Fernsehsucht oder – Emanzipation? Joshua Meyrowitz’ "Die Fernsehgesellschaft" im Spiegel von Heiko Michael Hartmanns Roman "MOI" - Sarah Stricker - E-Book

Fernsehsucht oder – Emanzipation? Joshua Meyrowitz’ "Die Fernsehgesellschaft" im Spiegel von Heiko Michael Hartmanns Roman "MOI" E-Book

Sarah Stricker

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Beschreibung

Magisterarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,0, Universität Mannheim (Neuere deutsche Literatur und qualitative Medienanalyse), Sprache: Deutsch, Abstract: Der Streit um Verdienst oder Gefahr des Fernsehens ist älter, als die Flimmerkiste selbst. Seitdem haben sich die Argumente für oder wider vielleicht augenscheinlich vermehrt – Verblödung, Vermassung, Verrohung auf der einen; Wissensgewinn, Demokratisierung, globale Vernetzung der Menschen auf der anderen Seite – doch im Kern bleibt die Gretchenfrage gleich: Neue Medien – satanisch oder göttlich? Satanisch, würde Heiko Michael Hartmanns Protagonist Fred Openkör zweifellos sagen, der als schleichend verfaulender Fleischballen dem grotesken Tod durch Zerplatzen entgegen sieht. Ein mysteriöser Virus, der sich über 50-Euro-Scheine verbreitet, zwingt den Buchmenschen in die verhasste Kommunität mit seinen MOI-Leidensgenossen (zugleich Abkürzung für Maladie d’Origine Inconnue als auch franz. Ich), die ihn mit ihrem Fernsehwahn schon mal einen Vorgeschmack auf das nahe Ende liefern – allen voran Kioskverkäufer Dupek, der das sinnlose bis Karies verursachende Einerlei seines Ladens in Form stumpfsinniger TV-Häppchen ins Krankenzimmer schleust. Openkör ist gefangen in einem Paralleluniversum, in dem die, die er einst belächelte, seine ohnehin schon jämmerliche Existenz zur Hölle machen: der unerbittliche Zappingterrorist inklusive fernsehsüchtiger Sippschaft, der penetrante Sozialhelfer, der Pastor, der sich in lächerlicher Weise selbst zu infizieren sucht, usw. Die Welt im Krankenzimmer ist eine verkehrte. Nur hier kann eine einfache Krankenschwester einen renommierten Anwalt, einen „Dr.“, mit einem Klaps auf den Po zurechtweisen. Im Mikrokosmos der MOI-Station werden erwachsene Männer zu hilflosen Kindern, die gewaschen und gefüttert werden, wird der Gebildete zum Spielball der „Dupeks“. Das Geld, einst verheißungsvoller Bote des Fortschritts ist hier Auslöser des schleichenden Verfalls. Professor Zahl, „die Realität in ihrer gröbsten Form“ hat als „geldgieriger Gliedabschneider“ die ärztliche Unantastbarkeit eingebüßt. Die alten Hierarchien sind aufgelöst – genauso wie in Joshua Meyrowitz’ „Fernsehgesellschaft“. Der amerikanische Medientheoretiker geht davon aus, dass die traditionellen Unterschiede zwischen Menschen durch eine Trennung in separate Erfahrungswelten bewirkt und durch die Printmedien verstärkt werden. Die neuen Kommunikationsmittel wie Fernsehen, Telefon und Computer verwischen hingegen die Grenzlinien verschiedener Gruppen, indem sie zuvor getrennte Situationen miteinander kombinieren. Das Resultat ist die gleiche verkehrte Welt, die Hartmanns Ich-Erzähler zeichnet: Die Schwachen hinterfragen das Handeln der Mächtigen, die Kluft zwischen Kind und Erwachsenem verwischt, Frauen zwingen ihre Männer hinter den Herd, Autoritäten, Titel, etc. verlieren an Bedeutung. Und genau darum ist das Fernsehen göttlich, würde Joshua Meyrowitz erwidern. Während nämlich Openkör den Untergang der Menschheit durch kollektiv infizierte Blödheit erwartet, sieht Meyrowitz die elektronischen Medien als zu begrüßendes Mittel der Demokratisierung und Emanzipation. Gleicher Befund, unterschiedliche Interpretation. Allerdings besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen McLuhans global village und Openkör’schem Krankenzimmer: Auf der einen Seite haben wir die Medien als Körperextensionen, auf der anderen steht ein Virus, der die Menschen ihrer Extremitäten beraubt. Nach und nach verlieren die MOI-Kranken schier jegliche Verbindung zur Außenwelt, Hände, Nase, Stimme, bis sie schließlich im P-Raum abgeschlossen vom Rest der Menschheit einen obszönen Tod sterben. Openkör ist in sich selbst gefangen, im wahrsten Sinne des Wortes ego-zentrisch („Ich Ich Ich…! Mit solcher Lektüre hatte ich mein Leben vertan!“ ), ohne sich dabei selbst zu begreifen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die beiden Pole Fernseh-Sucht und -Emanzipation einander gegenüberzustellen und zu zeigen, inwieweit sie sich in Openkör als radikalem Fernsehkritiker und Dupek, dessen TV-Liebe in Fernsehsucht abdriftet, widerspiegeln, bzw. inwieweit der Roman valides Wissen zur Festigung oder Unterminierung der einzelnen Theorien zur Verfügung stellt. Dabei übernimmt die satanische Seite den Anfang, zum einen, weil die Negativargumente als in der Gesellschaft dominant weniger Überzeugungsarbeit bedürfen, zum anderen, um der Chronologie der Forschungstradition, die sich von einer stark abwehrenden zu einer vermehrt hoffnungsvollen Einschätzung des Fernsehens entwickelt hat, Rechnung zu tragen. Über einen Abriss der Fernsehkritik von den vehementen Anfängen eines Adorno oder Anders zu den objektivierenden Analysen der Gegenwart, soll sich der Frage genähert werden: Was ist Sucht? Kann zwanghaftes Fernsehen die Kriterien einer Abhängigkeit erfüllen? Gibt es eine Suchtpersönlichkeit und fällt Dupek als Fernsehbesessener unter diese Kategorie? Dabei werden neben literatur- und medienwissenschaftlichen Ansätzen auch neurophysiologische und psychologische Erkenntnisse Berücksichtigung finden, soweit das im Rahmen dieser Arbeit möglich ist. Hieran schließt sich die weniger populäre, positive Darstellung des Fernsehens. Was kann die Flimmerkiste bei aller Schelte leisten? Vergangenheitsbewältigung? Wissensgewinn? Egalität? Die göttliche Seite gipfelt in Meyrowitz’ Analyse, der in den televisionären Auswirkungen eine emanzipatorische Kraft erkennt. Seine message: Fernsehen ist antiautoritär. Die Zweiteilung in gut und böse kann jedoch, um These und Antithese nicht auseinander zu reißen, nicht starr eingehalten werden. Stattdessen finden sich Für und Wider teilweise Seite an Seite, ohne die dualistische Struktur ganz aufzulöse

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Inhaltsverzeichnis
Kapitel
2.1 Kritik der Kulturindustrie
2.2 Von Massenmenschen und Menschenmassen
2.3 Unsichtbare Zensur
2.4 Die Macht der Bilder
2.5 Die Droge im Wohnzimmer
2.6 Openkör und die Flimmerkiste
3.1 Geschichte der Sucht
3.2 Was ist Sucht?
3.3 Was macht die Sucht mit dem Süchtigen?
3.4 Dupeks und andere Suchtpersönlichkeiten
4.2 Passiv oder aktiv
4.3 Das starre Publikum
5.1 Fernsehen macht frei
5.2 Buch und Fernsehen
5.3 Das Öffentliche und das Private
5.4 Ort und Situation
5.5 Gruppenidentität, Sozialisation, Hierarchie
6. Schluss
7. Literaturverzeichnis

Page 2

1. Einleitung−Skladanowskys Känguru−Mini-Goebbels−Amputation und Körperextension−satanisches oder göttliches Fernsehen

1895: Anfang Januar verurteilen die Franzosen den jüdischen Artillerieoffizier Alfred Dreyfus zu Unrecht zu lebenslanger Haft, im April erschüttert ein Erdbeben Ljubljana, Ende Mai steckt man den alternden Oscar Wilde in eine Gefängniszelle, weil er sich angeblich an Tieren vergreift - zu Anfang sieht es bei Weitem nicht so aus, als würde das Jahr 1895 als ein besonders erfreuliches in unser kollektives Gedächtnis eingehen. Doch kurz vor knapp, gerade mal drei Tage vor dem Zapfenstreich, wendet sich das Blatt: Am 28. Dezember führen die Gebrüder Lumière - hätte sich der Romancier einen treffenderen Namen ausdenken können? - vor 35 zahlenden Zuschauen im Indischen Salon des Pariser Grand Cafés erstmals öffentlich Kinematographenfilme vor und markieren damit die Geburtsstunde des Films - sehr zum Ärger der Gebrüder Skladanowsky, die sich schon Anfang November im Berliner Winterpalast ans Licht der Öffentlichkeit wagen, im Kampf um das Patent jedoch unterliegen.1Als preiswertes Plaisir auf Jahrmärkten und in fragwürdigen Etablissements lässt die Kinderstube des Kinos allerdings zu wünschen übrig. Die ersten deutschen Filme spielen sich mit so viel versprechenden Namen wie „Komisches Reckturnen“ und „Das boxende Känguru“2vor allem in die Herzen der einfachen Gemüter ohne Vermögen oder Bildung, derUnderdogswie wir heute, die eine oder andere Anglizismen-Flut später, sagen würden. Horst Knietzsch nennt das frühe Wanderkino „ein ungebärdiges Kind des Jahrmarktes, des Variétés und der Schaubuden. Es war derb und frech, aber voller Freude bei der Wiedergabe von Szenen aus dem Alltag, bei der dokumentarischen Aufzeichnung oder der Rekonstruktion historischer Ereignisse. Da es ein Instrument der Unterhaltung war, wurde schon in den ersten Filmen der Clownerie, der grotesken, der heiteren Szene viel Raum gewidmet.“3

Der Erfolg der Wanderkinos führt jedoch bald zur Gründung ortsfester Lichtspielhäuser. Am 1. Januar 1900 gibt es in Deutschland gerade mal zwei, eine Dekade darauf sind es schon 480 und noch mal ein paar Jahre später ist die Verbreitung des Kinos schon groß genug, um so euphorische Hasstiraden gegen den Film und den mit ihm einhergehenden Sittenverfall hervorzubringen, wie die Curt Morecks 1926:

1Vgl. Winterhoff-Spurk, Peter: Medienpsychologie. Eine Einführung. Berlin/ Köln: Kohlhammer 1999. S. 22.

2Vgl. Winterhoff-Spurk, Peter: Fernsehen. Psychologische Befunde zur Medienwirkung. Bern/ Stuttgart/ Toronto: Huber 1986. S. 11

3Zit. nach Ebda.

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Wenn ein Menschenkind wöchentlich ein-, zwei-, dreimal ins Kino geht, so wird es schon allein durch die Art der Vorführung, abgesehen vom Inhalt, seelisch zerstört. Mag das Kino noch so anständig sein und ein wohlzensuiertes Programm zeigen, die bloße Gewöhnung an die huschenden, zuckenden, zappelnden Bilder der Flimmerwand zersetzt langsam und sicher die geistige und schließlich sittliche Festigkeit des Menschen.4

Trotz der rasanten Vermehrung der Kinos, soll es jedoch noch mal rund zehn Jahre dauern, bis das Fernsehen seine ersten zaghaften Schritte in die Welt tut. Im Nazideutschland 1935 ist Hitler einer der ersten, der die Macht des kollektiven Erlebnisses erkennt. „Ich wollte nur, alle Deutschen des Reiches könnten in diesem Augenblick Euch, meine deutschen Kameraden, sehen“5, spricht’s und zehntausende Soldaten, die im September 1935 in Nürnberg zumReichsparteitag der Freiheitaufmarschieren, jubeln ihremFührerzu. Daraufhin beeilt sich derReichsverband der Deutschen Rundfunkteilnehmerzu beteuern, dass „Deutschland das erste Land der Welt [werde], in dem alle Volksgenossen fernsehen [könnten]. Es lebe das erwachte undsehendgewordene Deutschland.“6Unnötig zu erläutern, wie blind das Volk dabei tatsächlich bleibt. Brot und Spiele lautet die Devise. So verkündet Propagandachef Joseph Goebbels selbst: „Wir brauchen zum Kriegsführen ein Volk, daß sich seine gute Laune bewahrt. Mit Kopfhängerei gewinnt man keine Schlachten.“7Doch auch im ganz wörtlichen Sinne,sehendie Zuschauer als am 22. März 1935 mit dem Sender Paul Nipkow der erste mehr oder minder regelmäßige Programmbetrieb aufgenommen wird, nicht all zu viel.8Das mechanisch-optische Übertragungsverfahren beschert dem noch spärlichen Publikum zunächst nur verschwommene Bilder, der Geräuschpegel ist zu hoch, die Technik, trotz renommierter deutscher Ingenieure, nicht ausgereift. Als Goebbels sich zum ersten Mal in Miniatur auf dem Bildschirm sieht, ist er entsetzt.9Die Mächtigen des Dritten Reiches, die sich so angestrengt bemühen, Nietzsches riesenhaften Übermenschen zu mimen, können sich mit den winzigen Figürchen auf dem Monitor nicht recht anfreunden. (Noch 1977 schreibt Adorno: „Einstweilen dürfte das Miniaturformat der Menschen auf der Fernsehfläche die gewohnte Identifikation und Heroisierung behindern. Die da mit Menschenstimmen

4Zit. nach Winterhoff-Spurk 1986 : 12.

5Malanowski, Wolfgang: Schwarze Lippen, grüne Lider. In: Spiegel Special: TV Total. Macht und Magie des Fernsehens. Nr. 8. (1995). S. 62.

6Ebda, S. 63.

7Ebda.

8Hörisch, Jochen: Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. S. 357.

9Malanowski 1995 : 63.

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reden, sind Zwerge.“10) Und auch das Volk scheint skeptisch. Selbst Großereignisse wie die perfekt inszenierten Olympischen Spiele von 1936 bringen nicht die erhofften Reaktionen. Zwar heißt es zum ersten Mal „live dabei“, doch mit gerade mal 162 000 Zuschauern in Berlin - und nur da ist die Live-Premiere überhaupt zu empfangenbleibt eine durchschlagende Wirkung noch Zukunftsmusik. Erst im Nachkriegsdeutschland beginnt das eigentliche TV-Zeitalter. Am Weihnachtstag 1952 strahlt der Nordwestdeutsche Rundfunk erstmals über die Sender Hamburg, Berlin und Köln ein von da an regelmäßiges Fernsehprogramm von zwei bis drei Stunden aus. 1955, schon drei Jahre nach dem Start, werden knapp 100 000 Teilnehmer registriert. Ab 1963 kommt das ZDF dazu und macht das Fernsehen zu unserem Lebensmittelpunkt. Der Flimmeraltar rückt ins Zentrum des Wohnzimmers und unseres Alltags. 1984 nimmt das Kabelprojekt Ludwigshafen sein Programm auf und öffnet als privat finanzierter Sender dem Diktat der Werbeindustrie Tor und Tür. Das ohnehin recht kurze Zeitalter desBroadcastings,sprich ein zentraler Sender der allen Empfängern in einem Augenblick ein und dasselbe Programm liefert, ist passé.11Spätestens von da an sind TV und Geld untrennbar miteinander verwoben. Doch die Kritiker warten nicht, die Materialismuskarte auszuspielen. Der Streit um Verdienst oder Gefahr des Fernsehens ist älter, als die Flimmerkiste selbst. Seitdem haben sich die Argumente für oder wider vielleicht augenscheinlich vermehrt - Verblödung, Vermassung, Verrohung auf der einen; Wissensgewinn, Demokratisierung, globale Vernetzung der Menschen auf der anderen Seite - doch im Kern bleibt die Gretchenfrage gleich: Neue Medien - satanisch oder göttlich?12Satanisch,würde Heiko Michael Hartmanns Protagonist Fred Openkör zweifellos sagen, der als schleichend verfaulender Fleischballen dem grotesken Tod durch Zerplatzen entgegen sieht. Ein mysteriöser Virus, der sich über 50-Euro-Scheine verbreitet, zwingt den Buchmenschen in die verhasste Kommunität mit seinenMOI-Leidensgenossen(zugleich Abkürzung fürMaladie d’Origine Inconnueals auch franz.Ich),die ihn mit ihrem Fernsehwahn schon mal einen Vorgeschmack auf das nahe Ende liefern - allen voran Kioskverkäufer Dupek, der das sinnlose bis Karies verursachende

10Adorno, Theodor W.: Prolog zum Fernsehen. In: Rundfunk und Fernsehen 1948-1989. Ausgewählte Beiträge der Medien- und Kommunikationswissenschaft aus 40 Jahrgängen der Zeitschrift „Rundfunk und Fernsehen“. Hrsg. Hans-Bredow-Institut. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1990b. S. 163.

11Vgl. Bolz, Norbert: 1953 - Auch eine Gnade der späten Geburt. In: Mediengenerationen. Hrsg. Jochen Hörisch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. S. 61.

12Vgl. Hörisch, Jochen/ Gérard Raulet: Sozio-kulturelle Auswirkungen moderner Informations- und Kommunikationstechnologien. Der Stand der Forschung in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich. Frankfurt/ New York: Campus Verlag 1992. S. 106.

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Einerlei seines Ladens in Form stumpfsinniger TV-Häppchen ins Krankenzimmer schleust.

Openkör ist gefangen in einem Paralleluniversum, in dem die, die er einst belächelte, seine ohnehin schon jämmerliche Existenz zur Hölle machen: der unerbittliche Zappingterrorist inklusive fernsehsüchtiger Sippschaft, der penetrante Sozialhelfer, der Pastor, der sich in lächerlicher Weise selbst zu infizieren sucht, usw. Die Welt im Krankenzimmer ist eine verkehrte. Nur hier kann eine einfache Krankenschwester einen renommierten Anwalt, einen „Dr.“, mit einem Klaps auf den Po zurechtweisen. Im Mikrokosmos der MOI-Station werden erwachsene Männer zu hilflosen Kindern, die gewaschen und gefüttert werden, wird der Gebildete zum Spielball der „Dupeks“. Das Geld, einst verheißungsvoller Bote des Fortschritts ist hier Auslöser des schleichenden Verfalls. Professor Zahl, „die Realität in ihrer gröbsten Form“13hat als „geldgieriger Gliedabschneider“14die ärztliche Unantastbarkeit eingebüßt. Die alten Hierarchien sind aufgelöst - genauso wie in Joshua Meyrowitz’ „Fernsehgesellschaft“.

Der amerikanische Medientheoretiker geht davon aus, dass die traditionellen Unterschiede zwischen Menschen durch eine Trennung in separate Erfahrungswelten bewirkt und durch die Printmedien verstärkt werden. Die neuen Kommunikationsmittel wie Fernsehen, Telefon und Computer verwischen hingegen die Grenzlinien verschiedener Gruppen, indem sie zuvor getrennte Situationen miteinander kombinieren. Das Resultat ist die gleiche verkehrte Welt, die Hartmanns Ich-Erzähler zeichnet: Die Schwachen hinterfragen das Handeln der Mächtigen, die Kluft zwischen Kind und Erwachsenem verwischt, Frauen zwingen ihre Männer hinter den Herd, Autoritäten, Titel, etc. verlieren an Bedeutung.

Und genau darum ist das Fernsehengöttlich,würde Joshua Meyrowitz erwidern. Während nämlich Openkör den Untergang der Menschheit durch kollektiv infizierte Blödheit erwartet, sieht Meyrowitz die elektronischen Medien als zu begrüßendes Mittel der Demokratisierung und Emanzipation. Gleicher Befund, unterschiedliche Interpretation.

Allerdings besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen McLuhansglobal villageund Openkör’schem Krankenzimmer: Auf der einen Seite haben wir die Medien als Körperextensionen, auf der anderen steht ein Virus, der die Menschen ihrer Extremitäten beraubt. Nach und nach verlieren die MOI-Kranken schier jegliche

13Hartmann, Heiko Michael: MOI. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999. S. 184.

14Ebda, S. 126.

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Verbindung zur Außenwelt, Hände, Nase, Stimme, bis sie schließlich im P-Raum abgeschlossen vom Rest der Menschheit einen obszönen Tod sterben. Openkör ist in sich selbst gefangen, im wahrsten Sinne des Wortes ego-zentrisch („Ich Ich Ich…! Mit solcher Lektüre hatte ich mein Leben vertan!“15), ohne sich dabei selbst zu begreifen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die beiden PoleFernseh-Suchtund-Emanzipationeinander gegenüberzustellen und zu zeigen, inwieweit sie sich in Openkör als radikalem Fernsehkritiker und Dupek, dessen TV-Liebe in Fernsehsucht abdriftet, widerspiegeln, bzw. inwieweit der Roman valides Wissen zur Festigung oder Unterminierung der einzelnen Theorien zur Verfügung stellt. Dabei übernimmt diesatanischeSeite den Anfang, zum einen, weil die Negativargumente als in der Gesellschaft dominant weniger Überzeugungsarbeit bedürfen, zum anderen, um der Chronologie der Forschungstradition, die sich von einer stark abwehrenden zu einer vermehrt hoffnungsvollen Einschätzung des Fernsehens entwickelt hat, Rechnung zu tragen. Über einen Abriss der Fernsehkritik von den vehementen Anfängen eines Adorno oder Anders zu den objektivierenden Analysen der Gegenwart, soll sich der Frage genähert werden: Was ist Sucht? Kann zwanghaftes Fernsehen die Kriterien einer Abhängigkeit erfüllen? Gibt es eine Suchtpersönlichkeit und fällt Dupek als Fernsehbesessener unter diese Kategorie? Dabei werden neben literatur- und medienwissenschaftlichen Ansätzen auch neurophysiologische und psychologische Erkenntnisse Berücksichtigung finden, soweit das im Rahmen dieser Arbeit möglich ist.

Hieran schließt sich die weniger populäre, positive Darstellung des Fernsehens. Was kann die Flimmerkiste bei aller Schelte leisten? Vergangenheitsbewältigung? Wissensgewinn? Egalität? DiegöttlicheSeite gipfelt in Meyrowitz’ Analyse, der in den televisionären Auswirkungen eine emanzipatorische Kraft erkennt. Seinemessage:Fernsehen ist antiautoritär.

Die Zweiteilung ingutundbösekann jedoch, um These und Antithese nicht auseinander zu reißen, nicht starr eingehalten werden. Stattdessen finden sich Für und Wider teilweise Seite an Seite, ohne die dualistische Struktur ganz aufzulösen.

15Hartmann 1999 : 47.

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2. Böses Fernsehen−noch ein Känguru−Platons Verteufelung der Schrift−Frankfurter Schule−Menschenmassen und Massenmenschen−asoziales oder prosoziales Verhalten−vermischte Meldungen vermischen−fast thinker−Augenfutter−NewsundFun−Die Droge im Kinderzimmer−Openkörs Mordphantasien

Fernsehkritik istin.Akademiker, Journalisten, die Frau beim Bäcker, sie alle sind sich einig: Es läuft nur Mist! Und man kann ihnen ihre Schelte gar nicht mal verdenken. Kurzer Blick auf die aktuellen Tiefpunkte in der TV-Landschaft: Da wäre etwa die Schar abgewrackter Ex/Möchtegern-Promis, die in einem künstlichen Exil -Dschungelcamp, Alm, mittelalterliche Burg - vermeintliche Überlebenssituationen meistern (kein Jahresrückblick 2004 ohne den Känguruhoden) und dabei die Basisregeln menschlichen Zusammenlebens genauso über Bord werfen wie das letzte Fünkchen Stolz. OderEl, der Millionär- RTL2s Variante legaler Prostitution zur Hauptsendezeit, in der Elmar, angeblich Millionär, in Wahrheit aber Dachdecker zwischen zehn geldgierigen Dummchen wählt. Nicht zu vergessenI want a famous faceund am liebsten auch Madonnas Brüste oder Brad Pitts Kinn - MTVs Quotenshow, die hässliche Entlein dank Schönheitschirurgie zwischen zwei Werbeblöcken in Abziehbilder ihrer Lieblingsstars verwandelt. Da kann es schon schwer fallen, an Wissenssteigerung, Demokratisierung oder emanzipatorische Kraft des Fernsehens zu glauben. Tatsächlich ist der „Volkssport Media Bashing“16aber keineswegs so neu, wie wir intuitiv -früher war alles besser- annehmen. Zu Zeiten Goethes war Kritik an sittenverderblicher Romanlektüre genauso verbreitet wie heute am Fernsehen.17Platons Verteufelung der Schrift beinhaltet die gleichen Einwände, die sich heute gegen das TV-Programm richten.18ImSiebten BriefdesPhaidrosbehauptet er, Schreiben sei unmenschlich, weil es den Anschein erwecke, man könne außerhalb des Denkens etablieren, was in Wahrheit nur innerhalb der Denkprozesse stattfände. Das Schreiben zerstöre das Gedächtnis, mache vergesslich, schwäche das Denken - heute eine der populärsten Vorwürfe, was das Fernsehen anbelangt. Außerdem könne man das geschriebene Wort weder befragen, noch sei es in der Lage, sich zur Wehr zu setzten. Schreiben sei passiv, äußerlich, in einer irrealen, unnatürlichen Welt verhaftet.

16Bolz 1997 : 82.

17Vg. Hörisch 1992 : 106.

18Vgl. im Folgenen Ong, Walter: Oralität und Literalität. Die Technologie des Wortes. In: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Hrsg. Claus Pias, Joseph Vogl, Lorenz Engell, Oliver Fahle und Britta Neitzel. 4. Auflage. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2002. S. 95-104.

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Platons Position hat jedoch einen gravierenden Schwachpunkt: Um seine Einwände zu formulieren, musste er sie schriftlich niederlegen (genauso wie Bourdieu den Bildschirm wählte, um seine Fernsehkritik zu verbreiten19). Eric A. Havelock geht sogar davon aus, dass Platons philosophisch-analytisches Denken nur durch den Einfluss des Schreibens auf die mentalen Prozesse ermöglicht wurde.20Dennoch hielt sich das Postulat des Gesprochenen seit der Antike hartnäckig bis ins 20. Jahrhundert. Erst Derrida verwarf den Phonozentrismus und hob die Schrift endgültig aus ihrem Schattendasein.

Die Drucktechnik musste gegen die gleichen Vorwürfe ankämpfen. So erklärte 1477 Hieronimo Squarciafico, der den Druck der lateinischen Klassiker beförderte, dass „das Überangebot an Büchern den Menschen weniger gelehrt machen könnte“21, es schwäche Gedächtnis und Geist, indem es ihnen die Arbeit abnehme und durch Nachschlagewerke degradiere es den weisen Mann und die weise Frau.

2.1 Kritik der Kulturindustrie

Eine der ersten und am häufigsten zitierten Medienprügeln gegen das Fernsehen stammt von Theodor W. Adorno, einem Kind der Frankfurter Schule, die sich ursprünglich mit der Frage nach den Faktoren, die eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verhindern, beschäftigte. Medien und Kommunikation spielten in diesem Zusammenhang zunächst eine eher untergeordnete Rolle. Erst das immer deutlichere Hervortreten der so genanntenKulturindustrie- einen Terminus, den Adorno und Horkheimer erstmals in ihrer 1947 erscheinendenDialektik der Aufklärungverwendeten - führte zu einer Analyse der Massenmedien, welche als Stimuli interpretiert wurden, die in der Lage seien, die Menschen von ihren tatsächlichen Bedürfnissen abzulenken.

Das Medium selbst jedoch fällt ins umfassende Schema der Kulturindustrie und treibt deren Tendenz, das Bewußtsein des Publikums von allen Seiten zu umstellen und einzufangen, als Verbindung von Film und Radio weiter.22

Die Frankfurter sprachen gerne von Manipulation oder Verblendung, allen voran Adorno, der die Massen- oder Trivialkultur einer Hochkultur gegenüberstellte, die dem ökonomischen Imperialismus nicht unterliege.

19Siehe Kapitel2.3 Unsichtbare Zensur,S. 13 in dieser Arbeit.

20Vgl. Ong 2002 : 97.

21Zit. nach Ebda, S. 96.

22Adorno 1990b:162.

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Das Kennzeichnende für die Industrialisierung der kulturellen Produkte sieht Adorno darin, dass sich die Merkmale der industriellen Vermarktung wie rasche Vergänglichkeit, bloße Verdopplung der Realität oder Wiederholung des Immergleichen in der Produktion des Kulturellen niederschlagen. Politische Veränderung setzt demgegenüber voraus, dass verborgene Wünsche ins Bewusstsein hervorgeholt werden. Im Fernsehen, vor allem im amerikanischen, sieht er nun aber diesen Hang zur Verstärkung desstatus quoinstitutionalisiert.

Anstatt dem Unbewußten die Ehre anzutun, es zum Bewußtsein zu erheben und damit zugleich seinen Drang zu erfüllen und seine zerstörende Kraft ins Gute zu wandeln, reduziert die Kulturindustrie, an ihrer Spitze das Fernsehen, die Menschen mehr noch auf unbewußte Verhaltensweisen […] Das Starre wird nicht aufgelöst, sondern verhärtet.23

Er nimmt an, dass das Fernsehen den Menschen nur noch mehr zu dem macht, was er ohnehin schon ist - und das scheint zumindest in Adornos Augen nicht besonders viel zu sein.

Quell allen Übels ist die „Distanzlosigkeit“, „die Parodie auf Brüderlichkeit und Solidarität“24, die dem neuen Medium innewohnt. Alles muss eindeutig sein, problemlos zugänglich; was fehlt, ist die „ästhetische Vielschichtigkeit“25, die den Gehalt des Kunstwerks erst ausmacht. In MOI findet sich dieses Prinzip des Einheitsmenschen in den beiden Bankangestellten, die sich in nichts unterscheiden.

Die beiden Angestellten habe ich von Anfang an nicht auseinander halten können. Obwohl sie von zwei konkurrierenden Banken kommen, gleichen sie sich in Aussehen und Verhalten so sehr, daß ich es ablehne, mir ihre Namen zu merken. Auch ihre Freundinnen, die selbst Bankangestellte sind und oft zu einem Besuch erscheinen, vermag ich nicht zu unterscheiden. Im Grunde gelten sie mir alle vier als eine unauflösliche Einheit.26

Jede Mühe zur Erschließung wird peinlichst vermieden. Selbst das Eintrittsgeld oder die Anfahrt, die ein Kinobesuch wenigstens noch mit sich brachte, wird dem Zuschauer erspart. Das Fernsehen liebt, so Adorno, das Normale und Gewöhnliche und ist angestrengt bemüht, mit der Alltäglichkeit zu verwachsen. Anders als im Kino bleibt das Licht brennen, die Kinder plappern ohne Belehrung weiter, dasBesonderewird

23Adorno 1990b : 168.

24Ebda, S. 165.

25Adorno, Theodor W.: Fernsehen als Ideologie. In: Rundfunk und Fernsehen 1948-1989. Ausgewählte Beiträge der Medien- und Kommunikationswissenschaft aus 40 Jahrgängen der Zeitschrift „Rundfunk und Fernsehen“. Hrsg. Hans-Bredow-Institut. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1990a. S. 356.

26Hartman 1999 : 12.