meine halbe Lebensgeschichte erzählen und einen Apfel essen können. Er mustert mich lange. Ich würde gern weitergehen, aber meine Knie tun so, als wüssten sie nicht mehr, ob sie sich nach innen oder nach außen knicken lassen.

»Ich bin Paula«, stammle ich, obwohl er nicht danach gefragt hat, nur um irgendetwas zu sagen und die Peinlichkeit des Starrens zu durchbrechen.

»Chris.«

»Sind das deine Kühe?«

Tolle Konversation! Wirklich, Paula, du übertriffst dich selbst.

»Von meiner Oma.«

»Aha. Und du passt auf, dass sie nicht ausbüxen?«

Er nickt. Dann kommt nichts mehr und ich zwinge mein rechtes Bein, endlich einen Schritt nach vorne zu machen.

Weitergehen, Paula.

»Mein Sommerjob. Melken, Käsen, Zäune flicken und so …«

Immerhin. Zwei Sätze. Wenn auch unvollendet. »Dann lebst du auf der Alm und bist Hirte?«

»Senner.«

Ich überlege, was ich noch fragen könnte. Schwimmst du immer nackt im See? Wohnt deine Freundin auch hier? Kannst du dir vorstellen, als fliegender Held in einem besseren (oder schlechteren) Comic zu landen? Ich presse meine Lippen zusammen.

»Und du?« Er zeigt auf meinen Block. »Künstlerin?«

Das K von Künstlerin kommt ganz hinten aus seiner Kehle, als wollte er sich über alle Künstler dieser Welt lustig machen. Oder liegt es nur am Dialekt? Jedenfalls klemme ich den Zeichenblock fester unter meinen Arm.

»Lass mal schauen!« Er sagt es fordernd.

SCHLUCK. Eine Hitzewelle flutet mein Gesicht und verwandelt es vermutlich in ein Leuchtradieschen. »Tut mir leid, das ist viel zu dilettantisch, um es herzuzeigen«, nuschle ich. Nur schnell weiterreden. Ablenkungsmanöver. »Was macht ein Senner eigentlich so?«

»Die Milch verarbeiten. Zu Butter und Graukäs.«

»Graukäse?«

»Eine Tiroler Spezialität. Mit Zwiebelringen, Essig und Öl schmeckt er am besten. Wenn du mitkommst, darfst du kosten.«

Meine Ohrläppchen pulsieren. Jetzt fängt das Leuchtradieschen also auch noch zu blinken an. »Geht leider nicht. Ich bin schon spät dran.« Paula, du Mondkalb. Mir ist nicht zu helfen. Ich habe die einmalige Chance vertan, Josua näher kennenzulernen. »Wir haben für heute eine Feier geplant, ein paar Freunde und ich. Ist noch einiges zu tun. Aber vielleicht morgen?«, versuche ich zurückzurudern.

Er legt seine Stirn in Falten. Ist er enttäuscht, dass ich nicht alles stehen und liegen lasse, um seine Einladung anzunehmen?

Das hättest du wohl gern, Paula.

»Wo feiert ihr denn?« Die Frage klingt lauernd.

Ein Gefühl sagt mir, dass ich auf der Hut sein sollte, aber ich wüsste nicht wovor und plappere los, als ginge es darum, einen Redewettbewerb zu gewinnen. »Im Ferienhaus, das meine Eltern gebaut haben. Es ist erst kürzlich fertig geworden. Mein Dad stammt übrigens aus Flötz, Toni Koslowski heißt er, vielleicht sagt dir der Name was? Wir bleiben nur übers Wochenende, dann muss ich wieder nach München zurück. Komm doch auch zu unserer Party! Wird bestimmt ganz nett, ich würde mich freuen …« Ich habe immer schneller gesprochen, bis mir die Puste ausgegangen ist.

Chris’ Blick ist starr geworden. Versteinert. Irgendetwas muss mir entgangen sein, etwas, das die Stimmung kaputt gemacht hat. Ich überlege krampfhaft, woran es liegen könnte. Habe ich ein unschönes Wort verwendet? »München« vielleicht? »Ferienhaus«? Oder »Party«? Ich komme nicht drauf. Nach einer halben Ewigkeit, in der ich fast ersticke, weil ich offenbar vergessen habe, wie man Luft holt, antwortet er.

»Keine Zeit.« Damit dreht er sich um, haut der Kuh auf die Kruppe, dass sie in wildem Galopp bergauf prescht, und geht mit großen Schritten hinterher, ohne sich nochmals nach mir umzudrehen. Ohne Gruß. Ohne irgendwas.

Schauen kann die! Ihre Augen sind so dunkel wie der Flötzer Moorsee an der tiefsten Stelle. Und je länger ich sie anstarre, umso mehr zieht’s mir die Füße weg und saugt mich rein, als wär’s ein richtiges Moor, aus dem man nicht mehr rauskommt. Nicht aus eigener Kraft.

Neugierig ist sie auch. Fragt Löcher in meinen Bauch und dabei hält sie den Kopf schief und drückt ihr Kinn nach vorn wie eine, die’s unbedingt wissen will und die keine Ruh’ gibt, bis sie nicht alle Antworten bekommen hat. Eigentlich ist sie nicht mein Typ. Klein und knochig. Wie eine magere Geiß. Und kurze Haare wie ein Bursch. Nicht mein Typ, aber hübsch. Und diese Augen! Dunkel wie Moorwasser und groß und glänzend wie Rehaugen. Wie Rehaugen? Hallo? Ich glaub, ich bin im falschen Film.

Bambi allein zu Haus …

Seit wann schmeißt mein Gehirn mit so schwülstigen Vergleichen herum, nur weil eine hübsche Augen hat und mich komisch anschaut. Und wieso hab ich jetzt die Romanze in F-Dur von Beethoven im Ohr? Diesen Schmachtfetzen! Der so verboten schön klingt, dass es wehtut, und so melancholisch, als hätte Beethoven beim Komponieren geweint. Und der ein fürchterlicher Ohrwurm ist, viel zu oft gehört in viel zu kitschigen Interpretationen.

Paula heißt sie also. Jetzt ist sie rot geworden. Weil ich sie auch die ganze Zeit anstarre wie ein Depp. Die Marie wär nicht rot geworden deshalb. Die hätte höchstens »Schau nicht so blöd!« gezischt. Oder: »Mach den Mund zu, es zieht!« Eine, die noch rot werden kann, ist eine Seltenheit, auch wenn mir nicht klar ist, was an ihren Zeichnungen so peinlich sein soll.

Aber versteh einer die Frauen – oder liegt’s dran, dass sie eine Deutsche ist? Eine Städterin? Da will man nett sein und dann ist ihr der eigene Kopf im Weg und die Tagesplanung ist in Gefahr! Das geht natürlich nicht; das kann so eine nicht zulassen, dass sie wegen ein bissl Graukäs aus dem Tritt kommt. Aber interessant: Die Musik, die sich in meinem Kopf eingenistet hat, seit ich zu lang in die Rehaugen geschaut hab, die spielt jetzt langsamer, grad so, als würden die Batterien nachlassen, und die Streicher klingen auf einmal verstimmt. Und dann, dann nimmt sie den Namen von diesem Unmenschen in den Mund, sagt, dass sie seine Tochter ist, und sofort bricht die Melodie ab. Alles stumm da oben. Hat sie wirklich Koslowski gesagt? Aus München? Muss dieser geldgierige Landschaftsverschandler so eine hübsche Tochter haben? Da hilft nur eins: umdrehen und gehen. Nicht mehr hinschauen, schon gar nicht in die Rehaugen.

Aber so ein verwöhntes Architektentöchterl rechnet nicht damit, dass sie einfach stehen gelassen wird, noch dazu von einem dahergelaufenen Kuhhüter. Und entweder sie kapiert die simpelsten Signale nicht oder sie ignoriert sie einfach. Ignoriert sie und ruft mir hinterher.