Ferne Quellen - Alai - E-Book

Ferne Quellen E-Book

Alai

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Beschreibung

Der scheue Junge verbringt seine Zeit lieber mit dem Pferdehirten auf den weiten Bergwiesen als mit den Menschen unten im Dorf. Oft erzählt ihm dieser von den fernen, heißen Quellen, in denen Männer und Frauen in heiterer Eintracht baden und von ihren Krankheiten genesen. Nichts wünscht sich das Kind seither sehnlicher, als zu diesen Heilquellen zu gelangen und der Enge seines Dorfes zu entfliehen. Als er viele Jahre später als Bezirksfotograf zu den Quellen vordringt, erlebt er eine bittere Enttäuschung: Wo einst das Wasser sprudelte und zum ausgelassenen Bad einlud, findet er eine hässliche, verlassene Betonlandschaft. Eine verfehlte Entwicklungspolitik hat eine Investitionsruine hinterlassen. Ein Traum ist gestorben.

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Seitenzahl: 153

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Über dieses Buch

Der scheue Junge verbringt seine Zeit am liebsten mit dem Pferdehirten auf den weiten Bergwiesen. Oft erzählt ihm dieser von den fernen, heißen, heilenden Quellen. Als er viele Jahre später zu den Quellen vordringt, erlebt er eine bittere Enttäuschung: Ein Traum ist gestorben.

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Alai (*1959) begann Anfang der 1980er-Jahre, Gedichte und Erzählungen zu veröffentlichen. Sein erster Roman Roter Mohn wurde ein sensationeller Erfolg.

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Marc Hermann (*1970) studierte Germanistik, Philosophie und Sinologie. Er arbeitete als Fachberater für chinesische Literatur bei Kindlers Literatur-Lexikon und ist freier Übersetzer sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sinologischen Seminar der Universität Bonn.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Alai

Ferne Quellen

Roman

Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Yaoyuan de Wenquan in Heft 8 der Zeitschrift Beijing Wenxue, 2005 unter dem gleichen Titel beim Verlag Sichuan Minzu Chubanshe (Volksverlag Sichuan).

Der Verlag dankt dem Übersetzungsfonds des Amtes für Presse und Publikationswesen der Volksrepublik China für die großzügige Förderung der Übersetzung.

Originaltitel: Yaoyuan de Wenquan (2002)

© by Alai 2002

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: superwego

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30177-1

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Version vom 17.05.2024, 21:16h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

FERNE QUELLEN

Teil IIn der Nähe unseres Dorfes gab es eine …Jene heißen Quellen mit dem Namen Tsona …Als ich erwachte, war die Hütte schon in …Heute ist der 13. April 2001, ein Freitagmorgen …Viele alte Leute waren auch auf mich nicht …Auch wenn das Leben in eine erstickende Monotonie …Teil IIZehn Jahre später arbeitete ich – wer hätte …Bei diesen Worten war er schon zu einem …Viele Jahre später kam bei einem Bankett in …Als ich erwachte, merkte ich, dass ich mich …Als ich zur Gemeindeverwaltung zurückkehrte, war die Sitzung …So stiegen wir immer weiter zwischen Birken …Noch seltsamer aber war, dass sich anscheinend kein …

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Teil I

In der Nähe unseres Dorfes gab es eine Quelle, die war nicht warm, sondern heiß. Im Sommerhalbjahr blieb ihre Hitze unsichtbar. Nur im Winter, wenn man durch den Schnee nahe genug heranstapfte an die Quelle in der Schlucht, die sich nördlich des Dorfes über zehn Kilometer erstreckte, konnte man inmitten des Mischwaldes, zwischen den immergrünen Azaleen und Tannen und den kahlen Kirschbäumen und Birken, einen dünnen Dunstschleier aufsteigen sehen. Kaum aber hatte sich dieser Dunst über den Quelltrichter erhoben, gefror er in Sekundenschnelle; unfähig, weiter aufzusteigen, verwandelte er sich in zarte Eiskristalle und legte sich auf die welke Flora. Die Quelle selbst gefror nie, aber sobald sie ihre Hitze verströmte, war ihre Kraft dahin. Und wenn man die eisige Hand in das Wasser tauchte, spürte man nur einen Hauch von Wärme. Trinken konnte man das Wasser nicht, das sich zwischen den Fingern ein wenig sämig anfühlte, dafür war es zu salzig und sein Geschmack zu schweflig. Das Salz, der Schwefel und womöglich noch manch andere Mineralien tief aus dem Erdinnern lagerten sich im Morast um die Quelle weiträumig als rostfarbene Sedimente ab. Im Winter besuchte niemand außer einigen rastenden Jägern diese Quelle. Tshone war ihr Name.

Im Sommer, wenn die Rinderherden auf die Bergwiesen getrieben wurden, war das anders. Sobald an unserer Grundschule die Sommerferien begannen, folgten wir Kinder den Herden in die Berge und wachten darüber, dass sie sich nicht in den dichten Wäldern rings um die Wiesen verliefen. Die Rinder waren ganz versessen auf Salz und liebten das Quellwasser; kaum hatten sie sich am Gras satt gefressen, liefen sie zur Quelle. Gegen einen maßvollen Genuss hatten die Erwachsenen nichts einzuwenden. Aber sie warnten uns immer wieder: »Wenn die Rinder zu viel trinken, werden ihre Bäuche anschwellen, bis sie hart wie Trommeln sind, dann können sie nichts mehr essen und müssen verhungern.« Also rannten wir den ganzen Sommer über immer wieder zur Quelle, um die Rinder, die vom salzigen Wasser nicht genug bekommen konnten, mit unseren Schreien zu verscheuchen.

Heute können meine Stimmbänder nicht mehr jenen lang gezogenen, einschüchternden Schrei hervorbringen, und nicht das vielfach gewundene Trillern der Hirtenlieder. Ich war ein schweigsames Kind, aber diese Lieder sang ich oft vor mich hin, und beim gedehnten Vibrato, in dem sie verklangen, flatterten meine Stimmbänder tief in der Kehle wie Kolibriflügel, und meine Stimme schwang sich auf über die Bergwiesen hinweg, über die hier und da verstreuten Gebüsche aus kleinblättrigen Azaleen und zwergwüchsigen Zypressen, und auch mein Blick ging ins Grenzenlose, über die weiten Weideflächen und die steil aufragenden Felswände, bis er schließlich am blendenden Glanz der schneebedeckten Gipfel haften blieb.

Ja, ich sehnte mich nach der Ferne.

Eine konkrete Gestalt nahm das Ziel meiner Sehnsucht nicht an, nur zwei grobe Richtungen. Da war einmal der Südosten: In diese Richtung brauste weiß schäumend und immer mächtiger anschwellend der Tsomo-Fluss. Und dann war da noch der Nordwesten: Dort, hinter den zackenförmig aufragenden schneebedeckten Gipfeln, lag das weite Grasland von Songpan.

Im Sommer, wenn die Bäume mächtige Schatten warfen, wenn das Moos von dem Felsen, auf dem ich saß, bis zu den klobigen Leibern der Spießtannen alles überwucherte, wenn irgendwo der Kuckuck seinen lang gedehnten Ruf ausstieß, pflegte ich dort, ganz allein die Füße ins Quellwasser zu tauchen, das sich zu dieser Jahreszeit schon fast kühl anfühlte. Wenn das Wasser aus dem Trichter emporquoll, warf es reihenweise Blasen, die die Luft ringsum noch stärker mit dem seltsam anmutenden Schwefelgeruch schwängerten. Manchmal kam auch ein zutraulicher Hirsch oder ein mächtiger Yak vorbei, um seinen Durst zu stillen. Die Hirsche waren sehr wachsam und spitzten beim kleinsten Geräusch die Ohren. Dagegen würdigten die grobschlächtigen Bullen mich keines Blickes. Wenn sie ihren Durst gelöscht hatten, wälzten sie sich im rostroten Morast und rieben sich am ganzen Körper mit einer bunt gesprenkelten Schlammschicht ein. So grindig, hässlich und hinfällig so ein Yak auch sein mochte – wenn nach ein paar Tagen das Schlammkleid von ihm abfiel, erstrahlte er in neuem Glanz: Auf seiner Haut spross zartes junges Haar, das im Sonnenschein funkelte wie sich kräuselnde Wellen.

»Der Schlamm tötet die Insekten auf der Haut der Rinder und Pferde«, erklärte der Pferdehirt Gongba immer wieder. »Er hat heilende Kräfte.«

Ganz allein hütete Gongba die kleine Pferdeherde des Dorfes. Auch seine Pferde tranken das salzige Quellwasser. Gewöhnlich bekamen wir ihn nur bei dieser Gelegenheit zu Gesicht.

Jedes Mal wenn er von der Heilkraft des Schlamms erzählte, fragten wir Kinder ihn unter schallendem Lachen: »Und warum heilst du dich dann nicht selbst?«

Sein Gesicht war nämlich von großflächigen leichenblassen Hautpartien verunstaltet, von denen Schuppen herabrieselten wie die abgestorbene Rinde einer Birke. In seiner Nähe, so schärften uns die Erwachsenen ein, müssten wir uns stets so stellen, dass der Wind uns nicht die Schuppen ins Gesicht blies. Sonst würden wir dasselbe Schicksal erleiden wie er – eine grauenhafte Vorstellung. Denn dann müsste man sich auf ewig in die Berge zurückziehen und könnte nie wieder in das Dorf zu den Menschen zurückkehren. Und nie wieder würde eine Frau sich einem nähern … Ich aber konnte mir nichts Schöneres vorstellen als eben dies: ganz allein zu leben, ohne Frau, in den Bergen.

Die politische Arbeitsgruppe, die auf Geheiß von oben im Dorf Quartier bezogen hatte, teilte die Einwohner in verschiedene Klassen ein und schürte damit den gegenseitigen Groll. Wenn eine Frau damals mit einem Mann zusammenlebte, brachte sie ein Kind nach dem andern zur Welt. Und diese Kinder bekamen nie genug zu essen. Auch ich war eines dieser zahllosen hungrigen Kinder. Kein Wunder, dass es mein sehnlichster Wunsch war, allein und ohne Frau in den Bergen zu leben.

Meine Tante mütterlicherseits, die damals schon über sechzig Jahre alt war und an schwerem Asthma litt, hatte eine Nichte namens Kelsang, eine meiner vielen Cousinen.

Niemand im ganzen Dorf konnte so schön singen wie sie. Die Arbeitsgruppe erklärte, sie wolle sie als Sängerin für das Gesangs- und Tanzensemble des Bezirks vorschlagen, doch aus irgendeinem Grund endete sie als Zugführerin der Dorfmiliz. Oft baute sie sich vor dem Haus meiner Tante auf und wetterte mit ihrer schönen Stimme gegen die vermeintliche Volksfeindin. Danach wirkte das Haus meiner Tante, das ohnehin schon alle Lebenskraft verloren hatte, doppelt tot. Solche öffentlichen Anklagen wurden meist erhoben, wenn die Leute von der Kollektivarbeit auf den Feldern heimkehrten und blasser Rauch aus den Kaminen der Steinhäuser aufstieg.

Aus dem Kamin meiner Tante kam an diesem Tag kein warmer Rauch, der die Dämmerung zwischen den Bergen noch verstärkt hätte. Als meine Tante aus ihrem steinernen Haus heraustrat, war ihr Gesicht selbst wie versteinert. Von ihrem Brennholzstapel hatte sie ein bisschen Reisig genommen, das sie nun auf ihrem Rücken zu dem kleinen Platz in der Mitte des Dorfes trug. Der Himmel ging zu diesem Zeitpunkt von Blau in Grau über, nach und nach funkelten die Sterne auf. Und während die Dunkelheit sich über die Berge fern der Menschenwelt herabsenkte, entfachte meine Tante mit ihrem Reisigholz ein großes Feuer. Die Leute versammelten sich auf dem Dorfplatz, wo der lodernde Feuerschein ihre Gesichter mit jenem leuchtenden Rot färbte, dem die damalige Zeit so huldigte. Meine Tante zog sich in einen dunklen Winkel zurück, während das Feuer die Schatten der Menschen, die ihm am nächsten standen, ins Riesenhafte vergrößerte, sodass allen andern das Licht und die Wärme, die ihnen eigentlich zustanden, verwehrt blieben. Unversehens erhoben einige Angehörige der Sippe, die sich vormals durch eine bescheidene, stille Duldsamkeit hervorgetan hatten, ihre Stimme und bauschten die Habgier, mit der meine Tante ihre Familienreichtümer gehortet hatte, zu einem unverzeihlichen Verbrechen auf. Die gelegentlichen Almosen meiner Tante verwandelten sich im Munde ihrer Ankläger zu hinterhältigen Ränkespielen.

Ihre jüngste Machenschaft waren der kleine Beutel Salz und die Handvoll nach dem Kochen getrockneter Teeblätter, die sie dem allein in den Bergen hausenden schuppengesichtigen Gongba geschenkt hatte. Die Übergabe hatten Tschampa und ich übernommen. Doch Tschampa, der Sohn eines Mittelbauern und Vetters von Gongba, hatte der Arbeitsgruppe unser kleines Geheimnis verraten. Der Gruppenleiter, der stets einen Armeemantel umgehängt hatte, klopfte Tschampa so kräftig auf die Schulter, dass dieser zu Boden plumpste. »Du wirst noch mal in der Volksbefreiungsarmee dienen!« Hochrot im Gesicht und sprachlos vor lauter Aufregung rappelte sich der Belobigte eilig wieder auf. Und so kam es, dass meine Cousine an diesem Abend mit ihrer schönen Stimme eine neuerliche Anklage schmetterte und meine Tante wieder auf dem Dorfplatz ein Feuer entfachte, um das sich alle versammelten. Und von Neuem wuchsen die Schatten im Feuerschein ins Riesenhafte, und die Stimmen wurden so eigentümlich laut. Richtig satt essen konnte sich in jenen Jahren niemand – wie konnten die Stimmen der Ankläger dennoch so kräftig sein, fragte ich mich staunend.

Während ich mich noch darüber wunderte, wanderte mein Blick zum Himmel. Ein mächtiger Wind blies dort oben; der Mond war von Wolken verdeckt, von leuchtend eingefassten, düsteren Wolken, die unter stürmischem Geheul am Himmel trieben.

Am nächsten Tag war Tschampas Wange dick angeschwollen. Manche sagten, das sei sein Vater gewesen; andere bezichtigten den schuppengesichtigen Gongba der Tat; wieder andere behaupteten gar, meine damals schon ergraute Tante habe sich mit dieser Ohrfeige an dem Verräter gerächt. Von da an lag ein Schatten auf unserer Freundschaft. Jemand hatte Hass zwischen uns gesät, einen Hass, der auch Jahre später, als er in Armeeuniform ins Dorf zurückkehrte und an die Männer Zigaretten, an die Frauen Bonbons verteilte, nicht erloschen war. Zumindest nicht auf meiner Seite. Er selbst hasste mich zu dieser Zeit schon nicht mehr.

Nach diesem Ereignis fing ich an, mich beim Weiden der Rinder mit Gongba zu unterhalten. Er setzte sich auf die eine Seite der Quelle, an einen etwas tiefer gelegenen Platz, wies mich an, mich auf die andere Seite ein wenig höher zu setzen, und begann, mir alte Geschichten aus dem Dorf zu erzählen. Aus seinem Mund klangen diese Geschichten keineswegs so verbrecherisch wie auf den öffentlichen Anklageversammlungen im Dorf. Überhaupt schien er keinerlei Groll zu hegen, ja, als er davon erzählte, wie seine Frau nach dem Ausbruch seiner Hautkrankheit mit ihrem Geliebten durchgebrannt war, huschte sogar ein leises Lächeln über sein schuppiges Gesicht.

Nur wenn ihm sein Neffe Tschampa begegnete, leuchteten die durch das Abschuppen gerade bloßgelegten Hautpartien besonders feurig. Aber er würdigte seinen Neffen nie mehr eines Wortes oder eines Blickes; stets wandte er die Augen ab, hinauf zu den Gipfeln, die das ganze Jahr unter Schnee bedeckt lagen.

Umgekehrt musste ich ihm allerlei aus dem Dorf erzählen, während um uns herum die Rinder nach Kräften die Schwänze schwenkten, um ihre Peiniger, die Bremsen, zu vertreiben. Als ich ihm erzählte, ich wolle wie er allein in den Bergen leben, trat auf sein Gesicht ein schmerzlicher, mitleidiger Ausdruck. Er machte eine liebkosende Geste, und obwohl seine Hand nur durch die Luft fuhr, spürte ich über die Quelle hinweg, wie eine mächtige Wärme mich vom Scheitel bis zur Sohle durchströmte.

Ich wagte nicht aufzublicken, während ich ihn sagen hörte: »Aber ein Gesicht wie ich möchtest du doch sicher nicht haben.«

Nun wagte ich erst recht nicht, aufzuschauen und etwas zu erwidern.

Da sagte er unvermittelt: »Eigentlich müsste ich nur einmal zu den heißen Quellen gehen und mein Gesicht und meinen Körper darin waschen, und bei meiner Rückkehr hätte ich eine strahlend reine Haut und bräuchte nicht mehr ganz allein hier in den Bergen zu hausen.«

Das war das erste Mal, dass ich jemanden von den fernen Quellen sprechen hörte.

Jene heißen Quellen mit dem Namen Tsona, so erzählte er mir, seien heißer als die hiesigen Quellen. Ihr Wasser schmecke gleich, nur enthalte es kein Salz. Viele Krankheiten könne ihr Wasser heilen; seine mächtigste Fähigkeit sei, welke Haut wieder glänzend und rein zu machen. Auch Augenkrankheiten und Migräne könne das Wasser von einem nehmen. Über die stärkste Heilkraft jedoch verfüge die größere der beiden fernen Quellen; ihre Wirkung sei nahezu unerschöpflich und helfe auch bei Gliederziehen und Lungenkrankheit, ja, sie könne sogar »unreine Frauen wieder rein machen«.

Ich hatte keine Ahnung, was eine »unreine Frau« war, aber die Sehnsucht nach den heißen Quellen war in mir geweckt. Diese Quellen gaben meinem Fernweh erstmals ein konkretes Ziel. Sie wollte ich sehen, diese wahrhaft heißen, fernen, wunderkräftigen Quellen. Ich war ein so wortkarges Kind, dass sich meine Eltern nichts sehnlicher wünschten, als dass ich unter Menschen ohne Hemmungen und mit lauter Stimme sprechen könnte. Die fernen Quellen, dachte ich, würden mich bestimmt von dieser Schwäche kurieren.

Auf meine Frage, wo diese Quellen seien, zeigte der Schuppengesichtige auf die schneebedeckten Gipfel im Westen, zwischen denen sich einzelne Pässe öffneten. Eine Straße führte an unserem Dorf vorbei in Serpentinen dort hinauf. Ein Armeelaster musste sich mehrere Stunden bis zur Passhöhe hochquälen. Die Wagen kamen von der neu errichteten Kreisstadt im Osten und fuhren ins Grasland im Westen. Für uns Kinder im Dorf lag beides gleich weit weg. Außer einigen wenigen Kadern hatten selbst die Erwachsenen das Dorf nie verlassen. Es bestehe ja keine Notwendigkeit, in die Ferne zu schweifen, dachten wir. Gongba dagegen erzählte mir, früher seien die Menschen oft umhergereist – um einem heiligen Berg ihre Ehrerbietung zu erweisen oder auf eine buddhistische Pilgerfahrt zu gehen, um Handel zu treiben oder gute Pferde und Gewehre zu ergattern, um ihrer Liebe nachzujagen oder eine alte Feindschaft zu begraben. Oder man überquerte die Berge, um auf dem Rücken guter Pferde, mit Leckereien im Gepäck, zu den heißen Quellen zu reiten und in ihrem nahezu allheilkräftigen Wasser zu baden.

»Aber heutzutage sind die Leute in der Erde festgewachsen wie Feldfrüchte«, seufzte Gongba resigniert.

Als ich von der Quelle zurückkam, betrachtete ich die Feldpflanzen, wie sie so in der Erde verwurzelt standen.