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Im Morgengrauen macht Bauer Schader aus dem fränkischen Eggensee einen grausigen Fund. Am Waldrand steht ein ausgebrannter Wagen inklusive Leiche. Die Tatwaffe ist eine Flasche Spiritus. Da der Fall spurentechnisch frustrierend ist, müssen die Kommissare Anne Strauch und Leo Bachmann von der Kripo Ansbach Laufarbeit leisten. Dabei treffen sie in Fürth auf die stets angetrunkene Ehefrau des Opfers und deren seltsamen Hausfreund. Auf Landwirte, Stammtischbrüder und Arbeitskollegen. Und auf den schrulligen Waldbewohner Horst, der meditativ durch das Geschehen wandert. Viel Zeit bleibt ihnen nicht, denn es brennt wieder, diesmal am Bleichweiher, mitten im Herzen von Neustadt an der Aisch.
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Herzlichen Dank an Franziska und Sophia Baumann, Lukas Siegemund sowie Franziska und Uwe Luschas für ihre Unterstützung zur Entstehung dieses Buches.
Über die Autorin:
Geboren in Neustadt a.d. Aisch, verheiratet, zwei inzwischen erwachsene Töchter. Sie lebte viele Jahre in Portugal und Österreich. Seit 2010 Heilpraktikerin für Psychotherapie in eigener Praxis.
Sie schreibt einen Blog, der sich auf ihr Arbeitsfeld bezieht: www.bettina-baumann-hp-psy.de
Tief im Fränkischen, in einem kleinen Dorf, verließen ein Mann und eine Frau splitterfasernackt und hysterisch kichernd, das kleine Haus. Den Kindern erklärten sie, sie würden jetzt Flugzeuge fangen gehen. So torkelten sie nach draußen, lehnten eine Leiter an die Giebelseite und stiegen auf das Dach. Ganz oben setzten sie sich auf den First und begannen wild mit ihren Armen zu fuchteln. Dabei brüllten sie vor Lachen. Der Mond und die Sterne betrachteten von oben das bizarre Spiel.
Wenig später fiel dem Mann wohl ein neues Spiel ein. Er kletterte hinunter und schwankte durch den Garten. Sein Hintern leuchtete und verlosch, als er im Weizenfeld verschwand, das zu dieser Zeit schon sehr hoch stand. Danach kippte die Stimmung, die bis jetzt nur albern war, sehr schnell ins Bedrohliche. Die Frau auf dem Dach bekam Angst. Bei jeder Bewegung, die sie machte, drohte sie den Halt zu verlieren. Sie weinte, klammerte und rief um Hilfe. Die Leiter schien unerreichbar. Aus Angst wurde Panik, sie schrie aus Leibeskräften. Das ging so lange, bis auf dem angrenzenden Bauernhof ein Fenster geöffnet wurde. Der Mann verschwendete keine Zeit darauf, sich zu wundern. Er erkannte die Lage und weckte seinen ältesten Sohn. Mit einer zweiten Leiter traten sie in Aktion. Es dauerte eine lange Weile, bis sie die vor Angst völlig verkrampfte Frau über den Schultern nach unten tragen konnten. „Der Oarsch von der Rosi, der im Mondlicht geschiena hat“, war über ein ganzes Jahr der Lieblingsgag im sonst so ruhigen Dorf.
Für seine Verhältnisse war Horst spät unterwegs. Er hatte etwas sehr Spezielles vor. Er ging die Straße von Eggensee Richtung der Bundesstraße 8 entlang. Die Straßenführung war erst vor wenigen Jahren aufwendig geändert worden, im Bankett links und rechts lag noch viel Schotter. Er suchte besondere Kieselsteine, weiß mussten sie sein.
Die Idee kam ihm in der letzten Nacht. Er wollte ein Glas mit weißen Kieselsteinen befüllen und in seiner Hütte ans Fenster stellen. Darauf würde das Mondlicht fallen und die Steine zum Leuchten bringen. Eine Lampe! Horst liebte solche Ideen. Er war ganz besessen von dem Gedanken, ohne Strom und sonstigen Schnickschnack leben zu können. Total unabhängig. Frei wie ein Reh.
Heute war Vollmond und somit die ideale Nacht für diese Mission. Seine Augen und all seine Aufmerksamkeit hefteten am Boden, als es in der Ferne zwei Mal laut knallte. Horst hob den Kopf und sah über dem kleinen Wäldchen auf der anderen Seite der Bundesstraße einen Feuerschein. „Ui, Feuer“, entwich es ihm. Im nächsten Moment spürte er einige Regentropfen auf seiner Haut, es nieselte. Der nächtliche Wanderer blickte nach oben und sah die aufziehenden Wolken am sonst so klaren Nachthimmel. Dann guckte er in seinen Beutel und befand, dass er genug Steine hatte. „Jetzt muss ich aber weiter!“, spornte er sich selbst an und kehrte auf dem Absatz um.
Horst wusste sehr genau, dass er auf seinen Schlafrhythmus gut achten musste. Immer genug schlafen, zur gleichen Zeit, wenigstens sieben Stunden und am besten, an einem Stück. Ganz wichtig! Die Oktobernacht war frisch und die Feuchtigkeit ließ ihn frösteln. Seine Haare durften nicht nass werden und erkälten durfte er sich auch nicht. Ganz schlecht! Horst beschleunigte seinen Schritt.
Es war Montagmorgen, gerade mal 6.00 Uhr, als Ernst Schader seinen Traktor aus der Scheune fuhr. Seine Frau trat aus dem Haus und wollte wissen, wann er wieder zurückkommen würde. „Bis Middoch bin i widder do“, rief er ihr zu und tuckerte los durch das kleine Dorf Eggensee. In den Häusern brannte Licht und aus den Ställen war Geklapper zu hören, das Muhen der Kühe, die gerade gefüttert wurden. Alles war wie immer, ein verlässlich funktionierender Mikrokosmos in ländlicher Idylle. Schader hatte den Stall voller Kühe und einige Felder, aber seine Leidenschaft war der Wald. Die Bäume und das Holz. Er sah sich als Waldbauer. Dort verbrachte er die meiste Zeit. Die körperliche Arbeit, die frische Luft, der Geruch von feuchtem Holz und Moos waren sein Lebenselixier. Seine Frau sagte oft: „Irgetwann miss mer dich zwischer die Bammer rauszieng.“ Er antwortete darauf: „Ich wer hunnerd Joar ald!“
Es war noch stockfinster, sein Traktor warf einen schwachen Schein auf die Straße. Mit der Höchstgeschwindigkeit von 35 km/h verließ er Eggensee, unterquerte die B 8 und bog in den Feldweg ab. Aber was war das? Gleich vorne, wo der Wald begann, stand mitten auf dem Weg ein Auto, ausgebrannt. Schader stieg in die Bremsen und sprang vom Traktor. Der alte Bauer sah durch die zerborstenen Scheiben des Wagens: „Ich glaab, ich spinn! Wos isn etz des?“ Plötzlich schreckte er zurück. Auf dem Beifahrersitz, war das eine Leiche? Ein Kohlenstück in menschlicher Form. Arme und Beine in unnatürlicher Position verrenkt. Sein Herz schlug schneller, er schob die Kappe zurück und kratzte sich am Kopf: „Etz könnt ich werkli ä Handy braung.“ Die schaurige Szene im Morgengrauen machte dem Waldbauer Angst. Der Brandgeruch schlug ihm auf den Magen. Er wollte weg von hier, so schnell als möglich. Hastig stieg er auf seinen Traktor und legte den Rückwärtsgang ein.
N ach fünfzehn Minuten traf der erste Streifenwagen am Wäldchen ein, die Beamten sicherten den Tatort. Bis die Hauptkommissarin Strauch und ihr junger Kollege Bachmann eintrafen, war die Spurensuche schon in vollem Gange. Bachmann schritt zügig auf den ausgebrannten Wagen zu. Er war ein sportlicher, schlanker Mann voller Energie. Seine Vorgesetzte trottete verschlafen hinterher. Der Pathologe rief schon von weitem: „Sieht nicht gut aus!“ „Pah!“, entfuhr es Bachmann „Ist das ekelig!“ HK Strauch schloss die Knöpfe ihres olivgrünen Parkas und warf nur einen flüchtigen Blick in den Wagen: „Ich hasse den Geruch. Guten Morgen übrigens, Dr. Ritter.“ „Guten Morgen, meine Liebe. Ja, verschmortes Plastik plus verschmortes Fleisch ergeben eine besondere Duftnote.“ „Ist das ein Selbstmord?“, wollte Bachmann wissen. Dr. Ritter runzelte die Stirn: „Wie Sie sehen, sitzt das Opfer auf dem Beifahrersitz und ist vorschriftsmäßig angeschnallt.“ Bachmann und der Pathologe brachen in Gelächter aus, beinahe hätte sich der Beamte dabei am Pkw abgestützt. Strauch musste ebenfalls grinsen, meinte dann: „Gesetzestreue Bürger finde ich toll, aber mir wäre es lieber, sie würden daheim im Bett an Altersschwäche sterben.“ „Tja, Altersschwäche ist hier nicht die Todesursache“, stellte Dr. Ritter trocken fest.
Strauch wandte sich an den jungen Polizisten in Uniform: „Kennen wir die Identität des Opfers?“ Polizeiobermeister Kleinlein war nicht groß, aber drahtig, er stellte sich kurz vor und erstattete Bericht: „Das Kennzeichen ist noch leserlich. Wenn das Opfer der Halter des Wagens ist, handelt es sich um Manfred Liebig, 53 Jahre alt, wohnhaft in Fürth.“ „Danke Kleinlein. Einer sollte in Fürth nachsehen, ob der Mann in seinem Bett liegt oder er den Wagen verliehen hat.“ Bachmann griff sofort nach seinem Handy.
Dr. Ritter lieferte Fakten: „Im Wageninnenbereich gibt es viele verkohlte Gegenstände, Plastiktüten, Kleidungsstücke und einige Flaschen. Im Fußraum des Opfers liegt eine weitere Flasche, eventuell eine Schnapsflasche und eine verschmorte Plastikflasche, Göß meinte, es könnte sich dabei um Spiritus handeln. Das kriegen wir noch raus.“ Ein schwarzer BMW bog in den Feldweg ein, Bachmann stöhnte: „Ach, unser Herr Staatsanwalt.“ Der sonst so perfekte Haarschnitt des Staatsanwalts saß, vielleicht aufgrund der frühen Stunde, nicht so akkurat wie üblich. Ein Haarbüschel am Hinterkopf stand senkrecht in die Höhe. Bachmann fand das sehr amüsant. „Guten Morgen, Dr. Bräuer!“, rief Dr. Ritter, Hände wurden geschüttelt. „Was haben wir hier?“, wollte Staatsanwalt Bräuer wissen und stellte den Kragen seines grauen Mantels hoch. Die Kommissarin ergriff das Wort: „Wir sind auch gerade erst eingetroffen, aber so wie es aussieht, ist Mord nicht ausgeschlossen. Wie Sie sehen, sitzt das Opfer auf dem Beifahrersitz.“ „Und ist angeschnallt!“, Bachmann konnte es sich nicht verkneifen. Strauch warf einen strengen Blick auf ihren Assistenten: „Die Identität wird gerade geklärt. Äh, Kleinlein, wer hat den Toten gefunden?“ Kleinlein zog seinen Notizblock aus der Brusttasche: „Ernst Schader, Bauer aus Eggensee. Das ist das Dorf gleich dort drüben. Der war gegen 6.00 Uhr auf dem Weg zum Wald. Ich habe ihn befragt, er war ziemlich fertig. Unterwegs ist ihm niemand begegnet.“
„Na, was meinen Sie, ist das ein Suizid oder ein Tötungsdelikt?“, fragte der Staatsanwalt. Ritter überlegte kurz: „Wenn sich der Verdacht bestätigt, dass Spiritus als Brandbeschleuniger eingesetzt wurde und das Opfer angeschnallt war, gehe ich von Mord aus. Männer zünden sich nicht an, eher ihr Haus, um die Versicherung zu kassieren. Männer werfen sich vor den Zug, hängen sich auf oder fahren gegen einen Betonpfeiler…“ Der Staatsanwalt hatte genug von den Ausführungen, er hob die Hand: „Haben Sie etwas Konkretes, auf das Sie Ihre Vermutungen stützen können?“ „Es gibt zwei Schuhabdrücke auf der Fahrerseite, nicht sehr deutlich, aber für mich der Beweis, dass eine zweite Person am Ort war.“ Jetzt wurde Leo Bachmann hellhörig: „Das wäre die Erklärung, warum der Tote nicht der Fahrer war. Jemand hat den Wagen hierher gefahren und den Beifahrer mit Spiritus übergossen und abgefackelt. Wow, das klingt interessant!“ „Das wäre möglich!“ Strauch dachte laut, „Aber wie ist der Mörder von hier weggekommen? Können Sie eine Tatzeit eingrenzen, Dr. Ritter?“ Der Pathologe lachte, er nahm die Brille ab und fuhr sich durch sein spärliches, graumeliertes Haar: „Mit Hilfe des Wetters kann ich die Tatzeit gut bestimmen. Gegen 0.20 Uhr setzte Regen ein, zunächst ein Schauer, dann stärker. Der Brand muss kurz vorher gelegt worden sein, deshalb ist der Wagen nicht komplett ausgebrannt und noch wichtiger, das Feuer hat sich nicht weiter ausgebreitet.“
Die Kommissarin war jetzt wach, ließ sich den Plastikklumpen zeigen, der einmal eine Spiritusflasche gewesen sein sollte. Theorien wurden aufgestellt: Ob das Opfer vorher betäubt, betrunken oder niedergeschlagen wurde. Sonst hätte er doch reagieren müssen. Wäre aus dem Auto gesprungen, hätte sich am Boden gewälzt um das Feuer zu ersticken.
Bachmanns Handy klingelte, er trat beiseite. Es war ein Kollege aus Fürth, der Bericht erstattete: „Also, der Manfred Liebig is die ganze Nacht net ham kumma. Ganz ehrli, bei der Frau! Außerdem hätt er um sechse in der Friehschicht onfanga solln, dort isser bis etz aa net aufdaucht. Ich denk, des is eier Moo.“ Der junge Kommissar war begeistert: „Super, das ging ja schnell, wir werden dann gleich nach Fürth fahren, wenn wir hier fertig sind und die Ehefrau befragen.“ Der Kollege am anderen Ende lachte: „Genau, macht des. Wasserstoffblond und Riesenbusen, a echter Fecher. Kannst dich frein!“ Bachmann notierte die Adresse und ging zurück. Es war kalt, er zog die Schultern hoch, so dass sein Kinn in den Jackenkragen versank.
Schon dreimal hatte der Trupp das Auto umrundet, wie ein Prozessionszug. Außerdem hatte Dr. Ritter die Leiche vorsichtig bewegt. Bachmann informierte die Anwesenden: „Ich glaube, wir haben das Opfer identifiziert. Manfred Liebig, der Halter des Wagens, er hat die Nacht nicht zuhause verbracht und ist nicht zur Arbeit erschienen.“ Strauch zog die Hand aus der Jackentasche ihres Parkas und hob den Finger: „Sehr gut! Dr. Ritter, ich warte sehnsüchtig auf ihren Bericht oder vorab auf wichtige Details.“ „Liebe Frau Strauch, das ist ein komplexer Fall, das wird alles noch dauern“, kündigte er an, er konnte es nicht leiden, wenn ihm Zeitdruck gemacht wurde. „Bis später im Büro. Erfolgreiche und zügige Ermittlung!“, war der Abschiedsgruß von Staatsanwalt Bräuer, er zog den Schal fester um den Hals und stapfte über den feuchten Weg zurück zu seinem Auto. „Noch mehr Zeitdruck!“, stöhnte der Pathologe und mischte sich unter die Kollegen der Spurensicherung, die wie weiße Marsmännchen in und um das ausgebrannte Wrack wuselten.
Bachmann fuhr das Dienstfahrzeug, einen dunkelblauen 5er BMW. Der hatte schon einige Jahre auf dem Buckel, was der Beschleunigung keinen Abbruch tat. Auf Höhe von Bräuersdorf musste er wegen einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h abbremsen. Scheinbar belanglos fragte er seine Chefin, wie sie ihr Wochenende verbracht hatte. Er wusste genau, dass sie letzte Woche mit ihrem Lebensgefährten heftigen Streit hatte und hätte gerne den neuesten Stand der Beziehungslage erfahren. Mit beiden Händen wärmte sich Strauch die Ohren: „Unspektakulär, am Samstag habe ich geputzt und Vorhänge gewaschen. Lästig. Ich werde mir eine Haushaltshilfe suchen. Bertram sagt das schon lange. Früher hat mir das nichts ausgemacht, ich habe mich sogar gefreut, wenn alles schön sauber war, aber heute geht mir die Putzerei voll auf die Nerven.“ „Ach, ja?“, warf der junge Mitarbeiter ein, wollte er doch etwas ganz anderes hören. „Ja! Aber am Sonntag waren wir im Ansbacher Stadttheater. Eine Komödie, die hieß „Doppelzimmer“, eine junge Schauspielertruppe, das Stück war lustig, leicht und witzig. Das hat mir gefallen. Ich sollte öfters ins Theater gehen“, Strauch lehnte den Kopf zurück und schloss für einen Moment die Augen.
Dann fragte sie zurück: „Was ging bei Ihnen so ab? Club und One-night-stand?“ „Nix Sex. Sportliche Höchstleistungen. Ich bin gestern 100 km mit dem Fahrrad durch die Fränkische Schweiz gefahren, zusammen mit ein paar Kumpels.“ Strauch pfiff anerkennend durch die Zähne, dabei erinnerte sie sich an die verkohlte Leiche: „Sie haben das nicht mitbekommen, die Leiche hat zwei goldene Eckzähne und eine schwere, goldene Kette um das Handgelenk. Wir können die Ehefrau danach fragen.“ „Goldene Zähne, goldene Kette“, Bachmann verzog das Gesicht „Das klingt nach Gigolo oder der Figur aus der Operette ´Der Zigeunerbaron´!“ „Oder nach Geschmacksverirrung!“, Strauch lachte. Bachmann mochte es, wenn sie lachte, er musste unweigerlich mitlachen.
Das Navi leitete sie problemlos in die Blumenstraße. Es war noch nicht einmal neun Uhr und somit kein Problem, einen Parkplatz zu finden. Das Wohnhaus war ein mehrstöckiger Altbau, wie er typisch für die Fürther Innenstadt war. Die Fassade war tipptopp und der Hausflur ganz passabel, wenn man von den beschädigten Ecken und Kanten absah, die Umzüge eben hinterließen. Im ersten Stock wurden sie fündig, „Liebig“ stand auf dem schmucklosen Schild. „Ich hoffe, es gibt keinen Nervenzusammenbruch“, sagte Anne Strauch nüchtern bevor sie auf die Klingel drückte.
Bachmann öffnete den Reißverschluss seiner dunkelgrünen Jacke, strich sich die dunkelblonden, kurzen Haare zurecht und war einfach nur gespannt auf den „heißn Fecher“, den ihm der Kollege angekündigt hatte. Es dauerte eine Weile und hinter der Wohnungstür rumpelte es. Jetzt ging die Tür auf und vor ihnen stand Frau Liebig, die Schminke vom Vortag um die trüben, roten Augen. Das blonde, stark toupierte Haar stand struppig vom Kopf. Sie trug über ihren dünnen Beinen eine dunkle Leggins, darüber eine fast durchsichtige, rosa gemusterte Bluse mit großem Ausschnitt. Der Stoff spannte über Bauch und Brust bedenklich. Bachmann klappte die Kinnlade nach unten. Strauch fing sich schneller als ihr Kollege und stellte sich vor: „Frau Liebig, mein Name ist Strauch, das ist mein Kollege Bachmann von der Kripo Ansbach, dürfen wir hereinkommen? Es geht um Ihren Mann. Ein Polizeibeamter war heute schon deswegen bei Ihnen.“ Den Gesichtsausdruck der Dame konnte man leicht als desorientiert bezeichnen, es dauerte einen Moment, bis sie reagierte. Dann aber: „Mein Manni, was ist mit meinem Manni?“ Mit sanfter Gewalt schoben sich die Beamten durch die Tür. Frau Liebig stakste auf Pantöffelchen mit rosafarbenem Puschel und hohen, schmalen Absätzen voraus ins Wohnzimmer. Den Türrahmen touchierte sie dabei links und rechts.
„War das wirklich mein Manfred, mein Manni?“, heulte Frau Liebig. „Setzen Sie sich bitte. Es gibt noch viele Fragen. Das Auto Ihres Mannes wurde heute Morgen am Waldrand in der Nähe von Eggensee, das ist ein Ortsteil von Neustadt an der Aisch, ausgebrannt gefunden. Im Wagen befand sich eine Leiche“, erklärte Strauch mit ruhiger Stimme. Sie hatte viel Erfahrung in der Vermittlung von schlechten Nachrichten, die Sache mit der ruhigen Stimme hatte sich bewährt und hielt sie selbst gelassener. „O Gott, mein Mann. Was wollte der in Eggensee? Das Kaff kenn ich nicht einmal“, jammerte die Gattin. „Das ist gleich bei Neustadt“, erklärte Bachmann. „Mein Mann ist aus Neustadt. Aber da war er schon lange nicht mehr“, erinnerte sich Rita Liebig. „Trug Ihr Mann eine goldene Armkette?“, fragte die Kommissarin. „Ja, die hat er sogar zum Schlafen anbehalten. Das Ding hat einen Haufen Geld gekostet!“, versicherte Frau Liebig, sie wurde immer zappeliger. Strauch fragte weiter: „Goldene Eckzähne, hatte Ihr Mann goldene Eckzähne?“ Die Frau sprang vom Sofa auf und wackelte zu einem Serviertisch, der aus den Siebzigern stammen musste, weißlackiert auf Rollen und gut bestückt mit Hochprozentigem. Während sie sich einen großen Cognac einschenkte, plärrte sie: „Mein Goldzähnchen! Es ist mein Goldzähnchen, mein Manniiii!“ Bis sie am Sofa angekommen war, war das Glas schon leer und so kehrte sie sofort um und füllte es aufs Neue. Sie schwankte wie ein alter Kahn auf hoher See und ließ sich auf das Sofa fallen.
Bachmann sah sich um, alle Möbel waren weiß und hochglanzpoliert, die Vorhänge rosa und goldbestickt. Die grässlichen Kissen! Und überall hingen Bommelchen, er schüttelte sich, dann riss er sich aus der Betrachtung: „Frau Liebig, war ihr Mann depressiv?“ „Hä? Was?“, die Dame war sichtlich überfordert, aber sie stellte abrupt die Heulerei ein.
Die Kommissarin nutzte den Moment: „Frau Liebig, wo war ihr Mann gestern Abend, wann verließ er das Haus?“ Frau Liebig dachte nach: „Sonntagabend ist doch sein alberner Stammtisch, da ist er um sieben immer hin. Im „Goldenen Krug“, der ist dort unten, ganz am Ende der Straße.“ „Ist er da mit dem Auto hingefahren?“, wollte Strauch wissen. „Der Manni sagt immer, die natürliche Bewegungsart des Menschen ist Autofahren. Zu Fuß geht der nirgendwo hin.“ Strauch setzte sich jetzt neben sie: „Wissen Sie, wer noch an diesem Stammtisch sitzt? Ich meine, die anderen Stammtischmitglieder.“ Die Augen von Frau Liebig kreisten in der Luft, als könnte sie die Namen dort lesen: „Also, auf jeden Fall unser blöder Nachbar, gleich nebenan, der Hagemann. Ein totaler Spießer, arbeiten tut der nichts, angeblich ist er krank. Wahrscheinlich tut er bloß so, der faule Sack. Seine Alte redet den ganzen Tag saublöd herum!“ sie nippte an ihrem Glas „Mensch, wie heißen bloß die anderen? Ah, der Richi und der Fränki.“ Bachmann war das benebelte Geplapper leid: „Hatte Ihr Mann ein Handy?“ „Nein, so einen Schrott braucht er nicht, er nimmt die Buschtrommeln oder das Festnetz, meint er“, ein Lächeln zog sich über ihr Gesicht.
„Danach ist er nicht nach Hause gekommen oder hat angerufen?“, bohrte Strauch weiter. Jetzt brach es aus der Dame heraus: „Nein, ist er nicht! Und jetzt kommt er nie mehr und ich bin ganz allein. Mein Manni! Das pack´ ich nicht, das überlebe ich nicht!“ Sie warf den Kopf hin und her, begann zu keuchen und zu schwitzen. Genervt sagte Bachmann: „Wir gehen jetzt zum Nachbarn. Hier erfahren wir nichts mehr, wir könnten morgen wieder kommen, wenn die Frau nüchtern ist.“ Strauch hörte gar nicht hin: „Frau Liebig, kann ich jemanden für Sie anrufen? Es wäre besser, wenn Sie nicht alleine wären.“ Der Zustand der Witwe änderte sich schnell, sie verdrehte die Augen und die Atmung wurde ungleichmäßig. „Bachmann, Notarzt!“, forderte Strauch. Bachmann machte eine abfällige Handbewegung und meinte etwas von Rausch ausschlafen. „Notarzt, sofort!“
Frau Liebig verlor mehrmals kurz das Bewusstsein bis der Notarzt eintraf. Der diagnostizierte eine Kreislaufschwäche und zog routiniert eine Spritze auf, worauf der sonst so coole Bachmann deutlich seine Gesichtsfarbe änderte. Beide Beamten traten auf den Flur und atmeten tief durch. Dann verschärfte die Kommissarin ihren Ton: „Und Sie wären jetzt einfach so gegangen oder was?!“ „Die Frau ist Alkoholikerin!“, verteidigte sich Bachmann. „Na und? Sie hat ihren Mann verloren, da kann so was vorkommen, Alkoholikerin oder nicht! Sie hätte kollabieren oder einen Herzinfarkt haben können. Mann! Bachmann, Sie dürfen echt noch einiges lernen in Sachen Verantwortung und Empathie!“ Strauch strich sich schnell durch das braune Haar. Sie war aufgebracht und stinksauer. „Ja, ok, tut mir Leid, aber die Alte ist ein Wrack, heruntergekommen und widerlich. Und das als Frau, ich wollte nur raus“, argumentierte Bachmann. Jetzt schrie Strauch und tippte mit ihrem spitzen Zeigefinger auf die Brust des Kollegen: „Jetzt sage ich Dir mal was. Besoffene Männer sind genauso widerlich, ekelhaft und stinken. Wo soll da der Unterschied sein? Oder wieso ist eine besoffene Frau schrecklicher, als ein besoffener Mann?“
Bachmann grinste innerlich. Sie hatte es gerade wieder getan. Sie hatte ihn geduzt. Das gefiel ihm, er wartete bereits seit Monaten darauf, dass sie ihm das „Du“ anbot. Äußerlich durfte er natürlich nicht grinsen, das wäre in diesem Moment ein großer Fehler, sie würde endgültig ausflippen. „Ok, Chefin“, war seine knappe Antwort. Strauch stand schon vor der anderen Wohnungstür auf dem Stockwerk und holte aus um mit Schwung auf die Klingel zu drücken, unter der „Hagemann“ stand.
In der Küche von Bauer Schader hatten sich einige Nachbarn versammelt. Zwei saßen auf der Eckbank, die anderen standen im Zimmer. Schader selbst saß blass über einer Tasse Kaffee am Küchentisch. Seine Frau hatte die Hand auf seine Schulter gelegt und geflüstert: „Reg dich net so auf, Ernst.“ „Ich reg mich doch goar net auf!“ fuhr er sie an „Ich hob ober dauernd des Bild von dem dodn Moo vor meine Augn!“ „Und, hast den net kennt, Ernst?“, wollte der Seifert Fritz wissen. „Du bist doch ä Depp, der woar dodol verbrennt, wos hätt ich do nuch kenna solln?“, schrie der alte Schader. „Halt deinen Mund, Fritz!“, herrschte Sigi Haussmann, Schaders Nachbar, den unsensiblen Seifert an.
Haussmann war ein junger, stattlicher Bauer. Mit seinem Blaumann und dem dicken, grünen Pullover darunter, stand er in der bescheidenen Küche. Sigi trug die obligatorischen Gummistiefel, wie alle anderen auch. Schader jammerte: „Des is doch ä Scheiß. In meim Leben hob ich sowos noch ni gesehn. Des woar so greislich und des in meim Wald! Wer waas, wos passiert wär, wenns nachts net gregnet hätt, dann wär mei Wald abbrennt!“ Jetzt stand ihm das Wasser in den Augen. Haussmann wollte die Tränen des alten Mannes nicht sehen und meinte schnell: „Aber Ernst, Gott sei Dank, hat es ja geregnet. Und es ist deinen Bäumen nichts passiert. Hast Du nicht gesagt, dass das Auto eine Fürther Nummer gehabt hat?“ Schader hob den Kopf: „Ja, Sigi, des hob ich ganz kloar gesehn. Und bestimmt woars ä Golf, ober welche Farb, des waas ich net. Und gstunkn hats, pfui Deifl!“
„Dann hom mir den net kennt“, stellte Seifert definitiv fest. Darin waren sich alle Anwesenden einig. Zur Bestätigung nickten sie. Somit war das Wichtigste besprochen und die Ansammlung löste sich ohne Hektik auf, um wieder an die Arbeit zu gehen, die sich –wie jeder weiß- nicht von selbst erledigt.
H orst war heute später aufgestanden als sonst. Im Wald, umgeben von Bäumen und scheuen Tieren, mit denen er sprach, fühlte er sich wohl. In seiner Hütte gab es nur wenige Dinge. Ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und ein Regal, in dem er seine wenigen Kleidungsstücke untergebracht hatte. Zwei Tassen, zwei Teller, einen großen und einen kleinen Topf. An einer Wand stand ein kleiner Ofen, der den Raum erwärmte. Er füllte die weißen Kieselsteine, die er in der Nacht gesammelt hatte in ein großes Marmeladenglas und stellte es in das einzige Fenster. Er konnte kaum erwarten zu sehen, ob die Steine in der Nacht leuchten würden.
Er kämmte sorgfältig sein langes, dunkelblondes Haar und blickte in den kleinen, runden Spiegel, der auf einem Nagel hing. Ein Kindergesicht. Er fand, dass er jung aussah, nicht wie 26, eher wie 12. Feine Gesichtszüge, die schmale Nase, sanft geschwungene Lippen und ausdrucksvolle dunkle Augen. Einzig und allein der mickrige Bart über und unter seinem Mund ließ ihn etwas männlicher wirken. „Ich sehe sehr jung aus“, sagte er zu seinem Spiegelbild. Horst zog seinen Parka an und machte sich auf den Weg nach Neustadt, wie jeden Tag außer sonntags. Breze kaufen. Sein Blick fiel auf das Bett. Heute musste er zum ersten Mal die zweite Bettdecke verwenden, die Nacht war kalt gewesen. Und das erinnerte ihn daran, dass er seine Hütte bald verlassen musste. Der Gedanke machte ihn traurig. Er konnte nicht hierblieben, trotz des Ofens war der Raum im Winter nicht ausreichend beheizbar. Die einfachen Holzwände waren nicht isoliert, der Boden nichts als gestampfter Lehm. Im ersten Winter hatte Horst versucht, in der Hütte zu bleiben. Dabei hatte er sich eine handfeste Erkältung zugezogen, die zu einer Lungenentzündung geworden war. Damals ging es ihm grottenschlecht und das wollte er nie wieder erleben. Deshalb würde er demnächst sein Winterquartier beziehen, auch wenn er nicht gerne hinter Mauern lebte. Er fühlte sich dann eingesperrt. Und die Luft in den Räumen war viel zu trocken.
Horst zog die Türe hinter sich zu und folgte dem Trampelpfad, der aus dem Wald auf ein Feld führte. Zum Dorf waren es nur fünf Minuten. Er sah von weitem den Sigi mit dem Schader mitten auf der Straße stehen.
„Hallo Leute!“, rief Horst. „Ach, der Horst!“, begrüßte Sigi Haussmann den Wanderer. Bauer Schader konnte nicht anders und platzte mit seiner grausigen Entdeckung am frühen Morgen heraus: „Mensch Horst, wasst wos ich heit frieh gefundn hob! Ä Leich, dortn auf der andern Seitn. Glei do wo mei Wald anfängt.“ Horst schaute etwas verwirrt. „Ä Moo, verbrennt in seim Auto. Gut, dass grengt hat, sonst hätt vielleicht mei Wald brennt! Des hat fei greislich ausgschaut!“, versuchte es Schader weiter und erwartete eine Reaktion.
Horst nickte bestätigend: „Ja, es hat heute Nacht geregnet. Ich war draußen und habe Kieselsteine gesammelt. Und ein Feuer habe ich auch gesehen und zwei Mal hat es geknallt.“ Sigi schaute Horst erschrocken an: „Um wieviel Uhr war das?“ Horst zuckte nur mit den Schultern: „Ist die Moni daheim?“ „Nein, die ist gerade zum Einkaufen gefahren“, meinte der Sigi. In diesem Moment kam sein Sohn kam aus dem Haus gelaufen und zog den Vater am Hosenbein. „Der Michi ist verrotzt, deswegen ist er heute nicht im Kindergarten“, erklärte Sigi und fühlte die Stirn des Kindes „Morgen geht es dir bestimmt besser, Michi!“, munterte Sigi seinen Sohn auf. „Der Michi gehört ins Bett, sonst kriegt er noch eine Lungenentzündung und hohes Fieber!“, stellte Horst höchst besorgt fest.
„Etz soch ämol, Horst.“ wollte Schader wissen „Wos hastn heit Nacht nuch geseng?“ „Ich war nur der Straße entlang unterwegs, wegen den Steinen. Und dann kam der Regen und ich wollte schnell heim, damit ich mich nicht erkälte.“, stellte Horst emotionslos klar. „Ja und Du woarst goar net neigierig, wos do los woar, bist net schaun ganga?“, der alte Bauer konnte das Desinteresse nicht begreifen. „Nö, ich wollte heim. Meine Steine hatte ich ja. Jetzt muss ich aber los! Wenn du gesund bist Michi, dann zeige ich Dir meine Kieselsteine. Tschüss!“ So setzte Horst seinen Weg fort. Er hatte Appetit und es war ein ganzes Stück bis in die Stadt. Irritiert sahen Schader und Sigi ihm hinterher, der kleine Michi auf dem Arm des Vaters krähte: „Der Horst spinnt.“ „Ober eigentli müsst der Horst doch ä Aussag machen, bei der Polizei. Er is ja ä Zeuge!“, stellte Schader fest. Sigi Haussmann schnaubte verächtlich: „Der hat doch nicht mal eine Uhr, wenn den einer fragt, wie spät es war, was soll er dann sagen? Er könnte ihm seine Kieselsteine zeigen!“ „Ja, ich waas a net. Ober dei Bub hat Recht, der Horst spinnt!“ Schader hob die Hand zum Gruß und ging auf seinen Hof zu. „Und den haben wir bald wieder im Haus“, seufzte Haussmann und spürte, wie Verzweiflung in ihm aufstieg.
Über Ihr verantwortungsloses Verhalten unterhalten wir uns noch!“, zischte die Kommissarin. Die Tür öffnete sich, „Ja, bitte?“, fragte die untersetzte Frau höflich. „Frau Hagemann? Mein Name ist Strauch von der Kripo Ansbach, das ist mein Kollege Bachmann, wir hätten ein paar Fragen an Sie“, sagte Strauch noch etwas schrill. Sie bemerkte es selbst, sie stand noch unter Dampf. Strauch amtete tief ein und aus und bat sehr viel sanfter darum, eintreten zu dürfen. Frau Hagemann sah sehr erschrocken aus: „Was ist da nebenan los? Ich habe den Notarzt vorfahren sehen.“ Sie führte die Beamten in eine geräumige Küche. Am Tisch saß ein hagerer Mann mit kleinen, trüben Augen. Die beiden durften um die 60 Jahre alt sein. „Frau Liebig hatte eine Kreislaufschwäche. Der Arzt ist bei ihr. Herr Hagemann, waren Sie gestern bei ihrem Stammtisch im Goldenen Krug?“, fragte Bachmann auf seine direkte Art. Der Mann nickte wortlos. „War Herr Liebig auch anwesend?“, wollte Bachmann wissen. Jetzt öffnete Hagemann den Mund: „Ja, er war anwesend. Aber wollen Sie uns nicht sagen, was passiert ist, warum Sie diese Fragen stellen?“ Frau Hagemann bot den Beamten mit einer Geste Platz an, Strauch setzte sich: „So wie es aussieht, hat Herr Liebig vergangene Nacht einen gewaltsamen Tod gefunden. Wir müssen den gestrigen Abend rekonstruieren und brauchen dazu ihre Hilfe. Wann ist Liebig ins Lokal gekommen und wann gegangen?“ Der Nachbar machte ein erschrockenes Gesicht, seiner Frau stand der Mund offen, dennoch begann er zu erzählen: „Der Manni ist gegen 19.30 Uhr gekommen, wie die anderen auch. Aber er ist früher gegangen als sonst. Es hat Streit gegeben.“ „Mit wem hat er gestritten?“, hakte Bachmann sofort nach. Hagemann zögerte, gab dann zu: „Mit mir.“ „Aber Otto, das hast Du ja gar nicht erzählt!“, die Frau war entsetzt, ihr Gesicht und Hals wurden rot.
Plötzlich schlug Hagemann mit der flachen Hand auf den Tisch: „Ich hatte so die Nase voll von seinem arroganten und dummen Gerede. Erst tat er wieder so, als würde ihm die Druckerei gehören, in der er arbeitet. Dann hat er mich mal wieder als faule Sau bezeichnet, weil ich seit fünf Jahren verrentet bin. Ich habe schweres Rheuma! Anschließend prahlte er mit seinen geschmacklosen Weibergeschichten. Da ist mir der Kragen geplatzt und ich habe ihm gesagt, dass seine Frau mehrmals die Woche Männerbesuch bekommt, wenn er nicht zu Hause ist. Und das seit einigen Monaten.“ „Und das stimmt, da kommt so ein komischer Kerl zu Frau Liebig. Wer weiß, was er von dieser abscheulichen Person will, und er ist oft da“, verteidigte Frau Hagemann die Worte ihres Mannes. Bachmann verzog das Gesicht: „Was? Die Frau hat einen Geliebten?“ Die Reaktion ihres Machokollegen amüsierte Strauch. „Kennen Sie den Namen des heimlichen Besuchers?“ Hagemann schüttelte den Kopf, seine Frau flüsterte fast: „Wenn sie ihm die Tür öffnet, säuselt sie immer: `Ach Gerd´, aber mehr weiß ich nicht.“ „Der Typ sieht komisch aus. Sehr blass, dunkle, kurze Haare mit akkuratem Scheitel. Stets im Hemd und Sakko, aber alles sieht so altmodisch aus“, dachte Hagemann laut nach. Seine Frau sagte forsch: „Er sieht aus wie ein Kinderschänder, direkt unheimlich. Im Dunkeln möchte ich dem nicht begegnen!“
Strauch hatte kein Interesse am Klatsch und wollte zu Tatsachen zurückkehren: „Was ist nach dem Streit passiert?“ „Er hat sich aufgeführt, geschrien und getobt, mit der Faust ein paar Mal auf den Tisch gedroschen. Der Manni war auch schon ordentlich angesoffen, er hatte sechs Halbe bis dahin. Mich hat er einen impotenten Spießer genannt, die anderen als Arschlöcher bezeichnet. `Ich saufe mein Bier wo anders`, hat er gebrüllt und ist raus aus der Tür. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.“ „ Um welche Zeit war das?“ Der schmale Mann zuckte mit den Schultern: „Das war gegen 22 Uhr, kurz danach bin ich auch gegangen.“ „Wir müssen erfahren, wohin er gegangen ist. Rufen Sie die Kollegen an, die müssen die Kneipen hier rundum abklappern. Die sollen uns ein Foto vom Toten organisieren. Oder Sie gehen nochmal zu Frau Liebig und bitten sie um ein Bild“, Strauch hatte plötzlich das Gefühl, alles ginge zu langsam, „Fragen Sie noch, ob Kollegen schon am Arbeitsplatz des Opfers Befragungen durchgeführt haben.“
Frau Hagemann entschuldigte sich, dass sie nicht gleich Kaffee angeboten hatte: „Das war keine Unhöflichkeit, nur der Schreck.“ Die Beamten nahmen dankbar an. Während einer Tasse Kaffee erfuhren sie alles über die Familie Liebig. Ihre Alkoholexzesse, Streitigkeiten, die Kinderlosigkeit. Über Freunde des Paares, Lärmbelästigung zu jeder Tages-und Nachtzeit, ihrem ordinären Auftreten und seinem ausgeprägten Jähzorn. Ganz nebenbei erwähnte das Ehepaar, dass es eigentlich aus Duisburg stammte und vor zehn Jahren nach Fürth gezogen war. Über den Grund des Umzugs waren sich die beiden jedoch nicht ganz einig.
Auf der Treppe nahm Bachmann seinen Block aus der Jackentasche und blätterte in seinen Notizen. Strauchs Handy klingelte, es war ein Fürther Kollege: „Riedl hier, Frau Kommissarin. Ich war in der Firma Wöller, wo das Opfer gearbeitet hat. Das ist ja eine Riesendruckerei, die arbeiten in drei Schichten. Ich habe mit dem Vorarbeiter gesprochen und mit den Kollegen, die jetzt Schicht haben. Keiner hat den Liebig gestern gesehen. Wenige haben ihn gemocht, andere haben ihn offen als Deppen bezeichnet. Sein Chef war mit ihm zufrieden, bloß hat es in der Nachtschicht immer Probleme gegeben, wegen der Sauferei. Gut gekannt hat ihn eigentlich nur ein Kollege.“ „Wie heißt der?“, fragte Strauch. „Konrad Decker. Die beiden kannten sich seit Jugendzeiten.“ „Danke, Riedl, ich werde selbst zur Druckerei fahren. Und noch was! Das Opfer hat den „Goldenen Krug“ gegen 22 Uhr verlassen und angekündigt, dass er woanders weitertrinken wollte.“ „Ja, der Kästner ist schon auf dem Weg und sucht die Kneipen in der Gegend ab. Sobald ich Neuigkeiten habe, ruf ich wieder an. Ade, Frau Strauch“, verabschiedete sich Riedl.
Auf dem Gehsteig vor dem Haus hatten sich einige Schaulustige eingefunden, Strauch versicherte den neugierigen Nachbarn, dass sie die Lage im Griff hatten. Sie wühlte in ihrer Handtasche, fand die Packung Zigaretten und steckte sich eine an, während sie sich in der Straße umsah. Obwohl mitten im Zentrum gelegen, war es ruhig hier. Überhaupt sah Fürth aufgeräumter aus als früher. Sie überlegte den nächsten Schritt. Wohin war der wütende Liebig wohl nach dem Streit gegangen? Er war angetrunken und mit dem Auto unterwegs. Warum fuhr er soweit aus der Stadt raus, bis Eggensee? „Immerhin wissen wir, dass Liebig aus Neustadt war“, ließ ihn Strauch an ihren Gedanken teilhaben. „Sie rauchen“, war die Antwort des jungen Kollegen. Mit dem Zeigefinger und der Zigarette in der Hand drohte sie ihm: „Kein einziges blödes Wort mehr! Außerdem war der Kaffee bei Frau Hagemann sehr dünn.“ Bachmann wusste sofort was gemeint war. Seine Chefin war ein Espressofreak. Sie brauchte eine konzentrierte Koffeindosis. Er sah sich um. Die Kommissarin hatte das „Segafredo“-Schild offenbar zuerst gesehen und die beiden setzten sich in Bewegung.
Das Café war klein, aber nett eingerichtet. Noch während sie ihre Jacken auszogen, kam die Bedienung. „Was darf ich Ihnen bringen?“ Dabei sah die junge Frau nur Bachmann an. Strauch war oft Zeuge dafür, wie er auf junge Frauen wirkte. Ihr Kollege legte sehr viel Wert auf sein Äußeres. Zu seiner Jeans trug er heute ein weißes T-Shirt, darüber eine dünne graue Strickjacke, alles Markenware. An seinem sportlichen Körper sah das gut aus. Sellmann aus der Dienststelle nannte ihn oft „Unser Fashionvictim“. Was Bachmann kein bisschen ärgerte, im Gegenteil, er nahm es als Kompliment. Sein Kurzhaarschnitt verhinderte, dass sich die dunkelblonden Locken zur sehr kringelten. Bachmann setzte ein breites Lächeln auf und bestellte Espresso, Cappuccino und zwei Croissants. Die Kaffees wurden serviert, Bachmann deutete auf den Espresso: „Schwarz wie die Nacht.“ Strauch zeigte auf seinen Cappuccino: „Milchbubi.“ Dann schwiegen sie eine Weile. „Wie machen wir weiter?“, Bachmann löffelte den Milchschaum vom Cappuccino. Strauch lehnte sich zurück: „Die Kollegen in Fürth waren in der Druckerei. Einer der Kollegen kannte den Toten offensichtlich ganz gut. Ein anderer Kollege geht gerade die Lokale ab, mit etwas Glück wissen wir bald, ob Liebig nach dem Goldenen Krug noch ein anderes Lokal aufgesucht hat.“
M oni stand vor einem meterlangen Regal voller Cornflakes. Michi liebte Cornflakes. „Eigentlich ist das alles viel zu süß“, dachte sie. Von mindestens zehn Packungen hatte sie die Inhaltsstoffe studiert. Was da alles drin war! „Ascorbylpalmitat, was ist das?“, las sie halblaut. Sie hätte Abitur machen und Chemie studieren sollen, nur so bestand eine reelle Chance zu wissen, was man aß. Ihre Eltern hielten nichts vom Gymnasium und einem Studium. Sie waren Bauern und unfähig über den Rand des Suppentellers zu schauen. Bei dem Gedanken an die verpassten Möglichkeiten bekam Moni schlechte Laune. Raus aus dem Kuhstall, raus aus den Gummistiefeln. Sie wusste, sie hätte es schaffen können. Die Mittlere Reife befanden die Eltern als vollkommen ausreichend für ein Mädchen. Immerhin konnte Moni die Ausbildung zur Buchhalterin durchsetzen. Ihre Mutter hatte sie auf die Hauswirtschaftsschule schicken wollen. Was für ein Albtraum!
Die Jahre der Ausbildung in einer Nürnberger Steuerkanzlei waren eine wundervolle Zeit! Jetzt hatte sie tatsächlich Cornflakes ohne Zuckerzusatz gefunden. Ob Michi die essen würde? „Hi, Moni, gehst ä weng einkaafn?“, ertönte eine Stimme neben ihr. Moni zuckte aus ihren Gedanken gerissen zusammen: „Mensch, Heike, hast Du mich erschreckt.“ Heike redete nicht lange um den heißen Brei: „Grod hob ich dei Nachbarin troffn, bei eich hats än Dodn gebn?“ „Ja, aber auf der anderen Seite, am Waldrand. Der arme alte Schader hat den Toten entdeckt“, berichtete Moni ihrer Freundin. „Wos isn do passiert?“, fragte diese weiter. „Der ist im Auto verbrannt, hat der Schader gesagt.“ „Des is ja ä Hammer, woar des ä Selbstmord?“ Heike kam richtig in Fahrt. „Ich glaube, die gehen eher von einem Mord aus, aber frage mich nicht warum. Der Sigi war vorhin beim Schader, der hat das erzählt. Es muss recht furchtbar ausgesehen haben“, erzählte Moni. „Ja und der Dode, hast Du den kennt?“ Moni kam sich vor wie ein Auskunftsschalter: „Nein, sicher nicht. Das Auto hatte ein Fürther Nummernschild. Aber mehr weiß ich auch nicht, vielleicht steht morgen etwas in der Zeitung.“ Heikes Neugier war nicht zu bremsen: „Is des net schreckli, ä Mord bei uns. Ich maan, bei uns bassiert doch sunst nie wos. Sowos seng mir doch bloß im Fernseng. Und dann a nu verbrennt und net derschossn. Wer machtn sowos!“ „Keine Ahnung, ich war es nicht!“, sagte Moni genervt und sah auf die Uhr.
Erschrocken stellte sie fest, dass sie viel zu lange Inhaltsstoffe studierte hatte und meinte schnell: „Mensch Heike, ich muss mich beeilen. Sigi ist mit Michi allein zuhause. Außerdem brauche ich noch Waschmittel.“ „Is scho kloar, Moni!“, meinte Heike, „Kumm doch mol widder zum Landfrauntreffn, es letzte Mol hom mer Schäuferla kocht, des woar fei lecker.“ Moni winkte im Gehen zurück während sie dachte: „Vielleicht im nächsten Leben.“ Dann sprang sie noch mal zurück und griff nach der Packung Cornflakes, die sie immer nahm. Die ganze Leserei für die Katz. In Höchstgeschwindigkeit schoss sie los in Richtung Waschmittelregal, unterwegs warf sie vier Tafeln Schokolade in ihren Einkaufswagen. Ohne Schokolade ging gar nichts. Bei den Putzmitteln stand eine andere Bekannte, Moni sah sie schon von weitem. Sie hatte keine Zeit für eine weitere Fragestunde. Als Kinder hatten sie oft gespielt, unsichtbar zu sein. Jetzt spielte sie unsichtbar, sie hielt den Atem an und glitt lautlos und zügig mit größtmöglichem Abstand an der Frau vorbei. Und wurde nicht gesehen.
Wenig später fuhr sie mit dem alten Passat in den Hof. Sigi half ihr beim Ausladen der Einkäufe. Michi weinte, es ging ihm nicht gut. Nachdem die Lebensmittel verstaut waren, nahm Moni das Kind auf den Arm. Besorgt fragte sie: „Hast Du Halsweh oder Ohrenschmerzen?“ Klägliches Weinen war die Antwort. „Komm, trink einen Schluck.“ Michi nippte am Glas, dann schob er es von sich weg. Sie ging mit ihm nach oben in sein Zimmer und legte ihn ins Bett. Deckte ihn zu und redete leise auf ihn ein. Seine Augenlider wurden schnell schwer und er schlief ein.
Moni fühlte sich plötzlich sehr müde und legte sich neben ihren Sohn. Ihre Beine hingen aus dem Kinderbettchen. Sie spürte die Körperwärme des Kindes. Das war schön. Sie fiel in einen Halbschlaf und die Erinnerung an ihre Jugendliebe tauchte auf. Sie war so jung und verliebt gewesen. Mit ihrem schönsten Kleid und frisch gekämmt spazierte sie an seinem Haus vorbei, winkte wie zufällig, wenn er am Fenster stand. Sie war sich sicher, dass auch er sie mochte. Als er sie zum ersten Mal küsste, schwebte sie förmlich über dem Boden. Hätte er gesagt, Moni, ich liebe dich. Geh mit mir nach Kurdistan, ich habe ein Zelt, in dem können wir wohnen, sie hätte „ja“ gesagt, ohne zu zögern. Für ihn hätte sie alles getan, alles aufgegeben.
Einmal hatte sie sich im Supermarkt einen knallroten Nagellack gekauft und ihre Nägel damit ungeschickt bemalt. Als ihr Vater das sah, flippte er völlig aus. Er befahl ihr das ordinäre Rot sofort zu entfernen. Aber sie hatte keinen Nagellackentferner. Ihre Mutter, die nie im Leben ihre Nägel lackiert hatte, besaß somit auch keinen. Der Vater schickte die Mutter zur Nachbarin, um von ihr Nagellackentferner zu borgen. Aber auch die hatte keinen. Die Szene war völlig idiotisch. Natürlich hatte Moni gewusst, wer im Dorf Nagellackentferner besaß. Ihre Freundin Sabine, in ihrer supergeheimen Schublade! Darin befand sich eine kunterbunte Auswahl an Kosmetika. Oft bemalten sich die beiden wie Indianer auf dem Kriegspfad, mussten aber alles gründlich wieder abwaschen, bevor sie das Zimmer verließen. Moni musste schmunzeln und erwachte. Vorsichtig setzte sie sich auf und warf noch einen Blick auf den fiebernden Michi. Er schwitzte, blonde Strähnen klebten auf seiner Stirn. „Schlaf dich gesund, mein Schatz, Mama geht kochen“, flüsterte sie und ging nach unten.
Das Gras am Wegrand war noch feucht vom nächtlichen Regen und die Luft kühl und erfrischend. Horst bog von der Straße auf den Feldweg ab und trat jetzt in das kleine Waldstück ein. Er atmete den würzigen Geruch tief in seine Lungen ein. Vom Weg aus sah er verschiedene Pilze durch Moos und Gestrüpp blitzen. Allerdings würde er hier keine Pilze sammeln. In seinem Wald kannte er eine Stelle, an der ausschließlich Steinpilze wuchsen. Steinpilze kannte er gut, da war er sich sicher, bei anderen Pilzen war er unsicher. Horst hatte Angst sich zu vergiften und die Angst war größer als der Appetit.
Er blickte vom Boden nach oben. Die Fichten waren riesig und verdeckten die freie Sicht auf den Himmel. Darum war der Wald so dunkel, wie im Märchen. Horst liebte Märchen und er wusste, dass im tiefen Wald wichtige Dinge von großer Bedeutung geschahen. Achtsam setzte er einen Schritt vor den anderen, seine Augen wanderten von links nach rechts, von rechts nach links. Neugierig und aufmerksam. Der tägliche Weg war kein einfacher Spaziergang, eher ein Bedürfnis, der wichtigste Teil seines Tages. Er erfüllte ihn mit Frieden und Sicherheit. Schon ließ er das Waldstück hinter sich und ging auf dem Feldweg zur Fußgängerbrücke über die Bundesstraße. Mitten auf der Brücke blieb er stehen und schaute auf die Aischwiesen. Ein wenig Nebel stand noch über dem Fluss, das war oft so im Herbst. Manchmal löste sich der Nebel den ganzen Tag nicht auf. Aber es sah schön aus. Nur die Autos, die unter seinen Füßen donnerten, mochte er nicht. Das Geräusch, das Aufheulen der Motoren während der Beschleunigung und dann die Geschwindigkeit! Er konnte der Geschwindigkeit nicht folgen, sie machte ihn schwindelig. Es war lange her, dass er in einem Auto gesessen hatte. Moni meinte oft: „Fahr mit mir irgendwo hin. Du musst mal etwas anderes sehen, Horst!“ „Warum muss ich etwas anderes sehen?“, fragte er dann. Er konnte den Sinn darin nicht erkennen.
Nun durchquerte er das Dorf Kleinerlbach, hier roch es genauso wie in Eggensee. Einige Bauern winkten ihm im Vorbeigehen zu und grüßten ihn mit einem „Servus!“ Der Kleinerlbacher Weg zog sich hin, links und rechts standen Einfamilienhäuser. Eine ältere Frau fingerte mit von der Gicht verformten Händen Briefe aus ihrem Postkasten. Freundlich sprach sie ihn an: „Guten Morgen, ganz schön kalt heute. Geregnet hat es in der Nacht auch.“ „Ja, es hat schon geregnet, bevor ich ins Bett ging“, erwiderte Horst. Die Frau trat näher an den Zaun und hielt Horst ihre Finger vor Augen: „Wissen Sie, meine Hände mögen die Kälte überhaupt nicht. Heute habe ich Schmerzen.“ „Ja, Schmerzen sind schlimm, das weiß ich. Jetzt muss ich aber weiter!“, sagte er und wandte sich im gleichen Moment um. Die Hände der Frau interessierten ihn wenig, ja, wenn er ehrlich war, fand er sie sogar ekelig. Damit mochte er sich nicht befassen.
Flinken Schrittes bog er in die Bamberger Straße ein, die ihn schnurstracks in die Innenstadt von Neustadt führte. Vorbei am alten Brauhaus, an der Autowaschanlage, am Amtsgericht, das massiv und autoritär die Straße dominierte. Endlich war er an der Bäckerei. Die automatische Tür öffnete sich. Gott sei Dank, es war nicht viel Betrieb. „Ja, do bist ja endli, Du bist heit spät dron, Horst!“, begrüßte ihn eine Verkäuferin. „Ich bin gestern später ins Bett“, rechtfertigte sich Horst. „Wos? Werum? Wos hastn gmacht?“, dröhnte die Verkäuferin voller Neugier. „Ich hatte etwas Wichtiges zu tun“, Horst wurde das Gespräch unangenehm. Diese Frau war so laut! Eine Kollegin kam von hinten aus der Backstube: „Lass ihn in Ruhe!“, sagte sie zur ihrer Kollegin, dann ging sie zum Brezenkorb und packte eine Breze mit feinem Salz in eine kleine Papiertüte: „Da hast deine Breze, Horst, macht 60 Cent.“ Horst legte die Münzen auf die Theke und lächelte ein klein wenig. Diese Verkäuferin war ihm viel lieber, sie war außerdem hübscher mit ihrem blonden Pferdeschwanz und den sanften, braunen Augen. „Wie ein Reh“, dachte er. Auf ihrem Namensschild stand: Es bedient Sie Daniela. „Danke und tschüss bis morgen.“ Er wagte einen kurzen Blick in ihre Augen.
Heute hatte er keine Lust sich auf den Marktplatz zu setzen, er ging stattdessen zielstrebig Richtung Bleichweiher. Das war eine Parkanlage im Stadtzentrum, teilweise umgeben von den Überresten der historischen Stadtmauer. Dort stand ein Holzpavillion und die Sitze waren trocken. Er packte die Breze aus und biss beherzt hinein. Er hatte nicht bemerkt, wie hungrig er war. Wenige Menschen waren um diese Zeit am Bleichweiher unterwegs. Bei besserem Wetter waren die Bänke rund um den Weiher bevölkert, die Leute genossen die friedliche Atmosphäre umgeben von Bäumen und Sträuchern. Ein kleines Mädchen fuhr auf einem rosa Fahrrad an ihm vorbei, stramm trat sie in die Pedale. Die junge Mutter hatte Mühe, der Tochter hinterher zu kommen. Die Wasserfontäne mitten im Weiher warf das Wasser hoch in die Luft, die alten, großen Weiden am Ufer neigten sich jedes Jahr tiefer zum Wasser.
Bachmann saß am Steuer, die Druckerei Wöller in der Breslauer Straße war schnell gefunden. Ein großer Hof, umgeben von mehreren Hallen und Gebäuden. Lkws wurden beladen, es herrschte rege Arbeitsatmosphäre. Die Kommissare entschlossen sich, direkt in die Fertigungshalle zu gehen. Enorme Maschinen standen darin, es war laut und die Luft war stickig. Gleich nach dem Eingang war ein Büro durch Glas von der Halle getrennt, darin saß eine junge Frau am Computer. Für junge Frauen war Bachmann zuständig. Er stellte sich und seine Chefin vor. Die Angestellte blickte erstaunt: „Schon wieder Polizei? Wie kann ich Ihnen helfen?“ Bachmann setzte sein charmantes Lächeln auf. „Windhund!“, dachte Strauch. „Wir möchten mit Konrad Decker sprechen, könnten Sie uns den holen, Frau äh?“, säuselte Bachmann. „Stefanie Reimann ist mein Name. Vor einigen Stunden war ein Polizist in Uniform da und hat nach Liebig gefragt. Was ist mit ihm?“, fragte die hübsche Frau im kurzen Rock und hohen Stiefeln. „Diese Stefanie passt genau in sein Beuteschema.“, dachte Strauch. Betont leger plauderte Bachmann weiter: „Der wird wohl nicht mehr zur Arbeit kommen, Frau Reimann. Wir möchten gerne Herrn Decker befragen.“ „Ich hole den Decker hierher, in der Halle ist es recht laut. Ich mache solange Kaffeepause“, bot Frau Reimann an. Sie stiefelte aus dem Büro. Bachmann konnte nicht anders, er sah ihrem fröhlich wippenden Pferdeschwanz lange nach. Seine Vorgesetzte brachte ihn in die Realität zurück: „Ich hoffe, Sie können sich auf die Befragung konzentrieren.“ „Natürlich, Frau Strauch. Aber Sie müssen zugeben, dass sie verdammt gut aussieht. Der Figur nach zu urteilen, macht sie Sport. Everything´s in place, wenn Sie wissen, was ich meine!“, antwortete er. „Selbstverständlich weiß ich, was Sie meinen, Bachmann“, erwiderte Strauch staubtrocken. Sie zog ihren Parka aus, zerrte an dem Rollkragen ihres Pullovers herum, steckte die Hände in die Taschen der schwarzen Cordhose und sah sich um. Vom Büro hatte man Einblick in die gesamte Halle. Sie kratzte sich am Kopf. Im undeutlichen Spiegelbild der Glasfläche versuchte sie ihren Kurzhaarschnitt zu ordnen. „Mal wieder Bad Hair Day!“, dachte sie, sprach es aber nicht aus. Anne Strauch war mit ihrem Haar permanent unzufrieden, derzeit deckte der Farbton „Schokobraun“ die ersten grauen Strähnen ab. Der Pony war viel zu lang, der Schnitt war herausgewachsen, einzelne Strähnen an den Seiten ragten wie Antennen in alle Richtungen. Sie musste schleunigst einen Termin beim Friseur vereinbaren.
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