Feuer in Dir - Jess Redman - E-Book

Feuer in Dir E-Book

Jess Redman

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Beschreibung

Hilf Alma den Sternling zu finden und entdecke, wie viel Feuer auch in dir steckt!   Seit die zwölfjährige Alma mit ihren Eltern umgezogen ist, hat sie großes Heimweh, bekommt Panikattacken und fühlt sich nicht mehr wie sie selbst. Als sie ein Teleskop findet und damit beobachtet, wie ein Sternling aus dem Himmel fällt, weiß sie daher genau: Sie muss das Wesen zurück in sein Zuhause bringen, damit es ihm nicht so ergeht wie ihr. Doch dafür braucht sie Hilfe. Nur mit den Kindern aus ihrem Astronomie-Klub, mit Wissenschaft, Magie und den vier Elementen hat Alma eine Chance ...   Eine magische Geschichte voller Freundschaft, Hoffnung, Mut und Feuer. 

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Seitenzahl: 335

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Jess Redman

Feuer in dir

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Meritxell Piel

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Quintessence bei Farrar Straus Giroux Books for Young Readers einem Imprint von Macmillan Children’s, Publishing Group, LLC, New York.

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe: Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Text © 2020 Jess Redman

Veröffentlicht unter Vermittlung von Pippin Properties, Inc. through Rights People, London

Cover design © der deutschsprachigen Ausgabe: Svenja Sund, 2024

Cover © der deutschsprachigen Ausgabe: Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2024

in Anlehnung an die Originalausgabe:

Cover © Macmillan Children’s, Publishing Group, LLC, New York.

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Meritxell Piel

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03967-019-2

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

Für meine Mutter,

deren Seele vor Liebe, Weisheit und

Vertrauen überfließt

und die mir gezeigt hat, wie man

Das Licht

nährt.

Hoch oben, weit droben, ist der Himmel erfüllt

von der unendlichen Helligkeit der Sterne.

O wie großartig, wie geheimnisvoll, wie prächtig sie sind!

Doch wusstest du, liebe Seele, dass du aus dem

gleichen Stoff bestehst wie diese Sterne?

Und dass du von demselben Licht, derselben Quintessenz,

durchflutet werden kannst?

Lies weiter, dann wirst du diese Wahrheiten und

noch viel, viel mehr erfahren.

 

Quintessenz: Ein elementarer Grundstoff

 

zur Wiederherstellung von Sternen.

 

Geschrieben vom einzig wahren Paracelsus –

Kind der Himmel, Hüter des Lichts,

Hoffnungsstrahl der Weltzeitalter

Teil 1Der Flyer

1. Kapitel

In der Mitte des Städtchens Vierpunkt befand sich ein Ladengeschäft namens Der Fünfte Punkt.

Doch obwohl es sich um einen Laden handelte, war darin noch nie etwas verkauft worden. Er war klein, quadratisch, aus Backsteinen gemauert und lag genau zwischen einem Kaffeehaus und einer Wäscherei, wodurch die Luft um ihn herum zugleich bitter und süß duftete.

Auf allen vier Seiten waren große Schaufenster eingelassen, deren Glasscheiben jedoch so schmutzig, schmierig und trüb waren, dass man nichts dahinter erkennen konnte. Neben jedem Fenster befand sich eine Tür mit einem hölzernen Schild darüber. Die Inschrift auf den Schildern war einst golden und glänzend gewesen, bevor sie über die Jahre angelaufen und beschlagen war. Ihre Worte lauteten:

Der Fünfte Punkt

Und darunter:

Öffnungszeiten nur nach Vereinbarung

Wie man einen Termin vereinbaren konnte, wurde allerdings nicht erwähnt. Genauso wenig wie der Name der Person, der der Laden gehörte, oder was hier verkauft wurde. Kaum jemand aus Vierpunkt wusste das, denn nahezu niemand hatte den Fünften Punkt je betreten.

Allerdings waren schon viele Leute über dem Geschäft gewesen.

Denn aus dem Dach ragte ein gewundener, spitz zulaufender, mitternachtsschwarzer Eisenturm empor, der sich weit über das Städtchen Vierpunkt erhob und in einer sternenförmigen Plattform endete.

Um zu diesem Turm zu gelangen, waren an allen vier Seiten des Ladens Leitern befestigt, auf denen man sicher und gefahrlos hinaufklettern konnte. Und in jene Sprossen, die sich auf Augenhöhe der Menschen befanden, war ein Spruch eingraviert:

Kommt hinauf, liebe Seelen.

Betrachtet die Lichter über euch.

Nährt das Licht in euch.

Und während die Leute kamen und gingen, wartete, wartete und wartete im Fünften Punkt jemand darauf, dass irgendwann einmal die richtigen Menschen zum Betrachten und Nähren kommen würden.

2. Kapitel

Wäre der Flyer nicht an der Eingangstür der Schule befestigt gewesen, hätte Alma Lucas ihn gar nicht bemerkt. Immerhin hatte sie es eilig.

Eilig deshalb, weil es bereits geklingelt hatte und die Flure sich allmählich mit Schülerinnen und Schülern füllten.

Und in genau solchen Situationen war Alma von fast jedem ihrer Stürme erfasst worden – hier in diesen Fluren voller Kinder.

Auf gar keinen Fall sollte das noch einmal passieren.

Außerdem war sie heute ziemlich in Gedanken versunken, sogar noch mehr als sonst. Denn gestern beim Abendessen hatte sie mit ihren Eltern Das Gespräch geführt, und seitdem spukten die Worte in ihrem Kopf herum.

Das Gespräch war ungefähr so abgelaufen:

»Also, Alma«, hatte ihr Vater begonnen und dabei seine Finger verschränkt, wie er es immer tat, wenn es um etwas Ernstes ging. »Lass uns doch mal schauen, was wir bisher erreicht haben. Wir sind vor drei Monaten umgezogen, und dein letzter Sturm ist über zwei Monate her. Hast du das Gefühl, du hast dich inzwischen hier in Vierpunkt gut akklimatisiert?«

Alma hatte auf ihren kaum angerührten Teller mit Pasta hinuntergestarrt und sich vorgestellt, sie würde im Badeanzug in der weiten, schneebedeckten Tundra stehen. Ungefähr so gut hatte sie sich nämlich an das neue Klima gewöhnt. So als wäre es draußen minus eine Million Grad kalt, und sie hätte sich für eine Poolparty angezogen.

Aber das hatte sie ihrem Vater natürlich nicht sagen wollen. Denn die Wahrheit – das wusste sie – würde nur zu weiteren Gesprächen führen.

»Alma?«, hatte ihr Vater wiederholt. »Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ja«, hatte Alma geantwortet. »Ich finde, ich habe mich sehr gut akklimatisiert. Und das Wetter ist schön.«

Alma hatte sich zu einem Lächeln gezwungen, das sich angefühlt hatte, als hätte sie eine sehr enge Maske aufgesetzt.

»Das freut mich zu hören«, hatte ihr Vater erwidert. »Ich bin mir sicher, du verstehst, warum deine Mom und ich uns Sorgen machen.«

»Ja, klar«, hatte Alma genickt. »Jeder würde sich Sorgen machen. Aber das ist gar nicht nötig.«

Da hatte Almas Vater einen Finger in die Luft gereckt. »Wir sind allerdings noch ein wenig beunruhigt über die Briefe, die wir von deinen Lehrerinnen bekommen haben.« Zwei Finger. »Und weil du das Haus nicht verlassen willst.« Drei Finger. »Und weil du nicht versuchst, Freundschaften zu schließen.«

»Das tue ich doch«, hatte Alma widersprochen. »Jeden Tag bemühe ich mich, ohne Ende.«

Früher hatte Almas Vater bei solchen Gelegenheiten öfter ein wenig zu tief nachgebohrt. Dann hatte er ganz genau wissen wollen, was Alma versuchte und wie sie vorhatte, ihre Situation zu ändern. Deshalb hatte sich gestern an dieser Stelle Almas Mom eingeschaltet.

»Das wissen wir, Alma Lama«, hatte sie gesagt. »Aber drei Köpfe sind nun einmal schlauer als einer, nicht wahr? Lass uns gemeinsam überlegen, was du noch ausprobieren könntest.«

Almas Mutter hatte gelächelt, und Alma war sich sicher gewesen, dass ihre Mom niemals das Gefühl hatte, eine Maske zu tragen. Denn ihre Mutter gehörte zu den Menschen, die viel lächelten und es auch jedes Mal so meinten.

»Vielleicht könntest du dich beim Mittagessen zu einer neuen Gruppe dazusetzen?«, hatte ihre Mutter vorgeschlagen. »Oder jemandem Hallo sagen? Lächeln? Sport machen? Einem Klub beitreten? Das kling doch gut, oder – ein Klub? Und du könntest … einfach draußen spazieren gehen.« Sie hatte ihr Kinn auf ihre Faust gestützt und mit dem Finger gegen ihre Lippen getippt, so als wären ihr die Ideen gerade erst gekommen.

Doch das stimmte natürlich nicht. Denn Almas Mutter sagte immer das Gleiche, wenn sie Das Gespräch führten.

Und jedes Mal hatte Alma so reagiert wie gestern Abend. Sie hatte gelächelt und genickt, auch wenn sie dabei gespürt hatte, wie das kleine, flackernde Licht in ihrem Innern – ihre Alma-heit – immer schwächer, kleiner und kümmerlicher wurde.

Außerdem hatte Das Gespräch nicht anders geendet als die Male davor. Almas Vater hatte mit gerunzelter Stirn und verschränkten Fingern erklärt: »Ich weiß, dass der Umzug schwierig für dich war. Vor allem, weil James jetzt auf die Uni geht. Aber es ist äußerst wichtig, ein paar Schritte in die richtige Richtung zu tun. Das hier ist jetzt unser Zuhause, Alma. Und deshalb musst du versuchen, Kontakte zu knüpfen.«

»Das tue ich, wirklich, versprochen«, hatte Alma noch einmal nickend und lächelnd bekräftigt.

Später war sie nach oben in ihr neues Zimmer gestapft, das die falsche Farbe hatte, und hatte sich unter ihrer neuen Bettdecke verkrochen, die zu kratzig war. Dann hatte sie stundenlang wach gelegen und den Gedanken gelauscht, die jeden Abend aufs Neue in ihrem Kopf kreisten.

Dabei hatte sie sich innerlich dunkel, leer und kalt gefühlt – einfach Alma-los.

Denn ihr letzter Sturm, ein schrecklicher Anfall aus Panik, Angst und vielen anderen schlimmen Gefühlen, hatte in Wahrheit nicht vor mehr als zwei Monaten stattgefunden. Sondern erst am Vortag.

Und diese Stürme würden niemals aufhören.

Und Alma würde niemals neue Freunde finden.

Und dieser Ort würde sich niemals wie ein Zuhause anfühlen.

Und es gab nichts, wirklich gar nichts, was sie dagegen tun konnte.

Heute also, als Alma den Flyer fand, hatte sie es nicht nur eilig, sondern war auch noch sehr bekümmert. Deshalb war sie nach dem Klingeln besonders schnell von ihrem Stuhl aufgesprungen und hatte als Erste den Kursraum verlassen. Dann war sie wie immer eilig durch den Flur gerannt, den Blick starr auf die Eingangstür gerichtet.

Schon lag Almas Hand auf der Klinke, da stach ihr plötzlich etwas ins Auge.

Und auf einmal waren sie da: die Sterne.

3. Kapitel

Die Papiersterne waren auf einem Flyer aufgeklebt – weiße, rote, gelbe und blaue Zacken vor einem schwarzen Hintergrund. Dazwischen erstreckten sich goldene Buchstaben über den Papierhimmel.

Du bestehst aus Elementen und Quintessenz, stand dort. Erfahre mehr im Astronomie-Klub – donnerstags nach Unterrichtsschluss im Physikraum.

Elemente und Quintessenz, wiederholte Alma in ihrem Kopf.

»Quintessenz«, sagte sie anschließend laut vor sich hin, obwohl sie wusste, dass sie keine Selbstgespräche führen sollte. Das hatte ihr bisher nämlich keine Freunde eingebracht. Genauso wenig wie das Einflechten getrockneter Blumen und Federn in ihr langes braunes Haar; oder die Stürme mitten im Schulflur; oder aber das Hinausrennen aus jedem Kursraum, sobald es klingelte.

Alma hatte keine Ahnung, was Quintessenz bedeutete, doch ihr gefiel der Klang. Es erinnerte sie an das leuchtend-flackernde Licht in ihrem Innern – an ihre Alma-heit.

Sie berührte einen kleinen Stern nach dem anderen. Natürlich waren sie aus Papier gefertigt, doch unter ihren Fingern fühlten sie sich warm an. Außerdem schienen sie zu strahlen.

Morgen war Donnerstag, und der Zettel hing noch nicht lange hier, da war Alma sich sicher. Denn er war weder abgegriffen noch zerknittert.

So als wäre er gerade erst aufgehängt worden.

»Für mich aufgehängt«, flüsterte Alma den Sternen zu.

Immerhin befand sich direkt vor ihren Augen die Lösung für alles, was ihre Mutter vorgeschlagen hatte.

Und dafür, was ihr Vater mit Kontakte-Knüpfen meinte.

Etwas, das Alma tun konnte.

Vorsichtig zog sie den Flyer von der Tür, faltete ihn zusammen und steckte ihn in ihren Rucksack.

Und in diesem Moment spürte sie zum ersten Mal seit Langem, wie die Alma-heit in ihr ein wenig aufflammte. So als würden tausend kleine Funken durch ihren Körper tanzen.

Denn Alma trug die Sterne auf ihrem Rücken.

4. Kapitel

Im Fünften Punkt gab es zwei Arten von Licht.

Die erste war das spärliche Sonnenlicht, das es auf wundersame Weise schaffte, die dicke, schmierige Schicht an den Fensterscheiben zu durchbrechen. Es hatte die Farbe von Bernstein, war unregelmäßig gesprenkelt und machte die herumschwebenden Staubteilchen sichtbar. In diesem Licht wirkte der Laden ausgedient, heruntergekommen und schäbig – was ja irgendwie auch stimmte.

Denn der Fünfte Punkt war voller Staub, Spinnweben und Krimskrams.

In Stapeln, Haufen und Bergen türmten sich weggeworfene und kaputte Dinge, die einst heiß geliebt worden waren: verschimmelte Bücher mit gebrochenen Rücken; Porzellanpuppen mit fehlenden Gliedern, deren ehemals bunte Kleider nur noch ein Regenbogen aus Grautönen waren; eine verrostete Schubkarre ohne Rad; ein schwarz angelaufenes Teegedeck aus echtem Silber; Modellflugzeuge ohne Tragflächen; Drachen ohne Schnüre; und Dutzende Uhren, von denen manche für immer schwiegen, andere jedoch ein stetiges Tick-Tack, Tick-Tack von sich gaben.

Hunderte, wenn nicht gar Tausende Kuriositäten hatten in diesem Laden ein Zuhause gefunden, das sie sich mit Merkwürdigkeiten aus aller Welt teilten.

In der Mitte des Raums, zwischen all dem Krimskrams und den verrotteten Regalen, führte eine eiserne Wendeltreppe nach oben. Sie endete in einem Loch in der hölzernen Decke, das so wenig kreisförmig aussah, als wäre es von jemandem ohne handwerkliches Geschick hineingesägt worden.

Doch genau aus diesem Loch strömte die zweite Art von Licht. Es schimmerte schwach und bläulich, flimmerte und flackerte oft und erlosch manchmal für mehrere Minuten.

Auch jetzt, in diesem Moment, war es zu erkennen – allerdings nur, wenn man genau hinsah. Es erhellte das unförmige Loch in der Decke, strömte die Wendeltreppe hinab und traf auf den schrottplatzähnlichen Laden.

Und begleitet wurde es von einer hellen, zittrigen Stimme, die flüsterte: »Bald. Bald wird sie da sein.«

5. Kapitel

Draußen vor der Schule wartete Almas Mutter in der langen Autoschlange auf sie.

Das tat sie jeden Tag, obwohl Alma ihr schon viele Male gesagt hatte, dass das nicht nötig sei. Schließlich könnte Alma genauso gut den Bus nach Hause nehmen.

Doch ihre Mutter hatte nicht auf sie gehört, und ausnahmsweise war Alma dankbar dafür.

»Alma Lama Ding Dong!«, grüßte ihre Mom, als Alma in den Wagen stieg. »Wie war dein Tag?«

An Almas erstem Schultag in der sechsten Klasse der Vierpunkt-Mittelschule hatte ihre Mutter die gleiche Frage gestellt. Daraufhin hatte Alma die Autotür zugezogen und war in ein herzzerreißendes, markerschütterndes Schluchzen ausgebrochen, das sie schon seit Stunden mit sich herumgetragen hatte.

Sofort war das immerwährende Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter verschwunden.

»Was ist passiert, Alma?«, hatte sie wissen wollen. »Sag mir doch, was los ist.«

Alma hatte nicht gewusst, was sie antworten sollte. Denn es war nichts passiert. Nicht wirklich. Niemand war übermäßig gemein zu ihr gewesen, niemand hatte sie ausgelacht oder ihr wehgetan.

Doch den ganzen Schultag über hatte sie sich komisch gefühlt, anders als die anderen, falsch. Sie hatte es in ihrem Magen gespürt, der sich unaufhörlich verknotet und verdreht hatte; in ihrem Hals, der eng geworden war und ihr die Luft abgeschnürt hatte; und in ihrem restlichen Körper, der geschmerzt hatte, als hätte jemand tausend Löcher hineingebohrt, durch die immer mehr von ihrer Seele hinausgeflossen war.

In ihrer alten Heimatstadt, Old Haven, hatte Alma zwar keine beste Freundin gehabt, aber immerhin Freundinnen und Freunde. Sie war nie besonders kontaktfreudig oder beliebt gewesen, doch das hatte sie nie gestört. Denn in Old Haven konnte sie einfach sie selbst sein – Alma eben.

Doch hier in Vierpunkt fühlte sie sich nicht wie sie selbst.

Am zweiten Schultag hätte Alma eigentlich mit dem Bus fahren sollen, aber da hatte ihr erster Sturm sie gepackt.

Seitdem holte ihre Mom sie jedes Mal ab und stellte ihr tausend heitere Fragen, die Alma so heiter wie möglich beantwortete. Und das, obwohl sie nie irgendwelche besonderen Neuigkeiten zu erzählen hatte. Überhaupt hatte sie nie etwas zu erzählen.

Heute sah das Ganze jedoch ein wenig anders aus. Denn Alma trug den Flyer bei sich und hatte die Sterne in ihrem Rucksack.

Doch sie beschloss, das Ganze für sich zu behalten, und antwortete bloß: »Oh, mein Tag war ganz gut. Ich habe mich schon total akklimatisiert. Mir ist sogar schon richtig warm.«

Ihre Mutter strahlte, so als wäre das die fantastischste Nachricht, die sie je gehört hätte.

»Klingt toll!«, erwiderte sie. »Richtig super. Ach übrigens, dein Dad und ich arbeiten gerade an einem wichtigen Fall. Deswegen fahren wir jetzt nicht nach Hause, sondern ins Büro. Du kannst deine Schulaufgaben dort erledigen, okidoki, Alma?«

»Okidoki«, stimmte Alma zu – denn sie hatte sowieso keine Wahl. Seit dem Elternsprechtag im Februar, bei dem ihre Eltern erfahren hatten, dass Alma seit den Weihnachtsferien keine Hausaufgaben mehr gemacht hatte, musste sie ihre Schularbeiten unter Aufsicht erledigen. Und deshalb ging es für sie auch heute wieder in die Anwaltskanzlei ihrer Eltern.

Die Kanzlei war auch der Grund gewesen, warum sie überhaupt nach Vierpunkt gezogen waren. Davor hatten sie Almas ganzes Leben lang am anderen Ende des Bundesstaates in Old Haven gewohnt. Almas Eltern waren beide Anwälte, die studiert hatten, als Alma noch klein gewesen war. Zuerst ihre Mutter, dann ihr Vater. Nach ihrem Abschluss hatten sie zusammen in einer kleinen Kanzlei gearbeitet, bis der Vater eines Freundes beschlossen hatte, seine Kanzlei in Vierpunkt aufzugeben.

»Es ist äußerst wichtig, dass wir diese Gelegenheit ergreifen«, hatte ihr Dad Alma erklärt, als sie im November ein Familiengespräch geführt hatten. An diesem Tag hatte Alma erfahren, dass ihre Eltern das Anwaltsbüro in Vierpunkt übernehmen würden und sie für immer aus Old Haven wegziehen müssten.

»Vierpunkt ist zwar klein, aber es gibt eine Menge zu entdecken«, hatte ihre Mom hinzugefügt. »Ich glaube, das wird das perfekte neue Zuhause für uns sein.«

Almas Bruder James hatte das alles nicht gekümmert. Er war zwar erst siebzehn, doch da er in der Schule eine Klasse übersprungen hatte, ging er bereits auf die Uni. Außerdem hatte er in Old Haven sowieso nicht viele Freunde gehabt. Und was machte es schon für einen Unterschied, wo er seine Sommer- und Winterferien verbrachte?

Alma war das Ganze jedoch nicht egal gewesen. Sie hatte kein neues Zuhause gewollt, denn sie hatte ja schon eins gehabt. Und ihr Leben war auch ohne eine beste Freundin schön gewesen. Schließlich hatte sie die Leute in Old Haven gekannt, und auch die Stadt selbst. Außerdem hatte man sie gekannt.

Hier in Vierpunkt war das anders. Nichts und niemand kannte Alma, und Alma kannte nichts und niemanden.

Nicht einmal sich selbst.

6. Kapitel

In der Anwaltskanzlei Lucas saß Almas Dad vor seinem Schreibtisch, auf dem eine ganze Reihe von Unterlagen ausgebreitet waren.

»Hallo, Alma.« Er hob den Kopf. »Später möchte ich unbedingt alles über deinen Tag erfahren, aber erst muss ich noch ein paar wichtige Sachen erledigen.« Er wandte sich Almas Mutter zu. »Gwen, ich brauche dringend deine Hilfe beim Durchsehen der Dreipunktfarm-Akten. Könntest du einen Blick darauf werfen?«

Almas Mom ging zu ihrem Mann hinüber, und die beiden fingen an, sich mit ihren ernsten Arbeitsstimmen zu unterhalten. Alma stand neben dem Tisch am Fenster, das zur Straße hinausführte, und knöpfte ihren Mantel auf.

Ihre Eltern waren Immobilienanwälte, deshalb lag unter der Glasplatte des Tischs eine riesige Karte von Vierpunkt ausgebreitet. Die Karte war schon da gewesen, als ihre Eltern das Büro übernommen hatten, und sah alt und vergilbt aus. Alma stellte sich vor, wie das Papier in ihren Händen knistern würde, wenn sie es herausnehmen dürfte. Oft betrachtete sie lieber ausgiebig die Karte, anstatt ihre Hausaufgaben zu machen. Immer wieder legte sie ihre Fingerspitze auf das Glas, genau an die Stelle, wo das Anwaltsbüro Lucas eingezeichnet war. Dann ließ sie ihre Hand über alle vier Bezirke gleiten, aus denen Vierpunkt bestand: die grünen Hügel im Norden, die der Erste Punkt hießen; die Bergkämme im Osten, die den Zweiten Punkt begrenzten; den Eingang zum bewaldeten Naturschutzgebiet und die Felder im Süden, die zusammen den Dritten Punkt bildeten; und den Vierten Punkt im Westen, wo sich das Naturschutzgebiet ins Unendliche erstreckte und die grüne Farbe dieser Wildnis nur von ein paar gewundenen blauen Bächen unterbrochen wurde.

Auf der Karte waren Alma diese Orte längst vertraut, doch im richtigen Leben hatte sie noch keinen davon besucht.

»Aber heute vielleicht«, flüsterte sie vor sich hin. »Heute werde ich mich trauen.«

Tatsächlich hatte Alma nämlich gar keine Lust, ihre Hausaufgaben zu machen – oder auch nur so zu tun. Denn sie wollte nicht, dass dieser Tag genauso verlief wie alle anderen. Schließlich steckte der Flyer in ihrem Rucksack, und zum ersten Mal seit Langem spürte sie ihre Alma-heit in sich aufflammen. Und deswegen wollte sie heute etwas Neues ausprobieren.

»Ich gehe eine Runde spazieren«, verkündete sie.

Ihre Eltern schauten gleichzeitig auf.

»Nur eine kleine Runde«, fügte Alma hinzu. »Durch das Städtchen. Es ist … so ein schöner Tag.«

Zwar stimmte das nicht, denn es war Anfang März und somit eisig, windig, bewölkt und ungemütlich.

Almas Eltern tauschten überraschte Blicke aus, und für einen Moment herrschte verunsichertes Schweigen.

Alma konnte die Verwunderung ihrer Eltern durchaus verstehen. Früher, als sie noch in Old Haven gewohnt hatten, war Alma nur selten zu Hause geblieben. Stattdessen war sie durch Bäche gewatet, war Felder und Waldstücke entlanggeschlendert und hatte Steine, Federn und Blumen gesammelt. Dabei hatte sie ihre Gedanken schweifen lassen und sich von Grund auf wohlgefühlt. Doch seit dem Umzug hatte Alma ihre Tage nur im Haus, in der Schule oder im Büro verbracht. Monatelang hatte sie weder die Bibliothek noch das Kaffeehaus besucht, obwohl es dort auch heiße Schokolade gab. Auch die Kirche hatte sie nicht ein einziges Mal betreten, genauso wenig wie den riesigen Garten hinter ihrem Haus. Dabei waren Almas Eltern sich sicher gewesen, er würde ihr gefallen.

»Nun, ich habe nichts dagegen«, stimmte ihre Mom endlich zu. »Immerhin haben wir dich ermutigt, rauszugehen und dir alles anzuschauen.«

»Bleib aber bitte in der Nähe«, mahnte ihr Dad. »Und halt dich von diesem verrückten Turm fern.«

»Mache ich«, versprach Alma. »Ich werde gut auf mich aufpassen.«

Sie knöpfte ihren Mantel wieder zu, während ihre Eltern sie sorgenvoll beobachteten. Das taten sie oft, seit Alma von Stürmen erfasst wurde. Nach einer Weile beugten sie sich wieder über ihre Unterlagen und taten so, als wären sie in ihre Arbeit vertieft.

Alma nutzte die Gelegenheit und schnappte sich den Flyer aus ihrem Rucksack, um ihn in ihre Manteltasche zu stecken.

7. Kapitel

Nur sehr wenige Leute aus Vierpunkt waren je im Fünften Punkt gewesen. Und die Person, die sich normalerweise darin aufhielt – und zu der sowohl die zittrige Stimme als auch der Laden selbst gehörte –, kam ursprünglich gar nicht aus diesem Ort. Nein, der Ladenwächter stammte weder aus Vierpunkt noch aus einem der umliegenden Dörfer. Genauso wenig aus diesem Bundesstaat oder überhaupt aus diesem Land.

Seine Heimat war unvorstellbar weit entfernt.

Vor vielen Jahren hatte der Ladenwächter den Fünften Punkt erbaut, so wie bereits etliche andere Läden dieser Art. Und bevor er sich in Vierpunkt niedergelassen hatte, hatte er seine Tage auf dieser Erde damit verbracht, hin und her zu reisen und andere Wächterinnen und Wächter auszubilden. Manche davon hatte er sogar auf ihren Missionen begleitet. Diese Wächterinnen und Wächter waren seine liebsten Verbündeten, und ihre Missionen waren sein Lebenswerk.

Als er den Fünften Punkt in Vierpunkt fertiggestellt hatte, war ihm jedoch klar geworden, dass er das Umherreisen aufgeben musste. Denn schon damals hatte er sich zunehmend alt und erschöpft gefühlt. Außerdem gab es auch in Vierpunkt Missionen zu erfüllen – wenn auch nicht allzu viele. Gerade genug, um ihn beschäftigt zu halten.

In den letzten Wochen hatte sich allerdings etwas verändert. Die Energie des Ladenwächters war merklich schwächer geworden, und mittlerweile schaffte er es kaum noch, jeden Abend auf die Spitze des Turms zu klettern und die Sterne zu betrachten.

Trotzdem war ihm klar geworden, dass für ihn – erschöpft oder nicht – eine neue Mission begonnen hatte.

»Bald wird sie hier sein«, flüsterte er vor sich hin, während er vor seiner Werkbank stand.

Dann wiederholte er etwas lauter: »Bald wird sie hier sein.«

Anschließend sang er seine Worte vom Dachboden wie ein Vogel, sodass sie den Fünften Punkt vom Boden bis zur Decke erfüllten: »Bald, sehr bald wird sie hier sein.«

Obwohl der Ladenwächter müde war, ließ der Beginn einer neuen Mission einen Funken in ihm aufflammen. Denn er hatte die Elementarwesen gefunden, alle vier von ihnen. Außerdem hatte jemand das Buch an sich genommen, genau wie die Behälter. Erst drei, anschließend den vierten. Heute Morgen hatte der Ladenwächter dann voller Erwartungen die Tür des Südflügels geöffnet.

Alles war bereit.

»Jetzt müssen wir nur noch warten«, ermahnte er sich selbst. »Ruhig und geduldig warten.«

Seine Worte schwebten zwischen den träge umhertreibenden Staubteilchen, angestrahlt vom bernsteinblauen Licht. Die Porzellanpuppen, deren Ohren noch intakt waren, schienen zu lauschen, und die Uhren, die noch liefen, ließen ein stetiges Tick-Tack, Tick-Tack vernehmen.

»Bald schon wird sie hier sein.«

Teil 2Das Quintoskop

8. Kapitel

Alma wanderte in Vierpunkt umher. Ganz allein in der schneidend kalten Luft, mit den gefalteten Sternen in ihrer Manteltasche.

Doch irgendwie fühlte sie sich anders als sonst.

Ihre Gedanken, die in den letzten Monaten fast immer hoffnungslos verknotet und verheddert gewesen waren, schienen viel klarer geworden zu sein. Und ihre Schultern, die Alma oft bis zu den Ohren hochzog, hingen nun zumindest bis zum Kinn herunter.

Was sich allerdings verändert hatte, das konnte Alma nicht sagen. Sie fühlte sich einfach innen drin heller, strahlender.

Während sie über all dies nachdachte, nahm sie kaum wahr, was um sie herum geschah. Deshalb merkte sie auch erst, dass sie den Fünften Punkt erreicht hatte, als sie direkt davorstand.

Der hohe Turm war das Erste gewesen, das Alma gesehen hatte, als sie vor drei Monaten mit ihrer Familie in Vierpunkt angekommen war. Die eiserne Spitze hatte vor dem Sonnenuntergang aufgeragt wie ein düsterer Zauberturm.

»Das Ding sieht ganz schön gefährlich aus«, hatte ihr Vater damals gesagt. »Die Konstruktion wirkt, als könnte eine einzige Windböe sie zu Fall bringen.«

»Nicht raufklettern, okidoki, Alma Lama Ding Dong?«, hatte ihre Mom sie ermahnt. Sie hatte Almas vollständigen Spitznamen benutzt, um die Dringlichkeit zu unterstreichen.

Alma hatte genickt, obwohl Klettern schon immer zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehört hatte. Und der Fünfte Punkt schrie regelrecht danach, erkundet zu werden. Alma hatte sich vorgestellt, wie sie auf der Plattform stehen und auf das darunter liegende Städtchen blicken würde wie eine Königin auf ihr Reich. Oder wie ein Stern, der auf eine fremde neue Welt hinabfunkelte.

Seit Alma jedoch hier lebte, kam es ihr vor, als wären alle Dinge, die ihr früher Freude gemacht hatten, in einem dunklen Verlies gefangen. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sie bei Tageslicht aussahen.

Trotz allem hatte Alma immer wieder neugierig zum Fünften Punkt hinübergespäht, wenn sie mit ihrer Mutter ins Büro gefahren war. Dabei hatte sie sich gefragt, was sich wohl hinter den schmutzigen Fensterscheiben verbarg. Außerdem hatte sie sich ausgemalt, wie sie an jede einzelne Tür klopfen würde – eins, zwei, drei, vier. Was, wenn jemand öffnete?

Heute war es allerdings nicht nötig zu klopfen.

Denn eine der Türen stand offen.

Sie war leicht angelehnt, sodass Alma gerade noch den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen erkennen konnte.

Wäre heute ein beliebiger anderer Tag gewesen – ohne die erfrischend kalte Luft oder den Flyer in ihrer Tasche –, wäre Alma vermutlich weitergegangen. Denn wahrscheinlich hätte sie sich nicht getraut, einen fremden Ort zu betreten.

Doch heute war kein gewöhnlicher Tag.

Sondern heute war heute.

Und deshalb stieß Alma die Tür auf.

9. Kapitel

Sofort war Alma enttäuscht. Schrecklich, fürchterlich, abgrundtief enttäuscht.

Jedes Mal, wenn sie über den geheimnisvollen Fünften Punkt nachgedacht hatte, hatte sie sich vorgestellt, dass sich in seinem Innern etwas wahrhaft Wundervolles befinden würde. Eine Bibliothek voller Bücher mit glänzenden Rücken; eine Gärtnerei für exotische Pflanzen; eine Apotheke mit Gläsern, Gefäßen und Phiolen unbekannten Inhalts.

»Das ist ja alles Müll«, sagte Alma zu den staubigen Haufen, die von dem schwachen blauen Licht des Ladens erhellt wurden.

Überall lagen Berge von schäbigem, schimmeligem Krimskrams herum, den offensichtlich niemand mehr haben wollte.

Eine plötzliche Welle von Traurigkeit erfasste Alma, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Warum konnte sie nicht ein einziges Mal etwas entdecken, das ihr Freude bereitete?

Schon wandte sie sich zum Gehen, als sie durch ihre Tränen hindurch etwas wahrnahm.

In einem der Regale an der Wand blitzte etwas im verschwommenen Licht auf.

Alma ging zu dem Regal hinüber und schob einen zerbrochenen Gartenzwerg zur Seite, gefolgt von einem Klumpen Wachs, der wohl einmal eine Kerze gewesen war. Dann folgte ein türkisblauer Krug ohne Henkel, der schließlich den Blick auf eine merkwürdige Kiste freigab.

Sie war aus Holz gefertigt und von Macken und Kratzern übersät. Außerdem war sie mit einem kupferfarbenen Riegel verschlossen. Der Riegel glänzte, obwohl er mit einer grünlichen Patina überzogen war.

»Was bist du denn?«, fragte Alma und wischte sich über die Augen.

Dann kniete sie sich hin und zog die Kiste heraus. Ein rostiges Windspiel rutschte hinunter und glitt mit einem klimpernden Mollakkord zu Boden.

Die Kiste war etwa sechzig Zentimeter lang und ungefähr halb so breit, ähnlich einem Trompetenkoffer.

Doch als Alma den Deckel aufklappte, stellte sie fest, dass es keine Trompete war.

Das Objekt im Innern bestand aus drei schmal zulaufenden Zylindern, die man hintereinander schrauben konnte – einem großen, einem mittleren und einem kleinen. Sie waren aus Kupfer gefertigt und mit Holz überzogen, das genauso voller Macken und Kratzer war wie der Koffer selbst. Die Zylinder lagen in einen zerschlissenen roten Samtstoff gebettet.

»Ein Teleskop«, vermutete Alma.

Zumindest sah das Gerät so ähnlich aus.

Sie nahm den kleinsten Zylinder heraus. An einem Ende war eine Linse eingelassen, und Alma schaute hindurch, obwohl sie wusste, dass sie ohne die anderen Teile nichts sehen könnte.

Doch das stimmte nicht ganz. Denn als sie durch das Okular blickte, war der ganze Laden auf einmal in ein goldenes, strahlendes Licht getaucht. Und im selben Moment flammte auch das Licht in Almas Innerem auf.

Während sie das abgeblätterte Blau eines Puppenauges und das verwitterte Schwarz einer eisernen Wendeltreppe betrachtete, kam ihr der Gedanke, dass das alles kein Zufall sein konnte. Warum hätte sie ausgerechnet einen Flyer für einen Astronomie-Klub und ein Teleskop am selben Tag finden sollen?

Außerdem war dieser Laden offensichtlich schon lange verlassen.

Und genau deshalb wurde Alma das Gefühl nicht los, dass das Teleskop – genau wie der Flyer – für sie bestimmt war.

»Am besten nehme ich dich mit«, sagte sie zu dem Okular, während sie es behutsam wieder in die Kiste legte.

Dann klappte sie den Deckel zu und verschloss den Riegel.

Schon wollte sie sich wieder auf den Weg machen, da wurde der Laden von einem blauen Lichtblitz erhellt.

Keine Sekunde später knarrte die Decke, als würde jemand darüber gehen.

O nein, der Fünfte Punkt war gar nicht verlassen!

Hastig sprang Alma auf und ließ den Koffer auf dem Boden liegen. Sie wirbelte herum, eilte auf den Ausgang zu – und plötzlich ertönte eine helle, hohe, eindringliche Stimme wie der einsame Schlag einer Standuhr:

»Warte!«

10. Kapitel

Wie erstarrt stand Alma an der Tür, die Hand auf dem Knauf hinter ihrem Rücken. Die ganzen letzten drei Monate hatte sie alle Orte vermieden, an denen etwas Unvorhergesehenes passieren könnte. Zum Beispiel den hektischen Schulflur oder unbekannte Gegenden und Gebäude. Denn sie war sich sicher, dass sie sich an solchen Orten erschrecken und sie dann ein Sturm ergreifen würde. Und jetzt gerade war sie von einem blauen Blitz, dem Geräusch von Schritten und einer fremden Stimme erschreckt worden.

Doch zu ihrer großen Überraschung war der Sturm ausgeblieben.

Stattdessen war etwas anderes geschehen: Das Licht in Almas Innerem – ihre Alma-heit – war beim Anblick des blauen Blitzes aufgeflammt. Genau wie beim Finden des Flyers und des Teleskops.

Und aus diesem Grund hielt Alma noch einen Moment inne, auch wenn sie ihre Hand sicherheitshalber auf dem Türknauf liegen ließ.

Auf dem Dachboden über ihr herrschte inzwischen ein reges Gewusel. Schränke knarrten, Schubladen quietschten, Gläser wurden aufgeschraubt, Füße schlurften hin und her. Außerdem summte jemand mit heller Stimme vor sich hin.

Schon erlosch das blaue Licht, und dieser Jemand kam die Treppe herunter.

Die Gestalt war so winzig, dass Alma sie auf den ersten Blick für ein Kind hielt. Doch dann umrundete sie eine Kurve auf der Wendeltreppe, und Alma fiel ein buschiger weißer Bart ins Auge, der dem Wesen fast bis zum Bauch reichte. Also doch kein Kind.

Der kleine Mann trug abgewetzte braune Lederhandschuhe und einen cremefarbenen Arbeitskittel, der bis zum Schaft seiner verschlissenen braunen Lederstiefel reichte. Auf seinem Kopf saß eine Art Messinghelm, und seine Augen wurden von einer übergroßen Uhrmacherbrille mit Bronzegestell verdeckt. An den Seiten der Brille ragten Vergrößerungsgläser heraus. Die einzigen Stellen, an denen die Haut des Wesens sichtbar war, waren seine Nase und Teile seiner Schläfen. Sie waren mit der gleichen blauen Farbe verschmiert, die sich auch sonst überall auf dem Männlein befand: auf seinem Bart, seinem Helm, dem Kittel und den Handschuhen.

»Da bist du ja!«, rief das winzige, bärtige, verschmierte Wesen. »Oh, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen! Ich wollte dich nicht erschrecken, mein Kind.«

Alma stand immer noch wie angewurzelt da.

»Die Tür war offen«, sagte sie unsicher. »Deshalb bin ich reingekommen.«

»Aber ja, ich weiß!« Die Stimme des Männleins klang rhythmisch und melodisch wie ein Windspiel. »Ich habe sie geöffnet, meine liebe Seele! Gefällt dir der Laden? Er gehört mir, ich bin der Ladenwächter.«

Inzwischen hatte der kleine Mann den Fuß der Treppe erreicht und starrte Alma erwartungsvoll an. Zumindest kam es ihr erwartungsvoll vor, denn es war etwas schwierig, seinen Gesichtsausdruck zu lesen, ohne seine Augen zu sehen.

»Er ist … ungewöhnlich«, antwortete Alma zaghaft. »Sind das … ich meine … reparieren Sie diese Dinge?«

»Ich versuche es«, erwiderte der Ladenwächter und machte ein paar Schritte auf Alma zu. Dabei wich er geschickt einem Haufen rostiger Fahrradteile und einem Stapel verschimmelter Zeitungen aus. »Als ich jung war, bin ich viel gereist, und dabei habe ich lauter weggeworfene Sachen gefunden.« Er wedelte mit seinen behandschuhten Fingern. »Einen löchrigen Hut am Straßenrand hier, einen aufgerissenen Teddy in der Mülltonne dort, einen einzelnen Ohrring, einen Schuh ohne Sohle … Das alles sind heimatlose Dinge, verstehst du? Verlorene Dinge. Deshalb habe ich sie mitgenommen.« Er seufzte. »Und jetzt, wo ich nicht mehr reise, habe ich mehr Zeit, sie wieder instand zu setzen.«

»Und dann … verkaufen Sie sie?«, erkundigte sich Alma. Sie schaute zum Teleskopkoffer hinüber und hoffte, dass die Antwort Ja lauten würde.

»O bei den Sternen, nein!«, rief der Ladenwächter entsetzt. »Eigentlich sollte ich das tun, aber ich bin viel zu sentimental! Diese Dinge sind Teil meines Zuhauses, weißt du?« Der kleine Mann stellte sich hinter das Regal, in dem Alma die Kiste gefunden hatte. Obwohl es sehr niedrig war, musste der Ladenwächter auf den Zehenspitzen stehen, um darüber schauen zu können. »Wo – wenn ich fragen darf – ist denn dein Zuhause, liebes Mädchen?«

Almas Enttäuschung über das unverkäufliche Teleskop ließ dank der unerwarteten Frage ein wenig nach.

»Ich, ähm, wohne hier«, antwortete sie. »In Vierpunkt. Aber eigentlich komme ich aus Old Haven.« Sie machte eine Pause, bevor sie hinzufügte: »Dort war mein Zuhause.«

Der Ladenwächter nickte, wobei sein Messinghelm immer wieder leise gegen seine Brille schlug und sein Bart auf und ab hüpfte. »Dann kannst du mich ja verstehen.« Er deutete durch die Regalbretter hindurch auf den Teleskopkoffer. »Wie ich gesehen habe, hast du mein Quintoskop bewundert. Ich habe es selbst gebaut.«

Alma horchte auf. Quintoskop? Das klang doch irgendwie wie Quintessenz, oder nicht? »Quintoskop«, wiederholte sie leise. Dann fragte sie lauter: »Ist das so eine Art Teleskop?«

Der Ladenwächter wedelte mit seinen behandschuhten Fingern. »So ähnlich, so etwas in der Art. Aber es gibt auch einen gewaltigen Unterschied. Ein Teleskop zeigt dir nämlich die Dinge, die du wahrnehmen könntest, wenn deine Augen besser und schärfer wären. Aber ein Quintoskop lässt dich die Dinge sehen, die du mit bloßem Auge niemals erkennen könntest. Die unsichtbaren, wahren und reinen Dinge. Das Licht in ihnen!« Während der Ladenwächter gesprochen hatte, war seine Stimme immer höher und melodischer geworden. Seine letzten Worte hatte er regelrecht gesungen. Schnell beendete er sein ungewöhnliches Lied mit einem abrupten Husten. »Entschuldige, ich hatte so ein Kitzeln im Hals.«

In Alma war unterdessen das Gefühl stärker geworden, dass das Quintoskop tatsächlich für sie bestimmt war. Immerhin hatte sie gehofft, hier drin etwas Besonderes zu finden, etwas Magisches.

Sie nahm einen tiefen Atemzug und umklammerte den Türknauf ein wenig fester. »Würden Sie mir vielleicht nur dieses Quintoskop verkaufen?«, fragte sie. »Um ihm … ein neues Zuhause zu geben?«

Der Ladenwächter schüttelte so heftig den Kopf, dass sein Helm mit einem lauten Klick-Klack gegen das Gestell der Brille klopfte. »Aber nein, niemals!«

Schon wollte Alma sich enttäuscht abwenden, da fügte er hinzu: »Aber ich verleihe es an ganz besondere Wesen. Und ich glaube, du könntest genau das Wesen sein, auf das ich gewartet habe. Lass dich anschauen!«

Der Ladenwächter tanzte hinter dem Regal hervor, klappte die Vergrößerungsgläser seiner Brille herunter und reckte seinen Hals in Almas Richtung.

Alma presste ihren Rücken gegen die Tür, und ihr Herz begann zu pochen. Schon drehte sie vorsichtig am Knauf, und normalerweise wäre sie jetzt weggelaufen – doch dann machte der Ladenwächter einen kleinen Freudensprung und ließ ein glockenhelles Lachen ertönen.

»O ja, ich hatte recht!«, sang er. »Hauptsächlich Feuer, wie ich vermutet habe! Bisher ist es nur ein Funke, aber er wächst!«

Das waren die erstaunlichsten Worte, die der kleine Mann bisher gesagt hatte. Denn sie klangen, als spräche er über Almas Alma-heit. Aber wie konnte das sein? Am liebsten hätte sie ihn gefragt, was er damit meinte. Und ob er wusste, was Quintessenz war. Und natürlich, wer er denn eigentlich war. Doch dafür war sie einfach zu verwirrt.

»Ich kann Ihnen Geld für das Quintoskop geben«, bot Alma schließlich an.

»Du lieber Himmel, nein!« Der Ladenwächter klappte seine Vergrößerungsgläser wieder hoch. »Ich brauche kein Geld. Ich möchte nur, dass du das Gerät benutzt. Am besten gleich heute Abend, liebes Mädchen – wie heißt du noch gleich?«

»Alma. Alma Lucas. Ich verspreche, dass ich gut auf das Quintoskop aufpassen und es auch wieder zurückbringen werde.«

Der Ladenwächter beugte sich hinunter und hievte den Koffer in die Höhe. »Aber erst am Ende, Alma Lucas, hörst du?« Er drückte ihr den Koffer in die Hand. »Komm am Ende auf die Spitze, in Ordnung? Bis dahin werde ich hier und dort und überall sein. Den wichtigsten Teil deiner Mission musst du mit den anderen drei Elementarwesen ausführen.«

Alma presste das Quintoskop an sich. »Welche Mission? Wovon reden Sie? Und welche Wesen?«

Anstatt zu antworten, griff der Ladenwächter an Alma vorbei und öffnete die Tür. »Das wirst du noch erfahren, liebe Seele«, versicherte er ihr mit einem strahlenden Lächeln. »Bis dahin merk dir drei Dinge: Finde die Elemente. Nähre das Licht. Rette den Sternling. Und jetzt auf Wiedersehen!«

»Elemente? Wen soll ich retten?«, fragte Alma, doch der Ladenwächter schob sie bereits zur Tür hinaus.

Seine Hand war so warm, dass Alma die Hitze durch ihren Mantel spürte.

»Bis dann und dort, Alma des strahlenden Lichts!«, verabschiedete er sich und gab ihr einen leichten Schubs auf die vom Sonnenuntergang erleuchtete Straße.

»Aber …«

»Bis dann und dort!«

Und schon knallte er die Südtür des Fünften Punkts vor Almas Nase zu.

11. Kapitel

Bevor Alma ins Büro zurückkehrte, schob sie das Quintoskop unter den Rücksitz des nie abgeschlossenen Autos ihrer Eltern. Sie hatte ihnen nichts von dem Flyer erzählt, und auch das Quintoskop sollte ihr Geheimnis bleiben. Sie wollte nämlich nicht, dass ihre Eltern diese Dinge dazu verwenden würden, Alma zu zwingen, sich besser zu akklimatisieren.

Stattdessen sollten der Flyer und das Quintoskop noch eine Weile ihr allein gehören.

Doch später, beim Abendessen, verkündete ihr Vater: »Alma, wir möchten mit dir über etwas reden.«

O nein! Nicht schon wieder Das Gespräch!

»Ich habe Neuigkeiten!«, platzte Alma hervor, bevor ihr Dad weitersprechen konnte. »Ich werde an einem Klub teilnehmen, genau wie ihr gesagt habt! Einem Astronomie-Klub.«

Überrascht riss Almas Dad die Augen auf, und ihre Mom klatschte in die Hände.

»Alma Lama, das ist ja fantastisch!«

»In der Tat«, stimmte ihr Vater zu. »Obwohl streng genommen niemand von uns gesagt hat, du müsstest an einem Klub teilnehmen. Nur, dass es helfen würde.«

»Das meinte ich ja«, verbesserte Alma sich schnell. Ihr war klar, dass ihre Eltern nur Vorschläge machten. Aber manchmal fühlte sie sich davon unter Druck gesetzt.

»Und du hast dich schon immer für Astrologie interessiert, nicht wahr?«, fragte ihre Mutter.

»Astronomie«, korrigierte Alma. »Astrologie hat mit Horoskopen und solchen Sachen zu tun.«

»Ach ja, richtig.« Ihre Mom lachte. »Löwe, Wassermann und der Mond im Zweiten Haus und so etwas. Das könnte natürlich auch Spaß machen. Aber du hast schon immer gerne Sachen erforscht und dich für die Natur interessiert. Die Astronomie mit all den Sternen, Supernovae und Galaxien passt ganz hervorragend zu dir.«

»Finde ich auch«, bekräftigte ihr Dad. »Genau so ein Hobby hat dir gefehlt.«

Alma lächelte. »Das sehe ich auch so.«

Ihr Vater erwiderte das Lächeln, und auf einmal wurde ihr klar, dass sie ihn schon lange nicht mehr so stolz gesehen hatte.

Endlich hatte Alma etwas richtig gemacht. Heute Abend würde es kein Gespräch geben.

»Die Schule hat mir sogar ein Teleskop zur Verfügung gestellt«, fuhr Alma fort. Zwar fühlte sie sich wegen der Lüge sofort ein wenig schuldig, doch sie wollte das Gerät jetzt unbedingt ihren Eltern zeigen. »Es ist ein ganz besonderes Teleskop, nämlich ein Quintoskop. Es ist ziemlich alt und schmutzig, aber es funktioniert noch.«

Nach dem Essen begann Alma zusammen mit ihren Eltern, das Quintoskop zu reinigen. Ihr Dad holte Orangenöl, um das Holz der Kiste und die hölzernen Teile der Zylinder zu polieren. Ihre Mom machte sich mit einer Mischung aus Salz und Zitronensaft über die grüne Patina an den Metallteilen her.

Als Alma später zu Bett ging, legte sie den Koffer neben ihr Kopfkissen und dachte darüber nach, was heute passiert war. Ein Flyer und ein Quintoskop hatten dazu geführt, dass ihre Alma-heit gleich viel heller und strahlender leuchtete.

Und zum ersten Mal seit Langem fühlte sie sich ein bisschen mehr wie sie selbst.

12. Kapitel