KALTES Denken, WARMES Denken - Wolfgang Schmidbauer - E-Book

KALTES Denken, WARMES Denken E-Book

Wolfgang Schmidbauer

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Beschreibung

Schnelles und langsames Denken ist mit Daniel Kahneman zum geflügelten Wort geworden reicht aber längst nicht aus, um den Reichtum menschlichen Denkens zu erfassen. Wolfgang Schmidbauer erläutert, warum wir auch die Emotionalität integrieren müssen - das warme Denken, wie er es nennt. Es unterscheidet sich vom kalten Denken in erster Linie dadurch, dass es nicht allein der Durchsetzung eines Gedankens oder der geistigen Machtausübung dient, sondern die ganze, illustre Bandbreite der Gefühle mitnimmt. Es spaltet das eigene Empfinden nicht von der Logik des Gedachten ab, sondern hält den Zugang zu ihm ebenso offen, wie es Nebengedanken im Sinn empathischer Phantasien zulässt, die sich mit den Gefühlen beschäftigen, die bei den Angesprochenen ausgelöst werden. In seinem neuen Buch verhandelt Wolfgang Schmidbauer die prototypischen Bereiche des kalten und warmen Denkens, die Jurisprudenz auf der einen, die psychologische Empathie auf der anderen Seite. Dazwischen der Mensch. Und das, was er von der Temperatur von Gedanken lernen kann.

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Wolfgang Schmidbauer

KALTES Denken, WARMES Denken

Über den Gegensatz von Macht und Empathie

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass er, sofern dieses Buch externe Links enthält, diese nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung einsehen konnte. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2020 Kursbuch Kulturstiftung gGmbH, Hamburg

kursbuch.editionHerausgeber: Peter Felixberger, Sven Murmann, Armin Nassehi

ISBN 978-3-96196-135-1

Besuchen Sie uns im Internet: www.kursbuch.onlineIhre Meinung zu diesem Buch interessiert uns!Zuschriften bitte an [email protected]

Inhalt

Einleitung: Zwischen seelischer Kraft und seelischer Not

1. Gefährdete Gesundheit Kaltes und warmes Denken in Medizin und Psychotherapie

2. Vergebene LiebesmühKaltes und warmes Denken in Partnerschaft, Familie und Natur

3. GroßstadtstämmeKaltes und warmes Denken in gesellschaftlichen Gruppen

4. Habe nun, ach!Kaltes, warmes und heißes Denken vor Gericht und in Medien

5. Idealisierungen und VerfehlungenKaltes Denken von Helfern und über Helfer

6. Trauma und NormalisierungKalte Urteile gegen das Unbehagen, sich einzufühlen

7. Schmutzige Wäsche vor GerichtKaltes Denken aus Angst

8. Phallisch versus genitalKalte und warme Kommunikation

9. Die Flucht ins GehirnKalte Neurowissenschaft

Schluss: Jenseits des Machtapparats

Über den Autor

Einleitung: Zwischen seelischer Kraft und seelischer Not

»Es erben sich Gesetz’ und Rechte

Wie eine ew’ge Krankheit fort;

Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte,

Und rücken sacht von Ort zu Ort.

Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;

Weh dir, daß du ein Enkel bist!

Vom Rechte, das mit uns geboren ist,

Von dem ist, leider! nie die Frage.«1

Das warme Denken unterscheidet sich von dem kalten dadurch, dass es auf dem Weg »ins Wort« nicht allein der starren Durchsetzung des Gedankens und der geistigen Macht über die Angesprochenen dient, sondern die ganze Bandbreite der Welt der Gefühle mitnimmt. Es spaltet das eigene Empfinden nicht von der Logik des Gedachten ab, sondern hält den Zugang zu ihm ebenso offen, wie es Nebengedanken im Sinn empathischer Phantasien zulässt, die sich mit den bei den Angesprochenen ausgelösten Gefühlen beschäftigen.

Prototyp des kalten Denkens ist die Jurisprudenz, weit mehr als Mathematik und Naturforschung. Das juristische Denken gebietet ausdrücklich Versachlichung, Objektivierung und Ferne zu Subjektivität und Einfühlung. Mathematik und experimentelle Wissenschaften hingegen sind nach allen Richtungen neutral und entwickeln keine Widerstände, wenn es darum geht, Gefühle zu erforschen.

Den besten Zugang zum warmen Denken, auf der anderen Seite, hat die Kunst behalten, aber auch Medizin und Psychologie haben reiches Wissen in diesem Feld gesammelt. Neben dem chemischen und physikalischen Effekt von Medikamenten wirkt die »Droge Arzt«, wie Michael Balint diesen Faktor nennt – die persönliche Beziehung. In dem Grenzgebiet von Medizin, Psychologie, Pädagogik und Religionswissenschaft, in dem die Psychotherapie angesiedelt ist, gilt warmes Denken als unverzichtbar.

Psychotherapeuten sind wohl auch die Berufsgruppe, die besonders intensiv miterlebt, wie viel Schaden kaltes Denken anrichtet. Wie wir sehen werden, schwächeln die Disziplinen, denen am meisten daran gelegen sein müsste, Menschen vor geistigen Kälteschäden zu schützen. In Medizin und Psychotherapie werden juristisch denkende Söldner angeworben, die das vom warmen Denken geprägte Territorium verteidigen sollen. Wie die Geschichte lehrt, neigen solche Söldner aber dazu, Macht an sich zu reißen und jene zu unterwerfen, die sie als Beschützer und Helfer eingeladen haben.

Parallel dazu beobachten wir in der Öffentlichkeit ein Streben nach narzisstischem Gewinn durch Moralisieren, das ich vor einigen Jahren als Helikoptermoral beschrieben habe.2 Eine kalte Verallgemeinerung moralischer Erregung wird missionarisch propagiert; die sogenannten »seriösen« Medien sind hier kaum vorsichtiger als die Boulevardpresse. Ein kleines Beispiel:3

Am 1. Dezember 2018 interviewt der Redakteur Martin Wittman den 64-jährigen Schauspieler Rainer Bock, einen Mann, der als bescheiden und selbstkritisch dargestellt wird, viele Nebenrollen sehr gut gespielt hat und jetzt allmählich Hauptrollen – auch in Hollywood – bekommt.

»Interviewer: Vor ein paar Jahren hieß es, Sie seien der Autoritätspersonen müde. Sie sagten: ›Es sei denn, Woody Allen wollte mich als Polizist.‹ Gilt das heute noch?

Schauspieler: Das ist keine ernst gemeinte Frage, oder?

Interviewer: Durchaus.

Schauspieler: Weil Allen in Zusammenhang mit Missbrauch steht? Ich kann nicht beurteilen, was da in dieser Familie abgelaufen ist.

Interviewer: Darum geht es nicht. Es geht darum, dass es der Karriere seit der ›MeToo‹-Debatte nicht mehr zuträglich sein dürfte, in einem Film von Allen mitzuspielen.

Schauspieler: Ich habe noch nie darüber nachgedacht, was meiner Karriere hilft.

Interviewer: Sie kokettieren.«

Der Schauspieler hat irgendwann einmal einen Scherz gemacht, in dem sein Respekt vor dem Filmemacher Woody Allen deutlich wird. Der Reporter will ihn in seinen Empörungshelikopter holen, während der Schauspieler an die realistischen Möglichkeiten denkt, interessante Rollen zu spielen. Rainer Bock ist zu höflich, um sich gegen den moralisierenden Übergriff zu wehren. In Zeiten der Helikoptermoral müssen anständige Menschen, die ihre Arbeit gut machen möchten, um ihren Ruf fürchten, wenn sie sich der Empörung verweigern.

In der Tat scheint es der Reporter für selbstverständlich zu halten, dass niemand mehr Woody Allen für einen interessanten Filmemacher halten darf. Es ist eine Welt, in der sich Menschen zur Geltung bringen, indem sie möglichen Opfern ihr Leid wegnehmen und als Anwälte dieser Opfer gegen mögliche Täter vorgehen.

Dieses Manöver unterstützt seine Konsumenten, die Scham abzuwehren, die ein mitfühlender Betrachter empfindet. Solange ein wenig wehrhaftes Geschöpf misshandelt, bedroht und ausgebeutet wurde, haben die Zeugen dieses Geschehens den Blick abgewandt und sich der Aufgabe entzogen, den sexuellen Übergriff zu benennen. Ritterliches Verhalten ist rar. Dieses würde weder die Machtposition des Täters noch seine mögliche Rache fürchten.

Wenn der Drache zahnlos geworden ist und in Schlingen zappelt, kostet es keinen Mut, die Attacke zu reiten. Jetzt ist das Mitgefühl mit den Opfern gespielt. Es dient einzig dazu, die Rache an Tätern oder Verdächtigen auszuleben und sich angesichts ihrer Erniedrigung aufzuwerten. Der Fragestil des Reporters ist ein trüber Abglanz dieser Dynamik. Indem er weder zu Woody Allen noch zur Person des Interviewten das Geringste beiträgt, jedoch als »Information« auftritt, erkennen wir die grausame Banalität einer Reportage, die Vorurteile bedient.

Empathie in die mögliche Unschuld von Geächteten, die in so vielen Literaturen präsente Erzählung von den zu Unrecht angeklagten und ohne Urteil bestraften Opfern von Verleumdung kommt in dem erregten Moralisieren der Gegenwart nicht vor. Moralisten interessieren sich weder für Opfer noch für Täter, sondern nur für sich selbst. Sie haben sich zu Anwälten der Opfer ernannt. Sie verkünden nun jenseits aller ordentlichen Prozessführung ihr Urteil und rufen nach dem Henker.

Menschen sind keine Sachen. Sie sind Subjekte, atmende, erlebende Wesen mit einer komplizierten Innenwelt, die sich mit anderen Wesen verbinden. Jeder von uns lebt in einer ganz eigenen Welt. Die für unser Lebensgefühl besonders bedeutsamen Liebesbeziehungen sind durch die subjektive Überzeugung charakterisiert, dass wir einander mit einer Liebe lieben – während die Realität der Beziehungskonflikte doch lehrt, dass es auch bei Eheleuten, Geschwistern, Eltern und Kindern immer zwei Lieben gibt, deren oft krasse Differenzen erst im Konfliktfall bewusst werden.

Subjektive Überzeugungen und innere Bilder der Wirklichkeit sind Gegenstand der Psychologie, während sich die Rechtsprechung auf die Verhältnisse zwischen Sachen und Subjekten konzentriert und – um zu funktionieren – jedes Geschehen zwischen Menschen erst einmal versachlichen muss. Die Sozialisation in den Juristenberuf gleicht in vieler Hinsicht der medizinischen Sozialisation.

Angehende Ärzte4 erfahren im Anatomiekurs, dass sie sich über ihre empathischen Hemmungen hinwegsetzen müssen, mit Skalpell und Pinzette einen menschlichen Körper zu präparieren.5 Die Pioniere der psychosomatischen Medizin, Georg Groddeck und Alexander Mitscherlich, haben beide diesen Beginn des Studiums an der Leiche erwähnt und als Wurzel der Probleme von Medizinern mit Psychotherapie und Psychologie thematisiert.

Eine Parallele in der juristischen Sozialisation findet sich im Scherz über den Jurastudenten, der mit seinem Professor auf einen Turm steigt. Beide betrachten das vielfältige Geschehen auf Straßen und Plätzen. Der Professor fragt: »Was sehen Sie?« Der Student beginnt, eifrig aufzuzählen: »Männer, Frauen, Kinder, Autos, Radfahrer, Häuser, Bäume, Hunde, Straßenlaternen …«

»Falsch!«, sagt streng der Professor. Der Student ist perplex, der Professor gibt die richtige Antwort: »Rechtsobjekte und Rechtssubjekte! Mehr nicht!«

Die Rechtswissenschaften sind das Esperanto der Moderne. Je komplexer Wirtschaft und Staat werden, desto mehr bürokratische Regelungen werden entworfen; wer solche Regeln konzipiert und zu Papier bringt, orientiert sich automatisch an der juristischen Sprache. Wenn ich einen Verein gründe, um einem Anliegen einen formalen Hintergrund zu geben, muss ich die Satzung einem Juristen vorlegen. Ich werde mich im Vorgriff auf diese Situation bemühen, so zu schreiben, wie er es erwartet.

Größere Organisationen haben für diese Aufgaben ihre eigenen Juristen an Bord. Wo verwaltet wird, wo Gesetze angewendet oder neue Gesetze entworfen werden, sind Juristen tätig. Längst haben auch die Standesvertretungen der Psychotherapeuten, die primär in einer ganz anderen Denkweise geschult wurden, neben dem ehrenamtlichen Vorstand einen angestellten Juristen in ihrer Geschäftsführung. Das Gleiche gilt selbstverständlich für politische Parteien, die – wie einst die Grünen – in kritischer Distanz zur verwalteten Politik begonnen haben.

Wo auch immer wir den intimen Bereich der emotionalen Regulierung von Aufgaben und Beziehungen verlassen, beginnt die verwaltete Welt. Wer in sie eindringt, kommt fast unweigerlich an den Punkt, wo er entweder umkehren oder sich juristisch rüsten muss, um nicht von anderen, die das schon getan haben, überwältigt zu werden. Das funktioniert meist problemlos – der Handwerker kann in Ruhe arbeiten, weil sein Steuerberater die finanziellen Angelegenheiten überwacht und ihn notfalls gegen das Finanzamt verteidigt.

Wer sich aber neben seinem Handwerk auch für gesellschaftliche Prozesse interessiert und die Entwicklung der verwalteten Welt beobachtet, kann einen relativ kontinuierlichen und nur in eine Richtung gehenden Entwicklungsprozess konstatieren: Dieser führt von weniger Regelung und mehr Freiräumen zu mehr Regelungen und weniger Freiräumen; von einer kritischen Distanz zu Verwaltung und Bürokratie zu Forderungen, die auf engmaschigere Kontrolle und »Sanierung« der »Tabuzonen« hinauslaufen; von Bereichen, in denen warmes Denken überwog, hin zum kalten Denken.

Im Süden ist der Wandel von großen Freiräumen, in die sich der Staat kaum einmischte, zu engmaschiger Aufsicht noch viel stärker ausgeprägt als in Mittel- und Nordeuropa. Die Einheimischen äußern den Verdacht, dass die großen Gauner die Kontrollen umgehen, mit denen beispielsweise den kleinen Händlern durch die Pflichtregistrierkassen die Schattenwirtschaft schwer gemacht wird. Sie haben eben eigene Juristen.

Während in wirtschaftlichen Dingen die Grenzen des juristischen Denkens meist nachvollziehbar sind und die Lebenspraxis nicht stören, wird die Wohltat einer funktionierenden Verwaltung und einer ordentlichen Finanzierung der staatlichen Aufgaben zur Plage, sobald dieses Denken in unsere emotionale Welt eindringt und sich ihrer zu bemächtigen sucht. Während unsere gefühlsbestimmten Entscheidungen, Erlebnisse und Verhaltensweisen am besten funktionieren, wenn wir fest an das gute Gelingen unserer Entwürfe glauben, orientiert sich die Justiz grundsätzlich am Scheitern, an der Frage, wie Konflikte zwischen dem Einzelnen und dem Gesetz geregelt und – falls das nicht gelingt und ein Vertrag gebrochen, gegen ein Gesetz verstoßen wird – die entstandene Schuld verteilt wird.

Obwohl Paartherapie eine sehr praktische Angelegenheit ist, führt die Begegnung mit den Vorwurfswelten unversöhnlicher Paare geradewegs zu der philosophischen Frage, wie aus dem heißen Anfang einer Ehe die eisige Welt von Scheidungskriegen werden kann. Die Analyse zeigt, dass diese heißen Anfänge in solchen Fällen nicht zu einer gemeinsamen Wärme des Denkens übereinander fortgeführt und abgemildert wurden. Sie schlugen in Kälte um, als Illusionen zusammenbrachen, die dauernde Glut versprachen, und sich die Anwälte der Hitze in Henker verwandelten, die einander mit Kälte bestrafen mussten, weil es keinen anderen Ausweg zu geben schien.

Ich habe lange passende Metaphern für den Unterschied zwischen dem juristischen, dichotomen und dem empathischen, kreativen Denken gesucht. Kaltes Denken, warmes Denken erinnert an das schöne Buch von Daniel Kahneman Schnelles Denken, langsames Denken.6 Nun wird oft Denken schlechthin mit Kälte verknüpft und etwa die »kalte« Mathematik der »warmen« Empathie gegenübergestellt. Der Psychologiestudent wird in den ersten Semestern seines Studiums erst einmal durch eine ausgiebige Dusche mit Statistik in seinem Streben abgekühlt, sich in Menschen hineinzuversetzen, sie zu verstehen und ihnen zu helfen.

Demnach benötigen wir zusätzliche Kategorien wie (kalte) Enge und (warme) Weite, Geschlossenheit und Offenheit, Ernst und Spiel, um dem reichen Spektrum der »Gedankentemperatur« näher zu kommen. Und wir bemerken:

Je stärker das kalte Denken unser Erleben durchdringt, desto schwerer wird es uns fallen, das Scheitern von Erwartungen hinzunehmen und nach Enttäuschungen unbeeindruckt fortzufahren. Je mehr wir nach Schuldigen suchen und uns der Frage hingeben, ob wir für eine Kränkung Schadensersatz beanspruchen oder die Justiz als Rächerin einschalten können, desto weniger Kraft und Aufmerksamkeit bleiben für die Bewältigung der Gegenwart.

Es ist das juristische, bewertende, schuldzuschreibende Denken – das kalte Denken –, das Heinrich von Kleist in seiner Studie Das Marionettentheater so eindrucksvoll als zerstörerische Kraft beschrieben hat, welche den Bewegungen die Anmut raubt und uns als Menschen ärmer in der Bandbreite der Einfühlung werden lässt. Das forschende, nach vorne gerichtete Denken, die wärmende Empathie wäre das Vermögen, dessen die Gesellschaft (wieder) fähig sein müsste. Ein erstes Beispiel für die Vergeudung von Energie und den Raub an Lebensqualität durch die Unterwerfung unter juristisches Denken sind defensive Entwicklungen in Medizin und Psychotherapie.7 In den darauf folgenden acht Kapiteln finden Suchbewegungen auf den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gebieten statt, die die Metapher des kalten und warmen Denkens illustrieren.

1 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I. Online verfügbar unter https://www.projekt-gutenberg.org/goethe/faust1/faust1.html [zuletzt abgerufen am 14.01.2020], Mephistopheles im Studierzimmer. Goethe arbeitete selbst als Jurist.

2 Wolfgang Schmidbauer: Helikoptermoral. Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum. Hamburg 2017.

3 Martin Wittmann: »Better call Rainer. Interview mit Rainer Bock«, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.11.2018, https://www.sueddeutsche.de/medien/fernsehserien-better-call-rainer-1.4233806?reduced=true [zuletzt abgerufen am 25.11.2019].

4 Ich verwende meist die männliche Form, wie es meinem Sprachgefühl entspricht, dem ich hier den Vorrang gebe, nicht ohne mentales Grummeln. Ich hoffe auf eine wahrhaft emanzipierte Zukunft, in der Sprachformen als Reminiszenz und nicht mehr als fortbestehender Dominanzversuch erlebt werden.

5 Die anschaulichste Darstellung dieser »Deformation als Qualifikation« ist immer noch Heinrich Bollinger et al.: Medizinerwelten. Die Deformation des Arztes als berufliche Qualifikation. München 1981.

6 Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken. München 2012.

7 In dem folgenden Text wird ein Thema aus Helikoptermoral aufgegriffen und weiterentwickelt: »Der Schaden durch die Schadensstrafe«, vgl. dort S. 151.

1. Gefährdete Gesundheit Kaltes und warmes Denken in Medizin und Psychotherapie

In schöner Regelmäßigkeit wird auf Ärztetagen geklagt, dass die medizinische Berufsausübung »überreguliert« sei. In ihrer professionellen Tradition üben Ärzte ihren Beruf nach ihrem Gewissen aus. Sie folgen einer spezifischen Ethik, die im Eid des Hippokrates zusammengefasst ist, sie an ihre Aufgabe bindet, aber keine darüber hinausgehende Macht respektiert. Seinem Gewissen unterworfen, der ärztlichen Kunst mächtig, schafft sich der Arzt sein eigenes Gesetz in seinem freien Beruf und gibt auch dem Psychotherapeuten etwas von dieser Qualität mit auf dessen, historisch so viel kürzerem, Weg.

Heute sind Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und alle möglichen Einschränkungen dieser Freiheit durch Hintertüren in den freien Beruf eingedrungen – in Deutschland vor allem in Gestalt der Kassenärztlichen Vereinigungen, welche die Praxis standardisieren, sie in Einzelleistungen zerlegen, Kosten für jeden Schritt festlegen und im Bündnis mit den mächtigen Krankenversicherungen (die von Mathematikern und Juristen beherrscht werden) den Verdienst der Arztpraxen kontrollieren.

Die (kassen-)ärztliche Praxis ist von Dokumentationspflichten belastet, die der grundsätzlichen Regelung krass widersprechen, dass ein freier Beruf keinen Weisungen unterliegt. Erst wird die Entscheidungswelt der Ärzte juristisch eingeschnürt, dann aber beklagt, dass Ärzte nun lernen, die Paragrafen zu nutzen und manchmal zu verbiegen, um sich zu entschädigen.

Christian Katzenmeier vom Institut für Medizinrecht der Universität zu Köln warnte auf dem Ärztetag 2009 vor den Folgen einer übermäßigen Reglementierung der ärztlichen Tätigkeit: »In einer von Paragrafen beherrschten Welt trifft der Arzt Entscheidungen eher nach dem Buchstaben des Gesetzes denn nach seinem persönlichen Gewissen.«8 Sobald ein Arzt den Patienten als Gegner vor Gericht fürchtet, verwandelt sich die Heilkunde. »So droht aus der verrechtlichten eine defensive Medizin zu werden, die entweder zu wenig tut, weil sie nichts mehr wagt, oder zu viel unternimmt, etwa an diagnostischen Maßnahmen, um sich für alle Fälle zu feien.«9

David Studdert von der Harvard School of Public Health und seine Kollegen befragten insgesamt 824 Ärzte in den USA. 93 Prozent sagten, dass sie defensive Medizin praktizieren, um Haftungsklagen zu vermeiden. 92 Prozent überwiesen Patienten zu zusätzlichen Untersuchungen, die sie für überflüssig hielten. 43 Prozent sagten, dass sie zur Vorsicht unnötige Röntgenbilder empfehlen. Komplikationsträchtige Behandlungen, Patienten mit komplexen medizinischen Problemen und Kranke, die klagebereit wirken, werden vielfach schon bei dem Versuch abgewimmelt, einen Termin in der Praxis zu bekommen.

Defensive Überdiagnostik steigert nicht nur die Kosten, sondern auch die Komplikationsrate. Das amerikanische Rechtssystem ermöglicht Strafschadensersatz (punitive damages) in Millionenhöhe. Das lohnt sich für die beteiligten Anwälte so sehr, dass diese ihre Dienste in der Krankenhauslobby anbieten. Wenn Patienten unzufrieden sind, verklagen die Anwälte den Arzt; hat die Klage Erfolg, teilen sich Anwalt und Patient den Erlös.

Die Honorare für Haftpflichtversicherungen sind bei manchen Fachärzten so hoch, dass Praxen schließen müssen. In den USA, wo besonders viele Schadensersatzprozesse wegen einer Behinderung des Kindes nach einer schweren Geburt geführt werden, sind nicht nur die Policen der Haftpflichtversicherungen überdurchschnittlich hoch, sondern auch die Zahlen für operative Entbindungen. Durch den Kaiserschnitt lässt sich das Geburtsgeschehen besser kontrollieren und sichert dem Gynäkologen das hohe Honorar, das er braucht, um sich die Versicherung leisten zu können. Dass Gebärende durch überflüssige Operationen traumatisiert werden, spielt keine Rolle. Man schätzte schon vor Jahren in den USA die Mehrkosten durch defensive Medizin auf mehr als 100 Milliarden Dollar.10

Der freundliche Augenarzt hat gesagt, dass die von ihm vorgeschlagene Staroperation völlig unkompliziert ist und eigentlich immer gelingt. Ich sehe ihr beruhigt entgegen, bis mir seine Sprechstundenhilfe ein Formblatt aushändigt, dessen Empfang ich quittieren soll. Darin steht, dass ich mich über die Gefahr einer Erblindung habe aufklären lassen. Ich schlafe nicht mehr so ruhig in den Nächten vor dem Eingriff.

Die emotionale Situation eines Patienten ruft nach einem Helfer, der weiß, was er tut, und die Verantwortung für die vorgeschlagene Kur übernimmt, ohne Zweifel an ihr zu wecken und Ängste zu säen. Die Rechtsprechung dagegen geht von einem mündigen Bürger aus, dessen Interessen geschützt werden müssen, indem er vor der Entscheidung für eine bestimmte Behandlung über alle Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt wird.

Die defensive Qualität solcher Aufklärungen wird ebenso ignoriert wie der Schaden, den sie anrichtet. Das kalte Denken macht den Menschen zu einem Rechner, der möglichst viele Informationen braucht – nicht, um damit etwas Konstruktives anzufangen, sondern einzig und allein, um abstrakt und grundsätzlich eine defensive Struktur aufzubauen, sodass der Arzt und seine Versicherung vor Schadensersatzforderungen bewahrt bleiben. Die zentrale Aufgabe dieses Denkens ist die Kontrolle. Es soll Ereignisse kanalisieren und unerwünschte Veränderungen abwehren.

Ich habe viele Jahre in unterschiedlichen Rollen an der Organisation von Ausbildungen mitgearbeitet und festgestellt, dass unsere anfangs auf wenigen Seiten festgelegte Ausbildungsordnung eine fatale Neigung hatte, immer umfangreicher zu werden, bis sie schließlich einen dicken Ordner füllte. Dieses Wachstum entstand vor allem aus Versuchen, nach Streitigkeiten Probleme zu vermeiden. Durch die Präzisierungen entstanden neue Probleme, dann wurden Veränderungen der Satzung diskutiert und vollzogen, um diese den veränderten Abläufen anzupassen. Bevor ich nach 15 Jahren ehrenamtlicher Tätigkeit ausstieg, hatte ich mir angewöhnt, grundsätzlich dafür zu plädieren, die Regeln nicht zu verändern, weil durch die so geschaffene Unübersichtlichkeit mehr neue Probleme entstünden, als die neuen Regeln verhindern könnten.

Das kalte Denken ist defensiv und geht davon aus, dass Menschen nicht durch Einsicht und das Streben nach Zusammenarbeit handeln, sondern durch die Angst vor Sanktionen diszipliniert werden müssen. Daher verlieren Gremien leicht aus dem Blick, wie viele Kandidaten oder Mitarbeiter ohne weitere Anleitung und Kontrolle tadellos funktionieren. Die wärmende Normalität des Tuns wird ignoriert und gering geschätzt. Die Energie konzentriert sich auf die Fragen, was falsch ist, was richtig und wer die Schuld an Fehlern hat.

In der defensiven Heilkunde genügt dem Helfer die Empathie als geistige Grundlage seiner Zuwendung zu einem leidenden Mitmenschen nicht mehr. Der Patient ist ein potenzieller Feind, der darauf wartet, Ärzte oder Apotheker anzuzeigen, weil diese ihn nicht darüber informiert haben, dass alle menschliche Mühe scheitern kann. Erst wenn der leidende Mensch bereit ist, das ganze Spektrum der Möglichkeiten dieses Scheiterns vorab und en bloc zu akzeptieren, wird er behandelt. Denn dann kann ihm der Arzt in kalter Haltung die Zustimmungserklärung vorlegen und sagen: »Sie haben das unterschrieben. Sie haben sich einverstanden erklärt, und ich habe alles korrekt gemacht. Sehen Sie zu, wo Sie mit Ihrem Kummer bleiben, ich bin nicht zuständig, und kein Gericht kann mich dazu zwingen!«

Es ist ein Teufelskreis: Die Kälte des Arztes produziert einen kalten Patienten, jeder denkt erst einmal an seine Rechte und pocht auf sie. Wir machen uns selten klar, wie viel Kälte und Misstrauen unsere Leidenschaft für Versicherungen produziert, wenn wir nach dem Motto handeln: »Ich schade ja nicht dem Menschen persönlich, er ist ja versichert!« oder »Mir egal, ich bin versichert!«

Wir wissen heute viel über Nocebos11 – dazu gehören auch Kommunikationen, die einem Patienten schaden, weil sie in ihm die Überzeugung wecken, im drohe schwere Krankheit, Siechtum und Tod. Nocebos sind das Gegenteil der Placebos – jener chemisch trägen Stoffe, die allein dadurch wirken, dass ein Kranker Gutes von ihnen glaubt. Sie helfen bei Schmerzen und Schlaflosigkeit kaum weniger als »echte« Medikamente. Nocebos hingegen werden in der Tat zum Gift, wenn ein Kranker die ärztliche Intervention negativ deutet.

Das juristische Denken ist im Gesundheitswesen ein Nocebo. Es konzentriert sich grundsätzlich auf den schlechten Ausgang, den Verstoß, den Bruch der Regel, der durch immer feinere Justierung der Gesetze abgewehrt werden soll. Deshalb sollte dieses Denken von ängstlichen, unsicheren, für negative Suggestionen empfänglichen Menschen so weit ferngehalten werden wie nur möglich. Eng mit dem juristischen Denken verbunden ist das objektivierende Denken – die Tendenz, kausale Verhältnisse zu konstruieren. Sie kann zu folgenschweren Irrtümern führen, sobald die entsprechenden Verknüpfungen eine magische Sicht auf die Welt zugrunde legen. Ein Unwetter schädigt die Ernte, ein Kind stirbt – die Geschädigten sehen eine Hexe am Werk, machen sie ausfindig, sie gesteht in der Folterkammer des Gerichts und stirbt auf dem Scheiterhaufen.

Aber auch eine auf den ersten Blick rein physikalische Kausalität kann in die Irre führen, wenn die Komplexität eines leibseelischen Geschehens ignoriert wird. So kann die Röntgenaufnahme der Wirbelsäule zum Nocebo werden, wenn der Arzt dem Schmerzkranken seine Rückenbeschwerden mithilfe eines solchen Bildes »erklärt«, ohne hinzuzufügen, dass auf den Straßen draußen viele Personen unterwegs sind, die trotz ähnlicher Befunde auf dem Röntgenfilm keine Schmerzen haben. In einer Anekdote zeigt ein prominenter, schon älterer Neurologe während einer Fortbildungsveranstaltung eine Röntgenaufnahme. Er bittet die anwesenden Ärzte, die Symptome dieses Patienten einzuschätzen. Die Ärzte einigen sich auf einen Schwerkranken, der sich vor Schmerzen kaum rühren kann und vermutlich dauernd bettlägerig ist. Vergnügt dazu der für sein Alter bewegliche Dozent: »Liebe Kollegen, was Sie gesehen haben, war die Aufnahme meiner Wirbelsäule.«

Es gehört zu den vielen Paradoxien der gegenwärtigen Medizin, dass eine Gruppe von Fachärzten die Patienten durch Röntgenbilder und »objektive« Erklärungen auf Schmerzen fixiert, während eine andere Gruppe – etwa in psychosomatischen Abteilungen und Schmerzambulanzen von Kliniken – versucht, die dort gesetzten negativen Suggestionen und krank machenden Fixierungen durch positive Suggestionen, Entspannung und Psychotherapie wieder rückgängig zu machen. Genau wie ein Knochen schneller bricht als heilt, wirkt auch die negative Macht des Nocebos rasch und nachhaltig, während die Korrektur lange Zeit beanspruchen und den angerichteten Schaden oft nur unvollständig wiedergutmachen kann.

Ein Kapitel, welches das ganze Dilemma der Nocebo-Kultur entschlüsselt, sind die gesetzlich vorgeschriebenen Packungsbeilagen von Medikamenten. Der Beipackzettel steht symbolisch für einen inzwischen den meisten Patienten vertrauten Einbruch des juristischen Denkens in die Welt Kranker und belegt die Ohnmacht des psychologischen Denkens gegenüber der juristischen Übermacht, die sich als Entscheidungshilfe und Beitrag zur Emanzipation versteht. Die Folge ist, dass ein recht hoher Anteil der von Ärzten verordneten Medikamente in den Müll wandert, weil Patienten den Beipackzettel lesen und angesichts der darin angedrohten Gefahren lieber auf die Einnahme verzichten.

Schon eine im November 2005 veröffentlichte Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) ergab, dass in Deutschland rund zwei Drittel der Patienten die Packungsbeilage lasen, ein Drittel sich durch die Angaben verunsichert fühlte und weiterhin knapp ein Drittel der Patienten Arzneimittel absetzte oder gar nicht erst nahm.12 Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass der Bundesgerichtshof in einem Urteil aus demselben Jahr Ärzte für verpflichtet hält, ungeachtet des Inhalts etwaiger Beipackzettel, über Risiken und Nebenwirkungen von Medikamenten aufzuklären. Unterlässt der verschreibende Arzt dies, macht er sich unter Umständen haftbar.

Das juristische Denken folgt der Logik und dem Buchstaben. Für die an ihm orientierten Autoren ist es sonnenklar, dass sich Menschen von gefährlichen Nebenwirkungen nicht beeindrucken lassen, wenn da geschrieben steht, diese seien extrem selten. Psychologen hingegen müssen die Tatsache ernst nehmen, dass keine Lotterie funktionieren würde, wenn menschliches Denken so beschaffen wäre. Sie erinnern sich an Untersuchungen von Risikoforschern: Sehr seltene Gefahren, wie ein Flugzeugabsturz, lösen weit mehr Ängste aus als sehr häufige, wie ein Unfall im Haushalt. Dem warmen Denken ist es vertraut, dass sich Gefahren in unserem Erleben nicht säuberlich nach Statistiken in eine Reihe bringen lassen. Im Gegenteil: Die seltene, aber dramatische Gefahr prägt unsere Phantasie tausendmal stärker als die häufige, aber banale.

Der Arzt, der sich in den Patienten gut einfühlt, zu dessen Wohlbefinden sein taktvolles Vorgehen beiträgt, kann diese Qualitäten nicht in Rechnung stellen. Sie schützen ihn auch nicht vor dem Schadensersatzprozess, wenn er versäumt hat, dem Patienten die Merkblätter auszuhändigen und unterschreiben zu lassen, welche ihn auf die sichere Seite bringen.

Hingegen hat derjenige Arzt nichts zu fürchten, der angesichts eines unklaren Befundes besorgt behauptet, dieser Fleck auf dem Bildschirm könnte ein bösartiger Tumor sein, und weitere Untersuchungen anordnet. Der Kranke verbringt eine schlaflose Woche damit, mit seinen Ängsten zu ringen, sein Testament zu schreiben – und er ist vermutlich eher milde gestimmt und erleichtert, wenn die gründliche Untersuchung mit dem besser auflösenden Gerät zeigt, dass der vermutete Tumor nicht existiert, vielleicht eine Luftblase im Darm war.

Wer solche Geschichten hört, kann den Eindruck gewinnen, dass manche Mediziner Freude daran haben, Patienten erst in die Schreckenskammer zu stecken und sie dann, wie es sich für einen mächtigen Heiler geziemt, aus dieser zu erlösen. Es hätte ja etwas sein können, Vorsorge fordert Opfer. Besonders tückisch sind Untersuchungen an Schwangeren, bei denen eine mögliche Missbildung des Fötus erst unterstellt und dann zurückgenommen wird.

Die »Aufklärung« vor der Therapie

Am Anfang einer Psychotherapie steht ein aufgewühlter Mensch, der Entlastung in einem Gespräch sucht. In den klassischen Empfehlungen Freuds über die Einleitung einer Behandlung wird diesem Umstand Rechnung getragen. Die Zusammenarbeit beginnt »auf Probe«. Im Verlauf der Sitzungen wird sich herausstellen, welche Form der Hilfe der Kranke braucht, ob sein Anliegen realistisch ist, ob er für eine längere Behandlung motiviert ist und von ihr profitieren kann oder bereits eine Klärung der aktuellen Krise ausreicht, um ihn entlastet und besser orientiert zu entlassen.

Freud zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz aus dem Theaterstück Der Zerrissene von Johann Nestroy: »Im Verlauf der Begebenheiten wird dir das alles klarwerden.«13

Wenn sich der Therapeut an die Empfehlungen hält, die heute von seinen Kammern ausgesprochen werden, dann darf das so einfühlend nicht mehr ablaufen, im Gegenteil. Vor dem Beginn der Behandlung steht die defensive Pflicht. Der Patient muss aufgeklärt werden, prinzipiell auch über das, was sich erst herausstellen wird. In der 2015 veröffentlichten und vom dortigen Sozialministerium abgesegneten Berufsordnung der Psychotherapeutenkammer Hessen (die sich kaum von den entsprechenden Vorschriften anderer Kammern unterscheidet) werden genannt: »Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Heilungschancen im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie.« Bei dieser Aufklärung »ist auch auf Alternativen zu der Maßnahme hinzuweisen.«14

Therapeuten, die sich lieber auf die Symptome eines leidenden Menschen konzentrieren, werden versucht sein, ein Merkblatt auszuhändigen. Wie es der Bankberater auch tut, lassen sie sich vom Patienten ein Duplikat unterschreiben. Die Prozedur ist absurd. Um ihn aufzuklären, muss der Therapeut den Patienten kennen. Wie soll er ihn kennenlernen, wenn er ohne die vorgeschriebene Aufklärung gar nicht anfangen darf zu arbeiten?

Wer solche Vorschriften erlässt, legt ein lebensfernes Verständnis von Diagnose und Therapie zugrunde. Das juristische Denken usurpiert die Macht in einer Welt, in der es nur Schaden stiften kann. Es ist eine missionarische, respektlose Geste, ähnlich wie die Bekleidungsvorschriften der Missionare an Ureinwohner, die in vielen Jahrhunderten eine in ihrer Umwelt überlegene Lebensform aufgebaut haben, aber meist zu spät und nur zögerlich den Entschluss fassen können, sich gegen diese Invasion zu wehren.

In einem Reisebericht über Australien habe ich die Geschichte vom Kleiderbaum gefunden. Sie hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen, weil sie einen kulturellen Abwehrmechanismus anschaulich macht, den ich aus der Familientherapie kenne: Die Tochter kann sich nicht offen gegen die Mutter durchsetzen, die sie nach ihren Vorstellungen »korrekt« einkleidet. So führt der Schulweg erst einmal zu einer Freundin, wo die skinny Jeans und das sexy T-Shirt versteckt sind.