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Der dritte Fall von Heiri Stampfli, Ermittler bei der Kantonspolizei Zürich. Ein Mann wird in seinem Bett ermordet, der Einbrecher in flagranti geschnappt. Der Fall scheint eindeutig. Aber ist er das wirklich? Stampflis Bauchgefühl sagt nein! Ein rasanter Krimi, der Eritrea und die Schweiz verbindet. Es geht um Liebe und Treue bis zum Tod.
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2020
SUSANNE GANTNER
***
FATALES TREFFENAM ELEFANTENBACH
Kriminalroman
© 2020 Susanne Gantner
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-05197-3
Hardcover:
978-3-347-05198-0
e-Book:
978-3-347-05199-7
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.
Am Ende des Buches findet sich ein Glossar. Die mit *versehenen Begriffe werden dort erklärt.
Lektorat:
Sabine Wirth
Umschlaggestaltung:
Natalie GerbexGerbex Photographywww.gerbex.ch
EINS
2016 in Zürich
«Ich muss es tun, für Salina, ich muss es tun, für Salina», wiederholte er in Gedanken immer wieder und bekreuzigte sich. Im Keller war es stockdunkel. Tesfay knipste seine Stablampe an. Der Lichtkegel beleuchtete nur eine winzige Stelle. Vorsichtig machte der hagere, dunkelhäutige Mann ein paar Schritte, zog die Schuhe aus und stiess dabei gegen eine halb offene Weinkiste. Vom leisen Klirren erschreckt, hielt er inne und lauschte – eine Minute lang. Nichts. Der Duft von überreifen Äpfeln stieg ihm in die Nase. Weiter, er durfte keine Zeit verlieren. Im schwachen Licht erkannte er eine Stufe. Dies war wohl die Treppe, die in die Wohnräume führte. Er schlich hinauf, als ihn plötzlich etwas an der Schläfe streifte. «Mein Gott!» Tesfay hätte beinahe aufgeschrien. Sein Herz klopfte wie verrückt, dann atmete er auf – es war nur eine Spinnwebe. Ängstlich wischte er sie mit der Hand weg. Jemand hatte ihm erzählt, es würde Unglück bringen, wenn man das Netz einer Spinne zerstörte. Sollte er umkehren? Es wäre die letzte Gelegenheit. Aber das durfte nicht sein. „Für Salina“, wisperte er.
Er öffnete die Holztür und betrat einen hohen Hausflur. Innehaltend vernahm er einige Sekunden lang eine leise tickende Uhr, bevor er sich nach rechts wandte. Der runde Lichtfleck tanzte auf dem grünlichen Natursteinboden, bis er die zweite Tür erreichte – die zum Schlafzimmer. Vorsichtig drückte Tesfay die Klinke herunter und trat ein. Hoffentlich stimmten seine Informationen, wonach der Mann nicht erwachen würde, weil er jeden Abend starke Schlafmittel schluckte und seine Frau einen Stock höher zu schlafen pflegte. Tesfay, der Eritreer, spitzte die Ohren; er musste den Schlafenden doch atmen hören. Aber da war nichts. Befand sich der Mann gar nicht im Bett, sondern auf der Toilette und würde jeden Moment zurückkommen? Tesfay holte erschrocken Luft, da stieg ihm ein seltsamer Geruch in die Nase. Mit pochendem Herzen richtete er das Licht vorsichtig auf die linke Seite des Bettes. Er erblickte ein Kopfkissen und seitlich davon zwei Arme. Es bewegte sich nichts. Er spürte, wie ihm der Schweiss auf die Stirn trat. Ohne zu überlegen, packte Tesfay das Kissen und nahm es weg. Der Mann lag bewegungslos da, mit offenen Augen und aufgerissenem Mund, sein Gesicht war dunkel verfärbt. Er war tot.
«Nein, nein, mein Gott, nein», dachte Tesfay, «ich bin kein Mörder, ich bin doch nicht einmal ein richtiger Einbrecher.»
Dieser Gedanke erinnerte ihn an sein ursprüngliches Vorhaben. Die Schmuckkassette sollte auf dem Nachttisch auf der rechten Seite stehen. Der Strahl der Stablampe erfasste ein Kästchen, das golden aufblitzte. Schnell ergriff er die Schatulle und leerte den Inhalt auf die freie Fläche des Doppelbettes. Die filigrane Damenuhr, die er brauchte, war unverkennbar. Er packte sie und wollte damit verschwinden. In diesem Moment schrillte das Telefon. Er hastete aus dem Zimmer, rannte den Gang entlang und schlug der Länge nach hin. Er war über eine Katze gestolpert, die laut miaute.
„Oriana, was ist?“, ertönte da eine Stimme. „Hat dich das Klingeln erschreckt? Wer ruft denn um diese Zeit an?“ Die Frau hatte das Licht angeknipst und stand oben an der Treppe, die ins Erdgeschoss führte. Sie trug ein fast durchsichtiges rosa Nachthemd.
Tesfay spürte einen stechenden Schmerz im rechten Knöchel, er hatte sich den Fuss unglücklich verdreht. Trotzdem sprang er auf. Weg, nichts wie weg! Die Frau starrte ihn an, bis er hinkend die Kellertür erreichte. Er riss sie auf, stolperte die Stufen hinab und fing sich im letzten Moment, sonst wäre er auch hier gestürzt. Sein Herz schlug so stark, dass es weh tat. Die Schuhe! Er musste noch in die Schuhe schlüpfen, die er neben der Weinkiste zurückgelassen hatte. Um keinen Lärm zu machen, hatte er beim Einbruch nur Socken getragen. Doch es war zu spät. Er konnte die Schritte der Frau schon auf der Treppe hören. Keuchend packte er die Turnschuhe und flüchtete in den Garten. Weil es ein paar Stunden vorher ein Gewitter gegeben hatte, war die Erde noch leicht feucht. Sein Fuss brannte wie Feuer, doch Tesfay humpelte weiter durch den Gemüsegarten und durch das Tor auf die Strasse hinaus. Ein Polizeiauto fuhr ihm mit Blaulicht entgegen. Um zwei Uhr morgens befand sich sonst kein Mensch draussen. Die Polizisten kamen zielstrebig auf ihn zu und nahmen ihn fest.
ZWEI
Feldweibel mbA* Heiri Stampfli, Ermittler der Kantonspolizei Zürich, schwitzte in seinem Bett. Das Gewitter hatte kaum für Abkühlung gesorgt. Im Zimmer herrschte eine schwüle Hitze. Weil Heiri heute Morgen nicht arbeiten musste und nach tage- und nächtelangem Einsatz endlich einmal lange ausschlafen konnte, hatte er sich gestern einen Absacker in Fannys Bar genehmigt. Es war spät geworden, er hatte zwei Bier zu viel getrunken und deshalb vergessen, die Fensterläden zu schliessen. Die Sonne schien durchs Schlafzimmerfenster direkt auf sein Bett. Heiri warf sich hin und her. Er träumte:
Der Staatsanwalt Dr. Merian, den er nicht ausstehen konnte, stand auf dem hochglanzpolierten Nussbaumpult und schrie laut: „Wenn Sie, Stampfli, nicht binnen vierundzwanzig Stunden definitive Resultate vorweisen können, muss ich Sie leider freistellen. Haben Sie verstanden, Stampfli?“ Dabei zog der eingebildete Kerl die linke Augenbraue hoch. Offenbar schwitzte er auch. Er zog ein hellgrünes Taschentuch aus seinem violetten, karierten Jackett. Heute hatte er ein gelbes Hemd mit Tupfen dazu kombiniert. Die sorgfältig geknotete Krawatte passte im Ton genau zum Anzug. Leise schniefend wischte sich Dr. Merian die Stirn, dann kreischte er zum zweiten Mal: „Wenn Sie, Stampfli …“ Da ging eine Sirene los. Der Ton schwoll an, verebbte und nahm wieder an Intensität zu. Stampfli schreckte aus dem Schlaf auf. Das Telefon schellte. Der Wecker zeigte elf Uhr dreizehn.
Wachtmeister Moritz von der Zentrale war am Apparat. „Wir haben eine Leiche im Kreis 7, Witikon, Eierbrechtstrasse“, bellte der forsche Mann. „Du musst hin.“
„Okay“, brummte Heiri. Er mochte Moritz nicht. Sein Kollege Beat hatte erst am Nachmittag Dienst.
Der Ermittler liess es sich jedoch nicht nehmen, zuerst einen Espresso zu trinken. Er war auch hungrig. Sehnsüchtig schaute er auf das Brot, das er sich gestern Abend fürs späte Frühstück besorgt hatte. Im Kühlschrank gab es Leckereien wie Fleischkäse* und Camembert, aber jetzt musste er unter die Dusche. Kurze Zeit danach machte er sich mit knurrendem Magen und schlechter Laune auf den Weg. Leider war Essen beim Fahren im Dienstwagen verboten.
„Witikon, da habe ich vor einem halben Jahr die Morde im Kirchenchor aufklären können. In dem Quartier scheint richtig was los zu sein“, dachte er, während er seinen nigelnagelneuen grauen 5er BMW zum Klusplatz und über die Schlyfi-Kurve Richtung Eierbrechtstrasse lenkte. Sein alter Opel Ascona hatte vor einem Monat leider das Zeitliche gesegnet. Das Navi leitete ihn sicher zu einem Haus, dessen Vorplatz mit rotweissen Bändern abgesperrt war. Davor befand sich ein grosser Bus, beschriftet mit „Einsatzleitung Polizei“, der mobilen Einsatzzentrale der Kantonspolizei. Die Kellertür stand offen. Drei Forensiker* in Schutzanzügen hatten gerade ihre Arbeit abgeschlossen und waren dabei, ihre Taschen zusammenzupacken.
„Guten Tag, ihr Frühaufsteher,“ meinte Stampfli gutmütig.
Walter Simpson antwortete grinsend: „Nur weil du am Morgen nicht aus den Federn kommst, heisst das nicht, dass alle anderen auch Morgenmuffel sind. The early bird catches the worm, der frühe Vogel fängt den Wurm. Immerhin ist es jetzt Mittag. Wir sind seit drei Uhr dran.“ Er war englischer Abstammung, gross und schlaksig, seine helle Haut wie immer in dieser heissen Jahreszeit mit Sommersprossen übersät und stark gerötet. „Die Leiche liegt im Erdgeschoss, im Schlafzimmer. Die Treppe rauf und dann rechts.“
Die beiden anderen Forensiker nickten zur Begrüssung nur mit dem Kopf und liessen sich im Übrigen nicht stören. Es duftete intensiv nach Äpfeln, als Heiri die Stufen in den Wohntrakt hinaufstieg. Wie gerne hätte er sich jetzt eine Frucht gegriffen, sein Magen knurrte immer noch. Mürrisch ging er weiter.
Ein ihm unbekannter Kriminaltechniker stand sinnierend vor der Türklinke des Schlafzimmers. „Was gefunden?“, wollte der Ermittler wissen.
„Hm, DNA und Fingerabdrücke. Wir werden sehen.“
Heiri betrat das Zimmer, das von einem grossen Doppelbett dominiert wurde. Alex Stammbach beugte sich gerade darüber. Er hatte Dienst als Brandtouroffizier*, das heisst er war der diensthabende Offizier der Kantonspolizei und somit verantwortlich für den heutigen Einsatz. Er trug wie alle anderen Überschuhe, einen weissen Overall und Latexhandschuhe. Alex war ein hochgewachsener, stattlicher Mann mit einem offenen Gesicht, das sofort Vertrauen erweckte, und man sah ihm an, dass er Führungsqualitäten besass. Er sagte kein Wort und starrte auf das Bett.
„Scheisse,“ entfuhr es Stampfli, als er die Leiche erblickte.
DREI
Drei Jahre vorher: 2013 in Asmara, Eritrea
Tesfay stand hinter dem alten, verschlissenen Plastikvorhang, der die Werkstatt vom einfachen Wohnbereich abtrennte. Der Eritreer spürte, wie seine kurzgeschnittenen Haare sich aufrichteten. Er hatte Angst, grosse Angst. Durch einen Riss im Vorhang beobachtete er die um ein Jahr jüngere Schwester Salina, wie sie gekonnt eine Fahrradkette spannte. Wie die meisten Frauen in diesem Land war sie zartgliedrig und wunderschön; ihre Haut hatte einen leichten Bronzeton, ihre langen schwarzen Zöpfe trug sie hochgesteckt. Es war Samstag, und sie hatte schulfrei, doch die Arbeit konnte nicht warten. Der Kunde wollte das Rad bereits am Abend abholen. Der Sattel wies Risse auf und musste ersetzt werden. Zwei weitere „Patienten“ lehnten an der Wand. Tesfay spürte, wie sein Herz sich zusammenzog, als er sah, wie Salina sich den Schweiss von der Stirn wischte. Eine solche Tätigkeit war für viele eritreische Mädchen nicht üblich. Ihre gleichaltrigen Freundinnen blieben zu Hause bei den Müttern und verliessen die Wohnung nur für die Schule und am Sonntag, um in die Kathedrale zu gehen, züchtig in weisse Tücher verhüllt, die Haare zu feinen Zöpfchen geflochten. Die meisten Familien waren ohnehin der Meinung, es sei für Mädchen nicht notwendig, in die Schule zu gehen. Diese würden später heiraten und bräuchten deshalb keine Ausbildung. Salina war fromm und ging gerne zur Schule. Tesfay erinnerte sich wehmütig an den Tag, an dem Tante Faven ihr ein Kreuz auf Stirn und Unterarme tätowiert hatte, in der Tradition der Familie, die der eritreischortho-doxen Tewahedo-Kirche angehörte. Damals war seine Schwester ein Kind. In zwei Wochen würde Salina siebzehn werden.
Immer noch stand Tesfay hinter dem Plastikvorhang und beobachtete das anmutige Mädchen, wie es den zweiten Flick auf einen undichten Fahrradschlauch aufklebte. Er nahm allen Mut zusammen, schlug den Vorhang zur Seite und ging auf seine Schwester zu.
„Hör zu, ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen“. Er schaute zur Sicherheit nach, ob kein Kunde zu sehen war. Es war niemand da. „Salina“, fuhr er leise fort und packte ihre Hand, „wir müssen hier weg. Ich lasse nicht zu, dass Vater dich mit dem alten Bereket verheiratet. Ausserdem gehe ich nicht in den Nationaldienst*, und du sollst das in einem Jahr auch nicht tun müssen. Ich haue ab, fliehe ins Ausland, und du kommst mit. Alles ist vorbereitet.“
Zuerst brachte seine Schwester keinen Ton heraus, dann schrie sie fast: „Was sagst du da, spinnst du? Sollen wir im Gefängnis landen?“ Ihre dunklen Augen blitzten Tesfay wütend an. „Ich weiss seit langem, dass ich Bereket heiraten werde. Er ist sechsunddreissig Jahre alt, na und? Er wird mir viele Kinder schenken. Fliehen? Was fällt dir ein? Ich habe mein ganzes Leben hier gelebt. Ich gehe nicht weg. Papa wird bald an seinem Krebs sterben. Ich will ihn nicht allein lassen und was würde ich im Ausland arbeiten? Ich habe keinen Beruf erlernt. Soll ich woanders Fahrräder flicken? Auch du hättest Probleme. Europa ist voll von Flüchtlingen. Wenn du unbedingt abhauen willst, bitte. Ich bleibe hier. Mir ist es egal, ob du das verstehst oder nicht.“ Sie packte ihre Tasche und verschwand.
Tesfay kamen die Tränen. Er versuchte, seine Schwester einzuholen, aber die Beine gehorchten ihm nicht. Als er sich endlich in Bewegung setzen konnte, stolperte er über ein Fahrrad, das scheppernd umfiel. Durch das Geräusch wachte der kranke Vater auf, der im Hinterraum auf einer dünnen Matratze döste.
„Was ist, mein Sohn?“, wollte er wissen und richtete sich unter der Decke mühsam auf. Bis Tesfay ihn beruhigt hatte, war Salina über alle Berge. Er suchte sie lange, doch er fand sie weder bei ihren Freundinnen noch in der Kathedrale Nda Mariam, wo er stundenlang knieend im Gebet verharrte. Als er aus dem Eingangstor trat, erblickte er im Hintergrund die Türme der römisch-katholischen Kirche „Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz“ und der Zentral- moschee. Ganz in Gedanken ging er zum grossen Markt an der Gondarstrasse, der bisweilen mit dem alten italienischen Namen Mercato Torino bezeichnet wurde. Vielleicht wollte Salina dort wie jeden Samstag Obst, Gemüse oder Gewürze kaufen. Er fragte alle Händler, die er kannte. Niemand hatte sie gesehen. Er streifte ziellos durch die Strassen, bis er zum Stadtfriedhof Edaga Hamus kam, der leicht erhöht über der Stadt lag. Auf einigen Gräbern stand das Gras kniehoch, andere waren mit frischen Blumen geschmückt. Viele Grabsteine trugen italienische Namen und erinnerten damit an die Kolonialzeit.
* * *
Gegen Abend kehrte Tesfay ins Zentrum zurück; er hatte eine Verabredung mit seinem besten Freund, dessen Vater für die Regierung arbeitete und reich war.
„Ist alles gut gegangen?“, begrüsste ihn Tulu. „Kommt Salina mit?“
„Ich fürchte nein. Wir haben uns gestritten, und sie ist davongelaufen. Ich habe sie überall gesucht, keine Ahnung, wo sie steckt.“
„Sie ist sicher bei einer ihrer Freundinnen.“
„Nein, da war ich schon, auch in der Kathedrale. Mein Gott, ich bin krank vor Angst. Nach Absolvierung des elften Schuljahres muss Salina für zwölf Monate ins zentrale Camp von Sawa ins militärische Training, wenn sie bis dahin nicht verheiratet oder schwanger ist. Ich habe oft gehört, dass die Unterkunftsbedingungen dort hart sind und sexuelle Übergriffe häufig vorkommen. Das weisst du. Vater hat nicht mehr lange zu leben und will darum meine einzige Schwester nächste Woche verheiraten.“ Tesfay seufzte. „Mit dem alten Bereket. Stell dir das vor, unsere Salina und ein alter Tattergreis, der schon zwei Ehefrauen überlebt hat.“
„Na, sooo alt ist der Mann nun auch wieder nicht. Er hat wenigstens ein eigenes Haus.“
„Er wird bald vierzig und hat bereits viele Zähne verloren. Er hat dauernd Mundgeruch. Ausserdem muss er für drei Kinder sorgen.“
Tulu nickte. „Ich verstehe. Wirst du jetzt ohne Salina gehen?“
„Es würde mir das Herz brechen, aber ich habe keine Wahl. Das Aufgebot zum National Service* ist in meiner Tasche. Übermorgen müsste ich einrücken. Und nachdem es keine gesetzliche Höchstdauer für den Nationaldienst gibt … die 18 Monate stehen nur auf dem Papier! Wir sind billige Arbeitskräfte, die für Regierungsprojekte eingesetzt werden. Der Konflikt mit Äthiopien ist schon lange nicht mehr der einzige Grund für den Dienst.“
„Wem sagst du das!“
Tesfay seufzte wiederum, runzelte die Stirn und fragte: „Hast du das Geld?“
„Ja, und mein Vater wird es nicht merken, wenn ihm Geld fehlt. Ich kenne die Nummer seines Safes seit Jahren. Letzten Monat habe ich zweimal zum Test etwas rausgenommen. Ich habe insgesamt zwanzig Noten à 100 Nakfa, dreiundzwanzig Hundert-Dollar-Noten sowie siebzehn 50 Euro Scheine in verschiedenen Taschen in die Beine deiner abgetragenen Hosen eingenäht. Ich weiss, das ist für die Schlepperdienste zu wenig, aber mehr habe ich nicht. Schau mal, hier, hier und hier kannst du an einem Faden ziehen – und eine Naht geht auf. Zum Glück habe ich das Schneiderhandwerk erlernt, gegen den Willen meines Vaters. Er möchte immer noch, dass ich in die Verwaltung einsteige. Du weisst, er war letztes Jahr in Europa, sonst hätten wir jetzt kein ausländisches Geld. Mit Nakfa kommst du nicht weit.“
Tesfay sagte: „Du hast recht. Weiss denn irgend- jemand von meinem Vorhaben? Deine Schwester?“
„Nein. So naiv wie sie ist, würde sie alles gefährden. Wart, hier sind ein paar Münzen für die ersten Tage. Ich wünsche dir von Herzen nur das Beste. Ich wäre gerne selber mitgekommen, aber dann besteht die Gefahr, dass die Regierung meinen Vater ins Gefängnis wirft oder sogar tötet. Ich will ihm nichts Böses, obwohl ich mich mit ihm nicht so gut verstehe.“ Er seufzte und fügte leise hinzu: „Wir werden uns wahrscheinlich nie mehr wiedersehen. Das ist dir bewusst?“
„O Gott, das ist schrecklich. Ich darf nicht daran denken.“ Zum zweiten Mal an diesem Tag war Tesfay zu Tränen gerührt. Nun wollte er den Abschied nicht länger hinausschieben. Er packte die Hose, nahm Tulu nochmals fest in die Arme und rannte aus dem Haus.
Als er die Tür zur Werkstatt öffnete, sah er, dass seine Schwester mittlerweile zurückgekehrt war. Sie polierte abwesend an einem Sattel herum. „Willst du wirklich weg? Du weisst, was das heisst, wenn ich nicht mitkomme …?“ Sie war blass wie ein Leintuch. „Ich habe Angst.“
„Ich auch, Salina, aber ich verspreche bei allem, was mir heilig ist, dich zu beschützen. Ich habe ein grosses Messer. Es ist unter Vaters Liege versteckt. Es wird dir nichts geschehen, und wir könnten zusammenbleiben. Gott wird seine Hand über uns halten. Wir werden versuchen, in die Schweiz zu gelangen. Dort sind wir sicher.“
„Du versprichst es mir?“
„Ja, ich verspreche es dir.“
Salina kniete nieder, berührte mit der Stirn den Boden und fing an zu beten: „Abona ab semay etnebr, simka Yimesgen mengstkha tmsae. Fqadka Absemay, kemzikhewn kemu wn Ab midri yukhun, megbi iletna lomi Habena. Vater unser im Himmel, geheiliget werde Dein Name. Dein Reich komme, Dein Wille geschehe.“ Nie hatte sie das Vaterunser inniger gesprochen.
Sie brachen noch in derselben Nacht auf.
VIER