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Limmatleiche, Blutsbrüder, Entführung, Liebe, Lebensgefahr, Missverständnisse, Polizeiarbeit, Intrige
Das E-Book Stampflis Limmatleiche Zürich-Krimi wird angeboten von tredition und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Mann, Erlinsbach, Paar, Angst, Polizeiaspirantin, Liebe, Missverständnis, Limmatleiche, Frau, Zürich, Spannung, Obduktion, Hinterlist, Ermittler, Ermittler Stampfli, Wasserleiche
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2022
www.tredition.com
SUSANNE GANTNER
STAMPFLIS LIMMATLEICHE
Kriminalroman
© 2022 Susanne Gantner
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-72482-2
Hardcover
978-3-347-72483-9
e-Book
978-3-347-72484-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.
Es gibt insbesondere keine St. Fabian Kirche in der Schweiz.
Am Ende des Buches findet sich ein Glossar. Die mit * bezeichneten Begriffe werden dort erklärt.
Lektorat/Korrektorat:
Karin Mayerhofer Dobler Sabine Wirth
Umschlagfotografie:
Susanne Gantner
Umschlaggestaltung:
Nathalie Gerbex Gerbex Photography www.gerbex.ch
EINS
Zürich Januar 2017
Susanne stand am Ufer der Limmat auf dem Steg der Frauenbadi. Das Wasser war kalt, offiziell sechs Grad, der Himmel mit dicken, grauen Wolken überzogen. Angst schnürte ihr die Kehle zu, ihr fiel das Atmen schwer. Es fühlte sich an, als läge ein Seil um ihren Hals und würde langsam zugezogen. Sie durfte nicht versagen. Nicht sie. Schliesslich war ihr Vater ein bekannter und erfahrener Ermittler. Sollte jemand ihre panische Angst vor kaltem Wasser mitbekommen, wäre ihr der Spott der ganzen Klasse gewiss. Die Notfallübung gehörte zur Ausbildung einer Polizeiaspirantin* und wurde von der Stadt- und der Wasserpolizei gemeinsam durchgeführt.
„Du weisst genau, was zu tun ist, Susanne?“, fragte der Instruktor, der neben ihr stand. Er legte ihr beruhigend die rechte Hand auf die Schulter. „Zuerst musst du vier Meter tief tauchen und die Tauchpuppe heraufholen. Die Stelle ist markiert. Siehst du den roten Ring?“
Susanne seufzte und nickte.
„Okay. Wenn du das erledigt hast, musst du den Polizeitaucher, der die ganze Zeit in deiner Nähe sein wird, bis zum Ausstieg abschleppen. Es sind ungefähr 45 Meter. Er ist der Mann, den du vor dem Ertrinken retten sollst. Alles klar?“ Sie schluckte und drückte energisch ihre Schultern durch.
Ihr Klassenkamerad Jannick näherte sich mit einem Kübel voll Eiswasser. Sie holte Luft und biss die Zähne fest zusammen. Im nächsten Moment traf der eisige Strahl ihren Kopf und der Schmerz fuhr ihr in den Nacken. Dabei konnte sie einen Schrei kaum unterdrücken. Sie schnappte nochmals nach Luft und glitt wie empfohlen langsam ins Wasser. Der Polizeitaucher im Neoprenanzug wartete bereits auf sie. Zuerst galt es also, vier Meter tief zu tauchen und die Gummipuppe heraufzuholen. Das voluminöse Ding war glitschig. Susannes Hände rutschten immer wieder ab. Erst als sie fast keine Luft mehr hatte, gelang es ihr, die Puppe zu fassen und an die Oberfläche zu bringen. Erleichtert liess sie die Tauchpuppe los, die mit einem elastischen Seil am Boden fixiert war und für den nächsten Einsatz langsam wieder versank.
Nun kam der zweite Teil der Aufgabe: Sie packte den Polizeitaucher unter den Achseln, drehte ihn auf den Rücken und begann ihn abzuschleppen. 45 Meter. Das war eigentlich gut zu schaffen. Doch die Kälte verlangsamte ihre Bewegungen. Die Hände fingen an zu kribbeln, ihr Nacken verkrampfte sich schmerzhaft, die Arme fühlten sich an wie Blei. Beinahe entglitt ihr der Taucher. Mit letzter Kraft hielt sie den Mann fest und schleppte ihn durch das eisige Wasser. Sie durfte nicht aufgeben. Der Ausstieg war nur noch ein paar Schwimmzüge entfernt. Da vorne. Gleich war sie da. Doch, was war das? Knapp unter der Wasseroberfläche? Es sah aus wie Haare, die sich hin und her bewegten. Das konnte doch nicht sein. Oh Gott, es waren Haare! Und sie gehörten zu einem Kopf …
ZWEI
Eine Viertelstunde später wimmelte es am Stadthausquai von Polizisten. Die Leiche wurde über eine spezielle Bugklappe auf das Boot der Wasserschutzpolizei geborgen. Das ganze Areal wurde mit rot-weissen Bändern abgesperrt und ein Zelt aufgestellt, das den Toten vor neugierigen Blicken abschirmte. Taucher und Taucherinnen suchten das Areal des Fundortes ab, um eine Spurensicherung durchzuführen.
Ein eilends herbeigerufener Arzt nahm die erste Leichenschau vor. Er schätzte den Mann, der vermutlich seit einigen Stunden im Wasser gelegen hatte, auf etwa vierzig Jahre. Etwas Schaum vor dem Mund war ein sicheres Indiz für Tod durch Ertrinken.
„War es Selbstmord?“, fragte einer der Taucher.
„Das glaube ich nicht, dagegen sprechen die Hämatome an beiden Armen“, antwortete der Arzt.
Der Mediziner holte tief Luft und winkte den Verantwortlichen der Stadtpolizei herbei: „Es besteht leider Verdacht auf einen unnatürlichen Todesfall.“
„Für Leib und Leben ist die Kantonspolizei Zürich zuständig. Ich werde das veranlassen.“
Um 9.12 Uhr gab die Zentrale der Kantonspolizei die Parole heraus: „Wir übernehmen den Fall“. Wenig später traf ein geräumiger Bus ein, beschriftet mit „Einsatzleitung Polizei“. Es entstiegen zusätzliche Polizisten sowie Männer und Frauen in weissen Overalls, die Forensiker*. Walter Simpson, der für die Spurensicherung am Opfer verantwortlich war, kniete neben der Wasserleiche nieder. Er war englischer Abstammung, hochgewachsen und schlaksig, seine helle Haut selbst im Winter mit Sommersprossen übersät und gerötet. Vorsichtig zog er dem Verstorbenen die Kleider aus und sicherte sie in Asservatenbeuteln*: eine dunkle, karierte Hose, ein blaues Hemd und löcherige, weisse Unterwäsche. Simpson stand auf und wandte sich an Alex Stammbach, den heute Verantwortlichen der Kantonspolizei für Verbrechen gegen Leib und Leben. „Ich verstehe das nicht. Trotz der Kälte hat der Mann weder einen Mantel noch eine Winterjacke getragen. Die Schuhe hat er wahrscheinlich im Wasser verloren. Aber es fehlen auch Ausweis, Handy, Haus- oder Autoschlüssel. Das wird ein schwieriger Fall.“
„Den Eindruck habe ich auch“, bestätigte Stammbach seufzend. Er wandte sich an die Kriminaltechniker: „Bitte sucht das gesamte Ufer nach möglichen Spuren ab. Ich glaube aber nicht, dass es sich um den Tatort handelt.“ Er drehte sich um und gab dem zuständigen Rechtsmediziner der Kantonspolizei ein Zeichen. „Komm Otto, du bist dran.“
„Okay, danke dir“. Dr. Otto Balzli war trotz seiner schwierigen Arbeit mit den Toten fast immer gut gelaunt, auch heute. Er beugte sich über die Leiche und untersuchte sie minutiös. Zur Sicherheit tütete er zuerst die Hände ein. Vielleicht gab es DNA-Spuren des Mörders oder der Mörderin. Balzli prüfte die galvanische Erregbarkeit der Muskulatur mit einer Batterie und die mechanische, indem er die Oberschenkelvorderseite ca. 10 cm oberhalb des Knies anschlug. Er mass die rektale Temperatur und träufelte eine Substanz, welche die Pupille erweiterte, in das eine Auge, sowie eine pupillenverengende Flüssigkeit in das andere Auge. Eine entsprechende Reaktion würde sich bis zwölf Stunden nach Eintreten des Todes zeigen. Der Rechtsmediziner richtete sich auf und teilte das Resultat dem Kollegen mit. Gleichzeitig schaltete er ein kleines Aufnahmegerät ein und begann zu diktieren: „Der Tod dürfte nicht mehr als drei Stunden zurückliegen. Etwas Schaum vor dem Mund, wie der amtierende Arzt schon festgestellt hat. Das deutet auf Tod durch Ertrinken hin. Die rektale Temperatur liegt bei 15° C, was nicht erstaunt, wenn man die zurzeit sechs Grad kalte Limmat in Betracht zieht. Zuerst gibt es eine stabile Phase, nachher geht die Wärme durch das fliessende Wasser und den grossen Temperaturunterschied schnell verloren. Auch deshalb schätze ich, dass der Tod vor etwa drei Stunden eingetreten ist. Wir können davon ausgehen, dass der Leichnam nicht durch Strudel ständig gedreht wurde, denn die Totenflecken sind an den abhängenden Körperteilen ausgebildet, das heisst an den Händen, Füssen und Ohrläppchen. Sie lassen sich aber noch leicht wegdrücken.“ Der Rechtsmediziner stand auf, packte seinen Fundortkoffer zusammen und wandte sich an Alex Stammbach. „Soweit fertig.“
„Sehr gut, danke Otto.“ Alex war ein stattlicher, hochgewachsener Mann mit einem offenen Gesicht, das sofort Vertrauen erweckte. Man sah ihm an, dass er Führungsqualitäten besass. „Warten wir auf den Staatsanwalt Dr. Merian. Er hat mich soeben angerufen und müsste in den nächsten fünf Minuten eintreffen. Er hat wieder einmal schreckliche Laune und fürchtet um Zürich als Touristenattraktion. Ich beneide die Deutschen, bei denen der Staatsanwalt normalerweise nicht an den Tatort kommt.“
„Merian ist aber auch Pest und Cholera in Personalunion. Wenn man vom Teufel spricht …“
Ein Mercedes S näherte sich mit überhöhter Geschwindigkeit und stoppte. Auftritt Dr. Merian. Er trug gemäss Vorschrift einen Schutzanzug, aber darunter blitzte wie immer ein teurer Massanzug und ein gestärktes, weisses Hemd hervor. Es war allgemein bekannt, dass er aus dem Basler Geldadel stammte und sich für etwas Besseres hielt. Jetzt zog er seine linke Augenbraue verächtlich in die Höhe und zischte: „Stammbach, wer ist der Tote? Wir müssen diese Angelegenheit mit Diskretion und Dringlichkeit behandeln. Wir brauchen Antworten, wenn die Presse davon Wind bekommt - und das wird sie in wenigen Minuten.“
„Zaubern können wir nicht“, murmelte Alex.
Dr. Merian schickte ihm einen giftigen Blick zu. „Aha. Wir wissen also nichts. Wer hat die Leiche entdeckt? Stimmt es, dass die Tochter unseres unsäglichen Ermittlers Heiri Stampfli die Finger im Spiel hat?“
„Das ist so. Sie hatte am frühen Morgen eine Notfallübung im Rahmen ihrer Ausbildung als Polizeiaspirantin*.“
„Aha. Dann ist Mr. Stampfli als befangen zu betrachten. Er wird diesen Fall nicht bearbeiten. Ich werde die Ermittlerin Adele Wipf damit beauftragen. Rapportiert wird jede Kleinigkeit an mich. Ist das hinlänglich klar?“
Alex und Otto antworteten nicht. Dr. Merian brauste davon.
„Bitte bringt die Leiche zur Untersuchung ins IRM*“, bat Stammbach daraufhin zwei Forensiker, die schon länger warteten und mit dem Leichenbergungssack und dem Metallsarg bereitstanden. Er war überzeugt davon, dass es sich um Mord handelte. Aber wie war das Opfer ins Wasser gelangt und wo war es passiert? Er musste einen Sachverständigen befragen, der genau über die Fliessgeschwindigkeit der Limmat Bescheid wusste.
Alex Stammbach ergriff sein Handy und rief die Telefonzentrale an. Heute hatte Moritz Dienst, den er nicht mochte. Keiner konnte ihn leiden. „Wir haben eine Leiche in der Limmat“, bellte der forsche Mann, „verstanden.“
„Wir kommen nicht darum herum, eine umfangreiche Spurensuche von der Frauenbadi bis Tiefenbrunnen und Wollishofen durchzuführen. Schaut mal, wie weit ihr kommt. Unser Toter wurde ins Wasser geworfen. Alle Hinweise müssen gefunden werden. Schalte sämtliche verfügbaren Forensiker und auch die Wasserpolizei der Stadt Zürich ein, sie hilft uns bestimmt in dieser heiklen Angelegenheit.“
„Spinnst du, weisst du, was das kostet?“, wollte Moritz aufbrausend wissen.
„Ich bin nicht von gestern“, erwiderte Stammbach grinsend. Er kannte seine Pappenheimer. „Und instruiere die Ermittlerin Adele Wipf, dass sie den Fall übernehmen muss. Heiri Stampfli wäre zuständig, aber weil seine Tochter die Leiche entdeckt hat, muss er leider wegen Befangenheit zurückstehen.“ ,Stampflis Limmatleiche‘ gluckste Alex vor sich hin, bevor er das Handy ausschaltete.
Dennoch wollte er seinen Freund, den vorzüglichen Ermittler Stampfli, orientieren. Dieser würde es sich nicht nehmen lassen, den Fall zusätzlich zu untersuchen, wenn auch nicht in offizieller Funktion. Es war seine über alles geliebte Tochter Susanne, die den Toten entdeckt hatte. Auch Alex hatte sie ins Herz geschlossen. Sie war eine fröhliche und aufgeschlossene Frau mit einer positiven Ausstrahlung. In der Freizeit arbeitete sie noch immer wie früher als Organistin. Leider stand sie dauernd unter Leistungsdruck, wohl wegen des grossen beruflichen Erfolgs ihres Vaters. Auch Heiri litt manchmal unter einem angeknacksten Selbstbewusstsein, weil er immer wieder von Staatsanwalt Dr. Merian angegriffen wurde. Dieser war ihm gar nicht wohlgesinnt. Alex seufzte. Der Fall könnte definitiv schwierig werden.
Er kehrte mit Otto zur mobilen Einsatzzentrale zurück und holte Kaffee aus der bereitstehenden Thermoskanne. Selbst Gipfeli* waren noch da. Die beiden Männer hatten bisher noch keine Zeit zum Znüni* gefunden. Jetzt gönnten sie sich eine kurze Pause. Die Forensiker waren mit ihrer Arbeit ebenfalls fertig. Es gab nicht viel zu tun; hier war definitiv nicht der Tatort! Der Wagen der mobilen Einsatzzentrale fuhr zurück zum Parkplatz der Kantonspolizei an der Kasernenstrasse. Otto setzte sich in seinen 5er BMW und machte sich schleunigst auf den Weg zum IRM, dem Institut für Rechtsmedizin in der Irchel.
An der gesicherten Ausfahrt öffnete er das Autofenster. Er musste die linke Hand auf den dafür vorgesehenen Touchscreen halten. Das Tor öffnete sich, fand er, wieder einmal viel zu langsam. Kaum hatte er die Strasse erreicht, drückte er an der Telefonanlage den Knopf, der ihn direkt mit dem Büro seines Freundes Heiri verband.
„Hallo, hier ist das Büro Stampfli, Pierre Delafontaine am Apparat. Guten Morgen, Otto.“
Mein Gott! Pierre, den alle wegen seiner bei der Polizei gerade noch zugelassenen minimalen Grösse von 1.70 m Bonsai nannten, war seit einigen Wochen Susannes fester Freund, aber das wussten nur er und Stampfli. Bonsai dürfte sonst infolge seiner Befangenheit auch nicht im Team mitarbeiten. Er war der jüngste Ermittler und Stampflis Bürokollege.
„Wo ist Heiri?“, presste Otto gequält hervor.
„Ist etwas passiert, du tönst besorgt?“, fragte Bonsai. Er hatte ein feines Musikgehör und ein untrügliches Gespür für die Stimmung eines Gesprächspartners.
„Das erzähl ich dir später. Ist Heiri da?“, wollte der Rechtsmediziner wissen.
„Er kommt gerade zur Tür rein, ich gebe ihn dir.“
„Stampfli am Apparat.“
„Hallo, Heiri. Ich muss dich dringend informieren. Wir haben einen neuen Fall. Deine Tochter …“.
„Ich weiss, ich weiss, Adele Wipf hat mich soeben gebrieft. Sie hat den Fall übernommen. Ich darf nicht, weil ich der Vater von Susanne und somit möglicherweise bei „Stampflis Limmatleiche“ befangen bin, obwohl meine Tochter in keiner Weise zu den Verdächtigen gehört und lediglich das Opfer entdeckt hat. Ich muss dir nicht sagen, dass ich trotzdem die Augen offenhalte.“
„Ist klar, Heiri, ich bin beim IRM angelangt und werde mein Bestes tun, um zur Lösung dieses Falles beizutragen. Es wird nicht einfach sein.“ Vor allem nicht ohne den erfahrenen Freund, der für sein analytisches Verständnis, seine Empathie und fundierte psychologischen Kenntnisse bekannt ist, dachte Otto. Er musste seine Ungeduld etwas zügeln.
DREI
Die Leiche befand sich bereits im Institut zur weiteren Abklärung. Zuerst wurde wie immer bei aussergewöhnlichen Todesfällen eine forensisch-toxikologische Untersuchung durchgeführt. Dafür machte das Institut für Rechtsmedizin Analysen von Körperflüssigkeiten und/oder Körpergewebe in Bezug auf Trinkalkohol, Drogen und Medikamentenwirkstoffe oder deren Stoffwechsel-Produkte. Später kam noch die Virtopsy, die computergestützte, simulierte Autopsie dazu.
Otto hatte in seinem Büro den Rapport über die erste Leichenschau schon getippt, als er endlich in den Seziersaal gerufen wurde. Natürlich wäre Otto berechtigt gewesen, eine eigene Assistentin zu beschäftigen, aber er liebte es, die Berichte selbst zu schreiben, um Ungenauigkeiten zu vermeiden. Er schickte das Gutachten wie vorgeschrieben an Staatsanwalt Dr. Merian und schaltete den PC aus.
Im kühlen Sezierraum zog er die grüne Chirurgenschürze, sowie Haube, Maske und Handschuhe über und machte sich daran, assistiert von Dr. Wilfred Hintermann, die Obduktion vorzunehmen. Laut Vorschrift mussten immer zwei Rechtsmediziner zugegen sein. Otto beugte sich über den Sektionstisch, als die Tür aufging und Stampfli eintrat.
„Was machst du hier?“, fragte Otto verblüfft. „Ich dachte, du musst wegen Befangenheit zurückstehen.“
„Offiziell schon“, meinte Stampfli grinsend, „Adele Wipf sagte aber, sie könne auf ihre Anwesenheit während der Obduktion verzichten, wenn ich sie zum Abendessen einlade.“
„Ich weiss, dass sie auf dich steht“, gab Otto mit einem Zwinkern zurück.
„Haben Sie etwas dagegen, dass ich hier bin, Dr. Hintermann“, wollte Stampfli noch wissen und es gelang ihm dabei kaum, ein Grinsen zu unterdrücken.
Der Angesprochene schüttelte den Kopf. Bei einer Obduktion war es nicht unüblich, dass Ermittler, Medizinstudenten oder involvierte Forensiker zuschauten.
Dann wurde nicht mehr geredet. Die beiden Rechtsmediziner machten sich schweigend an ihre Aufgabe. Zuerst kam die äussere Besichtigung der Leiche. Minutiös untersuchten sie den ganzen Körper und dokumentierten ihre Arbeit mit Fotos. Zur Spurensicherung wurden die zuvor in Asservatenbeutel gehüllten Hände ausgepackt und die Fingernägel akkurat geschnitten. Vielleicht liess sich so DNA des Mörders/der Mörderin finden. Die Hämatome an beiden Unterarmen der Leiche waren nur schwach ausgeprägt, aber sie entsprachen dem üblichen Muster, das durch eine zupackende Hand entsteht: jeweils eine Druckstelle am Innenarm durch den Daumen und vier weitere Male an der Aussenseite des Arms durch die übrigen Finger. Unmöglich, dass sich das Opfer die Verletzungen selbst beigebracht hatte. Dazu kamen Schleifspuren an den Fersen, welche beim Transport über Kiesel beim Flussbett oder Strassenbelag entstanden sein mochten. Otto trennte die Haut an den betroffenen Stellen vorsichtig ab. Sie musste ins Labor. Möglicherweise liess sich so der Tatort eingrenzen. Heiri stand stumm daneben. Es war nicht seine Aufgabe, einen Kommentar abzugeben.
Es folgte die innere Besichtigung. Gemäss Vorschrift wurden die drei Körperhöhlen eröffnet: die Kopfhöhle, die Brusthöhle und die Bauchhöhle. Die Rechtsmediziner entnahmen Herz, Leber und Nieren, wogen und untersuchten die Organe. Spezielle Aufmerksamkeit erforderte dabei der Mageninhalt, respektive das fast totale Fehlen eines solchen. Der Mann musste sich kurz vor seinem Tod übergeben haben. Reste von Erbrochenem hatten die Forensiker auch an den asservierten Kleidern festgestellt. Otto und Dr. Hintermann arbeiteten als eingefleischtes Team Hand in Hand.
Bei der Wasserleiche wurde nur wenig Schaumpilz vor dem Mund gefunden und entsprechend gering waren jetzt die Bläschen in der Luftröhre. Einzig die Keilbeinhöhlen* waren statt mit Luft mit Wasser gefüllt. Ein Rätsel gaben auch die beiden Lungenflügel auf, die erstaunlicherweise kaum überbläht waren. Weshalb? Trockenes Ertrinken infolge Stimmritzenkrampfs konnten die Rechtsmediziner ausschliessen. Otto schaute Heiri mit einem vielsagenden Blick an. Es fiel kein Wort, aber der Ermittler hatte ein ausgeprägtes Bauchgefühl. Ihm war sofort klar, dass hier ein wichtiges Indiz vorlag.
Der Rest der Obduktion verlief ohne Besonderheiten. Das Opfer war ein gesunder Mann ungefähr Anfang 40 gewesen, kein Alkoholiker, aber mit einem aktuellen Promillestand von 1,48. Der Zahnstatus verriet, dass der Tote in den letzten Jahren nie einen Zahnarzt aufgesucht hatte. Entweder konnte er sich den nicht leisten oder er hatte eine unüberwindliche Angst vor Spritzen und Bohrern. Das kam vor. Dazu war eine gewisse Mangelernährung offensichtlich.
Dr. Hintermann legte die zuvor entnommenen und sorgfältig untersuchten und gewogenen Organe wieder in die Körperöffnungen zurück. Alsdann verschloss er die Wunde mit einer akkuraten Naht in T-Form, so dass der Leichnam in präsentabler Form dalag.
„Kommst du, Heiri“, sagte Otto zu seinem Freund, sobald sich alle Anwesenden die Hände gewaschen und die Schutzkleidung ausgezogen hatten.
„Kaffee?“
„Kaffee!“, beantwortete Otto lächelnd die kurze Frage. Die beiden verstanden sich ohne viele Worte.
VIER
Am nächsten Morgen um 8.30 Uhr fand die erste Sachbearbeiter-Sitzung in der Kripo-Leitstelle statt, im 5. Stock des Kripogebäudes an der Kasernenstrasse 11 in der Nähe des Hauptbahnhofes Zürich. Es nahmen teil: Alex Stammbach, der Brandtouroffizier*, Staatsanwalt Dr. Reinhard Merian, der Rechtsmediziner Dr. Otto Balzli, der Forensiker Walter Simpson und natürlich die Ermittler: Adele Wipf und Bonsai.