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Eine Zumutung: Liebet eure Feinde! Unmöglich, wird man spontan antworten, und dennoch unerlässlich, wie Wolfgang Schmidbauer ausführt, der in diesem Buch die christliche Vorstellung der Feindesliebe in den Blick nimmt und – ausgehend von einem "Was wäre wenn?" – Möglichkeiten der Annäherung entwickelt. Als Psychoanalytiker kennt er die Mechanismen und Fallstricke, die bei Streitereien und Auseinandersetzungen greifen. Er zeigt, wie sie eskalieren und zu einer nie enden wollenden Spirale der Gewalt führen können, wenn Rechthaberei die Oberhand gewinnt. Gesetze können Konflikte nur einrahmen, nicht bändigen. Liebe ist die emotionale Waffe gegen den primitiven Racheimpuls. Mit Beispielen aus Literatur- und Kulturgeschichte und persönlichen Erfahrungen in der Erinnerung an seinen im Zweiten Weltkrieg gefallenen Vater belegt er, dass Menschen primär soziale Geschöpfe sind. In jedem von uns sei die Möglichkeit angelegt, auf Rache zu verzichten und mit seinen Mitmenschen über Arbeit und Spiel zu interagieren, so Schmidbauer. Denn Liebe ist beides.
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Seitenzahl: 172
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wolfgang Schmidbauer
Wolfgang Schmidbauer
Plädayer für ein fast
vergessenes Prinzip
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Klimaneutrale Produktion.
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier.
1. Auflage 2025
Copyright © 2025Bonifatius GmbH Druck | Buch | Verlag
Karl-Schurz-Str. 26 | 33100 Paderborn | Tel. 05251 153-171
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München, werkstattmuenchen.com
Umschlagabbildung: © freepik, © joy_studio/Freepik.com
Lektorat: Gisela Appelbaum
Satz: Melanie Schmidt, Bonifatius GmbH, Paderborn
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
eISBN: 978-3-98790-958-0
www.bonifatius-verlag.de
Die Vision der Bergpredigt
Das Lernen aus der Niederlage
Der Verrat an der Feindesliebe
Die Mühsal der Rache
Die das Böse nicht in sich finden
Das Liebesprinzip
Der Marktfriede
Die Nächstenliebe
Warum auch Helfer hassen
Empathie und Spaltung
Freud und die Feindesliebe
Der Großinquisitor
Nicht mitzulieben, mitzuhassen bin ich da
Es muss alles anders werden, damit alles so bleibt, wie es ist
Das Dilemma des Pazifismus
Gelehrte sind sich nicht einig, ob die Bergpredigt historisch ist oder ein Kunstgriff des Evangelisten, um die wichtigsten Lehren des Jesus von Nazareth zusammenzufassen. Bemerkenswert ist auf jeden Fall die ausdrückliche Zuspitzung der biblisch überlieferten Nächstenliebe zur Feindesliebe. Das ist ein geradezu unglaublicher Schritt heraus aus der Stammesbindung zum Allgemeinen: Nicht nur Nahestehenden, die meine Sprache sprechen, auch Fremden, die Gefahren bringen, sollen wir im Geist der Liebe entgegentreten.
Unsere Gegenwart scheint davon nichts wissen zu wollen. Die erste Tote auf jedem Schlachtfeld ist die Wahrheit. Ihr folgen Humanismus, Kunst und Religion. Wir empfinden Schauder angesichts der Barbarei, allseits als große Kunst respektierte Statuen in die Luft zu sprengen, weil sie nicht zu einem radikalisierten Glauben passen. Die eigene Radikalisierung im Umgang mit Symbolen des Feindes scheint jedoch normal. Kunst wird nicht mehr als Kunst gewürdigt, wenn sich der Künstler nicht zur „richtigen“ Seite bekennt.
Das alles wäre ohne die Selbstgerechtigkeit erträglicher, der sich auch jene hingeben, die von sich behaupten, Tatsachen und Meinungen zu trennen. Es soll nur in eine Richtung gedacht werden. Die gute Absicht, aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu lernen und sich unter dem Dach der Vereinten Nationen gegen eine Wiederholung zu wappnen, verkehrt sich in ihr Gegenteil, wenn sich jede Seite überzeugt, gegen einen auferstandenen Hitler zu kämpfen.
Die Weisheit der Feindesliebe liegt darin, Hassprojektionen zurückzunehmen, die den Gegner zum Stellvertreter des absolut Bösen machen. Sie will den Feind stärken, ihm Sicherheit anbieten, damit er von der Fantasie lassen kann, Hass und Rache seien die einzigen Möglichkeiten, mit Ängsten vor Vernichtung fertig zu werden.
Rüstung und Krieg kann sich eine Menschheit am Abgrund schlechterdings nicht leisten. An den Grenzen der Ukraine kämpfen die einen für Russland, die anderen für ihre Freiheit. Die Zuschauer glauben zum einen Teil, dass die Ukrainer wirklich für ihre Freiheit kämpfen, während die Russen den Einflüsterungen eines Faschisten folgen. Der andere Teil glaubt, dass die Russen wirklich für ihr Land … usw. Wer denkt noch daran, dass es besser sein könnte, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun? Wir erzählen uns Geschichte einseitig. Wir verachten den britischen Ministerpräsidenten Chamberlain, der zu lange an den Frieden glaubte. Wir überzeugen uns, dass Churchill mit seiner Botschaft von Blut, Schweiß und Tränen der bessere Anführer war.
In Deutschland wurde von den anfangs pazifistischen Grünen Auschwitz angeführt, das sich niemals wiederholen dürfe. Daher sei es notwendig, mit Waffen gegen Serbien vorzugehen. Aber Auschwitz ist durch Krieg nicht verhindert worden, im Gegenteil. Wir wissen nicht einmal, ob sich ohne den Krieg der deutsche Antisemitismus gleich grausam entwickelt hätte.
Es ist keine angenehme Vorstellung, jemanden ein Land besetzen zu lassen und nichts dagegen zu unternehmen. Hitler behauptete, die außerhalb des Mutterlandes lebenden Deutschen ähnlich „schützen“ zu wollen, wie Putin die russischen Bevölkerungsanteile in der Ukraine „schützen“ wollte. Vor dem Krieg waren die Nationalsozialisten großsprecherisch und ekelhaft, aber auch bemüht, den Schein des Rechtsstaates zu wahren. Im Krieg wurden sie zu rücksichtslosen Mördern.
Die Gefahr des Einlenkens in den gegenwärtigen Kriegen ist imaginär, sie beruht auf Gerüchten und Unterstellungen. Deeskalation, Verhandlung, respektvoller Umgang, Einladung zu Lösungen, in denen beide Seiten gewinnen, werden sogleich als Zeichen von Schwäche gedeutet, die ein Feind gnadenlos ausnutzen wird. Davor haben wir Angst, während uns der drohende Untergang des Planeten kaltlässt.
Es ist ebenso naiv, dem Freund gar nichts Schlechtes zuzutrauen wie dem Feind nur Schlechtes. Wer früh auf Maximalforderungen verzichtet, hat bessere Chancen, dass der Krieg kürzer ist und beide Seiten mehr behalten als durch Rechthaberei.
Das 21. Jahrhundert wird von einem Exzess des Rechts geprägt, der nicht mehr lokale Konflikte reguliert und Frieden stiftet, sondern wie eine drohende Wolke um den Planeten kreist, Unmengen an Energie einsaugt, eine Menge unerfüllbarer Hoffnungen produziert, in den meisten Fällen wirkungslos droht. Früher setzte der Sieger sein Recht durch; die Besiegten mussten das hinnehmen. Die sprechende Geschichte ist die vom Gallier Brennus1.
Daran hat sich im Grunde wenig geändert, nur haben es Frieden und Liebe schwerer.
Konfliktparteien werden angeleitet, über Generationen hin an dem ihnen angetanen Unrecht festzuhalten. Seit es einen internationalen Gerichtshof gibt, der völkerrechtliche Fragen klärt, finden wir zwei Realitäten in den Verhältnissen zwischen Staaten: rechtskonforme und völkerrechtswidrige Realität. Israel, China, Russland, Nordkorea, der Iran und die USA sind die bekanntesten Staaten, die sich an die zweite Realitätsform gewöhnt haben.
Wir sind in einer Welt angekommen, in der auch der fürchterlichste Schaden „kollateral“, also nebensächlich genannt wird. Zivilisierte, mit differenzierten Rechtssystemen ausgerüstete Staaten reagieren auf terroristische Provokationen mit einem Rückfall in kaum verklausulierte Rache. Der Krieg gegen den Terror, den die USA nach dem Angriff auf die Twin Towers entfesselten, hat den Terror nicht besiegt, im Gegenteil.
Es hätte weniger Blut gekostet und weniger Rachedurst ausgelöst, die Mörder mit polizeilichen Mitteln, internationalem Druck, Appell an das Gerechtigkeitsempfinden zu bekämpfen. Nichts davon versprach sichere Wirkung. Nur der angerichtete Schaden wäre geringer gewesen.
Gegenüber den gegenwärtigen Kriegen mutet die Regelung der „primitiven“ Stammeskulturen vernünftig an, Rache durch Verhandlungen und durch Zahlungen zu beenden. Heute heißt es: Mit Terroristen verhandeln wir nicht, wir werden wie sie. Wir tun, was wir können, um zivile Opfer zu vermeiden, leider sind unsere Waffensysteme nicht so differenziert wie unsere Absichten und der Feind ist so boshaft, Frauen und Kinder als Schutzschild zu missbrauchen.
Unzweifelhaft wäre die Feindesliebe das Vernünftigste: möglichst wenig Schaden, möglichst wenig Verschwendung, möglichst viel Respekt vor Menschenleben. Das Gebot lautet nicht „liebet eure Feinde, vorausgesetzt, es ist ungefährlich und kann euch nicht schaden“, es ist viel einfacher – und riskanter. Wenn sie mehr an das Gute und an die Vernunft glaubt als an Rüstung und Ausbeutung, wenn sie dieses Wissen zur Tat werden lässt, wird die Menschheit überleben.
Überall in der Welt einigen sich Menschen, sobald Selbstliebe und Feindesliebe zusammengedacht werden können: Ich muss mich nicht aufgeben, sobald ich aufhöre, dem Feind das Böse zuzuschreiben, das ich ebenso in mir trage wie er. Im Mikrokosmos unserer Alltagsbeziehungen ist es uns vertraut, dass Rechthaberei allen schadet. Das wichtigste Ergebnis einer hilfreichen Familientherapie ist, dass sich Menschen dafür entscheiden, ihr Leben gemeinsam zu genießen und nicht jede Seite auf einem Recht beharrt, dem es ihr Gegenüber unterwerfen will.
Alles Wertvolle zwischen Menschen wird durch die Angst vor und die faktische Praxis von Rechthaberei beschädigt: das Vertrauen zwischen Arzt und Patient („defensive Medizin“), die Verteilung eines gemeinsam erwirtschafteten Vermögens nach einer Scheidung („Rosenkrieg“), die Auflösung eines Arbeitsverhältnisses („Mobbing“), der Streit zwischen Nachbarn.
In Familie, Betrieb, Gemeinde sind Friede und Einsicht sehr viel weiter verbreitet als Rache und Äquivalente von Krieg, wie Gewalt oder Boykott. Ein interessantes Detail ist freilich, dass viele der Beteiligten gar nicht wahrnehmen, was sie da leisten. Sina Haghiri hat in seinem Buch „Nachsicht“2beschrieben, wieer eine depressive Patientin dazu brachte, ihre Überzeugung zu prüfen, dass die meisten Menschen bösartig und nur auf ihren Vorteil bedacht sind.
Er ging mit ihr auf einen belebten Bahnhof und gab ihr zwei einfache Apparate in die Hände, die auf Knopfdruck eins weiter zählen. Sie sollte alle freundlichen Interaktionen ebenso wie alle rücksichtslosen zählen: Personen, die einander den Vortritt lassen, Auskunft geben, helfen, etwas zu heben und zu tragen auf der einen Seite, Rempler und Ähnliches auf der anderen. Als die Kranke erkannte, wie sehr die freundlichen Aktionen überwogen, brach sie in Tränen aus.
Scheidungskämpfe, in denen die Beteiligten wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen, um sich am einstigen Partner zu rächen, sind mit rund zehn Prozent der Fälle sehr viel seltener als die gütliche Einigung über Vermögen und Sorgerecht für unmündige Kinder. Heftigste Kränkungen sind hier unvermeidlich, aber es gelingt doch in der überwiegenden Zahl der Fälle, die Rechthaberei zurückzustellen und so die Beteiligten vor Schaden zu bewahren.
Einzelne geben nach, nicht so sehr aus Einsicht in die eigene Beteiligung an einem Konflikt oder weil sie dem Gegner gnädig gesonnen sind, sondern weil sie müde sind und endlich ihre Ruhe haben wollen. Rechthaberei in einer politischen Organisation lässt sich rasch entfachen und von außen aufrechterhalten. Es entlastet von inneren Spannungen, wenn der Feind im Außen dämonisiert wird. Der Kampf um das verletzte eigene Recht schart die Menschen um einen Führer, der ihnen Sieg und Heil verspricht. Darüber hinaus ist es im Kollektiv besonders schwierig, Rechthaberei zu stoppen. Ein Kollektiv schläft nicht; wenn einige Betroffene des Zanks überdrüssig sind und sich Frieden wünschen, gibt es andere, die „Verrat“ schreien.
Im Rechtsstaat werden Angeklagte verurteilt oder freigesprochen, nachdem ein unparteiisches Gericht die Argumente von Anklage und Verteidigung hörte. Wer Urteil und Strafe annimmt, kann damit rechnen, unter den Schutz des Rechtes und in ein normales Leben zurückzukehren. Das Verfahren ist umständlich, kostspielig – und unersetzlich. Es mahnt, auf Lynchjustiz, Ächtung und Blutrache zu verzichten, es schickt die Impulsivität des Gerechtigkeitsempfindens auf kühlende, zum Nachdenken stimmende Umwege.
Bedenklich ist gegenwärtig die Neigung, Abkürzungen zu suchen und gedankenlos von der Anklage zu Urteil und Strafe zu hasten. Selbst Freigesprochene, wie der Filmemacher Woody Allen, werden weiterverfolgt; Hassobjekten wird auf jeden Fall unterstellt, dass sie lügen, wenn sie sich konstruktiv verhalten.
Als Donald Trump im November 2024 zum Präsidenten gewählt wurde und ihm führende deutsche Politiker gratulierten, veröffentlichte der Spiegel eine bitterböse Gegenrede von Margarete Stokowski, in der unter anderem Bundespräsident Steinmeier beschuldigt wurde, einen Faschisten zu ermutigen, Frauenrechte und Pressefreiheit weiter einzuschränken, die Justiz auszuhöhlen und Minderheiten zu quälen. Boris Hermann schrieb am gleichen Tag, dem 8. November 2024, in der Süddeutschen Zeitung:
Nachdem die unterlegene Kamala Harris am Mittwoch bei Trump angerufen und zum Sieg gratuliert hatte – so wie man das eben macht, wenn man nicht gerade Donald Trump heißt –, veröffentlichte dessen Wahlkampfteam eine schriftliche Stellungnahme, in der es hieß, Trump habe Harris’ „Stärke“, „Professionalität“ und „Hartnäckigkeit“ während des gesamten Wahlkampfes anerkennend gelobt. Beide „Leader“ seien sich einig gewesen, dass es jetzt wichtig sei, das Land wieder zu einen. Der Zynismus, der aus diesen Zeilen trieft, dürfte für Harris schwer zu ertragen sein, denn es war ja Trump, der die politischen Lager der Nation gegeneinander aufgehetzt hatte und zu dessen Kampagnenstrategie es offenbar gehörte, den Vornamen seiner Gegnerin konsequent falsch auszusprechen.
Warum entwertet die seriöse Presse so energisch einen diplomatischen Schritt, der etwas wie Feindesliebe immerhin andeutet? Wenn ich diese Gesten weiterdenke, bedeuten sie doch, dass Unversöhnlichkeit und Kompromisslosigkeit als „überlegene Moral“ vertreten und im Fall von Kamala Harris sogar der Politikerin unterstellt werden.
Sie hat nach dieser Einschätzung also nur getan, was man macht, wenn man nicht Trump heißt (dieser hat 2020 Biden nicht gratuliert), sie wollte es nicht wirklich, im Herzen ist sie auf der Seite der Unversöhnlichen. Es scheint den Autoren nicht in den Sinn zu kommen, wie wenig sie sich in ihrem Appell von Trump unterscheiden. Wenn in der schillernden Impulsivität des Populisten einmal etwas wie Respekt für seine Gegnerin auftaucht, wäre der konstruktive Schritt doch der, ihn nicht auf die Rolle des Lügners und Zynikers festzulegen. Totale Ablehnung lässt sich nur durch totalen Krieg und Endsieg befrieden. Die Feinde des Faschismus spielen hier nach faschistischen Regeln, die Vernunft der Feindesliebe hat keinen Platz.
1Der keltische Eroberer Brennus hatte mit Quintus Sulpicius Longus ein Lösegeld von 1000 Pfund Gold ausgehandelt. Als es ausgewogen wurde, entdeckten die Römer, dass die Kelten falsche Gewichte benutzten. Auf den Vorwurf hin warf Brennus mit den Worten „Vae victis!“ („Wehe den Besiegten!“) sein Schwert in die Waagschale und forderte entsprechend mehr Gold.
2Sina Haghiri, Nachsicht, München, Kösel-Verlag 2024
In einer Nachkriegskindheit waren Sprüche wie diese noch lebendig: Gelobt sei, was hart macht!3Ein Indianer kennt keinen Schmerz! Was mich nicht umbringt, macht mich stärker! Mit einer wachsenden Psychologisierung der Gesellschaft, wie sie in den 68er Jahren einsetzte, schwächte sich die Bedeutung dieser Sprüche. Sie schwanden zum ironischen Zitat. Strenge, Drohung und Gewalt sollten aus dem Kinderzimmer verschwinden.
Wer damals in der Selbsterfahrungs- und Therapieszene unterwegs war, fühlte sich mit der Abschaffung des Lobs der Härte im Einklang. Sie galt jetzt als ungesund, leistete einen Beitrag zu Magengeschwür, Bluthochdruck und Herzinfarkt. Männer sollten sich von soldatischen Idealen abwenden, nicht nur Babys trockenlegen, sondern auch selbst lernen, Tränen zu vergießen.
Wer hätte voraussehen können, wie gefährlich Fühlen ohne geistige Disziplin werden kann?
Zwei Menschen begegnen sich, machen etwas zusammen – aber was haben sie getan? Es gab eine Aktion – aber ist diese Aktion Liebe? Das hängt von Gefühlen ab. Diese Gefühle können sich widersprechen. Mein Erleben war Liebe, deines Missbrauch, was haben wir da nun wirklich gemacht? Auch der Widerspruch könnte zumindest eine lehrreiche Erfahrung sein. Wo das nicht gelingt, klagen Streitende einander an, suchen Anwälte, die ihnen beistehen, Richter, die entscheiden und eine Seite ins Unrecht setzen.
Auch nach Jahrzehnten kann sich das Erleben einer Beziehung verändern. Durch Vertiefung in die beiden Lebenslinien, die sich da getroffen und verknäult haben, kann aus einer unglücklichen, gescheiterten, bereuten Ehe eine Erfahrung werden, die man nicht missen möchte, aus der man gelernt hat; unter anderem, dem Gegenüber, aber auch sich selbst zu verzeihen, was man sich in unvermeidlicher Verblendung angetan hat. Nun, da es vergangen ist, ist es auch gut. Es wäre töricht, Seiten aus dem Lebensbuch zu reißen. Selbst wenn da dumme und böse Sätze stehen, gehören sie doch zu dem Ganzen, das besser verstanden werden kann, wenn kein Blatt fehlt.
Im 21. Jahrhundert scheint ein Prinzip verloren zu gehen, dessen Wert wir erst in seinem Dahinschwinden erkennen. Es geht um die Möglichkeit, aus Schmerzen und Niederlagen zu lernen und so zu einer Art Dankbarkeit gegenüber jenen zu finden, die wir einst als Feinde erlebt haben.
In dem Roman „Lichtenstein“ beschreibt Wilhelm Hauff, wie der geächtete Herzog von Württemberg in eine Karsthöhle nahe der Festung eines seiner letzten Getreuen geflohen ist. Als er über sein Schicksal seufzt und den Mut zu verlieren droht, zitiert Georg von Sturmfeder einen lateinischen Vers des Dichters Horaz:
SI FRACTUS ILLABATUR ORBIS,
IMPAVIDUM FERIENT RUINAE.
Mag auch der Erdkreis zusammenbrechen,
die Trümmer werden auf einen Unerschrockenen stürzen.
Die mutigen Gallier der Asterix-Comics haben vor nichts Angst außer davor, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt. Horaz setzt dem ein Extrem der Zuversicht entgegen: Die Sphäre seines Lebens kollabiert, die stürzenden Trümmer erschrecken den Helden nicht. Das Trauma weckt Gegenkräfte; das Ich ist stolz auf dieses Erwachen.
Vielfach wird heute in Kommentaren und Beschreibungen betont, dass nach einem Schicksalsschlag ein normales Leben nicht mehr möglich ist. Um solche Ereignisse herum entstand eine Kultur von Schadensersatzforderungen. Ein Täter, eine schuldige Organisation oder – wenn sich weder das eine noch das andere fassen lässt – der Staat sollen entschädigen.
Seit das seelische Trauma allgemein anerkannt ist, handelt wirtschaftlich unklug, wer die Herausforderung annimmt und versucht, Erlittenes positiv zu sehen. Wer mit dem Bruch in seinen Erwartungen an das Leben kämpft und gewinnt, wer aus dem Ereignis Lehren zieht und jeden Gedanken abweist, er könnte etwas wie Entschädigung beanspruchen, trifft auf Zweifel an der Ernsthaftigkeit des schmerzhaft Erlebten. Er kann gar nicht „wirklich“ traumatisiert (gewesen) sein, er fällt mit seiner Zuversicht und seiner Ignoranz in puncto Schadensersatz den Opfern in den Rücken.
Die Voraussetzung von Wünschen nach Schmerzensgeld ist die Verwandlung von Leid in Leistung. Ich habe etwas überstehen müssen – wo bleibt der Lohn? Seit die Denkfigur einer ausgleichenden Gerechtigkeit in das menschliche Bewusstsein getreten ist, haben wir immer wieder heftige Probleme mit ihr. Sie sind gewachsen, seit sich in Aufklärung und Individualisierung ein Menschenbild durchgesetzt hat, dass jeder Mensch der Schmied seines Glückes ist und nicht die Grenzen von Stand und Geburt sein Leben prägen werden. In dem vom Kapitalismus auch bei seinen politischen Gegnern durchtränkten Denken der Gegenwart wird auch die Gerechtigkeit monetarisiert.
Leben zu erhalten ist eine Sache, es zu verbessern eine ganz andere und womöglich das, was Freud mit dem Todestrieb gemeint haben könnte. Denn darauf scheint der Fortschritt doch hinauszulaufen: dass sein Schatten immer mächtiger ist als sein Licht, dass er dem schnellen, bewussten Erleben mehr und besseres Leben verspricht, aber unter der Oberfläche die Zyklen behindert und vergiftet, in denen sich das Leben erneuert.
Den Schritt von einer als gottgewollten, unabänderlichen und im Ertragen stärkenden Form des Leidens zum Recht auf Glück hat jüngst Daniel Burghardt4kritisch betrachtet. Seit dem 19. Jahrhundert motivieren Utopien progressive Politik. Keine Ungerechtigkeit, kein unnötiges Leid, stattdessen bessere Lebensbedingungen für alle? Die von Umweltkrisen, Globalisierungsdruck und dem Rückfall in heiße Kriege gebeutelte Gegenwart hat diese utopische Zuversicht verloren.
Zunehmend werden Opferrollen politisch inszeniert und genutzt, um Ansprüche und Aggressionen zu zementieren. Ein Beispiel ist die Politik der Hamas in Gaza, die das Leiden der Zivilbevölkerung instrumentalisiert. Sie steht in einer tristen Tradition. Die von außen befeuerte Dauerkrise in Palästina hat dazugeführt, dass dort bis in die zweite und dritte Generation Menschen in Flüchtlingslagern leben und jene hassen, die sie dafür verantwortlich machen. In Europa hatten die Sieger nach 1945 wenig Mitleid mit den aus Polen und Tschechien vertriebenen Deutschen. Ihre Kinder und Enkel erinnern sich oft nicht einmal mehr an das Leid der Flüchtlinge. Die einst verfeindeten Staaten leben unter dem Dach einer gemeinsamen, europäischen Heimat.
Statt das Zusammenleben der Menschen angemessen zu regulieren, wird heute eine vampirische Form von Gerechtigkeit zu einem Mittel, Karrieren zu zerstören, einen Sturm der Entrüstung zu entfesseln, die eigene Geltung auf Kosten eines Denunzierten zu steigern. Ich habe das 2017 als Helikoptermoral beschrieben.5Der Beschuldigte verliert Stellung und Ansehen, ehe Vorwürfe geklärt sind. Helikoptermoral ist mit dem Terrorismus verwandt, ebenso theatralisch, ignorant und selbstgerecht. Angesichts eines Verdachts, eines Gerüchts explodiert das bisher gesammelte Ansehen. Die Scherben treffen die Umstehenden. Für Schäden steht niemand gerade.
Empathie für die mögliche Unschuld von Geächteten, für das Leid der Opfer von Verleumdung kommt in dem erregten Moralisieren der Gegenwart nicht vor. Die Akteure interessieren sich weder für Opfer noch für Täter, sondern nur für sich selbst. Sie verkünden jenseits aller ordentlichen Prozessführung ihr Urteil und rufen nach dem Henker. Die Justiz würde Beweise und ordentliche Prozessführung fordern; den Aufmerksamkeitsjägern ist das so gleichgültig wie dem Wilderer die Schonzeit der Beute.
Wenn wir erst Moral über den Dschungel sprühen wie die US-Luftwaffe das Entlaubungsgift im Vietnamkrieg, werden wir das Böse besiegen und ein Reich der Tugend erschaffen! Wer die krassen Szenen der Helikoptermoral untersucht, begegnet dem Irrglauben, man könnte jedes Dilemma abschaffen, sobald der Schuldige gefunden ist.
Nach dem Tod der kanadischen Erzählerin und Nobelpreisträgerin Alice Munro enthüllte eine ihrer Töchter Konflikte zwischen ihr und ihrer Mutter im Zusammenhang mit einem bisher in der Öffentlichkeit nicht diskutierten sexuellen Missbrauch durch ihren Stiefvater. Die Autorin war anfangs von ihrer Familie gegen dieses böse Wissen abgeschirmt worden. Als sie davon erfuhr, trennte sie sich kurzeitig von dem Täter, kehrte dann aber zu ihm zurück.
In geradezu unglaublicher Vereinfachung titelt eine Zeitung zu diesem tragischen Geschehen, ein größerer Verrat einer Mutter an ihrem Kind sei kaum denkbar. Die Journalistin6spricht von einer schrecklichen Täter-Opfer-Umkehr, weil die Mutter ihren Mann nicht verließ. Dieses Pathos ist geradezu bizarr. Was ist mit Müttern, die ihre Kinder verhungern lassen, mit Sadistinnen, Gleichgültigen, Süchtigen?
Alice Munro hatte sich viele Jahre so gut sie konnte um ihre jüngste Tochter gekümmert und ein gesundes, aktives Kind großgezogen. Sie hat sich wenig empathisch verhalten, als ihre inzwischen erwachsene Tochter den Stiefvater anklagte – und sie hatte nicht bemerkt, was zwischen ihrem Mann und der Neunjährigen geschah. Das ist kritikwürdig.